Die Perle der Südsee und der Hass auf das Hybride
Otto E. Ehlers’ Reisebericht über Samoa von 1895
Today, few people have ever heard of Otto Ehrenfried Ehlers, but at the end of the 19th century he was one of the most commercially successful German travel writers. He was constantly searching for adventure, only to find again and again that the age of exploration and colonial expansion was over. When Ehlers went to Samoa in 1894 he hoped to witness a complete German take-over of Samoa, which however was prevented by Bismarck. Racist views appear in all travel literature of the period, and in Samoa, as elsewhere, there was a clear division between indigenous peoples and Europeans. Ehlers did not employ the prevailing racist diction in his writings, but his attitude remains ambivalent. He stresses that the Samoans should be left as they are, not made to work, or »civilised«. Seeing Samoans dressed and behaving in an European fashion, upsets Ehlers, because they no longer appear genuine to him. Ehlers’ idea of the Samoan »paradise« owes much to Rousseau and his notion of the »noble savage«. Hybridisation, he believes, leads to downfall and ruin. The paradise will lose its basis in community. It’s no surprise, that its antipode – society – finally appears as a Jew. Referring to this, he discusses a complex range of purity and hybridity, regarding topography, economy and humans (especially women). Ehlers focuses on four kinds of hybridisation: hybridisation on a social level, of the sexes, of the culture, of the economy.
Der heute fast vergessene Weltreisende Otto Ehrenfried Ehlers (1855–1895) war zu seiner Zeit ein Phänomen: Seine Bücher über Indien (1894), Indo-China (1894), Samoa (1895) und Ostasien (1896) erschienen geballt in einem Zeitraum von nur drei Jahren, letztere zu einem Zeitpunkt, als Ehlers bereits vermisst und tot war – ein Umstand, der ihre Popularität noch steigerte.1 Der Tod dieses kosmopolitischen Flaneurs und solventen Dandy-Reisenden ist dann auch ebenso skurril wie bezeichnend für Ehlers’ Zugriff auf die Fremde insgesamt: Als jemand, der stets auf der Suche nach Abenteuern und Zerstreuung unterwegs ist, muss er immer wieder feststellen, dass er zu spät kommt. Der Erdball ist am Ende des 19. Jahrhunderts längst entdeckt, vermessen, unter den Kolonialmächten aufgeteilt und wirtschaftlich erschlossen.
Daher rüstet Ehlers, der bergsteigerische Laie aus Hamburg, als er 1888 vom Plan der Erstbesteigung des Kilimandscharo erfährt, sofort eine 80-köpfige Expedition aus, mit der er allen anderen zuvorkommen will – und die erwartungsgemäß scheitert. 1889 zerstreut Ehlers sich, indem er als selbsternannter Emissär zwischen einem afrikanischen Häuptling namens Mandara und Kaiser Wilhelm II. fungiert und Geschenke vom einen zum anderen bringt und retour. 1890 bereist er Indien, eine Erfahrung, die in die o.g. Publikationsflut des Jahres 1894 mündet.
1893 nach Berlin zurückgekehrt, beschäftigte er sich mit der Frage der Zähmung des afrikanischen Elefanten, wußte dafür auch Colonialfreunde zu interessieren und Mittel zu gewinnen. Zu Vorstudien begab er sich neuerdings nach Indien und in das Brahmaputragebiet. (ADB 1904, 282)
Von dort reist er 1894 jedoch bereits nach wenigen Wochen Aufenthalt nach Samoa ab, weil er sich erhofft, die aktuelle Krise zwischen den Kolonialmächten Deutschland, England und den USA, die die Zeitungsspalten füllte, würde zu einer deutschen Inbesitznahme Samoas führen.2 Das Erlebnis der Landnahme ist Ehlers jedoch nicht vergönnt, Bismarck pfeift seine Diplomaten zurück und hält eisern am Tridominium, der gemeinsamen Verwaltung Samoas durch die drei Großmächte, fest.3 Und so bricht Ehlers 1895 erneut Hals über Kopf auf, als er in Samoa hört, es sei noch niemandem gelungen, Neuguinea von Nord nach Süd zu durchqueren – ohne jedes Wissen über die Verhältnisse vor Ort, ohne Kompass und mit viel zu wenig Nahrung. Nur ein Teil seiner einheimischen Träger kommt schließlich ausgemergelt auf der Südseite an, ohne Ehlers und den einzigen anderen weißen Expeditionsteilnehmer, Polizeimeister Wilhelm Piering. Sie sollen Opfer von Hungerkannibalismus geworden sein.4
Ein Phänomen stellt Ehlers jedoch auch als Reiseschriftsteller dar, ist sein wirkmächtiges Samoa-Buch, das Anteil an einer regelrechten Samoa-Begeisterung im Reich hatte,5 doch nicht nur eine kuriose und kurzweilige Lektüre: Es entspricht auch kaum der gängigen rassistischen Diktion des Kolonialdiskurses der Kaiserzeit. Das vulgäre Herrenmenschentum der Deutschen in Afrika findet sich zwar allgemein nicht in den Reiseberichten aus Samoa,6 wohl aber gab es auch in dieser »Vorzeigekolonie«7 des zweiten Kaiserreiches eine deutlich rassistische Trennung zwischen »Eingeborenen« und Europäern. Diskurse etwa in der deutschen Samoanischen Zeitung (1900–1914) über die stets drohende Gefahr der »Verkanakerung« der Weißen und den Status der »Mischlinge«, die in Listen verzeichnet und von Europäern wie Samoanern gleichermaßen als inferior angesehen wurden, verdeutlichen plastisch, dass volle staatsbürgerliche Rechte nur genoss, wer zur europäischen Minderheit gezählt wurde.8 Deren Überlegenheit wird von keinem Reiseschrifteller des frühen 20. Jahrhunderts angezweifelt. Ehlers zeigt in seinem Buch aber immerhin ein durchaus klares Bewusstsein davon, dass der europäische Kolonialismus trotz aller »Schutzmacht«-Beteuerungen und »Zivilisierungs«-Anstrengungen in erster Linie die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien bedeutet.9 In der für ihn typischen ironischen Diktion schreibt er:
Mir tun die Samoaner eigentlich leid. Die einzige Sache, die ihnen außer dem Essen, Trinken und Faullenzen Vergnügen macht, das Kriegsspiel, verbieten ihnen die Europäer, die im Lande doch von Rechts wegen ebenso wenig zu suchen wie zu sagen haben. Was würden wir alten Korpsstudenten davon denken, wenn die Feuerländer nach Deutschland kämen und sich’s in den Kopf setzen wollten, unseren Mensuren ein Ende zu bereiten! (78)
Diese Äußerung ist auch typisch für die Ambivalenz des ehlersschen Blickes auf die Samoaner: Einerseits erkennt er das Unrecht, das ihnen geschieht, andererseits stuft er ihr Verhalten als etwas Inferiores ein, indem er den 1893/94 auf Samoa herrschenden Bürgerkrieg zu einer harmlosen Mensur verniedlicht – einem postpubertären Ritual seiner Heimatkultur, bei dem eben niemand ernstlich zu Schaden kommt.10 Die Infantilisierung der Samoaner durchzieht den ganzen Reisebericht11 und findet noch einmal besonderen Ausdruck in der Betrachtung der samoanischen Frauen. Jene, die Ehlers eingehend und mit Interesse beschreibt, sind »kleine Märchenprinzessin[en]« (82) und »Nixen« (142) wie etwa die »kaum sechzehnjährige« (82) Pflegetochter eines Deutschen, Sifilina.12 Wie allen männlichen Europäern – neben Kokosöl und -fleisch avancieren erotische Fotografien zum Exportschlager Samoas im Wilhelminismus13 – werden die Samoanerinnen Ehlers zur sexuellen Obsession; eine Haltung, die generell dem kolonialistischen Reisen als Inbesitznahme von Land und Leuten zu entsprechen scheint. Als Ehlers erstmals auf dem fünften Kontinent ankommt (der Auftakt zu seiner Samoa-Reise), betritt er »den einzigen von mir noch nicht entweihten Erdteil« (17) – bei aller Ironie schwingt hier auch das Bild der Entjungferung mit.14
Eben dieses Jungfräuliche ist in Australien (das Buch langt erst nach fast 40 Seiten auf dem titelgebenden Samoa an) – das ist eben Ehlers’ Schicksal als zu spät gekommener Entdeckungsreisender – nicht mehr aufzufinden. Australien wird daher zur Enttäuschung: Hier herrscht längst eine angolamerikanisch dominierte, demokratische Kultur, sogar »die stimmberechtigte Frau« solle »jetzt auch in Südaustralien eingeführt werden« (52), was Ehlers zu einer Warnung veranlasst: Die »Maoriweiber« im benachbarten Neuseeland seien »in den wunderbarsten Toiletten an der Wahlurne« erschienen und »trieben allerlei Allotria« (53), während die Europäerinnen durch die Gleichstellung alle galanten
Privilegien eingebüßt hätten. Auch die deutschen Siedler drohten, »verengländert« (20) zu werden. Schön ist die Fremde dagegen immer dann, wenn sie der deutschen Heimat – etwa nahe Adelaide »das freundlich gelegene, soliden Wohlstand verratende Dörfchen Hahndorf, an dessen einfachen Häuschen überall deutsche Namen zu lesen sind« und wo man »auf deutsche Frage […] deutsche Antwort« erhält (21) – oder aber der eigenen Vorstellungswelt entspricht: So gesteht Ehlers freimütig, Samoa deshalb schöner als die Sandwichinseln (Hawaii) zu finden,15 weil letztere »nicht dem Bilde, welches meine Phantasie mir vorgegaukelt« (56), entsprachen, während Samoa »genau so märchenhaft schön« war, wie »ich mir die Südsee vorgestellt« (ebd.) hatte.
Ehlers nutzt immer wieder die Schilderung einer oder weniger Figuren als Pars pro toto zur Veranschaulichung einer ganzen Kultur, die dementsprechend mitunter auch im Kollektivsingular bezeichnet wird: der Amerikaner (vgl. 47) oder »der Samoaner« (68). In Australien steht für die Ureinwohner, die »Australneger«, »ein bereits ergrautes, scheinbar gelähmtes Weib«, das bezeichnenderweise »neben einem verlöschenden Feuer einsam und fröstelnd am Boden lieg[t], das Abstoßendste von einem menschlichen Wesen, was man sich nur vorstellen kann.« (43) Hinzu kommen lediglich in einem Nebensatz noch einige »weibliche[ ] Scheusale« (43), die sich prostituieren. Alle Versuche, die Ureinwohner zu zivilisieren, seien gescheitert: »die ganze Rasse dem Untergange geweiht« (44), einerseits, weil sie sich wirtschaftlich kaum als »nützlich« (44) erwiesen habe, andererseits, weil sich die Kolonialregierungen auch nicht
»[a]llzu viel« um ihr »Wohl« (43) kümmern. Diese kurze Episode über die »Australneger«, die Ehlers rasch abschließt, da der Besuch einer Fleischgefrieranstalt in Sydney »nicht minder interessant« (44) sei (tatsächlich äußert er sich zur Bedrohung des europäischen Fleischmarktes durch Gefrierfleischimporte sowie zu dessen Herstellung und Vertrieb sogar weit ausführlicher), passt eigentlich in das Bild, das wir uns gemeinhin vom Rassismus des weißen Mannes zu machen pflegen.
Wie kommt es aber, dass Ehlers die ebenfalls dunkelhäutigen Samoaner, die sich ebenso wenig als nützliche Arbeitskräfte erweisen, wie er mehrfach feststellt (vgl. 95, 145), geradezu idealisiert? Augenscheinlich ist sein rassenbiologisches Sensorium ästhetisch ausgerichtet: Er findet die glatthaarigen und »bronzefarbene[n]« (64) Samoaner einfach schön(er): »der schönste Menschenschlag […], dem ich begegnet bin« (65), während die »Australneger« die »garstigsten Menschen, denen ich irgendwo begegnet bin« (43), seien. Um seine Begeisterung für die doch kindlichen und arbeitsscheuen Samoaner vor seinem einheimischen Lesepublikum zu rechtfertigen, versucht Ehlers, sie zumindest mit ein paar deutschen Sekundärtugenden auszustatten: Die samoanische Hütte müsse Haus genannt werden, »denn für eine Hütte ist die ganze Bauart viel zu solide.« (68) Schließlich haben die Samoaner »Genau wie wir […] ihre gelernten Bauhandwerker« (69). An die Beschreibung des »soliden«, von »gelernten« Handwerkern errichteten Hauses schließt eine des samoanischen Dorfes an, das so auch einer provinzdeutschen Idylle entstammen könnte: »Die Häuser gruppieren sich um einen weiten, sauber gehaltenen kiesbestreuten Platz, auf dem das […] Gasthaus liegt« (109). Ergänzend die Naturerfahrung: »Die Luft ist kühl, der Wald erinnert lebhaft an einen jungen deutschen Buchenwald« (138).
Auf sprachlicher Ebene wird so vollzogen, was Jens Jäger für einen bestimmten Typus kolonialer Fotografien beschrieben hat, nämlich, dass ihre Inszenierung vor allem von Landschaft, Natur und Gebäuden ganz einer europäischen Sichtweise auf die Heimat entspricht. Auch eine zeitgenössische Fotografie aus Samoa hat Anteil an der (von Jäger anhand von afrikanischen Beispielmotiven beschriebenen) »Transformation der Kolonien in konsumierbare Einheiten«,16 erinnert der Bau doch durchaus an ein weißverputztes niederdeutsches Reetdachhaus. Nur die umstehenden Palmen fungieren als notwendiges Zeichen der »différance«, das auf den tatsächlichen Ort der Aufnahme hinweist.
Ehlers’ besonderes Lob gebührt der »Sauberkeit« (110) der Samoaner beim Kochen; Eindruck macht auch der »schneidige junge Königssohn« Tamasese (132), wie überhaupt die Wahrnehmung der Samoaner als mutig-kämpferisches Volk die Reiseberichte aus Samoa und damit auch die fotografische Inszenierung der männlichen Samoaner als (wenn auch exotische) Militärs prägt, die auf einem Gruppenbild auch schon mal preußisch salutieren und »Kaiser-Wilhelm-Schnurrbärte«17 tragen.
Dieser Zug der ehlersschen Darstellung entspricht damit dem zweiten Typus des von Daniela Magill (1989, 2) vorgeschlagenen Rasters möglichen Verhaltens bei der Berührung mit fremden kulturellen Kodes:
Bei der Berührung mit Fremdcodes kann, je nach Stärke und Verbindlichkeit der Eigencodes, folgendes geschehen:
1. Anpassung an die Fremdcodes, sie werden übernommen, die eigenen werden abgelegt
2. Unterwerfung des Fremden und seiner Codes, die eigenen werden aufrechterhalten, die fremden verschwinden
3. die eigenen Codes werden durch teilweise Übernahme der fremden angereichert, eine Vermischung findet statt.
Ehlers kokettiert zwar zuweilen mit der erstgenannten Möglichkeit, wenn er sich selbst etwa als »verwöhnter Kulturmensch« (69) denunziert und das einfache samoanische Steinbett lobt, klar bestimmend ist jedoch sein Drang zur Aneignung des Fremden und zur unhinterfragten Überschreibung von dessen Codes. Diese vollzieht sich durch die genannte Domestizierung der Südsee als heimat-tümelnde Idylle ebenso wie durch seine Bemächtigung des samoanischen Körpers. Die Nacktheit der Samoaner ist ein Faszinosum für alle Europäer der Zeit: die blanken Brüste der jungen Frauen, die muskulösen Körper der Männer, die kunstvollen Tätowierungen bis in den Genitalbereich. Ehlers kann seinen Lesern denn auch berichten:
Daß in Samoa nicht nur die Männer, sondern ausnahmsweise auch die Frauen mit der Tätowierharke in Berührung kommen, würde ich kaum erfahren haben, wenn nicht eine opferfreudige Vertreterin der edlen Weiblichkeit sich herbeigelassen hätte, mir im Interesse der Wissenschaft ein Privatissimum in der Plastik zu lesen. Die ganze außerordentlich diskret angebrachte Tätowierung besteht, wie ich dabei entdeckte, aus Punkten sowie Plus- und Minuszeichen. Ob hier ein tiefer Sinn im kindischen Spiele liegt, das zu ermitteln, ist mir nicht gelungen. (67)
Diese zwei Sätze geben ein ganzes Bündel an Informationen über die sexuelle Motivation der männlich-weißen Forscherlust preis: Die Samoanerin wird als eine Art Probandin vorgestellt, die sich für die Wissenschaft »opfert«, und das Rendezvous als »Privatissimum«, also als exklusive akademische Veranstaltung bezeichnet. Das Objekt des vorgeblichen Interesses – die Tätowierung – ist allerdings nicht deren Thema, sondern die »Plastik«, also der nackte Körper der Frau, und wird einmal mehr infantilisiert als »kindliches Spiel«, das kulturell näher zu verstehen augenscheinlich nicht lohnt beziehungsweise gar nicht Ziel der Übung ist,18 die sich schließlich in dem harmlosen Wörtchen »dabei« verrät: Dieses »dabei« verweist auf eine Tätigkeit, während derer Ehlers die Beschaffenheit der Zeichen wahrnimmt, besagte Tätigkeit selbst bleibt jedoch unbenannt und kann im genannten Kontext nur auf einen Sexualkontakt anspielen.
Bei aller Bedenkenlosigkeit einer solchen Inbesitznahme der Fremde, die sich auf Topografie (Entweihung Australiens), Ökonomie (Ehlers empfiehlt den Deutschen die Inbesitznahme Samoas als »wertvolle Kolonie« (145), die nicht nur Kokosprodukte, sondern auch erstklassige Kaffee- und Kakaobohnen [vgl. 99] liefern könne) und Menschen (Frauen) erstreckt: Ehlers ist sehr darum bemüht, seiner Leserschaft klar zu machen, dass man die Samoaner so sein lassen solle, wie sie sind. Gegen eine den Eingeborenen auferlegte Arbeitspflicht spricht er sich ebenso aus wie gegen ihre Missionierung oder »Zivilisierung« – die sichtbaren Folgen derselben rufen sogar höchsten Widerwillen in ihm hervor.
Daß die Kultur, die alle Welt beleckt, auch auf Samoa sich erstreckt und daß […] die christliche Petroleumlampe deutschen Fabrikates an Stelle des unchristlichen Herdfeuers getreten ist, daß es samoanische Häuser gibt, in denen sich neben der Kava-Bowle auch die Nähmaschine, die Schwarzwalduhr, der Schaukelstuhl und womöglich eine Flasche Lohses Maiglöckchen-Parfüm findet, darf nicht verschwiegen werden. Aber solche Haushaltungen sind auch heute noch, Gott sei Dank, Ausnahmen […]. (71)19
[…] bald waren es einige zum Gottesdienst gehende junge Mädchen, die mein Interesse in Anspruch nahmen. Um ihres Seelenhirten Wohlgefallen zu erregen, trugen sie anstatt der kleidsamen Landestracht lange, hemdartige Kattungewänder und europäische runde Strohhüte, die meist infolge langjähriger Dienstzeit und rücksichtsloser Behandlung aus Rand und Band gegangen waren. Warum Priester, Pfaffen und Missionare solche und ähnliche Geschmacklosigkeiten groß züchten, ist mir von jeher ein Rätsel […]. (81)
Auch bei als Plantagenarbeiter nach Samoa eingewanderten anderen Polynesiern moniert Ehlers, dass diese mit »dem Anziehen der ihnen verabfolgten Kleidungsstücke gleichzeitig einen großen Teil ihrer heimatlichen Sitten und Gebräuche ablegen.« (100) Der Wahrnehmung kultureller Degeneration setzt Ehlers »echt« gebliebene Samoaner entgegen: singende und trommelnde »Krieger […] mit blau und schwarz bemalten Gesichtern, kurzen Lendenschürzen aus Tapa oder Blattstreifen, Laubgewinde um Hals und Schultern« (81). Der von Ehlers stark emotional besetzte Gegensatz von falsch und echt kann sich sogar in der Beobachtung einer einzigen Person manifestieren, etwa des Mädchens Sifilina, das in exotischer Tracht »entzückend« (82) wirkt, in einem europäischen Ballkleid jedoch wie ein »in dem Trubel des Weihnachtsverkehrs schlecht behandelte[s] Postpaket« (83). Auch eine Gruppe samoanischer Missionsstudenten macht »von unten betrachtet, mit ihren bloßen Beinen und Lava-Lavas einen befriedigend stilgerechten Eindruck. Auf der oberen Körperhälfte trugen sie jedoch […] den Panzer des zivilisierten Menschen, das in Samoa den Gentleman machende gestärkte Oberhemd. Ist so etwas zu glauben? – Nein! […] Ich gerate jedesmal in eine gelinde Wut […].« (112) Das Bewertungsschema erstreckt sich weiterhin auf die Natur, die gelobt wird als »eine echt tropische« (67), und auf kulturelle Riten wie den Siva-Tanz, der in seiner europäisch-züchtig domestizierten Variante nurmehr »den Eindruck von Zimmergymnastik« (83) mache, während »Ein richtiger Siva […] in der Regel in einem ›fa muli pei pei‹ genannten Tanze« ende, »indem nur Anmut die Lenden der Tanzenden gürtet« (83) – was »meine kühnsten Erwartungen weit übertraf[ ].« (84) Inbegriff des degenerierten Samoaners ist der »König der Samoaner, Herr[ ] Malietoa Laupepa« (85). Laupepa wohnt europäisch, ist durch die Abhängigkeit von der Obrigkeit ebenso entmündigt wie von seiner Frau, die »die Königlichen Hosen anhat und den Pantoffel schwingt, wenn es in Samoa Hosen und Pantoffeln gäbe« (88), kann nicht mit Geld umgehen und ist so hoch verschuldet, dass »Königliche Wechsel […] selbst von Autographensammlern nicht mehr honoriert« (91) werden. Er wird als feige, dumm und fett charakterisiert (vgl. 86), übertroffen nur von seiner Gattin, die so monströs sei, dass ihre Schritte ein Erbeben auslösten und ihre Gestalt die Sonne verdunkle (vgl. 88). Ihm entgegengestellt wird der besagte »schneidige junge Königssohn mit seinem malerischen Gefolge« (132), den Rebellen.
Solange die Samoaner sich in Ehlers’ Augen wie Samoaner betragen, lässt er sie gelten und ist seine Schilderung im Vergleich mit anderen Texten der Zeit vergleichsweise frei von Rassismus. Das für den rassistischen Diskurs grundlegende dichotomische Schema bedient er gerade nicht, es gibt bei Ehlers eben im wahrsten Sinne des Wortes kein binäres Schwarz-Weiß-Denken, das Weißen stets zustimmen und Schwarze stets ablehnen würde. Jede Form von Hybridisierung kritisiert er jedoch scharf – und das nicht nur bei den Samoanern mit Schwarzwalduhren und Kattunhemden. Auch jenen Deutschen, die in den Kolonien »verengländern«, ist sein Zorn gewiss: »in Sydney lebende Damen«, die, »selbst wenn sie unter sich sind, englisch miteinander sprechen« (20) und korrespondieren, bezeichnet er als hochgradig »entartete Weiber« (21). »Daß die Kinder solcher Frauen – hoffentlich hat die Vorsehung ein Einsehen und schlägt sie mit Unfruchtbarkeit – schon bevor sie geboren, dem Deutschtum verloren sind, liegt auf der Hand.« (20f.) Der dafür verantwortliche Kulturimperialismus der Angloamerikaner wird daher von Ehlers verspottet, wo immer es nur angeht: Er zieht »einfache, saubere Gebäude« den »amerikanischen Städten«, wo »neben elenden Spelunken zwanzigstöckige Häuser, sogenannte Himmelskratzer, bis in die Wolken ragen« (18) vor. Eine Kulturlosigkeit vor allem der Amerikaner wird immer wieder beschworen: »Der Australier kaut im Gegensatz zum Amerikaner im allgemeinen weder Tabak noch Gummibonbons und ist denn auch im Vergleich zu diesem in Bezug auf Spucken ein wahrer Engel. Dennoch genügt das, was er in dieser Hinsicht leistet, vollauf, seine Gesellschaft einem Europäer hier und da zu verleiden.« (35) Die sozialen Verkehrsformen hätten in den Kolonien unter dem demokratischen Einfluss der Angloamerikaner stark gelitten, so echauffiert sich Ehlers über deutsche Dienstmädchen in Australien, die aufgrund zu hoher Gehälter und der Aussicht auf das Wahlrecht für Frauen ihre Stellung vergessen, sich »gesteppte seidene Unterröcke das Stück zu 60 – 100 Mark« (39) anschaffen und freche Reden gegen ihre Herrschaft führen (vgl. 40). Kein Wunder, da doch die demokratisierten Amerikaner – die Rede ist von einer Schiffsbesatzung – »sich mit den Mützen auf dem Kopfe, die Hände in den Hosentaschen, pfeifend oder singend im Salon herumräkelten« (48). An die Stelle geistiger Kultur trete bei den Angloamerikanern die Kultur des Geldes, die Kommerzialisierung durchziehe die gesamte Landschaft und Gesellschaft: Es gebe im Gegensatz zu Amerika »in Australien denn doch immer noch einige unbemalte Felswände und unbedruckte Zahnstocher.« (38) Doch auch hier gelte: »Alles ist ›business‹, ich möchte beinahe sagen selbst die Vergnügungen und die Frömmigkeit. Ich habe in Australien nie einer Unterhaltung gelauscht, in der nicht von Pounds, Schillings und Pence, Stock exchange, Goldshares u.s.w. die Rede war.« (38)
Besonders auf dem Dampfer nach Samoa gehen Ehlers die Amerikaner und Australier mit ihren rüpelhaften Manieren und ihrem pekuniären Imponiergehabe auf die Nerven: »Die Australier renommierten in Pounds, die Amerikaner in Dollars, die einen bezeichneten die anderen als ›uncivilized people‹, ›bushrangers‹ und was weiß ich sonst noch, so daß es mich heute noch wundert, daß alles ohne Keilerei und Boxerei abgegangen ist.« (47) Kurz: »fast durchweg Australier und Amerikaner von der schlimmsten Sorte« (47). Doch »Ein an Bord befindlicher Europäer schien sich gleichfalls in der Rolle des Amerikaners zu gefallen und suchte ihn an Rücksichtslosigkeit womöglich noch zu überbieten.« (47) Es ist besonders diese Imitation, die Ehlers aufs Korn nimmt. Eingerückt zitiert er leicht abgewandelt den Schiller-Vers »Auch wie er sich räuspert, und wie er spuckt, / Das hat er ihm gründlich abgeguckt.« (47) Sigmund Freud hat 1921 in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse jene Passage aus Wallensteins Lager als Illustration für seine Ausführungen zu Idealisierung und Identifizierung verwendet:
Es ist evident, daß der Soldat seinen Vorgesetzten, also eigentlich den Anführer, zum Ideal nimmt, während er sich mit seinesgleichen identifiziert und aus dieser Ichgemeinsamkeit die Verpflichtungen der Kameradschaft zur gegenseitigen Hilfeleistung und Güterteilung ableitet. Aber er wird lächerlich, wenn er sich mit dem Feldherrn identifizieren will. Der Jäger in Wallensteins Lager verspottet darob den Wachtmeister: Wie er räuspert und wie er spuckt, / Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt … (Freud 1972, 150)
Der amerikanisierte Europäer ist also von Ehlers über das allemal den Zeitgenossen geläufige Schillerwort als lächerlich anmaßend eingeführt, bevor er beschrieben wird: Es handelt sich um
einen amerikanischen Juden, dessen Wiege, wenn nicht alle Anzeichen trügten, in der Frankfurter Judengasse gestanden hatte. Er war einer der größten Renommisten, die wir an Bord hatten, und konnte den Mund nie voll genug nehmen – nebenbei bemerkt auch beim Essen, wo er sein Möglichstes tat, Herrn Claus Spreckels [d.i. der Reeder] zu schädigen. Was er aß und in welcher Reihenfolge er die Speisen genoß, war ihm gleichgültig: so sah ich ihn eines Mittags – der Kapitän ist mein Zeuge – gekochten Fisch mit Blumenkohl und Aprikosenkompott essen und dazu Kaffee trinken. Daß er, trotzdem er behauptete, kein Wort Deutsch zu verstehen, von Geburt mein Landsmann war, erkannte ich aus der Tapferkeit, mit der er mit dem Messer an seinem Munde herumfuhrwerkte. (47)
So wie die apathische Alte für die untergehende »Rasse« der »Australneger« steht und der so gänzlich unmajestätische »König der Samoaner, Herr[ ] Malietoa Laupepa« für die bereits degenerierte, von ihrer »echten« Lebensweise entfremdete Fraktion der Samoaner, avanciert bei Ehlers der Jude zum Pars pro toto für die abgelehnte Kultur der Amerikaner. Dass dieser Vertreter des antagonistischen Prinzips von Ehlers ausgerechnet als in Deutschland gebürtig entlarvt wird und das zudem nicht zugeben will, ist kein Widerspruch, sondern fügt sich nahtlos ein in Ehlers’ Bewertungsschema von echt vs. unecht: Das politische Prinzip der amerikanischen Demokratie mit ihrer Nivellierung der Standesunterschiede und der Verabschiedung einer durch die Geburt bestimmten Volkszugehörigkeit im Einwanderungsland Amerika sowie das ökonomische Prinzip eines auf den bloßen Tauschwert fixierten Kapitalismus, der ebenfalls nivellierend wirkt – etwa auf die europäischen Schafzüchter, denen mit den australischen Gefrierfleischimporten »enormer Schaden« (45) zugefügt würde –, lässt sich konsequenterweise veranschaulichen in der Projektion eines Juden, der als Person selbst festgeschriebene Identitäten unterläuft. Und da das amerikanische Prinzip, das sich auf abstrakte demokratisch-kapitalistische Verkehrsformen beschränkt, von Ehlers strikt abgelehnt wird, muss dessen Vertreter unbedingt in seiner Eigenschaft als hybride Figur lächerlich gemacht werden, und sei es in seinem Essverhalten. In der Gestalt des Juden verkörpern sich neben der »angloamerikanischen« Angeberei und Kulturlosigkeit auch Gier, Täuschung, sprachliche Inferiorität und sogar Schmarotzertum, wenn ihm vorgeworfen wird, am Buffet die »Schädigung« des deutschen Reeders zu betreiben. Ein als übersteigert geltendes Assimilationsbestreben deutscher Juden ist im Wilhelminismus sehr oft Anlass für ein Verlachen durch die Mehrheitsgesellschaft, die dieses Bestreben keinesfalls anzuerkennen gewillt ist.20 Die antisemitischen Zuschreibungen sind hier also offenkundig, folgen jedoch abermals keinem rassenbiologischen Muster, der Jude wird physiognomisch nicht beschrieben. Er wird allein für seine ökonomische und kulturelle Renommiersucht kritisiert – beziehungsweise dient das von Ehlers entworfene Zerrbild dazu, eben diese den Amerikanern zugeschriebenen Eigenschaften zu kritisieren. Da die angloamerikanische Kultur Ehlers zufolge auf eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche hinausläuft (»selbst die Vergnügungen und die Frömmigkeit«), bietet sich für ihn die Projektion eines Juden als Statthalter hierfür geradezu an, identifiziert der Autor doch die gesamte Sphäre des Handels als »jüdisch«: Bei der Beschreibung der Schafzucht preist er die geringe Arbeit, die die Züchter in Australien damit haben, die jedoch nach jeder Schur unterbrochen werde von den »Wollkäufern, Christen und Juden«, mit denen sie sich »herumzuärgern« (25) hätten – käme es auf die antisemitische Konnotation nicht an, wäre der vermeintlich egalisierende Zusatz »Christen und Juden« völlig verzichtbar. Expliziter wird Ehlers zumindest für den zeitgenössischen Leser bei der Beschreibung des Feilschens zwischen (deutschen) Matrosen und Samoanern: »Offiziere und Mannschaften handelten mit alten abgelegten Kleidungsstücken, als seien sie sämtlich auf dem seligen Mühlendamm in Berlin oder dem Steinweg in Hamburg groß geworden« (115). Beide Straßennahmen verweisen auf jüdische Viertel: Der Steinweg war Standort der Synagoge in Hamburg und in der antisemitischen Rhetorik wurden Juden als »Mühlendammer« (Herzig 1992, 14f.) nach diesem jüdischen Kleinhändlerviertel in Berlin bezeichnet.
Im Zentrum von Ehlers’ exotistischer, locker-unterhaltsamen Reisebeschreibung steht damit eine kritische Abrechnung mit Hybridisierungen aller Art:
– der Hybridisierung des Sozialen am Beispiel des gesellschaftlichen Aufstiegsversuches des rebellierenden Dienstmädchens und des aus einfachen Verhältnissen stammenden Juden, die durch die Lächerlichkeit der Imitation (der seidene Unterrock des Mädchens, Sprache und Benehmen des Juden) als scheiternde vorgeführt werden soll;
– der Hybridisierung der Geschlechter am Beispiel wahlberechtigter Frauen und der monströsen Frau des Königs von Samoa, deren Erscheinung als Schreckensbild für die vollzogene Vermännlichung der Frau und die damit einhergehende Entmachtung des Mannes fungiert;
– der Hybridisierung der Kultur am Beispiel der Englisch sprechenden deutschen Siedlerinnen oder der europäisch gekleideten Samoaner, die nicht mehr nackt gehen und keine »echte« Siva mehr tanzen;
– der Hybridisierung der Ökonomie am Beispiel des Imponiergehabes mit Dollars und Pounds und dem für den antisemitischen Diskurs der Zeit so zentralen Verweis auf die Börse:21 »Stock exchange, Goldshares u.s.w.« (38).
Der Börse als Schauplatz einer völlig entfremdeten Beziehung zu Arbeit, Ware und Besitz stellt Ehlers die Begegnung mit einem »bejahrte[n]« irischen »Krüppel« (27) gegenüber, der im australischen Ararat nur mit der Kraft seiner Arme nach Gold gräbt und dessen Existenz Ehlers Rührung und Respekt abnötigt. Sein Beispiel – er findet kaum etwas und ist bettelarm, will der Gesellschaft jedoch nicht als Almosenempfänger zur Last fallen und arbeitet daher unermüdlich – steht für das Prinzip direkter, »fassbarer« Arbeit und einer »unternehmerischen« Existenz in persönlicher Verantwortung, die das Prinzip der »Goldshares« nicht kennt und die von ihm vernichtet zu werden droht (wie auch die deutsche Schafzucht vom Importhandel): »der Kapitalist verdrängte den auf seine eigene Faust grabenden Abenteurer« (30), was der Reisende sehr bedauert (vgl. 27 u. 31). Ehlers stellt dieser Form des Kapitalismus wiederum einen »Kommunismus« der »echten« Samoaner gegenüber: »Freigebigkeit und Gastlichkeit das sind die beiden hervorstechendsten Eigenschaften des samoanischen Volkscharakters. […] Unter sich sind die Samoaner in einer Weise gastfrei und freigebig, die nahezu an Kommunismus grenzt und sogar der weiteren Entwicklung des Lands hinderlich ist.« (74f.) Der letzte Halbsatz verdeutlicht, dass die Opposition von Kapitalismus und Kommunismus kein politisches Plädoyer für eine der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftsformen impliziert. Ein Stellvertreter dieses »echten« Samoa ist Safu, ein 14-Jähriger, den Ehlers als »Hilfsdiener und Dolmetscher« (72) beschäftigt und der »in seinem Benehmen, in seiner Art zu denken und zu handeln, Samoaner vom reinsten Wasser war.« (74) Safu nutzt all seinen Lohn, um einem anderen Diener Geschenke zu machen. Mit Geld weiß er nichts anzufangen, den Wertunterschied zwischen einem Strohhut und einem Pferd kann er nicht begreifen. Ungeachtet dessen (oder gerade darum) ist er »ein reizend liebenswürdiger Junge von anschmiegendem, zutunlichem Wesen, hatte allerliebste Manieren und eine schnelle Auffassungsgabe. […] Er bewegte sich in der unbefangensten Weise, bescheiden und wohlerzogen, wie ein Knabe aus guter Familie […].« (72f.) Safu ist im Gegensatz zu dem Juden ganz er selbst, authentisch auch in seiner gutmütigen Trägheit, die ihm jede anstrengende Betätigung – die in Ehlers’ Samoa auch nicht nötig erscheint zum Überleben – verbietet. Da Samoa Ehlers’ Vorstellung vom »Paradies« (56) erfüllt, nimmt er zumindest die »reinen« Samoaner als unschuldige und unverdorbene Naturkinder war. Diese Vorstellung ist keineswegs eine christliche, sondern verdankt sich Jean-Jacques Rousseaus antizivilisatorischem Kulturpessimismus (»Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.«22), der im »edlen Wilden« sein Ideal gefunden hat: Jene Samoaner dagegen, die durch Missionierung hybridisiert wurden, fallen Ehlers insbesondere dadurch auf, dass sie unverschämt und respektlos sind, stehlen (vgl. 119) und für »das Herunterholen einer Kokosnuß, das Zeigen eines Weges oder einer Badestelle einen Dollar verlang[en]« (112). Kurz: Die kulturelle Hybridisierung des Paradieses bedeutet dessen Untergang, so wie die Hybridisierung der Geschlechterrollen und sozialer Rollen den Untergang eines festgefügten bürgerlichen Weltbildes bedeutet. Die unverdorbenen Samoaner zeichnen sich durch ihr Leben in Gemeinschaft aus, während all jene Figuren, die im Verlauf des Reiseberichtes Ehlers’ Missfallen auf sich ziehen, Produkte einer als schädlich empfundenen Vergesellschaftung sind.23 Und so steht der die Identität des deutschen Bourgeois sichernden Idee einer nationalen Gemeinschaft, die er in Samoa noch vorhanden glaubt, die nicht-identische Identität (vgl. hierzu Holz 2007, 37–57) des Juden als Verkörperung der Gesellschaft gegenüber, die auch in der Beschreibung jener Samoaner anklingt, die bereits durch Kulturkontakt korrumpiert sind. Ehlers’ Verwünschungen treffen damit stets Konstruktionen und Erscheinungsformen des Hybriden, mit denen die nationale Ordnung der Welt insgesamt in Gefahr gerät. Wie von Homi K. Bhabha (The Location of Culture. London 1994) zur Diskussion gestellt,24 erweist sich die Aneignung der Kultur der (Kolonial-)Herren durch die Subalternen (hier: Samoaner, Frauen, Juden, Dienstboten) stets als eine Verfremdung, die die herrschende Autorität untergräbt. Im durch Kontakt und Grenzüberschreitung eröffneten Raum zwischen den Kulturen, Geschlechtern, Rassen und Klassen verliert der weiße Mann an Macht, indem sich die Beherrschten seinem Zugriff zu entziehen drohen. Ehlers fasst diese Öffnung postkolonialer Räume durch Übersetzung, Identifikation, Aushandlung und Mimikry (die zentralen von Bhabha beschriebenen Strategien) aus seiner Perspektive durchaus folgerichtig als Bedrohung seines Weltentwurfs, von ihm metaphorisiert als Verunreinigungen und Verfälschungen herrschender Diskurse, auf. Und zumindest in dieser Hinsicht ist das eingangs beschworene »Phänomen« Otto Ehlers dann doch ein eher konventionelles Beispiel für den konservativen Reflex auf die gesellschaftlichen Umbrüche in der Moderne. Den deutschen Weltreisenden des 19. Jahrhunderts ereilt auch hier auf Samoa, wo sich seine Spur zu verlieren beginnt, das Schicksal, stets zu spät zu kommen.
Anmerkungen
1 An indischen Fürstenhöfen. 2 Bde. Berlin 1894 (drei Aufl. allein im Erscheinungsjahr); Im Sattel durch Indochina. 2 Bde. Berlin 1894 (1901 bereits in 6. Aufl.); Samoa. Die Perle der Südsee. Berlin 1895 (zwei Aufl. im Erscheinungsjahr); Im Osten Asiens. Berlin 1896 (drei Aufl. im Erscheinungsjahr).
2 Vgl. Ehlers 2008, 9 u. 56f. Die Originalausgabe von 1895 findet sich im Internet unter http://books2ebooks.eu/media/ebooks/UBI07A001350_chapter1.pdf [15.05.2011].
3 Vgl. hierzu Giesen 1984 (Bismarck war wenig erfreut von den nationalistischen Bestrebungen seiner Konsuln auf Samoa und sprach bald nurmehr von deren Flaggenhissungen, Memoranden und Alleingängen als Ausdruck eines »morbus consularis«, vgl. ebd., 198 u. 213.)
4 Vgl. hierzu das Nachwort der bibliophilen Neuausgabe von Ehlers’ »Samoa«: Hiery 2008, 149–187, sowie den Beitrag zum Phänomen des »Kannibalismus in Deutsch-Neuguinea« von Haberberger 2002, 312–321.
5 Vgl. Hiery 2008.
6 Vgl. DiPaola 2004, 49–52 u. 155–158. – Ehlers selbst weiß von den Vorgängen etwa in Kamerun, wo »mit Nilpferdpeitschen […] die guten Formen verletzt worden seien« (Ehlers 2008, 87). Der Historiker Thomas Morlang hat jüngst eine vergessene deutsche ›Strafexpedition‹ auf den Karolinen aufgearbeitet, die – eher untypisch für die ›Deutsche Südsee‹ – dem unbedingten Unterwerfungswillen der Deutschen in Afrika und ihrer Politik der verbrannten Erde entsprach. Die Verantwortlichen waren denn auch Kolonialbeamte, die sich zuvor bereits einen zweifelhaften Ruf in Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika erworben hatten; vgl. Morlang 2010.
7 | Im Reichstag wurde Samoa etwa von dem Christsozialen Friedrich Mumm als »Musterländle« bezeichnet, was von Seiten der SPD nicht unwidersprochen blieb (vgl. Samulski 2004, 329). Eine Idealisierung der friedlich verlaufenen 14 Jahre deutscher Kolonialherrschaft auf Samoa vor allem unter dem Gouverneur Wilhelm Solf (1900–1911), wie sie etwa die Darstellung Horst Gründers (1995, 181–188) durchzieht, scheint jedenfalls unangebracht. So schrieb Solf 1908 in einer Denkschrift: »Wenn Deutschland aber als Kolonialmacht unter eingeborenen Völkern niederer Rasse Erfolg haben, wenn der einzelne Deutsche als Repräsentant dieser Macht sein Prestige als Weißer und als Herr nicht einbüßen will, dann muß Deutschland in seinem Ehrenkodex des Begriff des Rassenstolzes und der Rassenreinheit aufnehmen.« (Zit. n. Samulski 2004, 342.) Dass etwa keine Bilder von körperlicher Züchtigung und Misshandlung aus der ›deutschen‹ Südsee existieren, sollte keineswegs Anlass »zu abenteuerlichen Behauptungen« in Richtung einer Idealisierung geben, so Hiery (2005, 9).
8 Vgl. DiPaola 2004, 142–154.
9 »[…] daß die Europäer hierherkommen, um möglichst viel Geld zu verdienen« (Ehlers 2008, 61), es daher auch beim Anwerben auswärtiger Arbeitskräfte »nicht ganz zwanglos« (ebd., 96) zugehe.
10 Ehlers selbst trug deutliche »Schmisse« im Gesicht, vgl. das Porträt im DFG-Projekt »Bildarchiv der deutschen Kolonialgesellschaft« unter www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de/Bildprojekt/frames/hauptframe.html [15.05.2011].
11 Der Bürgerkrieg als »Schützenfest mit Gesang und Tanz und gelegentlichem Kopfabschneiden« (Ehlers 2008, S. 76), die »Kindlichkeit ihrer Kriegführung« (ebd., S. 79), das Kriegslager der Rebellen als »Kleinkinderbewahranstalt« (ebd., 134) – »Mit einem Worte, die ganze Geschichte machte den denkbar kindlichsten Eindruck.« (Ebd.)
12 Der Name scheint nicht auf die Syphilis anzuspielen, sondern auf Samoa gebräuchlich.
13 Vgl. Tonin 2002, 209.
14 Ein gängiges Muster: »Im kolonialen Diskurs der (phantasmatischen) Raumbeherrschung stellt sich zugleich ein klares Schema der Gender-Zuweisung ein: Die den Raum erobernden Helden sind männlich, aktiv, extrovertiert, die ›wartenden‹ Gebiete hingegen werden mit weiblicher Semantik konnotiert […].« (Honold 2010, 2.)
15 Im Hinblick auf Ehlers’ ausgeprägtes antibritisches Ressentiment könnte schon die Benennung Hawaiis nach dem korrupten John Montagu, dem IV. Earl of Sandwich, sein Missfallen erregt haben.
16 Jäger 2008; vgl. hierzu auch Jäger 2009, 467–489.
17 Hiery 2002, Abb. 106 (siehe die Bildunterschrift, die dieselbe Fotografie auf »ca. 1908« datiert).
18 Vgl. zur »Tatauierung« Bargatzky 2002, 607–635, insbes.: 616 (Abbildung von 1896 nach Felix v. Luschan) u. 617ff. (Abschnitt »Mana, tapu und Tatauierung – Die Einbindung des Menschen in den Kosmos«).
19 Bilder eines solchen Kontrastes von Tradition und Moderne, allerdings in Neuguinea, finden sich z.B. in Hiery 2002, Abb. 66–68.
20 Was sich etwa in den zahllosen antisemitischen Postkarten der Zeit niederschlägt, vgl. hierzu Haibl 2000 u. Bajohr 2003.
21 Vgl. zu diesem Topos ausführlich Schößler 2009.
22 So der erste Satz in Rousseaus »Emil oder Über die Erziehung« (1998, 9).
23 Ob Ehlers das erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts populär gewordene Werk »Gemeinschaft und Gesellschaft« (erstmals 1887 erschienen) des Soziologen Ferdinand Tönnies kannte, ist nicht bekannt.
24 Vgl. in deutlich mehr um Verständlichkeit bemühten Worten die Darstellungen des Ansatzes durch Bonz/Struve 2006, 140–153, sowie Castro Varela/Dhawan 2005, 83–110.
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