Treue zwischen Sprachen und Kulturen anhand einer Analyse der deutschen Übersetzung von Aminata Sow Falls Roman L’appel des arènes
AbstractMy purpose in this contribution is to explore the issue of faithfulness in the translation of Aminata Sow Fall’s novel L’appel des arènes into German. Instances from the translation of the above mentioned literary work show that some differences between the source text and the target text at the semantic level enable better intercultural communication. However, in some cases, the faithful translation of items from the French original text reveals differences to the source culture. This can be explained by the fact that the original text is not written in the mother tongue of the author, which is very close to the source culture. Starting from these considerations, I focus my analysis on aspects related to the relationship between the source language and the source culture and between culture and translation in order to examine contextually the central issue of faithfulness in the context of literary translation.
Title:Faithfulness Between Languages and Cultures: An Analysis of the German Version of Aminata Sow Fall’s novel L’appel des arènes
Keywords:faithfulness; translation; culture; intercultural communication; Fall, Aminata Sow (* 1941)
Einleitung
Mit den »cultural turns« zeichnete sich in der Übersetzungswissenschaft eine Neuorientierung ab, die den Kulturbegriff in den Vordergrund rückte. Die Schwerpunktsetzung auf den Kulturbegriff lässt sich weitgehend auf das immer wieder betonte Verhältnis zwischen literarischer Übersetzung und interkultureller Kommunikation zurückführen. Ein wichtiger Begriff, der im Spannungsfeld zwischen den am Übersetzungsprozess beteiligten Sprachen und Kulturen steht, ist die »Treue«, die im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht. Es wird oft davon ausgegangen, dass die Originaltexttreue, die meist in Verbindung mit ausgangssprachorientierten Übersetzungsverfahren gebracht wird, im Vergleich zu zielsprachlich orientierten Strategien am besten eine interkulturelle Kommunikation fördert. Dadurch können die Besonderheiten des Textes in der Ausgangssprache und der damit verbundenen Ausgangskultur vermeintlich besser berücksichtigt werden. Doch ist dies immer der Fall? Der Beitrag steht in diesem Sinne unter der Leitfrage, ob und inwiefern die Treue zu einer besseren Kenntnis der Ausgangskultur beiträgt. Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst, den Begriff der Treue innerhalb der übersetzungswissenschaftlichen Diskussion kurz zu erläutern. Dieser Kernfrage wird des Weiteren anhand einiger Beispiele aus der Übersetzung von Aminata Sow Falls Roman L’appel des arènes nachgegangen. Im Zentrum der Überlegungen steht die Frage der Texttreue bei der Übersetzung von literarischen Texten, in denen die Sprache des Originals und die Ausgangskultur der Autorin nicht übereinstimmen. Ein weiteres Anliegen des Beitrags ist die Frage, wie sich das Konzept der Interkulturalität zur Problematik der Treue am Beispiel dieser Übersetzung verhält.
Einleitendes zum Begriff der »Treue«
Bevor ich zur Analyse der einzelnen Beispiele komme, sei hier kurz auf die Anwendung des Begriffs der Treue eingegangen. Hierbei geht es um einen in der Übersetzungswissenschaft ziemlich kontrovers debattierten Begriff. In rezeptionsästhetischer Hinsicht bleibt die Frage offen, ob für den Übersetzer der eigenkulturelle Kontext des zu übersetzenden Werkes oder eher der des zielsprachlichen Publikums determinierend ist. Angesichts der Schwierigkeit, ja sogar Unmöglichkeit, eine hundertprozentig getreue Textwiedergabe zu realisieren, werden meist Ansätze postuliert wie ›traduttore, traditore‹. Von Unübersetzbarkeit wird vor allem gesprochen, wenn es um Texte geht, in denen die Ausdrucksfunktion überwiegt und die unter Wahrung der spezifischen Ausdrucksweise des Autors übersetzt werden (vgl. Reiß / Vermeer 1984: 1). Gängige Übersetzungstheorien, welche die Treue eher als unerreichbares Ziel betrachten, verstehen darunter den Versuch, für Textelemente der Ausgangssprache möglichst nahe Äquivalente (»closest natural equivalent«, Nida 1966: 19) der Zielsprache zu finden.
Jedoch muss präzisiert werden, dass die Treue sich sowohl auf die Form als auch auf den Inhalt beziehen und ferner auch Aspekte wie Autorenabsicht und Wirkungsadäquatheit mitmeinen kann. So unterscheidet beispielsweise Werner Koller (1979) zwischen denotativer, konnotativer, textnormativer und pragmatischer Äquivalenz, die vom Zweck des Translats abhängen können, bei dessen Ermittlung wiederum Produktionskontext und die Intentionen der vermittelnden Instanz (Übersetzer, Verlag etc.) eine wichtige Rolle spielen. Aus kommunikativer Sicht wird davon ausgegangen, dass kein Wort einer gegebenen Sprache einem Wort aus einer anderen Sprache äquivalentgemäß entsprechen kann (vgl. Brahima 2014: 64), was bei André Lefevere folgendermaßen zum Ausdruck kommt: »It is very difficult, if not down impossible, to find a word or expression in the target language which is the equivalent in both sense and communicative value of a word or expression in the source language.« (Lefevere 1975: 35)
Die hier dargestellte Schwierigkeit liegt grundsätzlich in der Kulturgebundenheit literarischer Texte. Eine Herausforderung besteht bei der Übersetzung darin, für kulturspezifische Textelemente der Ausgangssprache in der Zielsprache sinnadäquate lexikalische Entsprechungen zu finden. Dadurch wird die Treue von vornherein kritisch hinterfragt.
Zu diesen Problemen kommen andere hinzu: Das Lesepublikum des Originals unterscheidet sich von dem der Übersetzung. Es ist offenkundig diffizil, sowohl die stilistischen und inhaltlichen Besonderheiten des ausgangssprachlichen Textes als auch die kulturellen Eigenheiten des Zielpublikums gleichberechtigt zu behandeln. Dieses schwer überwindbare Dilemma hat Theoretiker zu neuen Definitionsversuchen des Begriffs ›Übersetzen‹ bzw. ›Translation‹ geführt. Eugene Nida bemerkt dazu: »Translation consists in producing in the receptor language the closest natural equivalent to the message of the source language, first in meaning and secondly in style.« (Nida 1966: 13) Er gibt dem Inhalt also eindeutig den Vorzug vor der Form. Andere Theorien setzen den Akzent auf den hermeneutischen Aspekt. Dabei ist die Perspektive des Übersetzers als Rezipient wieder entscheidend bei der Übertragung der ausgangssprachlichen Botschaft. Die Treue hängt so von seinem Verständnis des zu übersetzenden Textes ab, einem Verständnis, das wiederum durch den kulturellen Horizont des Übersetzers beeinflusst wird. Dies ist für die vorliegende Forschungsfrage umso wichtiger, als die Übersetzerin des Romans nicht aus ihrer, sondern in ihre Muttersprache übersetzt. Einerseits ist es vermeintlich leichter, in die Muttersprache zu übersetzen, andererseits darf die Bedeutung der Rezeption des Ausgangstextes durch den Übersetzer keineswegs unterschätzt werden. Im literarischen Rezeptionsprozess spielen schließlich Faktoren wie Gattung, Periode, Gesamtœuvre, Stil, Motivation des Autors etc. eine Rolle.
Ausgehend von all diesen Betrachtungen hinterfrage ich in den nächsten Analyseschritten den Begriff der Treue anhand einzelner Beispiele.
Treue zwischen Ausgangssprache und Ausgangskultur
In der literarischen Übersetzung gilt nicht immer die Regel, dem Original lexikalisch so nahe wie möglich zu entsprechen bzw. den ausgangsprachlichen Text adäquat zielsprachlich zu rekonstruieren. In gewissen Fällen kann sich der Übersetzer mehr oder weniger vom ›heiligen Original‹ entfernen und somit seinen eigenen Stil reflektieren. Dabei verspricht er sich meist mehr Klarheit in der Formulierung zielsprachlicher Äußerungen: »Oft widerstehen Übersetzer der Versuchung nicht, den zu übersetzenden Text ›deutlicher‹ formulieren zu wollen als das Original. Sie versuchen, unklare Stellen im Roman – oder jene, die sie für unklar halten – zu verdeutlichen.« (Tene 2004: 196)
Ein solches Verfahren impliziert allerdings nicht zwingend eine Entfernung von der Ausgangskultur, der Übersetzer kann vom ausgangsprachlichen Text abweichen und trotzdem zu einer besseren Kenntnis der Ausgangskultur beitragen. So gesehen kann der Text der Zielsprache sich besser nach der Ausgangskultur ausrichten, wenn es das Anliegen des Übersetzers oder des Auftraggebers ist. Im folgenden Beispiel kann das oben dargestellte Verfahren außerdem durch den Versuch begründet werden, Mehrdeutigkeiten vorzubeugen: »Nalla s’ennuyait-il dans cette maison, sans frère, sans sœur, sans personne avec qui partager ses jeux?« (Fall 1993: 16); »Langweilte sich Nalla in diesem Haus, ohne Bruder, ohne Schwester, ohne ein Kind, mit dem er spielen konnte?« (Fall 2001: 14)
Die Übersetzung resultiert aus einer bewussten Interpretation des ausgangssprachlichen Textes vor dem Hintergrund seiner Kulturgebundenheit. Die Übersetzung des Worts »personne« (»jemand«) durch das Hyponym »Kind« ist nicht wort- bzw. sinngetreu. Jedoch ist sie nicht nur kontextadäquat, sondern auch der Ausgangskultur näher. Dem Romanprotagonisten Nalla, der als Einzelkind dargestellt wird, fehlt sicher die Anwesenheit anderer Kinder ungefähr gleichen Alters, mit denen er zusammen spielen könnte, insbesondere wenn man die Wichtigkeit gemeinschaftlicher Spiele im ausgangskulturellen Kontext betrachtet. Chateaubriands Einstellung »la fidélité, même quand la beauté lui manque, a son prix« (Mounin 1994: 58) ist zwar begründet; doch es ist zu erkennen, dass mehr Klarheit und Präzision den Sinn des Originaltextes nicht übermäßig beeinträchtigen. Die Sorge um solche Präzision bringt einige Übersetzer dazu, ein interpretatives Verfahren vorzunehmen, das die kontroversen Probleme bei der Erstellung einer Balance zwischen ›Schönheit‹ und ›Texttreue‹ hervorruft. Diese bipolare konzeptuelle Beziehung zwischen Schönheit und Texttreue verdeutlicht, die Übersetzung sei eine Interpretation, indem sie in einer anderen Sprache an die Stelle des Ausgangstextes tritt (vgl. Greiner 2004: 103).
Wenn man den Besonderheiten des Originaltextes treu zu bleiben versucht, indem man eine wortwörtliche Übersetzung vornimmt, ist die Frage relevant, ob das Resultat der Übersetzung auf das anderskulturelle Lesepublikum genauso wirkt wie der ausgangssprachliche Text auf seines. Dabei rückt zugleich die Bedeutung des Übertragenen in den Fokus, denn wortgetreu übersetzen heißt noch lange nicht, sinngetreu vorzugehen.
Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass im postkolonialen Kontext Werke bestimmter afrikanischer Autoren schon als eine Form der Intertextualität gelten. Der afrikanische Autor, der vermeintlich in seiner Muttersprache denkt und in der ehemaligen Kolonialsprache schreibt, gilt in gewisser Hinsicht als erster Übersetzer seines Textes aus seiner afrikanischen Denksprache in die europäische Sprache. Diese Situation bezeichnet Alexandre Ndeffo Téné als »zweidimensionale literarische Übersetzung« (Tene 2004: 171). Ohne diesen Ansatz zu debattieren, möchte ich versuchen herauszufinden, ob und inwiefern bei der Übersetzung solcher ›hybriden‹ Texte getreu vorgegangen wird, und wie sich so ein Vorgang auf die Rezeption aus interkultureller Sicht auswirken kann. Dazu bediene ich mich eines Beispiels: »Sache seulement qu’un séjour dans le fleuve ne fera jamais d’un bâton un crocodile« (Fall 1993: 64); »Du solltest aber daran denken, dass auch ein jahrhundertlanger Aufenthalt in einem Fluss aus einem Stück Holz noch kein Krokodil macht« (Fall 2001: 65).
Der Teilsatz »un séjour dans le fleuve ne fera jamais d’un bâton un crocodile« ist nichts anderes als die wortwörtliche Übersetzung eines in der Wolof-Sprache, der meistgesprochenen Sprache im Senegal, bekannten Sprichworts: »Bant, lumu yàgg yàgg cig dex, du tax mu soppiku jasig«. Dieses Sprichwort ist auch in anderen afrikanischen Ländern wie Mali und Sudan geläufig und als deutschsprachiges afrikanisches Sprichwort auch bekannt unter »Egal wie lange ein Baumstamm im Wasser liegt, er wird nie ein Krokodil werden.« Es drückt Kritik an kultureller Verfremdung aus. Damit will die sprechende Figur auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, in den eigenen Werten einzuwurzeln. Die Spuren des Wolof beeinträchtigen in beiden Beispielen das Verständnis des Textes nicht übermäßig. Hier kann von einer Kombination aus wort- und sinngetreuer Übersetzung bzw. von der gleichen Berücksichtigung von Form und Inhalt gesprochen werden. Ein Vorwurf im Hinblick auf das Verfahren der Übersetzerin könnte sein, dass der übersetzte Text fremd wirkt, insbesondere, wenn man Fritz Güttingers Feststellung beherzigt, »von einer Übersetzung, die man gut findet, sagt man gewöhnlich, man merke gar nicht, dass es eine Übersetzung sei« (Güttinger 1963: 7). Aber genau die Fremdheit, die mit der Aufrechterhaltung der sprachästhetischen und stilistischen Merkmale des Originals erzielt wird, ermöglicht es dem deutschsprachigen Lesepublikum, nicht nur den Stil der Autorin wahrzunehmen, sondern auch Einblicke in Denk- und Verhaltensweise senegalesischer Figuren zu gewinnen, die durch deren Sprachen und Sprechart zum Ausdruck kommen. In diesem Sinne ist die produktive Rolle der Übersetzerin bei der Herstellung einer interkulturellen Kommunikation durch das Streben nach bestmöglicher Originaltexttreue nicht zu unterschätzen.
Texttreue zwischen Kultur und Übersetzung
Bereits bei der literarischen Originaltextproduktion kann die Frage der Treue zwischen dem Französischen und dem Wolof aufgeworfen werden, wenn das Wolof als Muttersprache und / oder Denksprache angesehen wird. Anders gewendet: Können im Originaltext verwendete französische Wörter als textadäquate Entsprechungen zu entsprechenden Wolof-Begriffen betrachtet werden? Und weiter: Wie sind sie ins Deutsche übersetzt worden?
Beim Lesen des Romans fällt die Diskrepanz zwischen dem Französischen als Sprache der literarischen Kommunikation und dem Wolof auf. Das folgende Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeit, Wörter auf Französisch auszudrücken, die in der Ausgangskultur verankert und auf Wolof, die Muttersprache der Autorin, gedacht sind: »Ils ne portent plus qu’un pagne noué en forme de caleçon« (Fall 1993: 154).
Die Ringkämpfer, von denen hier die Rede ist, tragen ein »ngemb«, das einzige Kleidungsstück für die traditionellen Ringkämpfer in Kampfsituationen. Da das Wort keine lexikalische Entsprechung im Französischen oder im »Français du Sénégal« aufweist, galt für die Autorin als Lösung der Rückgriff auf die Paraphrase durch »pagne noué en forme de caleçon«. Die Übersetzerin begnügt sich damit, die Paraphrase wortwörtlich zu übertragen: »Sie trugen ein zur kurzen Hose geknotetes Pagne« (Fall 2001: 164).
Der Übersetzerin kann nicht vorgeworfen werden, das Original nicht texttreu behandelt zu haben, im Gegenteil. Das Problem ist bereits bei der Erarbeitung des Ausgangstextes aufgetreten. In diesem Zusammenhang betont Zrendt, es sei ein ungeheurer Unterschied zwischen Muttersprache und einer anderen Sprache und es gebe keinen Ersatz für die Muttersprache (vgl. Zrendt, zit. n. Brahima 2014: 101). Der Originaltext ist für den französischsprachigen fremdkulturellen Leser nicht leicht rezipierbar, ebenso wenig wie der zielsprachliche Text für den nichteingeweihten deutschsprachigen. Die Schwierigkeit besteht für Letzteren außerdem darin, dass in der Paraphrase zugleich von einem fremdsprachigen Wort, »Pagne«, Gebrauch gemacht wird. Dieses wird zwar in einer Anmerkung erläutert, doch diese steht nicht in einer Fuß-, sondern als Endnote im Anhang, was für das Lesen eine Hürde ist.
Im folgenden Beispiel geht es um ein Wort, das zwar eine lexikalische Entsprechung im Deutschen aufweist, doch im ausgangskulturellen Kontext eine andere Konnotation hat als im zielkulturellen.
Als Ndiogou, der Vater der Hauptfigur Nalla, am Kampfplatz ankommt, wo das Duell zwischen den zwei besten Ringkämpfern des Landes, Malaw und Galadio, stattfinden soll, wundert er sich, eine Menge Leute zu sehen, die sich vor dem Schalter drängen, um Eintrittskarten zu kaufen. Da spricht ihn ein Unbekannter an: »Tu perds ton temps, mon frère […] tu n’atteindras jamais les guichets« (Fall 1993: 148); »Du vergeudest deine Zeit, ›Bruder‹ […] du wirst nie zur Kasse kommen« (Fall 2001: 158).
Der Ausdruck »mon frère« ([mein] Bruder) steht hier nicht für die Bezeichnung einer familiären Mitgliedschaft, wie er meist in indoeuropäischen Sprachen zum Ausdruck kommt. Im afrikanischen Kontext bzw. in der französischen Umgangssprache wird er oft als Anrede benutzt und drückt meist nichts anderes aus als Sympathie gegenüber Mitmenschen. Daher kann kontextuell ausgedeutet werden, dass der Mann, der Ndiogou angesprochen hat, nicht dessen Bruder im wörtlichen Sinne ist. Die beiden kennen sich nicht einmal. In dieser Hinsicht wird mit der wortgetreuen Übersetzung eine Besonderheit der Ausgangskultur im Umgang mit alltagsspezifischen Anredeformeln betont und vermittelt. Daher entspricht hier die Originaltexttreue gleichzeitig der Vermittlung ausgangskultureller Besonderheiten. Doch sei präzisiert, dass die Texttreue, wenngleich sie die Aufrechterhaltung des Lokalkolorits des Originals ermöglicht, nicht immer im Mittelpunkt übersetzerischer Verfahren steht. Hierauf geht der nächste Abschnitt näher ein.
Fremdkulturvermittlung zwischen Treue und Abweichung
Wie eben angedeutet, ist die Übersetzerin von Aminata Sow Falls Roman nicht immer auf Originaltexttreue bedacht. Hierzu seien im Folgenden lediglich zwei exemplarische Fälle dargestellt und kurz diskutiert.
Diatou, die Mutter des Hauptprotagonisten, ist empört, als sie den Nachhilfelehrer Niang sieht, wie er mit ihrem Sohn trommelt, anstatt zu pauken. Sie drückt ihre Unzufriedenheit mit Herrn Niangs Verhalten so aus: »Regardez un peu vos orteils craquelés par le vent et la poussière et qui dépassent de vos sandales exténuées!« (Fall 1993: 91) »Sehen Sie sich einmal Ihre ungepflegten Füße an und Ihre alten, schmutzigen Sandalen!« (Fall 2001: 93)
Das Wort »exténué« erweist sich bereits im Originaltext als problematisch, denn es bezieht sich im Französischen normalerweise auf Personen und bedeutet in diesem Sinne »erschöpft«, »sehr müde«. Es wird im vorliegenden Beispiel aber auf Dinge angewendet. Im Wolof kann sich dieses Adjektiv, »sonn«, im übertragenen Sinne auch auf Dinge beziehen. Insofern verdeutlicht der Wolof-Ausdruck »carax yu sonn« (wortgetreu »erschöpfte Sandalen«) als Subtext, dass die gemeinten Sandalen im weitesten Sinne sehr abgetragen sind. Ein Wolof-Muttersprachler kann leicht erschließen, dass die Autorin im Prozess der literarischen Textverarbeitung diesen Wolof-Ausdruck gedanklich vorformuliert, schriftlich aber wortwörtlich ins Französische übertragen hat. Ob dadurch suggeriert wird, dass die sprechende Figur, nämlich Diatou, weil und obwohl sie als europäisch wirkende Protagonistin dargestellt wird, sich auf Wolof ausdrückt oder hierbei der Stil bzw. das Sprachbewusstsein der Autorin determinierend ist, bleibt offen. In allen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass die Abweichung vom Originaltext auf der semantischen Ebene keine großen Konsequenzen nach sich zieht; und der übersetzte Text wirkt zugleich flüssig und verständlich. In diesem Zusammenhang kann man sich Jiří Levýs Ansatz anschließen, der meint, man müsse damit rechnen, dass eine wortgetreue Übersetzung noch nicht das Verständnis eines Textes beweise (vgl. Levý 1969: 43).
Fraglich ist im oben zitierten Beispiel, ob die Übersetzerin als Rezipientin des Ausgangstextes die darin enthaltenen Spuren des Wolof erkannt und ob sie sich bewusst für eine freie Übersetzung entschieden hat. Die Existenz eines Wolof-Subtextes lässt sich schließlich nur dann erkennen, wenn man die Muttersprache der Autorin beherrscht, weil der Text an sich nicht fixiert ist, sondern, wie bereits in anderem Zusammenhang betont, nur im Kopf der Autorin vorformuliert worden war. Khadi Fall resümiert das Problem wie folgt: »Zusammenfassend […] kann man sehen, welche Komplikationen eintreten, wenn sich die Sprache des Ausgangstextes von der Sprache der Ausgangskultur unterscheidet, oder anders gesagt, wenn die Sprache, in der der Text geschrieben ist, der Sprache nicht entspricht, in der der Autor denkt.« (Fall 1996: 6)
Khadi Fall vertritt die These, ein guter Schriftsteller sei nicht unbedingt ein guter Übersetzer (vgl. ebd.: 206) – um auf die Komplexität des Schreibens afrikanischer Autoren in der ehemaligen Kolonialsprache hinzuweisen. In jedem Fall geht es meiner Meinung nach vor allem um eine bewusste Entscheidung seitens jener Autoren, die durch diese Ästhetik ihren Werken eine Originalität und ›Afrikanizität‹ verleihen. Um diese Afrikanizität ästhetisch zu vermitteln, hätte die Übersetzerin »sandales exténuées« wortwörtlich durch »erschöpfte Sandalen« übersetzen können. Dadurch wäre sie zwar dem Originaltext wortgetreu geblieben; der Text aber würde arg verfremdet wirken.
In dieser Hinsicht gibt die Übersetzerin den Ausdruck kontextuell mit »alt« wieder. Das adjektivische Attribut »schmutzig«, das als zusätzliches Element in Verbindung mit »Sandale« verwendet wird, bezieht sich wahrscheinlich auf den im Original gemeinten Wind und Staub, die die Schuhe von Herrn Niang rissig (»craquelés«) bzw. schmutzig gemacht haben. Es akzentuiert jedenfalls die negative Konnotation, die allein durch den oben erläuterten Wolof-Intertext zum Ausdruck kommt, obwohl dadurch die Treue verletzt wird. Das Verfahren der Übersetzerin Cornelia Panzacchi zeigt insofern, dass sie den Ausdruck im Kontext versteht:
Ich habe ein bisschen Wolof gelernt, aber diese Redewendung kannte ich nicht. Hier hielt ich mich an den Kontext. Grundsätzlich habe ich aber sowohl mit Übersetzungen aus dem Italienischen als auch aus dem Französischen die Erfahrung gemacht, dass ich das Sprachregister ein bisschen »herunterschrauben« muss, weil häufig, besonders bei Adjektiven in diesen Sprachen, von den Autoren Wörter benützt werden, die bei wortwörtlicher Übersetzung ins Deutsche viel zu »hochgestochen« klingen würden, wie man umgangssprachlich sagt, also zu gewählt oder elegant. (Zit. n. Ndong 2014: 65)
Aus dem Zitat geht hervor, dass die Übersetzerin die Sprache, in der die Autorin denkt, nicht beherrscht, wenngleich ihre gewinnbringende Erfahrung mit der Übersetzung aus europäischen Sprachen nicht zu unterschätzen und der Kontext ihr auch meist bei übersetzerischen Lösungsstrategien behilflich ist. Ist der Kontext dann nicht eindeutig, gibt es aber Probleme. So verhält es sich mit der Übersetzung von »chambre« durch »Raum« im folgenden Beispiel: »Ils vivaient dans la même chambre« (Fall 1993: 97); »Sie lebten in einem Raum zusammen« (Fall 2001: 100). Gemeint sind mit dem Personalpronomen »sie« der Großvater von der Figur Malaw und sein Pferd. Mit diesen Worten erzählt Malaw, der Ringkämpfer, seinem Freund Nalla von der Geschichte seines Großvaters, der ein Pferd besaß, das ihm sehr ans Herz gewachsen war.
»Chambre« ist hier zu verstehen als die wortgetreue Übersetzung des Wolof-Subtextes »néeg«, »Zimmer«. Das Wort entspricht im Französischen »chambre«, was in dieser Sprache auch »Raum« bedeuten kann. Hiervon kann die deutsche Übersetzerin ausgegangen sein, weshalb sie das Wort nicht etwa durch »Zimmer«, sondern durch »Raum« wiedergegeben hat. Bei dem Versuch, in der Zielsprache eine möglichst sprachlich und inhaltlich genaue Wiedergabe des Gedankeninhalts zu erzielen, spielen nicht nur Kenntnisse der Ausgangskultur eine wichtige Rolle, sondern auch die Beherrschung der Sprache, in der sich diese Kultur ausdrückt. Aus der Perspektive einer deutschen Übersetzerin könnte »Raum« zwar als geeigneteres Wort betrachtet werden. Doch der Satz, so wie er im Original ausgedrückt wird, kann zu verstehen geben, dass Malaws Großvater und sein Pferd sehr eng vertraut miteinander gewesen sind, daher die metaphorische Anspielung darauf, dass sie im selben Zimmer leben. Wenn auf Wolof gesagt wird, dass zwei Personen im selben Zimmer den Tag verbringen, übernachten oder wohnen bzw. leben, kann im übertragenen Sinne verstanden werden, dass sie sehr enge Freunde sind und / oder einen familiären bzw. vertrauten Umgang miteinander haben. Dieser Phraseologismus weist ein ästhetisches Merkmal auf, das den Stil der Autorin reflektiert. Doch er muss erst als solcher erkannt werden, bevor er möglichst in seiner idiomatischen, bildlichen und in der Wolof-Kultur verankerten Form sprachästhetisch wiedergegeben werden kann. Der zielsprachliche Text gibt aber von vornherein zu verstehen, dass Malaws Großvater und sein Pferd in einem Raum zusammenleben. Dies kann im übertragenen Sinne als Hyperbel verstanden oder im eigentlichen Sinne als Ausdruck eines ungewöhnlichen Phänomens interpretiert werden. In beiden Fällen wird die im Original feststehende enge Verbundenheit zwischen dem genannten Mann und dem gemeinten Tier am besten verdeutlicht bzw. am deutlichsten ausgedrückt. In der deutschen Version gehen sprachästhetische Besonderheiten bezüglich der phraseologischen Eigentümlichkeit des Wolof-Subtextes, unter dessen Einfluss das französischsprachige Original steht, verloren oder bleiben wenigstens verborgen.
Schlussbetrachtung
In diesem Beitrag ging es darum, die Treue innerhalb der übersetzungswissenschaftlichen Diskussion und im Zusammenhang mit der Übersetzung von Aminata Sow Falls Roman L’appel des arènes ins Deutsche zu eruieren. Ausgehend von einem kurzen Einblick in die Diskussion um dieses zentrale Konzept aus der Sicht der Sprachenverschiedenheit, Kulturunterschiede oder der Rezeption wurde die Übersetzung des ausgewählten Romans anhand einiger Beispiele analysiert bzw. kritisch hinterfragt.
Dabei hat sich herausgestellt, dass sich die Übersetzerin in gewissen Fällen sprachästhetisch um eine wortgetreue Übersetzung bemüht, in bestimmten Fällen aber für eine sinngetreue Übersetzung entschieden hat. Die Entfernung vom ausgangssprachlichen Text ist hier allerdings nicht unbedingt mit einer Abweichung von der Ausgangskultur gleichzusetzen.
Es konnte festgestellt werden, dass manche französischsprachigen Textelemente im Original den Gedankeninhalten der Muttersprache der Autorin nur approximativ entsprechen, was sich auf die Übersetzung ausgewirkt hat. In anderen Fällen wurden Zweideutigkeiten im französischen Original festgestellt, die aus der Sprachverschiedenheit zwischen dem Wolof, der Muttersprache der Autorin, und dem Französischen, ihrer Schriftsprache, resultieren. Dies hatte zur Folge, dass die Gefahr, den Originaltext nicht sinngetreu wiederzugeben, groß ist, wenn man den französischen Text ohne Bezug auf den ungeschriebenen Wolof-Text zu übersetzen versucht.
Zum Schluss kann gesagt werden, dass einige Beispiele von der Treue zur Form zeugen, andere von der Treue zum Inhalt oder zu beiden, Form und Inhalt. Weitere Beispiele verdeutlichten, wie das Verfahren der Übersetzerin zur besseren Kenntnis der Ausgangskultur beiträgt. Auch dort kann schließlich von der Treue zur Ausgangskultur gesprochen werden, insbesondere insoweit es das Ziel ist, eine literarisch interkulturelle Kommunikation zu ermöglichen oder zu erleichtern.
Literatur
Brahima, Abraham (2014): L’intraduisible en question. Problématique linguistique africaine et décolonisation conceptuelle. Göttingen.
Fall, Aminata Sow (1993): L’appel des arènes. Dakar.
Dies. (2001): Die Rückkehr der Trommeln. Aus dem Franz. v. Cornelia Panzacchi. München / Wien.
Fall, Khadi (1996): Ousmane Sembènes Roman »Les bouts de bois de Dieu«: Ungeschriebener Wolof-Text, französische Fassung, deutsche Übersetzung. Eine Untersuchung zu Problemen einer literarischen Kommunikation zwischen Schwarz-Afrika und dem deutschen Sprachraum. Frankfurt a.M.
Greiner, Norbert (2004): Übersetzung und Literaturwissenschaft. Tübingen.
Güttinger, Fritz (1963): Zielsprache. Theorie und Technik des Übersetzens. Zürich.
Koller, Werner (1979): Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Heidelberg.
Lefevere, André (1975): Translating poetry: Seven strategies and a Blueprint. Assen / Amsterdam.
Levý, Jiří (1969): Die literarische Übersetzung: Theorie einer Kunstgattung. Frankfurt a.M.
Mounin, Georges (1994): Les belles infidèles. Etude de la traduction. Lille.
Ndong, Louis (2014): Kulturtransfer in der Übersetzung von Literatur und Film. Sembène Ousmanes Novelle Niiwam und deren Verfilmung Niiwam. Der lange Weg. Göttingen.
Nida, Eugene (1966): Principles of Translation as Exemplified by Bible Translation. In: Reuben Arthur Brower (Hg.): On Translation. New York, S. 11-31.
Reiß, Katharina / Vermeer, Hans J.(1984): Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen.
Tene, Alexandre Ndéffo (2004): (Bi)kulturelle Texte und ihre Übersetzung. Romane afrikanischer Schriftsteller in französischer Sprache und die Problematik ihrer Übersetzung ins Deutsche. Würzburg.