(Anti-)Antisemitismus und Kapitalismuskritik
Erinnerungskulturelle und zeitkritische Konflikte in R.W. Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod
AbstractThe debates about Fassbinder’s drama Der Müll, die Stadt und der Tod (Garbage, the City and Death) are still instructive for the culture of remembrance and the socio-political discussion of antisemitism and a good case study for literary scandal research. The article explains methodological aspects of the analysis of literary antisemitism and explains that the crucial problematic aspects of the drama arise from the way in which antisemitism, anti-antisemitism and criticism of capitalism are combined in the representation.
Title(Anti-)Antisemitism and Criticism of Capitalism. Memory Culture and Cultural Conflicts in R.W. Fassbinderʼs Drama Garbage, the City, and Death
Keywordsantisemitism; anti-antisemitism; scandalous literature; shoah; Rainer Werner Fassbinder (1945-1982)
Debatten und Text – Text und Debatten
Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod hat eine jahrzehntelange Debatten- und Nicht-Aufführungsgeschichte, und diese Auseinandersetzungen, insbesondere konzentriert auf die Jahre 1976 (Kontroverse um den Text) sowie 1984 und 1985 (Kontroverse um Aufführungsankündigungen und -versuche sowie Frankfurter Bühnenbesetzung), sind immer noch aufschlussreich und bedeutsam für die Erinnerungskultur und die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit Antisemitismus.1
Die Nicht-Aufführungsgeschichte wurde fälschlicherweise immer wieder mit Begriffen wie ›Verbot‹ und ›Zensur‹ in Verbindung gebracht. Doch keine der Entscheidungen, Fassbinders Stück nicht zu inszenieren oder eine Inszenierung dann doch nicht zu zeigen, waren durch Zensur veranlasst. Darüber hinaus zeigen mehrmalige Aufführungsversuche in Deutschland und gelungene, unspektakuläre Inszenierungen im Ausland, dass das Stück auch keinem Kommunikationsverbot unterlag. Als im Oktober 2009 Fassbinders Figur des ›Reichen Juden‹ die Mülheimer Bühne betrat (Regie: Roberto Ciulli), blieb ein möglicherweise erwarteter, erwünschter oder befürchteter Skandal aus. Wer angenommen hatte, das Drama sei durch die kontroverse Rezeptionsgeschichte »selbst zu einem Tabu geworden« (Töteberg 2002: 103), mag überrascht gewesen sein. Denn in diesem Fall hätte die bloße Tatsache, dass das berüchtigte Skandalstück auf einer deutschen Bühne zu sehen ist, für eine entsprechende Aufmerksamkeit sorgen müssen.2 Aber auch jenseits überzogener und falsch motivierter Erwartungen war die verhaltene Resonanz bemerkenswert, da die Mülheimer Inszenierung die Auseinandersetzung mit der Shoah und der Vergangenheits-›Bewältigung‹ vertiefen als auch darüber hinaus anschlussfähig sein sollte für die Darstellung ökonomischer Themen im Theater. So zumindest lässt sich die Ergänzung des Müll-Stücks mit Fassbinders Nur eine Scheibe Brot und Blut am Hals der Katze verstehen. Nach der Mülheimer Inszenierung muss man konstatieren: Sie weckte kein neues Interesse für Fassbinders Drama. Einen festen Platz im Repertoire deutschsprachiger Bühnen wird es nicht erhalten.
Auf Grund seiner langen Nicht-Aufführungs- und kontroversen Interpretationsgeschichte3 ist das Drama aber weiterhin ein Fallbeispiel für die Literaturskandalforschung.4 Die Fassbinder-Kontroversen erlauben Einblicke in einen öffentlichen kommunikativen Raum, in dem verschiedene Perspektiven auf erinnerungskulturelle und zeitkritische Themen Geltung beanspruchen und miteinander konkurrieren: die Erinnerung an die NS-Geschichte und die Shoah, der Umgang mit Juden und Jüdinnen in der Bundesrepublik Deutschland und die Kritik an einem ausbeuterischen kapitalistischen System. Themen und Figurenkonstellation in Fassbinders Drama boten für alle drei Themenfelder Anlass, jeweils über Antisemitismus, Anti-Antisemitismus und Philosemitismus in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft zu diskutieren.
Für die literaturwissenschaftliche Analyse ist die Verbindung zwischen den Kontroversen und dem Dramentext interessant, insofern unterschiedliche Deutungen des Textes in den Kontroversen das Plädoyer für oder gegen eine Aufführung stützen sollten. Darüber hinaus eignet er sich als Referenztext, um methodische Fragen der Untersuchung von literarischem Antisemitismus und anti-antisemitischer Kritik zu erörtern: Hierfür sind die Funktionen literarischer Alteritätskonstruktionen im Hinblick auf verschiedene Kontexte zu beschreiben, in diesem Fall die Darstellung einer jüdischen Figur nach dem Holocaust in der deutschen Gesellschaft (Bundesrepublik) mit Bezug auf erinnerungskulturelle Aspekte – Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und des Holocaust – und Kapitalismuskritik. In diesem Sinne behandelt die vorliegende Analyse das Müll-Stück als Beispiel für die Untersuchung von literarischem Antisemitismus nach dem Holocaust und gibt dafür eingangs methodischen Überlegungen breiten Raum. Daran schließt sich eine Interpretation an. Die zentrale These der Untersuchung lautet: Die entscheidenden problematischen Aspekte des Dramas ergeben sich aus der Art und Weise, wie sich in der Darstellung Antisemitismus, Anti-Antisemitismus und Kapitalismuskritik miteinander verbinden. Die Bedeutungsdimensionen, die hierbei entstehen, werden im Text nicht kritisch genug bearbeitet.
Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation ist einerseits von Debatten um den Text getrennt, kann andererseits aber sinnvoll darauf bezogen werden, denn eine zentrale Debatten-These lautete, dass das Stück nur falsch gelesen worden sei. Der Nachweis konzeptioneller, struktureller, thematischer und motivischer Probleme kann daher etwas zur Bewertung der Debatten beitragen. Die These vom ›Missverständnis‹ ist im Übrigen nicht so harmlos, wie sie zunächst klingen mag, sondern hat verschiedene Spielarten und Äußerungskontexte. Sie wurde unter anderem dazu verwendet, der Forderung nach einer vermeintlich wünschenswerten ›Normalisierung‹ im Umgang mit der Shoah Vorschub zu leisten: Wer in Fassbinders Text Antisemitismus entdecke, sei in der Aufarbeitung der NS-Geschichte wohl noch nicht weit gekommen, lautete die Unterstellung.5 Kritik an Fassbinders Drama wurde so öffentlich delegitimiert und auf teilweise geradezu infame Weise ins Unrecht gesetzt. Die Behauptung einer ›Fehlrezeption‹ steht damit in einer Linie mit der bereits erwähnten unzutreffenden, dramatisierenden Darstellung eines Kampfes zwischen ›Kunstfreiheit‹ und ›Zensur‹, die sich eines simplen – aber eigentlich recht leicht durchschaubaren – Reiz-Reaktionsmusters zu bedienen versuchte: Wer gegen Zensur und für Kunstfreiheit sei, müsse sich für die Inszenierung von Fassbinders Stück aussprechen.
Die folgende Untersuchung des Müll-Stücks konzentriert sich auf ausgewählte Aspekte, die für die kontroverse Interpretationsgeschichte bedeutsam und für die methodischen Überlegungen charakteristisch sind. Hierfür werden zunächst weitere Bezüge zwischen Debatten, Werk und Autorschaft betrachtet, und davon ausgehend wird erläutert, was bei der Formulierung von Leitfragen zu beachten ist.
Methodische Fragen: Fassbinder-Kontroversen, Autorschaft, Antisemitismus
Auch in literaturwissenschaftlichen Interpretationen zeigen sich bis heute mehr oder weniger offene Spuren der zeithistorischen Kontroversen. Vielfach erscheinen Positionen von Verteidiger:innen und Kritiker:innen unnötig vereindeutigend, als ob ein Text stets nur ausschließlich entweder über Stereotypisierungen und antisemitische Vorurteile aufklären oder aber antisemitische Einstellungen reinszenieren und unkritisch wiederholen könne, so dass er damit Akzeptanz für antisemitische Äußerungen schafft. Wie kann man es sich erklären, dass es auch nach so langer Zeit eine Tendenz zu Pro-contra-Perspektiven gibt? Es dürfte vor allem dem Umstand geschuldet sein, dass es im gesellschaftspolitischen Raum beim Thema Antisemitismus die begrüßenswerte Erwartung gibt, sich klar und eindeutig zu verhalten. Übertragen in das Feld literaturwissenschaftlicher Diskussionen, kann dies jedoch den Blick für Widersprüche und Ambivalenzen in einem umstrittenen Text verstellen. Ausgehend von der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Themas Antisemitismus wird hier um ein bestimmtes Bild einer Person gekämpft (siehe hierzu auch Geier 2017b). Die Feststellung von Antisemitismus ist so gravierend, dass damit scheinbar immer zugleich der/die Autor:in bezichtigt oder umgekehrt ›freigesprochen‹ wird. Für den Streit um Fassbinders Drama spielte dies zeithistorisch eine besondere Rolle, da es vielfach nicht nur um eine einzelne Person, sondern zugleich um ein ganzes Milieu ging. Dies kristallisierte sich besonders deutlich im Vorwurf des ›linken Antisemitismus‹ und den Reaktionen darauf heraus.6 Allerdings fanden sich (und finden sich weiterhin) auch in apologetischen Positionen problematische Zuschreibungen:
Kaum eine Filmrezension kam ohne die Ingredienzien aus der spektakulär anmutenden Vita des Künstlers aus, was sich dann im Antisemitismusstreit um das Stück in zeittypischen Denkschemata in den Behauptungen ausdrückte, ein Angehöriger einer Minderheit – Fassbinder war homosexuell – könne per se keine Vorurteile gegen eine andere Minderheit haben. (Bodek 2007: 183)
Abgesehen davon, dass solche (positiven) Unterstellungen von ›Vorurteilsfreiheit‹ auch lebensweltlich fragwürdig sind, haben sie keinerlei Relevanz für die Textinterpretation. Explizit geäußerte Einstellungen oder Haltungen von Autor:innen-Personen können selbstverständlich berücksichtigt werden. Die Analyse muss jedoch reflektiert mit Bildern und Vorstellungen umgehen, die sich mit Schriftsteller:innen in der Öffentlichkeit verbinden. Ihre Aufgabe ist es nicht, ein Kunstwerk mit Blick auf ein bestimmtes Autor:innen-Bild zu ›retten‹ oder umgekehrt zu diskreditieren, sondern Bedeutungsdimensionen eines Textes aufzuzeigen und sie plausibel zu begründen. Das kann bedeuten, Eindeutigkeit nachzuweisen, und ebenso, Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zu beschreiben. (Werk-)Biographische Kontexte können dabei erkenntnisfördernd sein, stellen aber ebenso wenig wie Aussagen von Autor:innen zu den eigenen Darstellungsintentionen einen verbindlichen Rahmen für die Interpretation eines Einzeltextes bereit. Es gilt nicht das Motto: einmal Antisemitismus-kritisch, immer Antisemitismus-kritisch.
Der Umstand, dass Fassbinders Werk nicht nur durch Dritte skandalisiert wurde, sondern immer wieder anerkennend als provokative Thematisierung gesellschaftspolitischer Aspekte gelesen wurde, ist als Geschichte möglicher Selbstskandalisierungen zwar von Interesse, gibt aber ebenfalls keine klare Wertungsperspektive in Bezug auf die Frage nach den verwendeten ästhetischen Mitteln und ihren Wirkungen vor. Ob Fassbinder absichtlich in aufklärerischem Sinne oder skrupellos-krawallorientiert zu Zwecken der Skandalisierung oder unabsichtlich mit antisemitischen Stereotypen spielte, muss Spekulation bleiben.
In Bezug auf die Vorurteilskritik ist ein weiterer methodischer Aspekt hervorzuheben: Der Fokus auf eine historisch in bestimmter Weise situierte Alteritätskonstruktion – in diesem Fall eine jüdische Figur innerhalb einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik nach dem Holocaust – ist im Rahmen und im Zusammenspiel mit weiteren Kategorisierungen wie geschlechtliche, sexuelle, ethnische, religiöse Alterität und deren Zusammenwirken zu betrachten. Wenn Stereotypisierungen in Bezug auf eine Minderheit kritisch in einem Text bearbeitet werden, bedeutet dies (bedauerlicherweise) nicht, dass nicht andere Formen von gruppenbezogenen Vorurteilen und Stereotypisierungen affirmativ wiederholt werden. In diesem Sinne ist auch der Umgang mit antisemitischen Vorurteilen, Darstellungstraditionen und ihren Bedeutungsdimensionen in Fassbinders Stück eingebunden in die Herstellung eines Gesellschaftsbildes, in dem weitere Kategorisierungen im Rahmen verschiedener Sprechpositionen, Figurenkonstellationen und gesellschaftspolitischer Referenzen wirksam werden. Dies gilt insbesondere für die Geschlechterbeziehungen.
Die Aufmerksamkeit für diese Mehrdimensionalität, die in intersektionalen Analysen bearbeitet werden kann, führt eindrücklich vor Augen, warum es nicht zielführend ist, aus bestimmten Elementen eines Textes direkte Rückschlüsse auf allgemeine Haltungen von Autor:innen zu ziehen. In diesem Zusammenhang sei nochmals betont, dass sich die Bezeichnung ›literarischer Antisemitismus‹ auf einen Diskurs der Literatur bezieht und nicht auf die Zuordnung von Autor:innen in einen ideologischen Giftschrank der Literaturgeschichte. Wenn es sich um einen vielschichtigen Text handelt und dabei neben Kritik an Antisemitismus auch antisemitische Vorurteile bestätigt werden, kann man dies benennen. Man behauptet damit nicht, dies sei ein Indiz für ein geschlossenes antisemitisches Weltbild einer Autor:innen-Person. Wenn sich umgekehrt immer wieder im literarischen Werk einer Person eindeutige Tendenzen zeigen, ist es sehr wohl legitim, auch darauf hinzuweisen.
Für die Bewertung gilt: Ein Text, in dem antisemitische Aussagen vorkommen, kann sowohl ein antisemitischer Text sein als auch ein Text, in dem Antisemitismus kritisch reflektiert wird. Ein Antisemitismus-kritischer Text muss sich dabei eindeutig von einem antisemitischen Text unterscheiden lassen. Ist dies nicht klar erkennbar, muss dies genau so benannt und festgestellt werden, dass Kritik und Widerlegung von Stereotypen und damit Aufklärung über Antisemitismus gescheitert sind. Für Fassbinders Müll-Stück formulieren Nicole Colin, Franziska Schößler und Nike Thurn diese Frage so: »Das Zentrum, um das die Diskussion stets aufs Neue kreist, bildet daher die rezeptionsästhetische Frage nach einer Affirmation der Stereotype durch deren kritische Darstellung: Inwiefern gelingt es Fassbinder tatsächlich, die Klischees zu dekonstruieren, ohne sie zu besiegeln?« (Colin/Schößler/Thurn 2012: 8)
Als Zusammenfassung einer Diskussion erscheint die Art der Fragestellung legitim. Als Leitfrage einer Untersuchung wäre sie dagegen zu eng, da der Formulierung die Annahme zugrunde liegt, dass Fassbinder ein auf Antisemitismus-Kritik ausgerichtetes Stück schrieb. Im Unterschied zu einer vereindeutigenden apologetischen Position wird die Frage gestellt, ob dies gelungen ist oder ob (auch) antisemitische Deutungen entstehen. Es kommt aber nicht in den Blick, dass sich eine solche Wiederholung von Stereotypen nicht oder zumindest nicht ausschließlich durch deren scheiternde Dekonstruktion ergeben muss. Die Wiederholung antisemitischer Denkmuster und Topoi kann ebenso ein im Text angelegtes Deutungsangebot darstellen, und zwar unabhängig davon, ob dies möglicherweise zu Zwecken der Provokation – und damit einer nicht antisemitisch intendierten Wirkungsabsicht – oder aber unfreiwillig geschieht.
Auf der Basis dieser Vorüberlegungen sollte deutlich geworden sein, dass es wichtig ist, die Leitfragen der Untersuchung programmatisch offen zu stellen: Wie werden Antisemitismus und Anti-Antisemitismus in Fassbinders Drama thematisiert? Wie werden sie (jeweils) erkennbar? In welchem Verhältnis stehen Kapitalismuskritik, Antisemitismus und Anti-Antisemitismus im Müll-Stück? Und nochmals etwas konkreter: In welcher Weise ist die Tatsache, dass Fassbinder seine Kritik des Kapitalismus an einer jüdischen Figur illustriert, bedeutungstragend für das Stück?
Indem sich die Untersuchung auf diese Fragen konzentriert, soll folgendes Dilemma aufgezeigt werden: Einerseits ist in Fassbinders Drama eine Kritik an antisemitischen Stereotypen und Deutungsangeboten erkennbar, anderseits werden neben anti-antisemitischen Elementen auch antisemitische Stereotype wirksam und können Geltung beanspruchen. Aus der Beobachtung und Gewichtung dieses widersprüchlichen Zusammenspiels entsteht die zentrale These dieser Interpretation: Der Müll, die Stadt und der Tod führt kritisch das Funktionieren von Kapitalismuskritik und das Weiterwirken von Antisemitismus sowie Schuldabwehrantisemitismus in der Bundesrepublik vor, ist aber nicht ausschließlich Antisemitismus-kritisch, da antisemitische Stereotype auch wiederholt werden. Die Kritik an antisemitischen Einstellungen und an unzureichender Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist also nicht eindeutig. Das Scheitern des Anti-Antisemitismus lässt sich vor allem darauf zurückführen, wie das Thema Kapitalismuskritik und das Jüdischsein der Hauptfigur im Deutschland nach der Shoah in spezifischer Weise zusammenwirken. Die typisierte Figur des ›Reichen Juden‹ wird sowohl als instrumentalisiertes Opfer vorgestellt als auch als eigenständig agierender Täter: Er wird als ›Holocaust-Profiteur‹ gezeichnet, der wegen einer angeblichen ›unantastbaren‹ Stellung von Juden nach dem Holocaust nicht nur Geld verdient, sondern mit Mord davonkommt.
Kritik gewaltförmiger Beziehungen: die Opfer der kapitalistischen Gesellschaft
»Diese Städte! Was machen die aus uns.«, sagt die Figur des ›Reichen Juden‹ am Ende von Fassbinders Stück.7 Der Dramentitel signalisiert, dass die Stadt im Zentrum des Stücks steht und somit das gesellschaftliche System, innerhalb dessen die Figuren agieren. Da sich die Diskussion so sehr auf die Figur des ›Reichen Juden‹ – so die Bezeichnung im Nebentext und Haupttext, im Personenverzeichnis geführt unter »A., genannt der reiche Jude« – konzentriert, muss betont werden, dass der Dramentext dies einlöst: Beschrieben wird eine eisige kapitalistische Gesellschaft mit menschenverachtenden, zerstörerischen Zügen, die – in zynischer Diktion abgeleitet vom Titel – menschlichen ›Müll‹ produziert. Die Immobilienspekulation in der Großstadt dient der Akkumulation von Reichtum weniger Menschen und verbindet sich direkt mit politischer Macht.8
Mit Blick auf die Grenzziehung zwischen arm und reich im Kapitalismus scheint die jüdische Figur eindeutig auf der Seite des Kapitals und damit der Macht angesiedelt. Das Milieu der Sexarbeit im Drama steht dagegen für die – graduell unterschiedlich stark – Ausgebeuteten und Ausgestoßenen. Prostitution ist im Rahmen des Dramas ein klassisches Bild für die Warenförmigkeit menschlicher Beziehungen im Kapitalismus. Diese Figuren sind Außenseiter:innen, die von menschlicher Wärme träumen, aber dies nur innerhalb eines Konkurrenzdenkens formulieren können. Die Figur Frl. Emma von Waldenstein sagt in der ersten Szene, in der auch ein Mord gespielt wird, zu Roma B.: »Sie wollen siegen, siegen, und dieser Sieg bringt Ihnen die Wärme, die Sie brauchen, und ich erfriere an Ihrer Allmacht.« (MST: 612) Die durchgängige Kältemetaphorik illustriert den auf Gerhard Zwerenz’ Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond (1986) anspielenden Beginn des ersten Nebentextes. Dort heißt es, das Stück spiele »Auf dem Mond, weil er so unbewohnbar ist wie die Erde, speziell die Städte.« (MST: 609; Hervorh. i.O.)
Gezeichnet wird das Bild einer Gesellschaft mit festen Regeln und klaren Rollen von Mächtigen und Machtlosen sowie solchen, die den Mächtigen zuarbeiten und sich ihnen unterordnen, um so Handlungsspielräume und Macht über andere zu erhalten. Wer aus der vorgesehenen Rolle fällt oder sich weigert, sie weiter zu spielen, wird bestraft. Unter den Figuren, die zu den Außenseiter:innen und Unterprivilegierten gehören, werden einige direkt oder indirekt Opfer der jüdischen Figur. Dies ist allerdings nicht allein der Tatsache geschuldet, dass sie reich ist, sondern wird, wie zu zeigen ist, unmittelbar mit ihrem Jüdischsein verbunden. Gleichzeitig benutzen die Mächtigen die jüdische Figur für ihre Zwecke.
An der Prostituierten Roma B., die durch den ›Reichen Juden‹ zu Geld kommt und eine gewisse »Prominenz« erreicht (MST: 630), wird die Zerrüttung aller menschlichen Beziehungen am deutlichsten gezeigt: Sie wird misshandelt von Franz B. und von ihrem Vater, der als ›Kunde‹ zu seiner Tochter kommt. Der Vater ist ein unbelehrbarer Nationalsozialist. Er erklärt im Gespräch mit Roma B.: »Wir sterben nicht aus, und jeder Schmerz, der uns zugefügt wird, macht uns freier und stark. Der Faschismus wird siegen.« (MST: 642) Dass er nachts als ›Transvestit‹ auftritt, mag als ein (nicht erst aus heutiger Sicht irritierendes) Bild für die Gespaltenheit der Gesellschaft zwischen verschiedenen verhüllenden und enthüllenden Inszenierungen im Kontext unbewältigter NS-Vergangenheit gelesen werden.
Roma B. wird im Verlauf des Stücks aus der Gruppe der Outsider ausgeschlossen, was einen tatsächlichen Verlust darstellen soll, auch wenn deren ›Gemeinschaft‹ überaus ambivalent gezeichnet ist. Am Ende bittet sie den ›Reichen Juden‹, sie zu töten. Vollständig isoliert ist auch ihr einstiger Zuhälter und Liebhaber Franz B., der sein homosexuelles Coming-out hat, was in diesem Milieu als Bruch mit einer heterosexuellen Geschlechternorm angesehen wird. Franz B. wird damit zu einem im Kontext von insgesamt latent oder offen gewaltsamen Beziehungen und Abhängigkeiten prädestinierten Opfer: Er wird statt der jüdischen Figur für die Tötung von Roma B. belangt.
Ein weiteres indirektes Opfer ist der Kleine Prinz. Er wird getötet, weil er den wahren Schuldigen benennen möchte. Dass er stirbt, wird im Drama zu einem zusätzlichen Beweis, wie wichtig der ›Reiche Jude‹ für die Mächtigen der Stadt ist: Er bleibt straffrei, und um ihn zu schützen, wird nicht nur ein Unschuldiger falsch bezichtigt für die Tat, sondern auch ein Mensch ermordet.
Die Figur des ›Reichen Juden‹ zwischen Kritik des Kapitalismus, Antisemitismus und fehlender Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
Die soziale Position der jüdischen Figur ist innerhalb unterschiedlicher Bezugskontexte zu betrachten und erweist sich als vielschichtig. Im Drama beschreibt der ›Reiche Jude‹ seine Stellung in der Stadt und zeichnet dabei auch ein Bild von sich als Person:
Ich kaufe alte Häuser in dieser Stadt, reiße sie ab, baue neue, die verkaufe ich gut. Die Stadt schützt mich, das muss sie. Zudem bin ich Jude. Der Polizeipräsident ist mein Freund, was man so Freund nennt, der Bürgermeister lädt mich gern ein, auf die Stadtverordneten kann ich zählen. Gewiss – keiner schätzt das besonders, was er da zulässt, aber der Plan ist nicht meiner, der war da, ehe ich kam. […] Die Stadt braucht den skrupellosen Geschäftsmann, der ihr ermöglicht, sich zu verändern. Sie hat ihn gefälligst zu schützen. (MST 621)
Der Zusatz »das muss sie« in der Figurenrede weist darauf hin, dass die Mächtigen den ›Reichen Juden‹ als Unternehmer schützen, weil sie ihn für die Umgestaltung der Stadt brauchen. Der anschließende Verweis auf das Jüdischsein betont die besondere Position, die ein Jude als Opfer des Holocaust im Land der Täter:innen innehat. Wie diese beiden Aspekte zusammenwirken, wird deutlich, wenn die jüdische Figur nicht nur als Akteur, sondern auch als Ausführender eines vorher vorhandenen Plans beschrieben wird. Die Stadt ›braucht‹ nicht einfach einen Geschäftsmann, sondern einen jüdischen Geschäftsmann. Hierin zeigt sich eine für die Debatte und Interpretationsgeschichte wirkmächtige Idee von der angeblich ›besonderen Situation‹ von Juden und Jüdinnen nach der Shoah in Deutschland, die immer wieder auch auf Äußerungen Fassbinders selbst zurückgeführt wird:
Die Stadt lässt die vermeintlich notwendige Dreckarbeit von einem, und das ist besonders infam, tabuisierten Juden tun, und die Juden sind seit 1945 in Deutschland tabuisiert, was am Ende zurückschlagen muss, denn Tabus, darüber sind sich doch wohl alle einig, führen dazu, dass das Tabuisierte, Dunkle, Geheimnisvolle Angst macht und endlich Gegner findet. (Töteberg/Braun 2005: 666)9
Dass der ›Reiche Jude‹ einen Mord begeht und eine andere Figur dafür bestraft wird, ist im Müll-Stück das zentrale Element, um eine unmoralische Privilegierung der jüdischen Figur aufzuzeigen. Diese wird jedoch nicht allein mit dem Kapitalismus an sich, sondern, wie die zitierte Selbstbeschreibung zeigt, direkt mit der Position eines Juden in der postnationalsozialistischen Bundesrepublik in Verbindung gebracht. Rücksichtslos agierend, soll er zugleich als Handlanger eines Planes angesehen werden. Daraus ergibt sich die Position des jüdischen Kapitalisten in Fassbinders Drama, die gewissermaßen zwischen unterschiedlichen Milieus situiert ist:
In Fassbinder’s dramatization of Zwerenz’ work, Mauerstamm becomes the ›Rich Jew‹. This figure becomes the link between a corrupt, hypocritical and ruthless establishment representing Frankfurt’s modernizers on the one hand, and a milieu of social outcasts consisting of prostitutes, pimps, transvestites and sado-masochists on the other. (Markovits/Benhabib/Postone 1986: 8)
Damit sind wir bei der bereits erwähnten mehrdimensionalen sozialen Situierung der Figur: Der ›Reiche Jude‹ gehört zu den Mächtigen und ist zugleich als Akteur Teil eines größeren Ganzen. Er hat große Handlungsmacht, die ihm aber nicht nur aus seiner Funktion für den Kapitalismus erwächst, sondern auch aus einer spezifischen zeithistorischen Position als Angehöriger einer Minderheit in Deutschland nach der Shoah. Obwohl er als Angehöriger einer Minderheit strukturell gesehen zwar eine der vielen Außenseiter:innen-Figuren ist, unterscheidet er sich von diesen aber eben durch Reichtum und Macht. In Fassbinders Stück wird das kapitalistische System der Bundesrepublik als besonders pervers und perfide gezeichnet, weil es sich eines Juden bedient, der nach dem Holocaust den Status eines Opfers hat. Das Müll-Stück präsentiert also einen jüdischen Täter, um über diese Rolle und ihre Handlungsmacht das kapitalistische System in seiner Wirkungsweise zu charakterisieren. Die gesellschaftskritische Perspektive richtet sich in erster Linie auf die Verhältnisse, unter denen sowohl die als Verlierer:innen als auch die als Gewinner:innen gezeichneten Figuren leben.
Betrachtet man isoliert das Thema Kapitalismuskritik, lässt sich Fassbinders Drama in eine Reihe von Texten einordnen, in denen die Funktionalisierung eines Juden als ›Anderem‹ kritisch in den Blick gerückt wird. Täter:innen und deren Nachkommen in der deutschen Gesellschaft geben einem Opfer des Holocaust Handlungsmacht, damit er ihren Zwecken dient. Die Figur eines jüdischen Immobilienspekulanten wird im Drama genutzt, um einen Wertediskurs über das kapitalistische System der Gegenwart zu führen. Die Konstruktion von Eigen- und Fremdgruppen, Dominanzgesellschaft und Minderheiten führt so plakativ Modelle des falschen Lebens vor. Ein Leben in dieser Stadt ist, wie insbesondere Roma B. erklärt, eigentlich gar kein Leben, weshalb sie konsequenterweise den Tod sucht: »Und die Stadt macht uns zu lebenden Leichen« (MST: 643).
Die Bezeichnung der jüdischen Figur als ›Reicher Jude‹ verbindet Ökonomie/Kapital und Judentum auf eine Weise, die sich als reflexiver Umgang mit Darstellungstraditionen lesen lässt: Das Stereotyp ›Reicher Jude‹ unterscheidet sich dabei als Namensstereotyp von anderen ebenfalls stereotypisierten Figuren, in denen ›märchenhafte‹ Elemente (›Prinz‹, ›Zwerg‹) anklingen.10 Die Bezeichnung ›Reicher Jude‹ zirkuliert damit erkennbar in einem und bezieht sich auf einen gesellschaftlich konkreten Raum, in dem alte und neue antijüdische Einstellungen verbreitet scheinen. Gleichzeitig vermag sich die jüdische Figur durch ihre Position in der Gesellschaft ›zu bereichern‹, und damit wird in der Stereotypisierung weniger ein Vorurteil oder auch nur eine Zuspitzung, sondern tatsächlich ökonomische Handlungsmacht innerhalb einer Gesellschaft markiert. Dies ist ein Element im Rahmen einer Handlungsmacht, zu der dann auch der Mord gehört. In welchem Verhältnis steht nun der Mord zu den Thematisierungen eines weiterwirkenden Antisemitismus und den erinnerungskulturellen Aspekten im Drama?
Antisemitische Äußerungen im Müll-Stück stammen im Wesentlichen von zwei Figuren: Hans von Gluck, ein Spekulant und damit Konkurrent des ›Reichen Juden‹, sowie Müller, Vater der Prostituierten Roma B., der im ›Dritten Reich‹ ein emotionsloser Technokrat des Massenmordes war. Beide Figuren haben Vernichtungsphantasien. Sie entstehen aus der Vorstellung, dass sich die jüdische Figur für den Holocaust an den Deutschen rächen werde. Der ›Reiche Jude‹ glaube angeblich, Müller sei schuld am Tod seiner Eltern. Dieser erklärt Roma B., dass der Jude sie nur benutze, um ihn zu strafen: »Er hebt dich empor, um mich zu erniedrigen. Der Gedanke ist einfach.« (MST: 641) Dies ist eine Variante des Schuldabwehrantisemitismus, d.h. eines Antisemitismus nach und wegen Auschwitz: Die jüdischen Opfer werden als Täter:innen imaginiert. Weder die Shoah noch die Schuld der Deutschen werden (vollständig) geleugnet, aber in einer Art Aufrechnung wird die eigene Position in der Gegenwart als Opfer inszeniert. Letzteres trifft auch auf die Figur Hans von Gluck zu, der darüber hinaus noch ungebrochene antisemitische Einstellungen eines unbelehrbaren Nationalsozialisten zeigt. Er bedient sich klassischer antijüdischer Topoi, die nach dem Holocaust nun eine neue Bedeutung erlangen, weil sie durch Schuldabwehr motiviert sind:
Er saugt uns aus, der Jud. Trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht, weil er Jud ist und wir die Schuld tragen. […] Ich wache nachts auf, und leibhaftig den Tod vor Augen ist mir die Kehle wie zugeschnürt. […] Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da. Wär er geblieben, wo er herkam. Oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen. Sie haben vergessen, ihn zu vergasen. Das ist kein Witz, so denkt es in mir. Und ich reib mir die Hände, wenn ich mir vorstelle, wie ihm die Luft ausgeht in der Gaskammer. […] Der Jud versteht sich auf sein Gewerbe, Angst scheint ihm fremd, der Tod kann ihn nicht schrecken, ihn, der kein Leben lebt. (MST: 635f.; Hervorh. A.G.)
Weil der ›Reiche Jude‹ als Überlebender an den Genozid erinnert, dem er wie Millionen andere zum Opfer hätte fallen sollen, wird er als sich rächender Täter imaginiert. Die Todesangst, die der Unternehmer von Gluck empfindet, wird offenbar durch Schuldgefühle ausgelöst. Diese wehrt er jedoch umgehend ab, denn die Deutschen werden seiner Ansicht nach ins Unrecht gesetzt, sollen also entgegen der eigenen anderslautenden Aussage scheinbar doch nicht wirklich schuldig sein. Hieraus entsteht die extreme Vernichtungsphantasie, die Auschwitz als Wunschbild in der Gegenwart wiederbelebt.
Die antisemitischen Vernichtungsphantasien werden im Müll-Stück individuell motiviert: Es ist ein unterlegener Konkurrent, der seinen Hass in bekannte Bilder für die soziale und kulturelle Gefährlichkeit von Juden fasst, wie sie auch die nationalsozialistische Propaganda benutzte. Die Erwähnung des Todes legt außerdem nahe, dass es kein gutes Ende für die jüdische Figur nehmen könnte, doch wird dies umgehend wieder relativiert. Letzteres weist darauf hin, dass sich unterschiedlichste Figuren in Fassbinders Drama in ihren Situationsdiagnosen auf eine fatale Weise einig sind: Der Jude werde benutzt. Diese Übereinstimmung wird noch weitergetrieben. Zwar scheint sich der ›Reiche Jude‹ zunächst vom Rache-Phantasma zu distanzieren, wenn er fragt: »Bin ich ein Jud, der Rache üben muss an kleinen Leuten?!« (MST: 619) Doch dann bejaht er diese Frage: »Es soll so sein und ziemt sich auch!!« (MST: 619)
Die jüdische Figur ist nicht ausschließlich durch eine abgeleitete Handlungsmacht gekennzeichnet, d.h. eine Macht, die von anderen vorgegebene Handlungsräume ausgestaltet, sondern sie verfolgt einen eigenen Wunsch nach Rache. Dies führt vor Augen: Manche stereotype Zuschreibungen werden im Müll-Stück als antisemitische Klischees ausgestellt: Der Mythos der besonderen Potenz eines jüdischen Mannes ist ein Beispiel dafür, wie ein Mechanismus der Projektion vorgeführt wird (vgl. Thurn 2012: 277). Dies gilt aber eben nicht umfassend. Ausgerechnet die Racheängste der antisemitischen Figur werden bestätigt. Das Bild eines jüdischen Täters aus eigenem Antrieb und mit einer eigenen Motivation schiebt sich damit vor das Bild eines Täters, der bloßer Agent des Kapitals ist. Der Vorschlag, dies als eine Art kluge ›agency‹ innerhalb eines antisemitischen Systems zu verstehen – der ›Reiche Jude‹ kann sich den Projektionen gar nicht entziehen, also spielt er mit (in diesem Sinne vgl. z.B. ebd.: 287) –, löst allerdings nicht mehrere andere Probleme: dass wir es mit einem Mörder zu tun haben, die Art und Weise, wie der Mord motiviert wird, und dass es weitere direkte oder indirekte Opfer gibt. All dies zusammengenommen befördert eine Lesart, in der antisemitische Vorurteile bestätigt werden. Denn gerade die Tötung auf Verlangen ist keine selbstlose Tat, als die sie immer wieder beschrieben wird.11 Abgesehen davon, welche problematischen Weiblichkeitsbilder in diesem Tötungswunsch aktiviert werden, lautet die Antwort des ›Reichen Juden‹ auf Roma B.s Wunsch zu sterben: »Das ist die beste Lösung. Da sind wir uns einig.« (MST: 646) Sie deutet diese ›Einigkeit‹ so, dass er bei dieser Tötung auf Verlangen Befriedigung empfinden könne. Diese Figurenperspektive ist aber nur eine mögliche Deutung. Die Formulierung: »die beste Lösung«, lässt sich ebenso auf die eigene Aussage des ›Reichen Juden‹ über seinen allgemeinen Rachewunsch beziehen und als Bestätigung dafür lesen, dass er sich über die Wahl des Opfers Roma B. sogar konkret an Müller rächen wolle, wie dieser vermutete.
Angesichts dieser Konstellation ist es nur konsequent, dass in den Debatten über das Drama die Funktionalisierung einer jüdischen Figur als eines ›Fremden‹ für die kritische Zeitdiagnose des kapitalistischen Systems von einer Kritik an der Täter-Darstellung der jüdischen Figur abgelöst wurde. Obwohl die Figuren, die antisemitische Aussagen machen, negativ gezeichnet sind, werden nicht alle von ihnen geäußerten Stereotype auch eindeutig entwertet und widerlegt. Das kritische Spiel mit Stereotypen und Klischees ist durchaus dominant, und die negative Zeichnung der jüdischen Figur kann in vielerlei Hinsicht als Projektion erkannt werden, wie auch Nike Thurn argumentiert hat (vgl. Thurn 2012: 271). Die Destruktion von Zuschreibungen und Projektionen im Text kann aber nicht vollständig gelingen, weil sie auch bestätigt werden. Dies geschieht vor allem durch Aussagen der jüdischen Figur selbst, die einzelne Aspekte der ihr zugeschriebenen Handlungsmotivation bestätigen. Auch wenn die antisemitischen Einstellungen der negativen Charakterisierung von Figuren dienen und der ›Reiche Jude‹ zwischen Mächtigen und Außenseiter:innen positioniert ist, werden durch seine Täterschaft antijüdische Vorurteile affirmiert. Die jüdische Figur überlebt zusammen mit anderen Tätern, andere Figuren werden zu ihren Opfern.
Das Dilemma des Müll-Stücks lässt sich damit so beschreiben: Das kapitalistische System soll kritisiert werden, Antisemitismus soll kritisiert werden, der aus der offensichtlich nicht aufgearbeiteten NS-Vergangenheit weiterwirkt, und zugleich wird als ein Element, das diese unzureichende Vergangenheits-›Bewältigung‹ vor Augen führen soll, eine angebliche Privilegierung jüdischer Menschen wegen des Holocaust inszeniert: Der jüdische Rächer verdient Geld und kommt ungestraft mit einem Mord davon. Die Verknüpfung der Kapitalismuskritik mit zwei unterschiedlichen Objekten, die einer vermeintlichen ›Enttabuisierung‹ unterzogen werden müssten – nämlich des Antisemitismus und der Juden als angeblicher ›Holocaust-Profiteure‹ –, führt zu einer nicht auflösbaren Irritation. Dies ist um so deutlicher, wenn man den Entstehungskontext, die Kämpfe um das Frankfurter Westend, ernst nimmt und sich vergegenwärtigt, dass in diesem Zusammenhang von einer Tabuisierung von Juden und Jüdinnen überhaupt keine Rede sein kann.12 Im Gegenteil aktivierte diese Debatte antisemitische Klischees vom ›jüdischen Kapital‹, während gleichzeitig die Arisierung des Westends während des Nationalsozialismus totgeschwiegen wurde. Auch dieses erinnerungskulturelle Versagen wiederholt sich in Fassbinders Müll-Stück.
Schluss
Die NS-Vergangenheit und die Shoah waren in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder Anlässe für Skandalkommunikationen: Ging es bis in die 1960er Jahre zunächst um die politische und juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen und die Anerkennung gesellschaftspolitischer Verantwortung, verschob sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand der Fokus auf den angemessenen Umgang mit dem Erbe der NS-Geschichte in der politischen und ästhetischen Erinnerungskultur. Dass sich neben politischen Skandalen besonders viele Literatur- und Theaterskandale zu diesem Themenfeld finden, ist nicht überraschend: Schließlich stellt das Feld der Kultur seit jeher einen zentralen Schauplatz gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse dar: Künstler:innen wiesen in ihren Werken kritisch auf die Leugnung, Tabuisierung und (fehlende) Aufarbeitung der NS-Zeit hin – man denke etwa an die Stücke Der Stellvertreter (1963) von Rolf Hochhuth oder Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss – oder befragten ab den 1980er Jahren kritisch etablierte Erinnerungsnarrative und Darstellungsformen.
Öffentlich gestritten wurde bzw. wird weiterhin über die Gültigkeit von Normen bzw. über Normkonflikte etwa in Täter-Opfer-Beziehungen oder über Begriffe wie ›Schuld‹ vs. ›Schande‹ sowie über kollektive, meist nationale Identität. Ob ein Skandal produktive Effekte für die diskursive Selbstverständigung hat, lässt sich oft erst im Nachhinein bestimmen. Skandale, die zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung verhärtete Fronten aufzeigen oder sogar vertiefen, können im Rückblick als wichtige Schritte zu einer reflexiv-kritischen Selbstvergewisserung der Gesellschaft über die eigene Erinnerungskultur betrachtet werden. Dies ist ein Grund dafür, weshalb die Literaturskandalforschung dazu tendiert, Skandale weniger als problematisch-nerviges denn als ein für die demokratische Auseinandersetzung wichtiges Moment öffentlicher Kommunikation anzusehen. Dass sich die Bewertung solcher Skandalkommunikationen auch (mehrfach) ändern kann, macht bewusst, dass die Skandalisierung bestimmter ästhetischer Mittel oder Themen stets vom zeithistorischen Resonanzraum abhängt, in dem sie stattfindet.
Den Debatten um das Müll-Stück kann man in gewisser Weise produktive Wirkungen zuerkennen, obwohl sich in ihnen, gerade auch auf Seiten der selbst erklärten Bewahrer:innen von Kunstfreiheit, ein teilweise rücksichtsloser Umgang mit jüdischen Personen, darunter Holocaust-Überlebenden, zeigte. Das Drama wurde, selbst als es als Text nicht frei verfügbar war, zu einem Anlass für Konfliktkommunikationen, die sich rückblickend als Teil eines bis Ende der 1980er Jahre andauernden gesellschaftlichen Selbstverständigungs- und Klärungsprozesses über Antisemitismus darstellen.13 Zu den nachhaltigsten Effekten gehört, dass Juden und Jüdinnen in der Bundesrepublik öffentlich sichtbarer wurden und Debatten mitgestalteten:14 »Dass auch nach der Fassbinder-Debatte Juden sich weiterhin offensiv an politischen Debatten der Bundesrepublik beteiligten, zeigt, dass es in der Fassbinder-Debatte zu einer grundsätzlichen Weichenstellung gekommen war.« (Schönborn 2005: 113)
Außerdem wurden die »aufschlussreichen Manifestationen eines Schuldabwehrantisemitismus in der gesellschaftlichen Mitte« (Bodek 2007: 179) öffentlich sichtbar. Also nicht nur das Weiterleben antisemitischer Einstellungen, sondern auch ein Antisemitismus auf Grund von Auschwitz: Jüdische Personen werden hierbei als Störenfriede wahrgenommen, weil ihre bloße Existenz die deutschen Täter:innen und deren Nachkommen an Schuld erinnert und Verantwortung verlangt. Es ist zweifelsohne übertrieben, wenn behauptet wird, dass erst im Verlauf der Fassbinder-Kontroversen solche Einstellungen, die man vorher nur im privaten Raum geäußert habe, überhaupt öffentlich zur Sprache gekommen seien. Zutreffend ist aber durchaus, dass die Fassbinder-Kontroversen eine breitere öffentliche Auseinandersetzung damit forcierten und Mythen und Selbststilisierungen kritisch zugänglich wurden. In den Müll-Debatten zeigen sich aber noch viel grundsätzlicher Argumentationsfiguren in der Auseinandersetzung über Antisemitismus, die auf spätere Konfliktkonstellationen vorausweisen bzw. diesen den Boden bereiteten: Dazu gehört, dass von Beginn an in den Debatten der Vorwurf einer antisemitischen Einstellung gegen beide Seiten, also Kritiker:innen wie Verteidiger:innen Fassbinders, erhoben wurde (vgl. unter anderem ebd.). Der ›Antisemitismus-Vorwurf‹ schien in diesen Kontroversen universell einsetzbar und wurde zum fungiblen Argument der Diskreditierung des jeweils gegnerischen Standpunktes. Entsprechend beanspruchten beide Lager für sich, über angeblich blinde Flecken der anderen Seite aufzuklären.
Zu den konkreten Effekten der Debatte mit Langzeitwirkung zählt außerdem, dass sich die für die Erinnerungskultur zentralen Begriffe Aufklärung und Tabuisierung verschoben, die bis dahin in der Nachkriegszeit im politischen Rechts-links-Schema eindeutig besetzt waren. Nun nahmen Konservative und Rechte für sich in Anspruch, über den Antisemitismus der Linken ›aufzuklären‹ und die Position der Überlebenden des Holocaust zu respektieren und zu schützen (während diese tatsächlich vielfach übergangen oder sogar diffamiert wurden). Und nicht zuletzt zeichnete sich in diesen Debatten ab, dass weniger das einzelne antisemitische Ereignis zu Konfliktkommunikationen führte wie noch bis in die 1960er Jahre, sondern dass der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der deutschen Schuld zum Kristallisationspunkt der Argumentationen wurde. Die Frage, wie man mit der deutschen Vergangenheit umgeht, wurde zum Gradmesser für kritische Gesellschaftsdiagnosen. Fassbinders erklärte Intention war es, auf eine seiner Ansicht nach fatale Tabuisierung und einen daraus resultierenden neuen Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Dieses Thema ist im Stück erkennbar. Doch ist die Umsetzung gescheitert: Der Müll, die Stadt und der Tod thematisiert nicht nur antisemitische Stereotype, sondern reproduziert sie zugleich. Es genügt allerdings nicht, nur das Scheitern zu konstatieren. Vielmehr muss der Ausgangspunkt der Fassbinderʼschen Überlegungen klar zurückgewiesen werden: Es gab in der Bundesrepublik keine Tabuisierung von Juden. Die These, dass eine ›Enttabuisierung‹ des Umgangs mit jüdischen Personen notwendig sei, ist selbst Teil eines antisemitischen Ressentiments. Hier ergeben sich irritierende Anschlüsse zu einer Reihe von Denkfiguren, die auf den ersten Blick einem anderen politischen Spektrum zuzuordnen sind: etwa einem Diskurs, in dem behauptet wird, ›das deutsche Volk‹ sei Opfer der Vergangenheits-›Bewältigung‹ geworden (vgl. Geier 2015). Produktiv gewendet, lassen sich solche (scheinbaren) Verwandtschaften als Aufforderung lesen, stets genau hinzusehen, woran und mit welchen Zielsetzungen Kritik an der Erinnerungskultur geübt wird und, last but not least, mit welchen ästhetischen Mitteln dies geschieht.
Anmerkungen
1 Die einzelnen Phasen des Streits und ihre Schwerpunkte benennt Bodek wie folgt: 1976: »Kulturkontroverse: Rechts-links-Polemik um die ›Enttabuisierung von Juden‹«, 1984: »Karriere/Kompetenz-Kontroverse zwischen verschiedenen Protagonisten der Frankfurter Kulturszene«, 1985: »Politische Kontroverse: ›Normalisierung‹ der deutschen Geschichte« (Bodek 1998: 354).
2 Im Vorfeld kam es zu etwas Kritik, aber insgesamt fand weder eine ausführliche noch eine tiefergehende öffentliche Auseinandersetzung mit der Aufführung statt. Dies kann daran liegen, dass sich der gesellschaftliche Resonanzraum geändert hat für diese Art der Skandalisierung. Auch dramaturgische Entscheidungen könnten die Wirkung der Inszenierung beeinflusst haben. Dazu zählt etwa, dass die Figur des ›Reichen Juden‹ mit einer Schauspielerin (Simone Thoma) besetzt wurde, dass der jüdische Grundstücksspekulant und der Regisseur aus Nur eine Scheibe Brot durch die Besetzung überblendet wurden und dass über das Filmprojekt das Thema Konzentrationslager und damit jüdische Figuren als Opfer unmittelbar auf der Bühne zu sehen sind, bevor ein Jude (auch) die Rolle eines Täters übernimmt. All diese Entscheidungen könnten auch darauf hinweisen, dass das Stück während der Erarbeitung doch weiterhin als tendenziell problematisch, schwierig und zu missverständlich empfunden wurde, als dass man es ohne größere Bearbeitungen hätte inszenieren können.
3 Nurmehr als Reminiszenz an die lange Skandalgeschichte ist auch die Verfilmung Schatten der Engel unter der Regie von Daniel Schmid (BR Deutschland/Schweiz 1975/1976) von Interesse, an und in der Fassbinder selbst mitwirkte (Drehbuch: Schmid und Fassbinder).
4 Literaturskandalforschung widmet sich den unterschiedlichen Deutungen eines skandalisierten Objekts – eines Textes oder Ereignisses wie z.B. einer Theateraufführung – im Rahmen einer öffentlichen Debatte. Untersucht werden die Standpunkte, die massenmedial vermittelt werden. Zu beschreiben sind Verlauf, Akteur:innen und Argumentationsmuster, Wirkungsabsichten und Rezeptionsmodi. Diese Aspekte greifen de facto ineinander, da kommunikative Prozesse dynamisch sind und Bedeutungszuweisungen daher mehrfach ausgehandelt und neu bestimmt werden. Dies alles zusammen bildet die Skandalkommunikation. Zu Literaturskandalen allgemein, einzelnen Fällen und gattungsspezifischen Fragen siehe Neuhaus/Holzner 2007 und Weninger 2004 sowie Franzen 2018, Geier 2018.
5 Hier tat sich insbesondere Günther Rühle hervor: Er stützte seine Behauptung einer ›Fehlrezeption‹ mit der Aussage, dass »der Blick auf den Juden durch die unsichtbare, aber anscheinend immer noch gebräuchliche Brille des nationalsozialistischen Judendenunzianten Julius Streicher« gelenkt sei (Rühle 2000: 508). Dies ist angesichts der Kritik von Holocaust-Überlebenden an Fassbinders Stück, über die Rühle auch schreibt, eine Behauptung, die einen entsetzt zurücklässt. Rühle bezeichnete außerdem im gleichen Beitrag (erstmals 1986 erschienen) Antisemitismus als »Angstvokabel« (ebd.: 517) und fabulierte, eine jüngere Generation von Juden sei »alleingelassen mit der Frage, warum sich das europäische Judentum so leicht, fast widerstandslos zum Opfer kleinbürgerlich-faschistischer Mörder habe machen lassen« (ebd.: 515).
6 Siehe zur Kontroverse den Band von Lichtenstein (1986), insbesondere die Beiträge von Fest 1986 und Zwerenz 1986b.
7 Fassbinder 2005: 649, im Folgenden mit der Sigle MST angegeben.
8 Die Verquickung von Kapitalismuskritik mit dem Thema Vergangenheits-›Bewältigung‹ und Antisemitismus kann als Beispiel für eine Faschismusanalyse als Kapitalismuskritik gelesen werden, die weitgehend von den realen Opfern und ihren Erfahrungen abstrahierte und sich auf die Diskussion der kapitalistischen Ursachen des Faschismus konzentrierte.
9 Fassbinder hat diese angebliche ›Tabuisierung‹ wiederholt behauptet: »Ich meine, daß die ständige Tabuisierung von Juden, die es seit 1945 in Deutschland gibt, gerade bei jungen Leuten, die keine direkten Erfahrungen mit Juden gemacht haben, zu einer Gegnerschaft gegen Juden führen kann.« (Fassbinder 1986: 43) Tatsächlich gab es keine Tabuisierung von Juden und Jüdinnen, die man hätte aufdecken müssen, sondern verbreiteten Antisemitismus. Darüber hinaus erklärte Fassbinder Philosemitismus und Antisemitismus für ›wesensverwandt‹, wie der Titel des Artikels bereits signalisiert (vgl. ebd.). Zum Problemkomplex Philosemitismus siehe Theisohn/Braungart 2017 mit einem Beitrag von mir (vgl. Geier 2017a) zu Elmar Goerdens Drama Lessings Traum von Nathan dem Weisen, in dem auch eine Referenz auf das Müll-Stück und die Fassbinder-Kontroversen vorkommen.
10 Weninger (2004: 103) schreibt, »noch haben wir nicht die nötige Distanz gewonnen, um in ihm bloß ein derb-amüsantes Spiel um eine Handvoll stereotyp überzeichneter Bühnenfiguren zu sehen«. Hier wird übersehen, dass es Unterschiede gibt zwischen den ›überzeichneten‹ Figuren und dass die zeitpolitische Dimension der Figur des ›Reichen Juden‹ im Kontext von Antisemitismus und Kapitalismuskritik es verunmöglicht, das Müll-Drama als »derb-amüsantes Spiel« zu rezipieren.
11 In der Forschung ist dies immer wieder zu lesen: »Erst in dieser Zuspitzung, in der die Sehnsucht nach authentischem Leben und selbstloser Liebe als Müll und die selbstlose Liebestat als Tötungshandlung, für Mörder und System gleichermaßen folgenlos, erscheint, liegt die ganze Provokation des Stücks.« (Wefelmeyer 2000: 558)
12 Dass Fassbinder eine jüdische Figur wählt, erweckt den Eindruck, dies geschähe pars pro toto für die Gruppe von Immobilienkaufleuten. Dies bildet jedoch gerade nicht die realhistorischen Vorgänge ab, sondern eine antisemitische Sichtweise auf diese Situation. Die Beteiligten »wurden pauschal als ›jüdische Spekulanten‹ beschimpft, obwohl sie keineswegs in ihrer Mehrheit jüdisch waren; aber sogar wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte sich die Hervorhebung dieser Religions- oder ethnischen Zugehörigkeit als sachlich völlig deplaziert von selbst verbieten müssen.« (Hadomi/Horch 1996: 117)
13 Werner Bergmann beschreibt prägnant die Langzeitwirkung der Kontroverse: »Nach der Intention Fassbinders sollte sein Stück mit der negativen Figur des ›reichen Juden‹ reflexiv den seiner Meinung nach gestörten Umgang von Deutschen und Juden seit 1945 zeigen, es sollten der Philosemitismus und der Antisemitismus auf deutscher Seite und ein Bedürfnis nach Rache auf jüdischer Seite als (falsche) Reaktionsform auf den Holocaust entlarvt werden. Damit wurde ein ›Frame‹ eingeführt, der für die Konflikte der 80er Jahre typisch werden sollte, der aber nicht von allen begriffen oder akzeptiert wurde.« (Bergmann 1997: 316; Hervorh. i.O.)
14 Darauf weist u.a. Susanne Schönborn hin und erläutert dabei auch, warum nicht der Text, sondern die Inszenierungsversuche die jüdische Gemeinde in Frankfurt zum Protest mobilisierten: »Der Gemeinde ging es 1984/85 nicht primär um den Antisemitismus des Textes, sondern um die gesellschaftliche Anerkennung, die dieser erhalten würde, wenn das Stück auf einer staatlich subventionierten Bühne aufgeführt würde. Dies ist eine Erklärung, warum die jüdische Gemeinde erst in der Debatte um die Aufführung des Stücks offensiv intervenierte und nicht bereits beim Erscheinen des Textes 1976.« (Schönborn 2005: 107)
Literatur
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