Raoul Schrotts Finis Terrae
Das Ende einer Selbstlüge am Ende der Welt
AbstractRaoul Schrotts’ first novel Finis Terrae features a tremendously complex principle of construction. Through two fictitious editorships the text assumes three different layers. This particular construction serves to authenticate the written work. At the same time the fictitious editor questions the validity of the narrative, which contributes to a reader’s confusion. As a matter of fact, there is evidence that Ludwig Höhnels’ booklets are to be interpreted in a figurative sense, and contain manifestations of his own unconsciousness. This contribution attempts to proof that Höhnel is a phantasm of Giovanni Schiaparelli that strives to escape his past. As the story progresses this self-illusion collapses, and as a consequence, Höhnel’s identity is dissolving. The collapsing of the topmost layer of identity reflects itself in the journey at the edge of the world.
Title:Raoul Schott’s Finis Terrae. The End of a Self-Delusion at the End of the World
Keywords:contemporary literature; Austrian literature; narrative strategies; identity
Obwohl Raoul Schrotts Debütroman Finis Terrae (2009)1 ein höchst undurchschaubares und komplexes Werk ist, das der Entschlüsselung bedarf, wurde es bisher in der Literaturwissenschaft nur ansatzweise erforscht. Gerade ein psychoanalytischer Ansatz, der in diesem Fall durchaus angebracht wäre, fehlt, und das, obwohl die Veröffentlichung des Romans mittlerweile schon 18 Jahre zurückliegt. Der vorliegende Aufsatz geht von der These aus, dass die zwei Figuren im Zentrum von Finis Terrae, Ludwig von Höhnel und Giovanni Virginio Schiaparelli, verschiedene Identitätsausprägungen derselben Person sind. Zu seiner ersten Begegnung mit Schiaparelli schreibt Höhnel: »Daß ich dort jedoch auf Schiaparelli traf, war ein Zufall. Was ich in ihm sah, eine Projektion. Wir waren uns ähnlich und auch wieder nicht« (FT 174). Schlägt man Projektion (»projection«) im Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse nach, ergibt sich Folgendes: »Die Projektion ist ein Abwehrmechanismus, bei dem ein innerer Wunsch/Gedanke/Gefühl aus dem Subjekt hinaus- in ein anderes Subjekt hineinversetzt wird« (Evans 2002: 240). Ist Schiaparelli eine Projektion Höhnels? Obwohl der Interpretationsaufwand relativ groß ist, scheint diese These berechtigt, ja eigentlich wird eine psychoanalytische Interpretation im Vorwort sogar durch den Herausgeber motiviert: Er sieht Höhnels Aufzeichnungen als »Psychogramm einer Haltung, die man fast autistisch nennen könnte« (FT 14), sie erinnern ihn an die »Sprachübungen Schliemanns, die von der Forschung psychoanalytisch interpretiert werden« (FT 9), und schliesslich findet er, »eingelegt ins dritte Heft« (FT 15), die »Reproduktion eines Courbet aus der Sammlung Lacan« (FT 16). Demnach versucht der Aufsatz, nach einer formalen Analyse des komplexen Konstruktionsprinzips des Romans im ersten Teil, im zweiten Teil mithilfe einer größtenteils werkimmanenten psychoanalytischen Lektüre zumindest für einige der Rätsel von Finis Terrae einen Lösungsvorschlag zu finden.
1. Herausgeberfiktion und Schichtungsprinzip
Die Veröffentlichung eines Textes durch einen Herausgeber, je nachdem mit der Voranstellung eines Kommentars, ist zuerst einmal ein realer und üblicher Vorgang in der Medienbranche: Ein Text »a«, von Autor »x« geschrieben, wird von Herausgeber »y« publiziert. Herausgeber »y« hat auf bestimmte Art und Weise Zugang zum Text erhalten, möglicherweise hat er ihn gefunden oder Autor »x« hat ihn ihm selbst überreicht, und gibt diesem Text nun eine Veröffentlichungsplattform. Eventuell greift er dabei auch in die Textgestalt ein, vielleicht nur mit Korrekturen, vielleicht jedoch auch mit gröberen Eingriffen oder gar mit eigenem Gestaltungswillen, wie z.B. bei Übersetzungen. Die Herausgeberfiktion simuliert diesen an sich realen Vorgang fiktional, ohne dass er tatsächlich stattfinden würde. Der reale Autor setzt einen fiktiven Herausgeber ein, der vorgibt, einen fremden Text zu veröffentlichen. Dabei kann der fiktive Herausgeber, wie in Finis Terrae, denselben Namen wie der reale Autor tragen, muss es aber nicht zwingend. Durch den Kunstgriff der Herausgeberfiktion kann die »Tatsächlichkeit« (Breitbarth 2010: 341) des (angeblich) herausgegebenen Textes behauptet werden, also dass die berichteten Ereignisse tatsächlich so stattgefunden hätten bzw. tatsächlich so von Autor »x« niedergeschrieben geworden wären.
Finis Terrae beinhaltet gewissermaßen eine doppelte Herausgeberfiktion. Der fiktive Herausgeber, der sein Vorwort mit »Raoul Schrott, Seillans, Mai 1995« (FT 16) unterzeichnet, kommt in Besitz von vier Heften, die ein gewisser Ludwig Höhnel geschrieben habe. In diesen Heften wiederum sind Texte enthalten, die Höhnel von anderen Autoren übernommen hat: Das Logbuch des Pytheas von Massalia, das er angeblich übersetzt hat, und eine Zusammenstellung diverser Expeditionsberichte über einen »Vorfall, der sich in den 30er Jahren auf der Süd-Insel des Rudolfsees zutrug« (FT 15). Durch diese Konstruktion entsteht eine dreifache Schichtung des Textes: erstens als »(Pseudo-)Paratext« (Breitbarth 2010: 342) das Vorwort des fiktiven Herausgebers Raoul Schrott, zweitens die vier Hefte Höhnels und drittens das (fiktive) antike Logbuch von Pytheas und die Expeditionsberichte.
Zwischen den drei Textschichten bestehen komplexe Abhängigkeitsverhältnisse. An erster Stelle durch die Eingriffe der beiden Herausgeber in die jeweilig tieferen Textschichten. Das Logbuch des Pytheas und die Expeditionsberichte, die unterste Textschicht, wurden von Ludwig Höhnel bearbeitet bzw. sogar übersetzt und so zu Heft Eins und Heft Vier verarbeitet. Der Herausgeber Raoul Schrott wiederum – wenn ich von Raoul Schrott spreche, meine ich ab jetzt immer den fiktiven Herausgeber – hat die vier Hefte Höhnels ediert:
Wo es möglich war, habe ich die Seiten in ihrer ursprünglichen Anordnung belassen und nur hie und da geglättet oder gestrichen, mit Ausnahme jener Stellen, die in den Briefen und in der autobiographischen Erzählung doppelt vorkommen […]. (FT 10)
Heft Eins und Heft Vier wurden also zweimal bearbeitet, zuerst durch Höhnel und dann durch Schrott. Zudem verwendet Schrott laut seinem Vorwort bei der Edition von Heft Eins noch zwei weitere Quellen: »Bei der Edition dieses von Höhnel aus dem Griechischen übertragenen Textes konnte ich auf zwei Artikel zurückgreifen« (FT 11). Der eine Artikel stammt von Schiaparelli, der auch als handelnde Figur in Heft Drei oder als Adressat der Briefe in Heft Zwei fungiert, der andere von Höhnel selbst, wobei die Relation dadurch verkompliziert wird, dass die »wissenschaftliche Bearbeitung« (FT 12) von Höhnels Aufsatz Schiaparelli oblag. Die folgende Darstellung veranschaulicht die editorischen Abhängigkeitsverhältnisse.
An zweiter Stelle bestehen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Textschichten hinsichtlich der Zeit- und Raumstruktur. »Um die Symmetrie der einzelnen Teile deutlicher sichtbar werden zu lassen« (FT 10), hat Schrott den »Nachlaß in zwei Bücher[] zu je zwei Heften« (FT 10) unterteilt. Das erste Buch besteht aus Heft Eins und Heft Zwei, das zweite aus Heft Drei und Heft Vier. Jeweils zwischen Heft Eins und Zwei bzw. Heft Drei und Vier besteht ein enger zeitlicher und räumlicher Konnex. Die Übersetzung des Logbuchs von Pytheas fertigt Höhnel in derselben Zeit an, in der er auch die Briefe aus Heft Zwei schreibt. Gleichzeitig unternimmt er eine Reise entlang der europäischen Westküste, die auf weiten Strecken der Route von Pytheas’ Fahrt folgt. Auch zwischen Heft Drei und Vier gibt es sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Entsprechung: Heft Vier entsteht während der in Heft Drei beschriebenen Ausgrabungen am Turkanasee, und auch die Expeditionen in Heft Vier haben den Turkana- bzw. damals noch Rudolfsee zum Ziel.
An dritter Stelle gibt es auch auf der Handlungsebene, d.h. auf der intratextuellen Ebene, direkte Berührungen zwischen den Textschichten. Üblicherweise hat der Herausgeber nur Einfluss auf die Textoberfläche des von ihm herausgegebenen Textes. In Finis Terrae kommt eine weitere Dimension dazu: Daneben, dass Schrott editorisch in die Hefte Höhnels eingreift, erzählt er im Vorwort von persönlichen Begegnungen mit Figuren, die in dem von ihm herausgegebenen Text auftreten. Giovanni und Sofia Schiaparelli trifft er in deren Haus, das auch Höhnel in Heft Drei besucht und beschreibt. Schrott kann dieses Haus »vom Balkon aus sehen« (FT 6), es befindet sich in Seillans, wo auch der reale Autor Raoul Schrott zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Finis Terrae wohnte.2 Zu guter Letzt berichtet der Herausgeber im Vorwort auch von einer Begegnung mit Höhnel. Die vier Hefte werden damit neben der Herausgeberfiktion auch dadurch beglaubigt, dass der Herausgeber seinerseits persönliche Begegnungen mit den (fiktiven) Figuren des herausgegebenen Textes behauptet, um so deren Existenz zu bestätigten.
Raoul Schrott – hier meine ich den realen – etabliert eine doppelte Herausgeberfiktion, die zusätzlich durch mehrfache Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den entstehenden Textschichten authentifiziert wird. Es bestehen editorische, zeitlich-räumliche und intratextuelle Verknüpfungen zwischen den drei Schichten. Dass der fiktive Herausgeber den realen Namen des Autors (»Raoul Schrott«) trägt und auch denselben Wohnort (»Seillans«) wie dieser hat, verleiht ihm zusätzliche Autorität.
2. Das Ende einer Selbstlüge am Ende der Welt
Finis Terrae gibt dem Leser vor, ein faktengetreuer Text zu sein, dabei ist das gerade in zentralen Punkten nicht der Fall. Während alle Einträge in Heft Vier, abgesehen von einigen kleineren sprachlichen Änderungen, wortwörtlich den nachgewiesenen originalen Reiseberichten entnommen sind (vgl. Fuchs 1935; Höhnel 1892; Tichy 1980), ist Heft Eins komplett fingiert. Während ansonsten alle Figuren, die erwähnt werden, tatsächlich existieren, sind gerade die zentralen drei fiktiv. Und während die Fußnoten im Vorwort ansonsten stimmen und auf real existente Texte verweisen, sind zwei davon falsch: Die eine – »Ludwig Höhnel, Pytheas von Massalia; Bulletin de Correspondance Héllénique, 113, Paris 1987« (FT 11) – gänzlich, die andere – »Ghjuvan V. Schiaparelli, Die Vorläufer des Copernicus im Altertum – Historische Untersuchungen; Bulletin de Correspondance Héllénique, 110, Paris 1986« (FT 11) – bezeichnet einen Text, den es zwar tatsächlich gibt, der aber nicht 1986 in Paris, sondern 1876 in Leipzig veröffentlicht wurde und keinerlei Bezug auf Pytheas nimmt (vgl. Schiaparelli 1876). Der Leser soll glauben, dass auch diese Fußnoten richtig sind und dass die Figuren Höhnel und Schiaparelli eine faktische Grundlage haben, obwohl sie natürlich fiktiv sind. Sowieso scheint der Herausgeber manipulativ zu wirken. Im Vorwort gibt er zu jedem Heft einen kurzen Kommentar ab und steuert damit die Rezeptionsrichtung des Lesers gezielt. So schreibt er zu Heft Drei, es sei »nicht unwahrscheinlich, daß Ludwig Höhnel Teile seiner Biographie verfälscht hat« (FT 15) und Höhnel »dem Wesentlichen« (FT 14) geschickt ausweichen würde. Während also auf der einen Seite die absolute Authentizität des Materials behauptet wird, stellt der Herausgeber auf der anderen Seite dessen Wahrheitsgehalt unmittelbar in Frage. Durch diesen Kunstgriff ist der Leser im Zwiespalt und muss »das Berichtete ständig hinterfragen und neu durchleuchten […], um sich Orientierung zu verschaffen« (Höppner 2007: 31).
2.1 Die tatsächliche Chronologie
Teil des Täuschungsspiels ist, dass durch das komplexe Konstruktionsprinzip des Romans die tatsächliche Chronologie der Handlung vertuscht wird. Finis Terrae ist von zahlreichen Anachronien durchzogen. Als Grundlage für die nachfolgende Interpretation wird an dieser Stelle die Handlung von Finis Terrae in ihrer Chronologie rekonstruiert.
Es beginnt im dritten Heft, das laut Schrott »vor den ersten beiden entstanden« (FT 14) ist, mit relativ unbestimmten Erzählungen Höhnels von seiner Kindheit, die er in Windhoek, der Hauptstadt Namibias, verbracht hat. Nach dem Selbstmord der Mutter tritt er in die Marineakademie ein, die er aber schon kurz darauf wieder abbricht, »um das Studium der Archäologie anzufangen« (FT 173). Dank dem Namen seines berühmten Großvaters erhält er eine »Praktikantenstelle in Koobi Fora am Turkanasee« (FT 174). Bei den dortigen Grabungen trifft er den Kollegen Ghjuvan Schiaparelli. Auf der Flucht vor aufgebrachten Eingeborenen, die die Grabungen als »Vorwand, um […] ihnen ihr Gebiet zu nehmen« (FT 184), sehen, wird Schiaparelli angeschossen und verkrüppelt. Danach hört Höhnel lange nichts mehr von ihm und kehrt nach Windhoek zurück. Längere Zeit später besucht er Schiaparelli im Haus in Seillans. Dort erfährt er von Schiaparellis Fund der »Aufzeichnungen des Pytheas von Massalia« (FT 200) und begegnet Schiaparellis Schwester Sofia, mit der er später Geschlechtsverkehr hat. Als Nächstes erfährt der Leser, dass Höhnel auf dem Balkon eines gemieteten Zimmers in Marseille sitzt und »an der Übersetzung des Pytheas-Fragments« (FT 215) arbeitet. Er wird von Sofia besucht und vernimmt von ihr, dass sie die Schwester von Schiaparelli ist. Danach werden die Aufzeichnungen immer wirrer und undurchschaubarer. Höhnel fährt mit Schiaparelli in einem Auto Richtung Westen und dieser erzählt seine Geschichte: Als »die Deutschen in Paris einmarschierten« (FT 224), flüchtete Schiaparelli mit seiner Familie nach Korsika. Dort wurden sie von »Nachbarn denunziert[]« (FT 224), worauf die Eltern ermordet wurden und er mit der Schwester Sofia »in Pflege« (FT 225) aufwuchs. Schwierig einzuordnen ist die Begegnung zwischen Schrott und Höhnel in Paris »Ende 1986 oder Anfang 1987« (FT 8), von der Schrott im Vorwort berichtet. Damals sei Höhnel »gerade aus Kenya zurück« (FT 9) gewesen, »wo er sich an paläontologischen Grabungen beteiligt hatte« (FT 9). Wenn man im Hinblick darauf, dass sich der Turkanasee in Kenya befindet, annimmt, dass es sich dabei um die in Heft Drei beschriebenen Grabungen handelt, müsste diese Begegnung irgendwann zwischen den Ereignissen von Heft Drei und Heft Zwei stattgefunden haben. In Letzterem sind Briefe gesammelt, die Höhnel während der Reise entlang der Westküste Europas geschrieben hat. Der erste Brief datiert auf den 24. März 1988, der letzte auf den 18. Mai 1988. Doch ist die Anordnung der Briefe nicht chronologisch. Der im Buch an letzter Stelle stehende Brief datiert auf den 12. Mai, der zweitletzte auf den 15. Mai und der drittletzte und tatsächlich letzte auf den 18. Mai 1988. Der letzte Brief wurde also nicht in Land’s End geschrieben, sondern auf den Îles Chausey, auf die Höhnel nach seinem Aufenthalt in Land’s End wieder zurückkehrt. Die Polizei findet die Briefe »zusammen mit Höhnels Paß und seinen Habseligkeiten in einem Hotel« (FT 9) und lässt sie, da keine Angehörigen ermittelbar sind, dem Adressaten der meisten Briefe, Schiaparelli, zukommen. Einige Zeit später besucht Schrott wie zuvor Höhnel die Schiaparellis in ihrem Haus und erhält die vier Hefte von Sofia. Er bearbeitet die Hefte, stellt Nachforschungen an und schreibt im »Mai 1995« (FT 16) das Vorwort.
2.2 Fragmentierung (Heft Drei)
Zwischen Höhnel und Schiaparelli haben sich schon einige Parallelen gezeigt. Im Gegensatz zu den anderen Figuren des Buches, abgesehen von Sofia, sind sie fiktiv. Beide interessieren sich für Pytheas und sein Logbuch, und beide haben einen Aufsatz über dieses geschrieben. Sie sind beide Archäologen, und beide unterhalten eine sexuelle Beziehung zu Sofia. Auch ihre Vergangenheit zeigt Gemeinsamkeiten: Beide sind mit ihren Familien aus Europa geflüchtet, und beide haben ein Kindheitstrauma. Während Schiaparellis Traumatisierung offensichtlich von der Ermordung seiner Eltern auf Korsika rührt, bleibt Höhnels Kindheitstrauma verborgen. So sieht der Herausgeber den gelegentlichen Wechsel von Höhnels Aufzeichnungen »vom Deutschen ins Englische« (FT 9) als Mittel, um »Abstand zu sich selbst zu schaffen« (FT 9) und »den Ausdruck gewisser Kindheitstraumata« (FT 9) zu erleichtern. Heft Drei beginnt mit unbestimmten Kindheitserinnerungen von Höhnel, die während der folgenden Erzählungen von den Ausgrabungen am Turkanasee in bildhaften Erinnerungsfetzen wiederkehren. Höhnel wird von etwas Unsagbarem aus seiner Vergangenheit umgetrieben:
Nein, das was ich jetzt schreiben will, hat noch Zeit. An allem, was ich zu Papier gebracht habe, merke ich, daß ich etwas Wesentlichem ausweiche, ich habe versucht, es mir als gegenwärtig vorzustellen, statt es wie ein Stück Vergangenheit zu erinnern […]. (FT 190)
Es gelingt Höhnel nicht, sein Trauma in Worte zu fassen. Die archäologischen Grabungen symbolisieren Höhnels Versuch, zum »Innersten [s]einer selbst« (FT 173) vorzustoßen. Höhnel bezeichnet seinen Austritt aus der Marineakademie und das nachfolgende Studium der Archäologie als »Versuch, den Anfängen zu begegnen, ihrer habhaft zu werden« (FT 173f). Er sucht nach seinen Anfängen, nach seiner Vergangenheit: »Der Rudolfsee. Als läge dort der Beginn meiner Geschichte« (FT 174). »Schicht um Schicht« sieben Schiaparelli und Höhnel »aus der versteinerten Vulkanasche« und dringen »zentimeterweise in die Tiefe« (FT 177). Dass sie dabei den Schädel eines Urmenschen finden und damit den Anfängen der Menschheit auf den Grund gehen, ist bezeichnend für die Suche nach den Ursprüngen. Das Vordringen in das unbekannte Innere zeigt sich auch in Heft Vier, das Höhnel parallel zu den Grabungen am Rudolfsee verfasst. Die drei Expeditionen versuchen in das unberührte Innere des Sees vorzudringen, nämlich auf die Süd-Insel, von der selbst die Eingeborenen betonen, »daß weder sie noch ihre Vorfahren diese Insel je betreten haben« (FT 247). Das Ziel: »Entdecker des Innersten eines dunkeln Weltteils […] werden« (FT 180). Alles drängt ins Innere. Doch was ist dieses Innerste, das »den Blicken entgeht und im Dunkeln bleibt« (FT 192)?
Der rational nicht mehr kontrollierbare Gedankenstrom Höhnels fließt in seinen Text ein: »Die Worte nehmen ihren eigenen Lauf, sie halten sich an vorgezeichnete Bahnen, auch gegen meinen Willen« (FT 192). So fördert der Schreibprozess das ins Unbewusste verdrängte Trauma zutage:
die Gedanken verfertigen sich beim Schreiben, ich weiß, dann aber wieder reißt es mich mit in eine Erregung, so, als begänne etwas in mir zu sprechen, über das ich mir sonst keine Rechenschaft abzulegen vermag. Meine Vergangenheit. (FT 215)
Gegen Ende von Heft Drei beginnt Höhnel, die Vergangenheit von Schiaparelli zu erzählen: »Es ist seine Geschichte, die mir noch fehlt, aber ich finde nun einen Anfang für sie« (FT 220). Doch eigentlich sind es seine eigenen »Anfänge[]« (FT 174), die er nun, nachdem er nach ihnen gesucht hat, findet – »der Beginn meiner Geschichte« (ebd.). Schiaparellis Geschichte ist eigentlich Höhnels Geschichte, die er bisher verdrängt hat. »Doch wozu all der Aufwand, diese billigen Ausflüchte. Ghjuvan« (FT 229). Die Erinnerungen drängen aus Höhnels Innerem an die (Text-)Oberfläche:
Ein Geständnis. Und das ständige Bedürfnis dazu. Als wäre das Ich ständig von Auflösung bedroht. Als wäre diese Flut der Erinnerungen durch nichts einzudämmen. Vielleicht habe ich mich deshalb immer bemüht, eine andere Gestalt zu finden, die mich hätte ersetzen können. (Ebd.)
Der Terminus Gestalt (auch im Orig. dt.) bezeichnet bei Jacques Lacan »das visuelle Bild eines Artgenossen, der als ein einheitliches Ganzes wahrgenommen wird« (Evans 2002: 125). Die Ganzheit des Ichs wird dabei ständig durch »Ängste vor der Auflösung« (ebd.: 126) bedroht. Über die Gestalt Schiaparellis gelingt es Höhnel, dessen Ich »von Auflösung bedroht« (FT 229) ist, seine Traumata in Worte zu fassen: Im Gegensatz zu Höhnels abstrakten Kindheitserinnerungen am Anfang von Heft Drei sind die Erzählungen aus Schiaparellis Kindheit am Ende von Heft Drei sehr wirklichkeitsnah beschrieben und weisen dabei ähnliche Muster auf. Während Höhnel eingangs erzählt, wie er sich als Kind vorgestellt hat, er »säße in einem hohlen Baum, und ringsum wütete das Feuer, ein Steppenbrand, der alles verzehrte« (FT 169), wird diese abstrakte Erinnerung später in der vermeintlichen Geschichte Schiaparellis bis ins Detail einzelner Sinneseindrücke auf brutale Weise konkret:
Sofia lag neben mir unter dem Heu, und als ich meine Eltern schreien hörte, hielt ich ihr den Mund zu, damit sie uns nicht verriet, sie biß mir die Hand blutig, sagte er, sie drückte sich an mich, ihr Körper war warm, und ich roch den Rauch, und ich hörte das Haus brennen, wir aber blieben in der Scheune und wagten uns erst am nächsten Morgen heraus, die ganze Nacht lagen wir ineinander und warteten auf die Eltern, doch die lagen vor dem niedergebrannten Haus, man hatte sie mit einem Flammenwerfer umgebracht. (FT 224)
Schiaparelli ist eine tiefere Bewusstseinsschicht von Höhnel – das Innere, zu dem dieser im Verlauf von Heft Drei langsam vordringt. Schiaparelli und Ludwig Höhnel sind ein und dieselbe Person, und »Schiaparelli war nur ein Vorwand, um den Schein zu wahren und ein Gesicht zu retten, das ich [Höhnel] längst verloren habe« (FT 190). Dass der Text nach Angabe des Herausgebers im ursprünglichen Manuskript »ständig zwischen einem er und einem ich« (FT 14) wechselt, unterstützt diese These.
Daneben wird auch eine inzestuöse Beziehung zwischen Schiaparelli und seiner Schwester Sofia angedeutet:
Das Mädchen, sagte er. Sofia. Als ich sie dann bluten sah, sagte er, war es, als würde ich alles ein weiteres Mal verlieren, als könnte ich nicht tief genug graben, nicht tief genug in ihren Körper kriechen, es war die Wärme ihrer Haut und die Narben, sagte er, als könnte ich in den Körper dieses Mädchens kriechen, als würde er dann warm. (FT 226)
Am Turkanasee erhält Schiaparelli einen Brief von Sofia, in dem »sie ihm eröffnet, daß er Vater geworden sei« (FT 191). Geht man von obiger These aus, dass Höhnel und Schiaparelli dieselbe Person sind, muss man annehmen, dass Höhnel auch Sofias Bruder und der Vater des Kindes ist. Und tatsächlich überkommt Höhnel »das Gefühl von Schuld« (FT 192), als er vom Brief erfährt. Damit kommt der Verdacht auf, dass nicht Schiaparelli ein »Vorwand« (FT 190) Höhnels ist, sondern umgekehrt: Schiaparelli nimmt einen anderen Namen an, Ludwig Höhnel, und verdrängt damit, dass er realiter denselben Familiennamen wie Sofia trägt und es sich um Inzest handelt. Nicht Schiaparelli ist eine alternative Identität Höhnels, sondern Höhnel ein Phantasma Schiaparellis, um seiner inzestuösen Realität (und seinem Trauma von der Ermordung der Eltern) zu entfliehen: »[A]ls hätte ich erst eine Geschichte erfinden müssen, nur um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. Als bedürfe es all dieser Kulissen und Fassaden« (FT 230). Das erklärt einerseits den unbestimmten und fiktionalisierten Charakter der Eindrücke aus Höhnels angeblicher Kindheit am Anfang von Heft Drei und andererseits, weswegen Höhnels Name dem »Registrationsbüro« (FT 14) in Namibia laut Nachforschungen des Herausgebers nicht bekannt sei und wieso sowohl der Herausgeber als auch die Polizei nicht in der Lage sind, Angehörige Höhnels zu ermitteln (vgl. FT 9 u. 14). Als Kind ritzte Schiaparelli die Initialen »LH« (FT 227) in die Rinde eines Baumes. »Erst fünfzehn Jahre später, als sich der Baum ausgewachsen hatte, daß die Borke hart geworden war und aufbrach und die Schrift erkennen ließ« (FT 227), entdeckte der Vater die falschen Initialen und schrieb Schiaparelli einen Brief, »doch da war es zu spät, da zählten die Worte nichts mehr« (ebd.). Zu diesem Zeitpunkt kann sich Schiaparelli seine Selbstlüge nicht mehr eingestehen: »etwas, das ich auch jetzt nicht über die Lippen bringe. Ein Name nur« (FT 230). Sofia jedoch konfrontiert ihn einmal mit seinem wirklichen Namen: »als sie plötzlich meinen Namen sagte, meinen Namen. Vielleicht erwartete sie sich, daß ich wütend werden oder mich ihre Offenheit in die Enge treiben würde« (FT 216). Doch er hält an der Identität Ludwig Höhnel fest und weist Schiaparelli als fremde Person von sich: »Ich kam erneut auf Ghjuvan, es fiel mir einfach nichts anderes ein […]. Sie hielt einen Augenblick inne, dann sagte sie etwas und nannte ihn ihren Bruder« (ebd.).
Am Schluss von Heft Drei verschwimmen die beiden Identitäten Höhnel und Schiaparelli mehr und mehr ineinander. Höhnel gibt Schiaparellis Geschichte in der Ich-Form wieder, die gelegentlich eingeschobenen »sagte er« werden immer seltener, und plötzlich erzählt wieder Höhnel von seiner Kindheit. Als Kind hat sich Höhnel die Sonnenbahn als »schiefe Bahn eines Wagens, der im Kreise fuhr« (FT 170), vorgestellt. Nun fährt er mit Schiaparelli »im Wagen […] nach Westen« (FT 220) und das Land wird immer karger. Wie die Sonne in ihrer ewigen Kreisbahn gefangen, ziehen Höhnel und Schiaparelli, zu einem (Himmels-)Körper geworden, nach Westen. Die Aufzeichnungen werden immer kryptischer, und das ewige Drehen verliert sich im Nichts: »Nacht für Nacht, diese Sternbilder […] in diesem behauenen, nahtlos ineinandergreifenden Gefüge, von diesem endlosen Kreisen glattgeschliffen und zu Staub gemahlen, bis jedes Zeichen, jeder Riß und jede Fissur erodiert war« (FT 233).
2.3 Auflösung (Heft Zwei)
Während es in den Heften Drei und Vier um die Suche nach dem Innern geht, drehen sich die ersten beiden Hefte in mehrfacher Hinsicht um die Reise an die Ränder. Zum einen unternehmen Höhnel und Pytheas Reisen an die geografischen Ränder. Felsen, Buchten, Kaps, Klippen und vorgelagerte Leuchttürme, die der Brandung trotzen, sind allgegenwärtig in den Briefen Höhnels. Über Portugal, Spanien, Frankreich und England folgt er der europäischen Küste und kommt wiederholt an Orte, die das in den Titel eingeschriebene Ende der Welt – Finis Terrae – sein wollen: das galizische Fisterra, San Teixeido, das er »noch ein Ende der Welt, Cabo nel mundo« (FT 125) nennt, und schließlich das englische Land’s End. Auch Pytheas reist in extreme Räume, er fährt weiter in den Norden als je ein Zeitgenosse vor ihm. Auf dem Weg an den Rand der damals bekannten Welt kommt es zu zahlreichen Grenzüberschreitungen, wie Edgar Platen feststellt: Schon »die Durchquerung der Straße von Gibraltar« (Platen 2011: 40) ist eine Grenzüberschreitung, dann fährt Pytheas vorbei am Kap Fisterra, wo die Einheimischen glauben, »das Ende der bewohnten Welt« (FT 34) nehme hier seinen Anfang, vorbei an der Île d’Ouessant, wo die Eingeborenen meinen, am »Ende der Welt« (FT 42) zu wohnen, und vorbei an den Hebriden, »die für sie das Ende der Welt bedeuten« (FT 57), bis an die Packeisgrenze von Island, dem endgültigen »Rand der Erde« (FT 82), wo nichts anderes mehr bleibt, als umzukehren (vgl. Platen 2011: 40f.). Zum andern ist aber sowohl Pytheas’ als auch Höhnels Reise eine Reise an die Ränder des Lebens. Pytheas’ Logbuch ist durchzogen mit Beschreibungen von Todesriten: Auf den Isles of Scilly werden die Toten »in großen Steingräbern« (FT 47) bestattet, in Irland leben Kannibalen, die »es für eine ehrenvolle Sache halten, ihre Väter, wenn sie sterben, aufzufressen« (FT 49), andernorts werden die Leichen »auf einem Holzgerüst« (FT 62) aufgebahrt und den Elementen ausgesetzt, bis das Fleisch von den Knochen fällt, oder mit einer großen Feier und der Opferung einer Magd auf einem Schiff beigesetzt, das danach angezündet wird. Wohl sind es nicht zuletzt diese Berichte, die Höhnels Faszination für das Logbuch erklären. Schließlich ist auch Höhnels Reise die »von einem, der ans Ende der Welt fuhr, um zu sterben« (FT 157).
In Heft Drei ist Höhnel zu seinem Innern vorgestoßen, und »jetzt, wo alles aufbricht, was über die Jahre verschlossen war« (FT 113), reist er an das Ende der Welt, um das Ende seines Lebens zu finden: »was das Ende sein wird, weiß ich bereits, aber ich denke mir, daß in mir etwas zu einem Ende finden könnte, an einem Ort, einer terra incognita« (ebd.). Nachdem er Zugang zu der tieferen Schicht seines Ichs gefunden und sich die Identität Ludwig Höhnel als »Kulisse[]« (FT 230) offenbart hat, löst sich nun, in Heft Zwei, als Folge davon diese äußere Identitätsschicht ab – Höhnel stirbt. Wie sich Höhnel in Heft Drei »Schicht um Schicht in die Tiefe« (FT 177) grub, dringt nun der Tod »Schicht um Schicht« (FT 146) gegen Innen:
Dieser Tod trug Millimeter um Millimeter ab, durch das Blut, das in den Adern stockte und zersprang, mit der Haut, die sich Schicht um Schicht löste, bis darunter das Schwarz zum Vorschein kam wie Flechten auf einem Fels, das Melanom, der Melanit, und darunter wieder das Salz, die Salzlecke, das Salzlager, das der Wind und der Regen abtrug, bis zum Salband im offen daliegenden Gesteinsbruch, Tag um Tag. (Ebd.)
Höhnels Gedanken sind »nur mehr voneinander unterscheidbar wie die Gesteinsschichten in einem Bruch« (FT 160), und »das Bewußtsein des bevorstehenden Todes fraß sich […] langsam durch, einer Säure gleich« (FT 145). Wie die Klippen am Rand des Lands von den heranstürmenden Wogen des Atlantik erodiert werden, beginnen sich die äußeren Schichten des Ichs abzulösen. Dieser Prozess spiegelt sich in Höhnels Umgebungsbeschreibungen wider. Überall lösen sich äußere Schichten ab: Die »Korkeichen am Straßenrand« sind »entrindet[]« (FT 114); »auf der vom Sonnenuntergang abgewandten Seite des Zuges atmet das Land aus, es streicht sich die Falten glatt, zieht sich die Haut ab« (FT 119); »vor Santiago schälten sich die Eukalyptuswälder« (FT 120); »an der westlichen Seite, dem Atlantik zu, bröckelt das steinerne Land ins Meer« (FT 122); Schiefer bricht »Platte um Platte in ein gestocktes Meer« (FT 125); die Spitzgiebel der Kaiserstraße sehen aus, »als ob von ihnen Schneelasten abrutschen würden« (FT 134); auf Sofias Gesicht »schält sich die Haut« (FT 137); »der Asphalt bröckelt[] in Schichten ab« (FT 139); das »Betonfundament des Windgenerators« (FT 141) wurde freigelegt; die toten Quallen am Strand sind »grau am Rand« (FT 144), wie auch die Wolkenbänke »weiß und zerbrechlich an ihren Rändern« (FT 145) sind; und der Architekt des Leuchtturms von Cordouan
habe seinen Namen auf einen Stein gemeißelt und ihn unter einer Schicht von Kalkputz verborgen, auf der er wiederum den Namen seines Herrschers eingravieren ließ. So würde am Ende die Erosion seinen Namen wieder zum Vorschein bringen. (FT 128)
Genauso blättert die äußere Identitätsschicht Höhnel ab, und die innere, wahre Schicht kommt darunter hervor.
Um ein weiteres Indiz für den Zerfall der Identität Höhnel zu erläutern, muss Lacans berühmte Theorie vom Spiegelstadium (»stade du miroir«) herbeigezogen werden. Das Spiegelstadium ist ein »Fixpunkt in Lacans Werk« (Evans 2002: 277). Anfangs bezeichnet es nur ein bestimmtes Stadium in der kindlichen Entwicklung, später erweitert Lacan den Begriff und sieht darin »die Repräsentation einer permanenten Struktur der Subjektivität« (ebd.). Das Spiegelstadium beschreibt einen Prozess in der Ichbildung: Aufgrund der »fehlenden Koordination des Körpers« (ebd.: 278) empfindet das Kind seinen Körper als »zerstückelte[n] Körper« (ebd.). Im Spiegelstadium entwirft das Kind durch den Blick in den Spiegel, d.h. durch die Identifizierung mit dem eigenen Spiegelbild, ein imaginäres Bild von der Gestalt seines Körpers. Dadurch wird die Abgrenzung des eigenen Ichs als einem erlebbaren Ganzen von der Umgebung ermöglicht. Demzufolge ist das Ich »das Resultat der Identifizierung mit seinem eigenen Spiegelbild« (ebd.). In Heft Zwei kommen immer wieder Spiegel vor, doch nie kann Höhnel sein Spiegelbild als Ganzes erkennen. Einmal »hängt der Spiegel so niedrig, daß man nur Kinn und Mund sieht« (FT 118), auf einer Fähre hängt »ein oxydierter Spiegel« (FT 137), in dem man nichts erkennen kann, die »spiegelnde Oberfläche eines Sees« (FT 129) macht »die optische Täuschung nur noch unerträglicher« (ebd.), und auf Velásquez’ Gemälde Las Meninas, das in einem Hotelzimmer hängt, ist »ein blinder Spiegel« (FT 108) abgebildet.3 Die Identifikation scheitert. Höhnels Ich lässt sich nicht mehr abgrenzen, es verliert seine Ganzheit und wird zu einem zerstückelten Körper. Auf den Îles Chausey, am Ende seiner Reise, wird das Motiv des zerstückelten Körpers wieder aufgerufen: Höhnel erinnert sich zuerst an einen »Vergnügungspark in Windhoek«, wo es »Figuren aus Karton« (FT 146) gab, bei denen das Gesicht ausgeschnitten war, um sich darin fotografieren zu lassen, und dann an eine Zirkusvorstellung, bei der er »über den Zaun gestiegen war, um die Dame ohne Unterleib zu sehen, um mit eigenen Augen zu sehen, wo die Dinge aufhörten und wie sie endeten« (FT 147). Es ist nicht mehr klar, wo die Dinge anfangen und wo sie enden. Höhnels Ich ist nicht mehr klar umgrenzt, es beginnt mit der Umgebung zu verschwimmen. Er fällt in einen »Schlaf, der wie ein endloses Fallen über den Rand der Welt ist« (FT 145). Seine Gedanken gehen »ins Leere« (FT 144), bis am Schluss auch die Sprache ihren Sinn verliert: Der Tod nagt an Höhnel, »bis das Holz der Sprache morsch wurde und diese Worte auch noch als letztes zerfielen« (FT 146). Wie in Pytheas’ Logbuch, wo Lücken mit senkrechten Strichen markiert werden, verlieren sich die Worte im Nichts. Entsprechend Lacans Diktum, dass das »Unbewusste wie eine Sprache strukturiert« (Evans 2002: 322) sei, löst sich damit auch die Identität Ludwig Höhnel auf.
Dass der Auflösungsprozess auf einer Insel stattfindet, passt zu Heft Vier, wo Höhnels Verschwinden mit den zwei Forschern, die auf der Süd-Insel des Turkanasees verloren gingen, vorweggenommen wurde. Die Insel ist der letzte Rückzugsort in einer Welt, die sich als Kugel herausgestellt hat, in der es kein »jenseits Thule« (FT 168) mehr gibt. Sie symbolisiert das Innere. Das Innere, das nach der Auflösung der äußeren Ich-Schicht Höhnel übrig bleibt, ist Schiaparelli, den Schrott später in Seillans trifft. In der »Hoffnung, beim Wiederlesen auf etwas zu stoßen, das in der Niederschrift nicht zur Sprache findet, sich aber doch in den Wörtern festkrallt« (FT 132), hat Höhnel die Briefe an seine tiefere Ich-Schicht, Schiaparelli, adressiert. Wenn Schrott im Vorwort die Frage nach dem »Motiv Höhnels, diese Aufzeichnungen überhaupt zu verfassen« (FT 9), stellt, ist die Antwort wohl, dass es sich um ein Geständnis gegenüber seiner selbst handelt – die Auflösung einer Selbstlüge, die die Auflösung der Identität Ludwig Höhnel mit sich zieht.
2.4 Das Begehren
Höhnel ist den »Gesetzen einer inzestuösen Mechanik unterworfen. Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn. Mein Vater, meine Mutter, Ghjuvan, Sofia und ich« (FT 217). Wie Planeten sind die Menschen auf »genau abgezirkelten Bahnen« (ebd.) gefangen, und letztlich lässt sich alles »nur auf sogenannte Triebe und Kräfte« (ebd.) zurückführen. Die »einzig greifbare Wirklichkeit« (FT 178) besteht »in den Bedürfnissen des eigenen Körpers« (ebd.). Die Triebe sind der Ursprung von allem. Lacan unterscheidet zwischen dem Begehren (»désir«) und dem Bedürfnis (»besoin«; Evans 2002: 53f.). Während das Bedürfnis ein rein biologischer Instinkt ist, der befriedigt werden kann, muss das Begehren immer unbefriedigt bleiben und »übt einen konstanten und immerwährenden Druck« (ebd.: 55) auf den Menschen aus. Dabei sind die einzelnen Triebe immer »Partialmanifestationen einer einzelnen Kraft: des Begehrens« (ebd.). In Finis Terrae äußert sich das Begehren in mannigfaltigen Trieben: In der »gedankenlosen Gier« (FT 190), mit der Schiaparelli »in das Innere, in die Erde« (ebd.) gräbt, wobei das Graben ein sexuelles Konnotat erhält; in Höhnels ödipaler »Sehnsucht« (FT 202) nach seiner Mutter;4 in Pytheas’ und Höhnels Suche nach den Rändern; allgemein in der Sehnsucht nach dem Fremden, die sich in der Reisesehnsucht, in der Todessehnsucht und in der Sehnsucht nach der Frau, die für den Mann als das Fremde markiert ist, ausdrückt. »Mit Männern zu schlafen, das war einfach, es brauchte kein Zimmer dafür […], es war etwas, wo es keine Scham gab, man bei sich blieb und nichts einen in Frage stellte« (FT 210). Die Frau dagegen ist der »Abgrund, an dem der Mann zu Grunde geht« (Weibel 2008: 218). Sie ist »der Spiegel des Erschreckens des Mannes vor der Entdeckung seiner eigenen Triebwelt« (ebd.). Angesichts von Sofias nacktem Körper sagt Höhnel: »es war nur ihr Körper, der mir zu schwer war, daß ich nicht wusste, wo ihn anfangen, weil da nichts war, das ich wiedererkannte von mir« (FT 209). Wenn Höhnel von seiner Sehnsucht nach Sofia spricht, scheint er geradezu Lacans Vokabular zu verwenden, wie folgende Stelle beweist: »Sie übte auf mich eine eigenartige Anziehungskraft aus, aber ich scheute vor jeder Berührung zurück; das Begehren nahm nicht die Form einer Begierde an, nein, es erstickte, ich erstickte es in mir« (FT 216). Das Begehren bleibt, es kann nicht die »Form einer Begierde« annehmen und befriedigt werden. Auch im Drang des Herausgebers und des Lesers nach der Entschlüsselung von Höhnels Heften äußert sich das Begehren, die Lust, dem rätselhaften Text auf den Grund zu gehen. Auch dieses Begehren muss schließlich unbefriedigt bleiben, denn an zentralen Stellen bricht Höhnels Text jeweils ab: »Schiaparelli, nein, er war (die untere Hälfte der Seite ist abgerissen)« (FT 191). Der Herausgeber stellt die Existenz von Höhnel in Frage – zurecht, wie sich gezeigt hat – aber gleichzeitig behauptet er, diesen getroffen zu haben. Es handelt sich um eine Lüge, die dazu dient, das Begehren des Lesers zu schüren. So mutet diese Begegnung auch reichlich surreal an:
in einem kahlen Atelier, dessen Fenster trotz des hellen Nachmittages mit schwarzen Stoffbahnen verhängt waren. Es saßen nur drei Leute da, jeder in einer der Ecken. Ich stellte mich also in die vierte, neben der Tür; Stühle gab es keine mehr. Sonst war da nichts, kein einziges Möbelstück, einfach nichts. […] Irgendwann kam Höhnel herein. (FT 8)
Durch ein geschicktes Täuschungsspiel, das einerseits die Authentizität der Hefte betont, sie aber andererseits gerade wieder in Frage stellt, beschwört der manipulative Herausgeber das Begehren des Lesers am Text (vgl. Greiner-Kemptner 1998).
3. Fazit
Finis Terrae präsentiert mit den vier Heften von Ludwig Höhnel das Psychogramm eines zerfallenden Bewusstseins. Hinweise sowohl in den Heften selbst als auch im Vorwort legen nahe, dass Höhnels Schriften zu einem großen Teil auch dessen Unbewusstes ausdrücken. Demzufolge wurde die These aufgestellt, dass Schiaparelli eine Projektion Höhnels ist. Später erwies sich jedoch die umgekehrte Annahme, dass Höhnel ein Phantasma Schiaparellis ist, als plausibler. Mithilfe dieser Projektion versucht Schiaparelli, seiner traumatischen Vergangenheit zu entfliehen. Im Verlauf von Heft Drei beginnt sich diese Selbstlüge aufzulösen, was dazu führt, dass sie am Ende von Heft Zwei endgültig obsolet wird und die Identität Ludwig Höhnel zerfällt. Besonderes Augenmerk verdient dabei das Konstruktionsprinzip von Finis Terrae. Die vier Hefte Höhnels werden mit verschiedenen erzählerischen Verfahren als authentisch markiert. So wird die fiktive Geschichte Ludwig Höhnels mit faktischen Informationen verwoben, wobei dem Leser die Unterscheidung zwischen den fiktiven und realen Inhalten erschwert wird, und den Heften ist ein mit dem Namen des Autors unterzeichnetes Vorwort vorangestellt, das sich jedoch bald als manipulativ offenbart. In der mehrschichtigen Textgestalt des Romans spiegelt sich die mehrschichtige Struktur des Bewusstseins des Protagonisten, während die Suche des Protagonisten nach tieferen Bewusstseinsschichten im Begehren des Lesers, die Textschichten von Finis Terrae zu entschlüsseln, ihre Entsprechung findet.
Anmerkungen
1 | Im Weiteren mit der Sigle »FT« und arabischer Seitenzahl zitiert.
2 | Vgl. http://bachmannpreis.orf.at/25_jahre/1994/autoren_1994.htm [Stand 31. Mai 2014].
3 | Las Meninas ist, nebenbei bemerkt, eine interessante Referenz zu Finis Terrae. Beide Werke haben eine Metaebene: Ähnlich Schrott, der sich selbst als Herausgeber in Finis Terrae hineinschreibt, zeigt auch Las Meninas Velásquez selbst, wie er mit einem Pinsel in der Hand vor einer Leinwand steht. Der Betrachter sieht nur die Rückseite der Leindwand, die Velásquez bemalt. Damit wird auch in Las Meninas ein Rätselspiel mit dem Rezipienten vollzogen, denn dieser muss sich fragen, was sich dahinter versteckt.
4 | In Bezug auf Finis Terrae ein sehr gewinnbringendes Thema, das hier leider nicht weiter behandelt werden kann.
Literatur
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