5. Ethik der Mehrsprachigkeit
a) Ethik und Mehrsprachigkeit
Die Welt als sinnhaltiger Ort ist immer zeichenhaft und dabei insbesondere sprachlich vermittelt. Die Andersartigkeit der Anderen in der Welt auf dem Weg über Zeichenprozesse zu verstehen und zu berücksichtigen, ist daher die Herausforderung jeder Ethik. Das Interesse für eine Hermeneutik der Differenz und der Fremdheit, die in der sprachlichen Pluralität literarischer Texte artikuliert wird, steht seit dem cultural turn im Mittelpunkt der Literatur- und Übersetzungswissenschaften (RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 19). Eine kommunikative Ethik des Gesprächs, des Sich-Verstehen-Wollens als einer Übersetzung, macht beispielsweise Zafer ŞenocakŞenocak, Zafer geltend: »Jedes Gespräch, das mehr sein möchte als ein Zusammentreffen von Monologen, ist Übersetzung« (ŞenocakŞenocak, Zafer, Deutschsein, 17). Um den Anderen zu verstehen, muss man sich auf dessen Wahrheitssinn einlassen, und dieses Verstehen ist immer sprachbedingt, wie Hans-Georg GadamerGadamer, Hans-Georg in Wahrheit und Methode, seiner sprachphilosophischen Hermeneutik, hervorhebt. Sprache fungiert dementsprechend immer als »Grenzhorizont einer hermeneutischen Seinserfahrung« (StolzeStolze, Radegundis, Hermeneutik und Translation, 71), auch derjenigen des je anderen und derjenigen anderer Sprachlichkeit.
Dennoch mag die Ausformulierung einer spezifischen Ethik der Mehrsprachigkeit auf den ersten Blick problematisch erscheinen, wie Walter LeschLesch, Walter hervorhebt, »[d]enn die Vielfalt der ›natürlichen‹ Sprachen stellt ja nicht automatisch ein normatives Problem dar« (Lesch, Übersetzungen, 16). Mehrsprachigkeit kann man nämlich auch »als ein Faktum zur Kenntnis nehmen, ohne es mit irgendwelchen Werturteilen und Dimensionen des guten Lebens oder der Gerechtigkeit zu verknüpfen« (ebd.,Lesch, Walter 20). Nichtsdestotrotz ist die Funktion mehrsprachiger Literatur nicht primär pragmatischer Natur, sondern vielmehr ästhetisch und ethisch bedingt. Ihr Ziel ist eher symbolisch als realistisch: Sie symbolisiert die Varietät, den Kontakt und die Vermischung von Kulturen und Sprachen (WilsonWilson, Rita, »Cultural Mediation«, 244f.). Entsprechend wird in François OstsOst, François Arbeit Traduire. Défense et illustration du multilinguisme eine Ethik der Mehrsprachigkeit zum Standard einer gerechten Gesellschaft erhoben, die sich als dritter Weg zwischen universeller Sprache und Rückzug auf Einzelsprachen des Anderen versteht (OstOst, François, Traduire, 289). Die Auseinandersetzung mit Fragen der Mehrsprachigkeit hat also eine ausgeprägte ethische Dimension: Man wird in familiäre, ökonomische, politische und nationale Umstände hineingeboren, die die sprachliche Entwicklung und Zukunft des Individuums und der Gemeinschaft bestimmen. Der sprachliche Habitus des Sprechers umfasst voneinander nicht zu trennende technische und soziale Kompetenzen, die die Fähigkeit zu sprechen und die Fähigkeit, sich auf eine bestimmte, sozial geforderte bzw. angemessene Art und Weise zu artikulieren, determiniert. Vor diesem Hintergrund ist die sprachliche Kompetenz als Grundlage der sprachlichen Kommunikation auch immer von Herrschaft und Macht durchzogen (BourdieuBourdieu, Pierre, »Die verborgenen Mechanismen«, 81). Sprachen sind infolgedessen ein Thema für Gerechtigkeitstheorien geworden, die über die Kompensation von Ungleichheiten nachdenken. So schlägt beispielsweise Philippe Van ParijsVan Parijs, Philippe in Linguistic Justice for Europe and the World (2011) vor, Mitglieder privilegierter Sprachgemeinschaften zu besteuern, um damit so die Übersetzungen für weniger sprecherstarke Sprachen zu finanzieren, denn Übersetzungsleistungen sind an fachliche Kompetenzen und finanzielle Mittel gebunden, die ungleich verteilt sind (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 26). Eine ethisch vertretbare Organisation sprachlicher Diversität tritt angesichts der Dominanz des Englischen als globale Lingua Franca vermehrt in den Mittelpunkt (ebd., 23). Die schriftstellerische Wahl einer Vehikularsprache statt einer Kleinsprache hat vor diesem Hintergrund, so Georg KremnitzKremnitz, Georg, auch unmittelbar ethische Implikationen für die Auseinandersetzung zwischen sprachlich-kultureller Peripherie und Zentrum (KremnitzKremnitz, Georg, Mehrsprachigkeit in der Literatur, 202–212). Eine Ethik der Mehrsprachigkeit bezieht sich auf die Präferenz für Kommunikationssituationen, in denen man Perspektivenwechsel einüben und sich »in die Sichtweise von anderen Gesprächsteilnehmern hineinversetzen kann« (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 21). Hier ist die Nähe zur Diskursethik, wie sie beispielsweise von Jürgen HabermasHabermas, Jürgen vertreten wird, kaum zu übersehen. In Habermas’ Diskursethik ist jede ethische Kommunikation primär sprachlich verfasst, und aus diesem Grund müssen denn auch die sprachlichen Strukturen als Begründung und Mitteilung von Normen und Werten unter die Lupe genommen werden. Als endgültiges Moralprinzip gilt bei Habermas das diskursethische Prinzip, dass »[e]ine Norm nur dann Geltung beanspruchen« dürfe, »wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), daß diese Norm gilt« (HabermasHabermas, Jürgen, »Diskursethik«, 76). Die Gleichberechtigung aller Gesprächspartner, die Anerkennung des Anderen und der Möglichkeitshorizont einer sprachlich bedingten konsensorientierten Auseinandersetzung mit Normen und Werten gilt auch als ethische Grundvoraussetzung für die mehrsprachige Kommunikation in der Literatur. Die implizite Verbindung von Mehrsprachigkeit und Rechtsstaatlichkeit wird auch von LeschLesch, Walter pointiert formuliert: Eine »Ethik der Mehrsprachigkeit« ist ihm zufolge »ein leidenschaftliches Plädoyer für die Zukunftsfähigkeit rechtsstaatlicher Verhältnisse und liberaler Demokratie und gerade nicht ein Rückzug in eine elitäre Sphäre von Kultur« (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 28).
Jeder Ethik der Mehrsprachigkeit liegt indes auch eine fundamentale Aporie zugrunde: Die prinzipielle Wertschätzung sprachlicher Diversität widerspricht der ethischen Zielsetzung kommunikativer Verständigung. Es ist aus ethischer Perspektive einerseits notwendig, den Muttersprachendiskurs zu dekonstruieren, da dieser die Öffnung auf den Anderen und seine Sprachigkeit verhindert; andererseits ist es notwendig, die Muttersprachensemantik zu unterstützen, da sie emanzipatorische Kraft hat und gesellschaftliche Differenzen aufzulösen sucht. So weist Danièle SallenaveSallenave, Danièle in À quoi sert la littérature? darauf hin, dass in Frankreich eine möglichst einwandfreie Beherrschung der Standardsprache durch alle Bevölkerungsgruppen ein ethisches Hauptanliegen der Republik sei: »La langue est une arme. Il est criminel d’en priver ceux qui en ont le plus besoin.«1 (SallenaveSallenave, Danièle, À quoi sert la littérature?, 48) Diese emanzipatorische Sicht auf die Nationalsprache gilt auch – obschon ex negativo – für den gesamten arabischen Sprachraum, dessen Einwohner weitgehend der Ansicht sind, dass ihnen eine tatsächliche Muttersprache fehlt. Der niederländisch-marokkanische Autor Fouad LarouiLaroui, Fouad zum Beispiel betont vor diesem Hintergrund, dass das klassische Arabisch genauso wenig wie das Französische Sprachen der marokkanischen Nation sind. Aus dieser Tatsache folgt auch die Unmöglichkeit, eine marokkanische Nationalliteratur zu etablieren: »The Moroccan writer uses the language of the Other or the language of others: either way, it’s mission impossible.« (LarouiLaroui, Fouad, »A Case of ›Fake Monolingualism‹«, 43)
Im vorliegenden Artikel wird aus zwei Perspektiven ein Licht auf die Ethik der Mehrsprachigkeit geworfen. Zum einen steht das Verhältnis zwischen Alterität und Sprachreflexivität im Vordergrund, zum anderen wird die ethische Bedeutung der Übersetzung erläutert. Die Mehrsprachigkeit in der Literatur ist oft ein Zeichen für eine hohe Sprachreflexivität, die die Kontingenz sprachlicher Regelsysteme beleuchtet (RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 38). Durch die Hervorhebung der Arbitrarität sowie der Referenzlosigkeit der Sprachzeichen wird die Idee des ›Sprachbesitzes‹ einer dekonstruktiven Kritik unterzogen. Die Sprache kommt immer schon vom Anderen, was im Endeffekt dazu führt, dass der Unterschied zwischen Mutter- und Fremdsprache in der mehrsprachigen Literatur oft relativiert wird (HeimböckelHeimböckel, Dieter, »Einsprachigkeit – Sprachkritik – Mehrsprachigkeit«, 142; SabischSabisch, Andrea, Inszenierung der Suche, 56). Der Übersetzung als analytischer Kategorie, theoretischem Konzept und sprachlicher Praxis kommt in der Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit und Ethik eine besondere Bedeutung zu. Im Zuge der kulturellen Wende in der Literatur- und Kulturwissenschaft ist die Übersetzung als Medium fremder Kulturen und interkultureller Kommunikation sowie auch als Dekonstruktion der Ideologie der Muttersprache vermehrt in den Blick gerückt worden (BaumannBaumann, Uwe, »Übersetzungstheorien«, 679). Angesichts der Vielfalt der Lebenswelten im Zeitalter der Globalisierung ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit von ethischer Bedeutung, weil die fundamentale Aporie einer Ethik der Mehrsprachigkeit, ihre »unmöglich[e] Notwendigkeit« bzw. »notwendig[e] Unmöglichkeit« (MartynMartyn, David, »Unmögliche Notwendigkeit«) in ihr in besonderem Maße aufleuchtet. Auf der einen Seite dient die Übersetzung der intersubjektiven Kommunikation: »[I]t is as objects of communication that texts, any text, can be subjected to translation. All translations, in this sense, are communicative acts.« (NeubertNeubert, Albrecht, »Some of Peter Newmark’sNewmark, Peter Translation Categories Revisited«, 71) Auf der anderen Seite macht die Übersetzung, wie Michael WetzelWetzel, Michael betont, das Fehlen eines Eins-zu-Eins-Verhältnisses zwischen Ausgangs- und Zielkultur offensichtlich und somit auch die Einzigartigkeit und Fremdheit jeder einzelnen Sprache: »Das Monitum der Unübersetzbarkeit fordert auch die Achtung der anderen Sprachen als Sprachen der anderen in ihrer Einzigartigkeit, die sich nicht übertragen, in ihrer Fremdheit reduzieren läßt.« (WetzelWetzel, Michael, »Alienationen«, 154)
b) Alterität und Sprachreflexivität
Rainier GrutmanGrutman, Rainier definiert literarische »Mehrsprachigkeit« als »the use of two or more languages within the same text« (Grutman, »Multilingualism«, 183). Die sprachliche Differenz in der Literatur kann auch durch eine »sprachliche Binnenfremdheit« inszeniert werden (PasewalckPasewalck, Silke, »›Als lebte ich …‹«, 389). Anknüpfend an Michail M. BachtinBachtin, Michail M.s Konzept der Polyphonie lässt sich literarische Mehrsprachigkeit auch mit gesellschaftlichen Sprachdifferenzen und Redevielfalt verbinden. Dabei handelt es sich nicht nur um Sprachmischung, sondern an erster Stelle um verschiedene Diskurse, Ideolekte, Soziolekte sowie auch Dialekte und historische Varietäten einer Sprache, deren Zusammenspiel Grutman (1997) in seiner Arbeit zum Roman in Québec im 19. Jahrhundert als »Heterolingualismus« bezeichnet hat (GrutmanGrutman, Rainier, Des langues qui résonnent). Diese heterolingualen Differenzen im Text können Sprecherdifferenzen entsprechen (Bourdieu, »Die verborgenen Mechanismen«), indem die soziale und kulturelle Verortung der jeweiligen Sprecher zum Ausdruck gebracht wird (Dembeck, »Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit«, 28). BachtinBachtin, Michail M. bestimmt den Roman als inhärent mehrsprachige Gattung. In seiner Arbeit über DostojewskiDostojewski, Fjodor Michailowitsch unterstreicht Bachtin die »karnevalistische Ambivalenz« des Romans (Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, 141). Die Polyphonie, die aus dieser Ambivalenz hervorgeht, stellt die Einheit des Subjekts in Frage, diskursive Einheit wird ausgeschlossen und dadurch der »ideologisch[e] Monolog« zerstört (ebd.Bachtin, Michail M., 354f.). Die Ethik der Mehrsprachigkeit in der Literatur verabschiedet dabei nicht die Einsprachigkeit, denn ausgehend von den verschiedenen Einzelsprachen kann Wesentliches über das abstrakte System der Sprache ausgesagt werden (RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 16). Die durch Standardisierung zustande gekommene Einheit der nationalen Einzelsprachen wird spätestens im 19. Jahrhundert als eine Form von symbolischer Reinheit aufgefasst. Sie verkörpern somit etwas, das vorher nur den Heiligen Sprachen vorbehalten war (Dembeck, »Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit«, 23). Diesen säkularisierten Sprachen kommt damit eine kulturkonstitutive Rolle zu, die eng an die Auffassung des ›Besitzes‹ der Muttersprache geknüpft ist. Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfrieds ›Muttersprachenpoetik‹ etwa setzt voraus, dass der Mensch nur eine Sprache hat und dass diese Sprache den Muttersprachlern gehört. In diesem Sinne wird davon ausgegangen, dass ein Sprecher nur durch seine Muttersprache seine wahre Identität zum Ausdruck bringen könne, während zugleich nur dank des Muttersprachlers das Wesen dieser Sprache in Erscheinung treten kann (MartynMartyn, David, »Es gab keine Mehrsprachigkeit«, 45). Gleichzeitig sind Muttersprache und Fremdsprache jedoch dadurch unlöslich miteinander verbunden, dass die Fremdsprache die zentrale Stelle der Muttersprache in der Sprachenhierarchie des 19. Jahrhunderts etabliert und ihr stets untergeordnet wird (ebd., 44). Johann Wolfgang von GoetheGoethe, Johann Wolfgang von vertritt nicht nur das traditionsreiche Argument, dass Dichten nur in der Muttersprache möglich bzw. erwünscht sei, sondern führt auch an, dass Literatur, auch in der Muttersprache, per se immer ein Medium fremder bzw. verfremdeter Sprache sei. Die Verbindung von Fremdheit und Eigenheit in der Muttersprache wird bis heute von vielen anderen Autoren hervorgehoben, wie beispielsweise auch von Herta MüllerMüller, Herta. In Heimat ist das, was gesprochen wird stellt Müller dar, wie gerade die ›eigene‹ Sprache prinzipiell von ›fremden‹ Elementen durchsetzt ist: »Es tut keiner Muttersprache weh, wenn ihre Zufälligkeiten im Geschau anderer Sprachen sichtbar werden. Im Gegenteil, die eigene Sprache vor die Augen einer anderen zu halten, führt zu einem durch und durch beglaubigten Verhältnis, zu einer unangestrengten Liebe.« (MüllerMüller, Herta, Heimat ist, 21) Auch Walter BenjaminBenjamin, Walter hebt in »Die Aufgabe des Übersetzers« hervor, dass erst im Bewusstsein der Kontraste zwischen den Sprachen ihr originäres Verwandtschaftsverhältnis zwischen einander offensichtlich wird, das sich in der Unvollständigkeit der einzelnen Sprachen und der Notwendigkeit ihrer Ergänzung durch andere artikuliert (BenjaminBenjamin, Walter, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 19).
Die Verarbeitung sprachlicher Differenzen in der Literatur bedeutet oft zugleich auch die Demontage einer nationalstaatlichen Sprachideologie und die Hervorhebung sprachlich-kultureller Grenzüberschreitungen im Text. In Gilles DeleuzesDeleuze, Gilles und Félix GuattariGuattari, Félixs KafkaKafka, Franz. Pour une littérature mineure (1975) wird darauf hingewiesen, wie KafkaKafka, Franz, als tschechischer, deutschsprachiger Jude, in seinen literarischen Texten fremdsprachliche – tschechische, jiddische – Elemente aufnimmt (MontandonMontandon, Alain, Désirs d’hospitalité, 245–259; RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 34). Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und des Nationalismus in Europa wird auch in der historischen Avantgarde die Verbindung von Nationalsprache und Kollektividentität radikal in Frage gestellt. Die internationale DADA-Bewegung führt den Nationalismus ad absurdum, indem sie ihre Performances bewusst mehrsprachig gestaltet und zugleich die vorgebliche ›Reinheit‹ der Einzelsprachen dekonstruiert, dadurch dass sie sie durch ein kindliches, prärationales Idiom ersetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Rechtfertigung der ›Treue‹ zur deutschen Sprache bei Exilanten bzw. Opfern des Nationalsozialismus wie Paul CelanCelan, Paul, Thomas MannMann, Thomas und Theodor W. AdornoAdorno, Theodor W. oft Anlass für eine Auseinandersetzung mit der NS-Sprache und ihrer gewalttätigen Dimension gegeben (RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 35–38). In Terézia MoraMora, Terézias Roman Alle Tage wird dem Leser aus transnationaler Perspektive vor Augen geführt, welche ethischen Implikationen die Orientierung am Einsprachigkeitspostulat der ›Leitkultur‹ beinhalten kann. Im Exil verliert der Migrant Abel Nema nach einem Überfall seine Erinnerungen: »Die Amnesie hat sich bestätigt, er erinnert sich an nichts mehr, wenn man ihm sagt, was man über ihn weiß, sein Name sei Abel Nema, er sei aus dem und dem Land gekommen, und habe einst ein Dutzend Sprachen gesprochen, übersetzt, gedolmetscht, schüttelt er höflichverzeihend-ungläubig den Kopf.«1Mora, Terézia Die physische Gewalt gegen den Einwanderer führt nicht nur zur Aphasie, sondern auch zur Amnesie. Er spricht letztendlich nur noch in der Landessprache, und dies am besten in höchst verkürzter und somit vereinfachter Form. Der Preis für die gewaltsame Assimilation scheint das Vergessen der eigenen Identität, Herkunft und Mehrsprachigkeit zu sein. Die Ethik der Mehrsprachigkeit wird auf diese Weise durch die Einsprachigkeit der Assimilation zunichte gemacht (TatascioreTatasciore, Claudia, Con la lingua, contro la lingua, 137–156). Terézia MoraMora, Terézias Dekonstruktion der nationalpolitischen Ideologie der Einzelsprachen zeigt, wie die Mehrsprachigkeit sowohl mit ihrem Begegnungs- als auch mit ihrem Konfliktpotential als gezielte Einmischung in gesellschaftliche Verständigungsprozesse literarisch inszeniert wird (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 423). In der postkolonialen Literatur kann die übernommene Kolonialsprache paradoxerweise auch als Idiom der Emanzipation bzw. Subversion benutzt werden, wie dies nicht nur in der britischen postkolonialen Literatur beobachtet werden kann, sondern es auch des Öfteren in der frankophonen maghrebinischen Literatur der Fall ist. Der algerische Schriftsteller Kateb YacineYacine, Kateb bezeichnet das Französische vor diesem Hintergrund daher auch als eine »Kriegsbeute«, als »butin de guerre«,2Yacine, Kateb um auf Französisch dem französischen Lesepublikum zu sagen, er sei explizit nicht französisch. In einem Interview behauptet die französisch-algerische Autorin Malika MokeddemMokeddem, Malika, die arabischen Wörter in ihren französischen Texten hätten eine politische Bedeutung, da sie in und mit ihrer sprachlich hybriden Literatur »coloniser le français«3 wolle (Mokeddem in HelmHelm, Yolande Aline, Malika MokeddemMokeddem, Malika, 29). Nicht nur in der postkolonialen Literatur, sondern auch im Wissenschaftsdiskurs der postkolonialen Literaturtheorie kommt der Hybridisierung der ehemaligen Kolonialsprache eine wichtige ethische Rolle zu. So bemüht sich Gayatri Chakravorty SpivakSpivak, Gayatri Chakravorty, in ihren Werken das Englische durch das Bengalische zu bereichern. Sie fasst es, vor allem dann, wenn man in einer postkolonialen Fremdsprache schreibt, als eine ethische Verantwortung auf, aus der Muttersprache zu schöpfen, um die ›Ziel‹-Sprache durch das ethische Konzept des ›matririn‹ (Mutterschuld) zu hybridisieren (SpivakSpivak, Gayatri Chakravorty, »Translation as Culture«, 14f.).
Die ausgeprägte Sprachreflexivität in der mehrsprachigen Literatur, die mit einer Betonung der fundamentalen Polysemie sprachlicher Äußerungen einhergeht, hat insoweit eine ethische Dimension, als sie die Mehrgleisigkeit des Denkens und somit auch die Vielfältigkeit menschlichen Zusammenlebens vor Augen führen kann. In der Sprachkritik, wie man sie beispielsweise bei Autoren wie Yoko TawadaTawada, Yoko oder Philosophen wie Jacques DerridaDerrida, Jacques vorfindet, wird die Vorstellung von Sprache als ›Besitz‹ immer wieder neu ad absurdum geführt. Jenseits des ›Einsprachigkeitsparadigmas‹ spricht Yasemin YildizYildiz, Yasemin in Beyond the Mother Tongue (2012) von einer »postmonolingual condition«, in der man sich derzeit befinde. In Le monolinguisme de l’autre (1996) stellt DerridaDerrida, Jacques im Begriff ›Muttersprache‹ den Bezug zwischen Geburt und Blut auf der einen Seite und Sprache auf der anderen Seite in Frage. Auch Giorgio AgambenAgamben, Giorgio weist in Mittel ohne Zweck auf die Verquickung von ›factum loquendi‹ und ›factum pluralitatis‹ als seit der Romantik von Sprach- und Politikwissenschaft vorausgesetzte Fiktionen hin. Das Verhältnis von Sprache und Gemeinschaft, die im nationalstaatlichen Kontext unhinterfragt aufeinander bezogen werden, wird von Agamben dekonstruiert, indem die grundsätzliche und indefinite Fremdheit von »Sprache« und »Volk« in den Mittelpunkt gerückt wird: »Die Relation Zigeuner-argot stellt diese Entsprechung im gleichen Moment, da sie sie parodistisch übernimmt, radikal in Frage. Die Zigeuner verhalten sich zum Volk, wie der argot sich zur Sprache verhält; aber in dem kurzen Moment, den die Analogie andauert, lässt sie ein Schlaglicht fallen auf die Wahrheit, die zu verdecken die Entsprechung Sprache-Volk insgeheim angelegt war: Alle Völker sind Banden und ›coquilles‹, alle Sprachen sind Jargons und ›argot‹.« (AgambenAgamben, Giorgio, Mittel ohne Zweck, 68) Wenn das Fremde jeder Sprache prinzipiell eingeschrieben ist, dann ist demzufolge jede Sprache bereits eine Übersetzung, »keine ursprünglich natürliche, sondern eine ursprünglich kultivierte, überbaute Sprache« (HaverkampHaverkamp, Anselm, »Zwischen den Sprachen«, 9). Illustrieren kann das auch ein Brief von Klaus MannMann, Klaus vom 18.2.1949 aus dem amerikanischen Exil an Herbert SchlüterSchlüter, Herbert; ein Brief, in dem Mann hervorhebt, wie der deutsch-englische Bilingualismus seine ursprüngliche Idee einer lebenslänglichen Beheimatung in der ›Muttersprache‹ erschüttert habe: »Damals hatte ich eine Sprache, in der ich mich recht flink auszudrücken vermochte; jetzt stocke ich in zwei Zungen. Im Englischen werde ich wohl nie ganz so zuhause sein, wie ich es im Deutschen war – aber wohl nicht mehr bin …«4Mann, KlausGregor-Dellin, Martin Die Mehrsprachigkeit dekonstruiert somit die Auffassung der Ursprünglichkeit bzw. Natürlichkeit der Erstsprache, wie dies auch Thomas Paul BonfiglioBonfiglio, Thomas Paul in Mother Tongues and Nations (2010) beschreibt.
Auch aus pädagogischer Perspektive, in der Sprachendidaktik, kann auf die ethische Bedeutsamkeit der Vermittlung mehrsprachiger Literatur an ein studentisches Publikum hingewiesen werden. Aus einer multilingualen Einstellung als Lernattitüde soll bei der Lektüre die Berücksichtigung der spezifischen Literarizität mehrsprachiger Literatur sowie die Anerkennung transnationaler Autoren hervorgehen: »When we adopt a multilingual orientation, we view writers as making distinct choices based on their multilingual status, rather than making ›mistakes‹ because of their multilingual status.« (OlsonOlson, Bobbi, »Rethinking our Work«, 3)
Diese Wertschätzung der sprachlichen Diversität und die Betonung der multilingualen Poetik der transkulturellen Literatur wird von Feridun ZaimoglZaimoglu, Feridunu aufs Korn genommen. In der Rezeption wird die in Kanak Sprak verwendete ungrammatische, unidiomatische ›Zwischensprache‹ oft als ethisch-politische Chiffre und Aufforderung zur Toleranz und Empathie aufgefasst. Das Verlangen des Lesers nach exotischer ›Authentizität‹ und ›Wahrhaftigkeit‹ wird von ZaimogluZaimoglu, Feridun radikal abgelehnt, weil auf diese Weise seinen literarischen Texten die Autonomie aberkannt werde: »Die ›besseren Deutschen‹ sind von diesen Ergüssen ›betroffen‹, weil sie vor falscher Authentizität triefen, ihnen ›den Spiegel vorhalten‹, und feiern jeden sprachlichen Schnitzer als ›poetische Bereicherung ihrer Mutterzunge‹. Der Türke wird zum Inbegriff für Gefühl, einer schlampigen Nostalgie und eines faulen ›exotischen‹ Zaubers.«5Zaimoglu, Feridun
c) Übersetzung und Ethik
Die alttestamentliche Erzählung des Turmbaus zu Babel wird regelmäßig herangezogen, um die theologische Bedeutsamkeit der Übersetzung als Überwindung der Sprachverwirrung vor Augen zu führen. Die Verwirrung der Sprachen nach Gottes Eingriff in Babel führt, so Giulia RadaelliRadaelli, Giulia (Literarische Mehrsprachigkeit, 15), zu einer Inkommensurabilität der Einzelsprachen, zwischen denen in der Übersetzung kein Eins-zu-Eins-Verhältnis mehr bestehen kann. Durch Babel wird das zwischenmenschliche ›Sich-Verstehen-Können‹ aufgehoben. Demzufolge kann der Mensch nicht anders als übersetzerisch tätig sein, da die ursprüngliche, paradiesische Unschuld einfacher Kommunikation verlorengegangen ist (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 19). Nach BenjaminBenjamin, Walter gehört es gerade zur »Aufgabe des Übersetzers«, »[j]ene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien« (BenjaminBenjamin, Walter, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 19). Übersetzen bedeutet demnach, etwas zu übersetzen, das nicht übersetzbar ist und das utopisch in allen Sprachen aufleuchtet, um so einen unmittelbaren Zugang zum heiligen Text als »das Urbild oder Ideal aller Übersetzung« zu eröffnen (ebd., 21).
Die vom Übersetzer herbeigeführte Desorientierung des Lesers und seine Konfrontation mit dem Fremden stehen in der Übersetzungswissenschaft, von Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich über Antoine BermanBerman, Antoine bis Lawrence VenutiVenuti, Lawrence, im Zentrum ethischer Überlegungen. Die sprachliche Fremderfahrung wird normativ aufgeladen, indem vorausgesetzt wird, dass sich eine gute Übersetzung von Ethnozentrismus distanziert, sich gegen Machtasymmetrien wehrt und Schriftsteller und Leser miteinander in Verbindung bringt. In dieser Vermittlerposition übernimmt der Übersetzer die gesellschaftspolitische Aufgabe, in der Übersetzung »selbst ethisch sichtbar zu werden« (StolzeStolze, Radegundis, Hermeneutik und Translation, 126). Die Sichtbarmachung des Übersetzers ist denn auch, wie VenutiVenuti, Lawrence in The Translator’s Invisibility (1995) argumentiert, eine Sichtbarmachung sprachlich-kultureller Differenz (vgl. GiustiGiusti, Simone, »Que viva letteratura!«, 189f.). Die ethische Bedeutsamkeit der Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Übersetzers bezeichnet zugleich auch eine Spannung zwischen dargestellter Identität und Nicht-Identität der Kulturen. Anselm HaverkampHaverkamp, Anselm behauptet vor diesem Hintergrund, Übersetzung sei »die Agentur der Differenz, welche die trügerische Identität von Kulturen sowohl schafft, als auch sie im Zwiespalt ihrer ursprünglichen Nicht-Identität erneuert und vertieft.« (HaverkamHaverkamp, Anselmp, »Zwischen den Sprachen«, 7) Allerdings sollte die Alteritäts- und Differenzorientierung ethisch begründeter Traditionen der Übersetzungswissenschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Übersetzung des Öfteren eher die Einsprachigkeit als die Mehrsprachigkeit größerer Sprachgemeinschaften zu fördern scheint und somit volens nolens die Grenzen einer homogenen Sprachgemeinschaft konsolidiert (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 26).
Ähnliche ideologiekritische Überlegungen werden von den zieltextorientierten »Descriptive Translation Studies« vorgebracht, vertreten beispielsweise durch Susan BassnettBassnett, Susan, André LefevereLefevere, André, José LambertLambert, José, Gideon TouryToury, Gideon und Theo HermansHermans, Theo. Deren Arbeiten rücken diejenigen Eingriffe in Texte in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses, die einen Text einer Zielkultur angleichen. Die »[t]ranslatorische Ethik oder Fremderfahrung« (StolzeStolze, Radegundis, Hermeneutik und Translation, 125), die der Übersetzung zugrunde liegen soll, gilt als normativer Orientierungspunkt, an den sich der Übersetzer zu halten habe. Das ethische Moment der literarischen Übersetzung besteht vor diesem Hintergrund in der Anerkennung und in der Aufnahme des Anderen als eines Anderen (GodardGodard, Barbara, »L’Éthique du traduire«, 54); und die Übersetzung wird auf diese Weise zum ethischen Akt, der eine Bewegung vom Anderen als Alter Ego zu »soi-même comme un autre« (RicœurRicœur, Paul, Soi-même comme un autre) ermöglicht. Der Glaube an die prinzipielle Übersetzbarkeit eines Textes deutet, so Umberto EcoEco, Umberto in La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea (1993), auch auf die Überzeugung hin, dass der Mensch den Grundsätzen einer originären Mehrsprachigkeit, einer »perfekten Sprache«, auf die Spur kommen kann. Die übersetzerische Dimension des Zwischensprachlichen lässt sich, wie Georg MeinMein, Georg hervorhebt, als eine »ethische Haltung« beschreiben, die auf der Lücke zwischen den Sprachen beharrt, ohne die wie auch immer geartete Aufhebung der zwischensprachlichen Spannung zum Ziel zu haben (Mein,Mein, Georg »›Ist mir doch fast …‹«, 90). Diese ethische Haltung betrachtet das Fremde nicht vom Eigenen her, sondern steht der Sprache des Anderen offen gegenüber. Eine Ethik der Übersetzung ist MeinMein, Georg zufolge vor diesem Hintergrund daher auch als eine Ethik der Dekonstruktion aufzufassen, denn erst durch die Dekonstruktion wird eine Beziehung zur Alterität möglich, die das Unbenennbare nicht verweigert (ebd., 90f.).
Auch in Antoine BermansBerman, Antoine L’Épreuve de l’étranger (1984) wird eine »übersetzerische Ethik« entwickelt (WeissmannWeissmann, Dirk, »Erfahrung des Fremden als Einübung des Eigenen?«, 93; GodardGodard, Barbara, »L’Éthique du traduire«). Berman stützt sich in seinem Werk über Übersetzung in der deutschen Romantik auf Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrichs Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens, um eine nicht-ethnozentrische Übersetzungstheorie zu entwickeln (Weissmann, »Erfahrung des Fremden als Einübung des Eigenen?«, 87). Er plädiert unter Rückgriff auf Schleiermacher für eine sprachliche und kulturelle Hybridisierung, ohne das Paradoxon der Herausbildung des Nationalen durch die Erfahrung des Fremden aus den Augen zu verlieren: Die Erfahrung des Fremden, so heißt es bei Schleiermacher, dient der ›Einübung des Eigenen‹. SchleiermacherSchleiermacher, Friedrichs Theorie gründet auf dem romantischen Modell der kulturellen Distanz und hat als Ziel, einer ganzheitlichen, deutschen Nationalliteratur als Katalysator sprachlich-kultureller Einigung den Rücken zu stärken. Für BermanBerman, Antoine ist Übersetzung sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Gefahr für jede Kultur: Das Überleben jeder Kultur basiert auf einem Ausgleich zwischen Fremdem und Eigenem (ebd., 89–91). Der Ausgleich zwischen beiden Polen ist wesentlich für die Übersetzung. BermanBerman, Antoine zufolge ist »l’essence de la traduction […] d’être ouverture, dialogue, métissage, décentrement. Elle est mise en rapport, ou elle n’est rien.«1 (BermanBerman, Antoine, L’Épreuve de l’étranger, 16)
In The Scandals of Translation. Towards an Ethics of Difference pflichtet Lawrence VenutiVenuti, Lawrence der ethischen Sicht auf Übersetzung bei, die Berman vertritt: »I follow Berman […]. Good translation is demystifying: it manifests in its own language the foreignness of the foreign text.« (Venuti, The Scandals of Translation, 11) Die verfremdende Übersetzung zeige die Autonomie des fremden Textes: »This translation ethics does not so much prevent the assimilation of the foreign text as aim to signify the autonomous existence of that text behind (yet by means of) the assimilative process of the translation.« (ebd.) Anthony PymPym, Anthony schlägt vor diesem Hintergrund eine Brücke von der ethisch-textuellen Bedeutung der Übersetzung zur ethisch bedeutsamen Rolle des Übersetzers. Sein Buch Pour une éthique du traducteur sei »un véritable hommage à Antoine BermanBerman, Antoine«2Berman, Antoine (PymPym, Anthony, Pour une éthique du traducteur, 11). Aufgrund der Gastfreundschaft des Fremden im Eigenen liegt der verfremdenden Übersetzung VenutiVenuti, Lawrence zufolge eine »metaphysics of the foreign« zugrunde (VenutiVenuti, Lawrence, Translation Changes Everything, 187). Die metaphysische Zielsetzung der Übersetzung suche »dans un élan messianique vers la parole vraie«3 die Begrenztheit der Sprachen zu übersteigen (BermanBerman, Antoine, L’Épreuve de l’étranger, 23).
Die Übersetzung veranlasst somit zu Diskussionen, die weit über das rein Sprachliche hinausgehen und Fragen der Metaphysik bzw. des Messianismus berühren. Die ›Übersetzung‹ als Konzept wird so zu einer Metapher der Vermittlung von Ideen, Auffassungen, Normen und Werten. Doris Bachmann-MedickBachmann-Medick, Doris spricht im Rahmen des »translational turn« in den Kulturwissenschaften von »Kultur« als einem ständigen »Prozess der Übersetzung […] im Sinne eines neuen räumlichen Paradigmas von Über-Setzung« (Bachmann-MedickBachmann-Medick, Doris, Cultural Turns, 247). Diese breit gefasste räumliche Metapher der kulturellen ›Über-Setzung‹ geht zwangsläufig auch mit der ›Dezentrierung‹ des Bekannten einher. Die Dezentrierung des Eigenen sowie die Offenheit dem Fremden gegenüber ist schließlich auch grundlegend für ein adäquates Verständnis der sprachlichen Verfremdung in der modernen Literatur, in der gerade die Dekonstruktion von Monologie und Identitätsdenken im Mittelpunkt steht. In ihr sind, so Peter V. ZimaZima, Peter V., »die offene Antinomie, die Ambiguität und das Singuläre gegen die systematische Integration« ausgerichtet (ZimaZima, Peter V., Ideologie und Theorie, 348). Die Literatur der Moderne, also Texte wie etwa die von KafkaKafka, Franz, BrochBroch, Hermann oder MusilMusil, Robert, versteht sich als Textur des Anderen, in einer eigenen Sprache des Anderen (HeimböckelHeimböckel, Dieter, »Einsprachigkeit – Sprachkritik – Mehrsprachigkeit«, 143f.). Die Sprachskepsis, die in der Moderne zum Ausdruck gebracht wird, geht eindeutig mit einer Subjektkrise einher: Die moderne Literatur verfremdet das Gewohnte, keine Sprache bleibt in ihr selbstidentisch, genauso wenig wie das Subjekt, das die Möglichkeit verloren hat, sich als autonom und ganzheitlich zu definieren. In Kindheit und Geschichte vollzieht Giorgio AgambenAgamben, Giorgio eine radikale sprachkritische Trennung zwischen Sprache als langue bzw. λόγος und Sprache als einem konkreten Handeln, als einer Stimme. Zwischen den beiden Polen sei eine Leere, die im Besonderen in der modernen Literatur zum Ausdruck gebracht werden könne: »Der Raum zwischen Stimme und Lógos ist ein leerer Raum […]. Nur weil der Mensch in die Sprache geworfen ist, nur weil er sich im experimentum linguae aufs Spiel setzt […], werden für ihn so etwas wie ein éthos und eine Gemeinschaft möglich.« (AgambenAgamben, Giorgio, Kindheit und Geschichte, 15) Die Ermöglichung einer ›Gemeinschaft‹ ist gleichzeitig auch eine Voraussetzung kollektiver ›Gastfreundschaft‹ in der Sprache, die RicœurRicœur, Paul in seiner ethisch orientierten Übersetzungstheorie in die Mitte rückt.
Richard KearneyKearney, Richard hebt in seiner Einführung zur englischen Übersetzung von Sur la traduction hervor, dass Paul RicœurRicœur, Paul Übersetzung letztendlich als »interlinguistic hospitality« konzipiert (KearneyKearney, Richard, »Introduction«, xx). RicœRicœur, Paulur gehe so weit zu sagen, dass das künftige politische Ethos der europäischen, ja, sogar der Weltpolitik, auf einem Austausch von Erinnerungen und Erzählungen zwischen verschiedenen Nationen basieren solle, denn Versöhnung könne nur dann stattfinden, wenn wir die eigenen Wunden in die Sprache der Fremden sowie die Wunden der Fremden in unsere eigene Sprache übersetzen. Die kollektiven Traumata zweier Weltkriege führten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Bewusstwerdung einer notwendigen europäischen Versöhnung und letztendlich zur Entstehung der Europäischen Union. Das gemeinsame europäische politische Projekt gründet auch auf sprachlicher Verständigung, die letztendlich Teil eines Gerechtigkeitsdiskurses ist (BalibarBalibar, Étienne, Nous, citoyens d’Europe?, 316f.; ToledoToledo, Camille de, Le Hêtre et le Bouleau, 171). Die ethische Verbindung von Übersetzung und Gerechtigkeit wird auch von James Boyd WhiteWhite, James Boyd in Justice as Translation ins Licht geführt: »Translation and justice first meet at the point where we recognize that they are both ways of talking about right relations, and of two kinds simultaneously: relations with languages, relations with people.« (WhiteWhite, James Boyd, Justice as Translation, 233)
Unter Rückgriff auf Émile BenvenisteBenveniste, Émile in Le vocabulaire des institutions indo-européennes (1969) weist Paul RicœRicœur, Paulur darauf hin, dass die Begriffe hospes (Gastgeber) und hostis (Fremder) etymologisch miteinander verwandt sind (Ricœur, Sur la traduction, 19f.). Die Urszene aller Gastlichkeit kann dabei als darin liegend angesehen werden, dass zwei Fremde, die aufeinander treffen, voneinander erzählen müssen, um abzuschätzen, ob jemand mit freundlicher oder feindlicher Absicht kommt. Das aber bringt unweigerlich das Übersetzen als geradezu ethische Forderung ins Spiel (FriedrichFriedrich, Peter/Parr, Gastlichkeit). Daher kann RicœurRicœur, Paul ungeachtet der spannungsvollen Aufgabe des Übersetzers als traduttore traditore davon sprechen, dass die Eigenheit des Übersetzens gerade in der »hospitalité langagière«4 liegt (RicœuRicœur, Paulr, »Le paradigme de la traduction«, 136). Die sprachliche Gastfreundschaft des Übersetzens sei vor diesem Hintergrund als ethischer Akt zu verstehen: Das Wort des Anderen wird ›bewohnt‹, genau so, wie das Wort des Anderen ›zuhause‹ empfangen wird (OstOst, François, Traduire, 293–295). Die Übersetzung eröffnet einen symbolischen Raum, in dem eher die Möglichkeit einer Symbiose von Selbst und Anderem als die Vorstellung des Anderen als Alter Ego in Aussicht gestellt wird. Sie übernimmt Verantwortung, indem sie die Ansprache durch den Anderen beantwortet.
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