4. Mehrschriftlichkeit
a) Beschreibung des Verfahrens
Das Stichwort Mehrschriftlichkeit kann (ähnlich wie Mehrsprachigkeit) auf kategorial Verschiedenes verweisen: auf Personen, die mehr als eine Schrift beherrschen und verwenden, auf Kommunikations- und Fixierungsprozesse, in denen mehr als eine Schrift zum Einsatz kommt, auf Texte, die in mehr als einer Schrift verfasst sind, sowie auf Textsammlungen (wie etwa Bücher), die Texte in unterschiedlichen Schriften enthalten. Zudem ist, bezogen auf literarische Werke, zu unterscheiden zwischen thematisierter (›erzählter‹) Mehrschriftlichkeit (in Texten über mehrschriftliche Phänomene, über Wechsel zwischen Schriftsystemen, über Transliterationsprozesse etc.) – und ›gezeigter‹ Mehrschriftlichkeit, also sichtbaren Kombinationen mehrerer Schriften innerhalb eines Werkes oder Textzusammenhangs.
Relevant für die unter Mehrschriftlichkeit subsumierten Phänomene ist vor allem, wie weit der zugrunde gelegte Schrift-Begriff gefasst wird. Da von ›Schrift‹ bezogen auf vielfältige Formen der Graphie die Rede ist, stellt sich die Frage, was als (potenzieller) Bestandteil mehrschriftlicher Gebilde gelten soll (zu dem damit eröffneten Themenkomplex vgl. die Beiträge in GrubeGrube, Gernot/KoggeKogge, Werner/KrämerKrämer, Sybille, Schrift, sowie KrämerKrämer, Sybille, »Die Schrift als Hybrid aus Sprache und Bild«). Die Grenze zwischen Schrift und Bild wird oft umspielt und unterlaufen durch Kombinationen aus Buchstaben und Bildern, die teilweise auch mehrschriftlich heißen können.1Adler, JeremyErnst, UlrichErnst, UlrichEhlen, OliverGramatzki, Susanne Auch können Schriftzüge in Bildgraphisches übergehen; entsprechende Grenzen in Frage zu stellen, ist ein wichtiges Projekt visualpoetischer Arbeiten (vgl. u.a. Faust,Faust, Wolfgang Max Bilder werden Worte). Buchstabenbilder und Bildalphabete haben eine lange Tradition (vgl. dazu MassinMassin, Robert, La lettre et l’image). An diese haben diverse Vertreter der visualpoetischen Avantgarden angeknüpft. Gedichte und Romane, in deren Texten Logos und andere Bildsymbole auftauchen, erinnern an Arbeiten, bei denen, flankiert durch ›normalschriftliche‹ Bestandteile, der Hauptanteil der Narration von Logos getragen wird – wie etwa eine rezente logo-graphische Nacherzählung Grimm, WilhelmGrimmGrimm, Jacob’scher Märchen oder Teile einer graphischen Nacherzählung von E.T.A. HoffmannsHoffmann, E.T.A. Fräulein von Scuderi.2Flöthmann, FrankGrimm, WilhelmGrimm, JacobKardinar, AlexandraSchlecht, VolkerHoffmann, E.T.A. Gerade neuere literarische Texte beziehen im Zuge eines wachsenden Interesses an darstellungsästhetischen und wissenspoetologischen Fragen vielfach multiple Formen der Graphie in die Komposition ein.3Danielewski, Mark Z.Danielewski, Mark Z.Senkel, MatthiasZhdanko, Maryna
Ästhetisch stimulierende Probleme ergeben sich ferner hinsichtlich der Abgrenzung zwischen Schriftzeichen und Dingen; ›Dingschriften‹ sind in historisch-praktischen wie in ästhetischen Kontexten anzutreffen;4Perec, Georges Paläographen und Schrifthistoriker haben sich mit entsprechenden Anfängen schriftanaloger Kommunikation befasst (vgl. zum Thema Leroi-GourhanLeroi-Gourhan, André, Hand und Wort). Im Bereich arbiträrer Codes existieren vielfältige visuelle Zeichensysteme, die als ›Schrift‹ bzw. ›Graphie‹ potenzielle Zeichenrepertoires für mehrschriftliche Gebilde darstellen. Dies gilt etwa für Spielformen musikalischer und choreographischer Notation, wobei es für erstere vor allem im Bereich der Vokalmusik charakteristisch ist, mit wortschriftlichen Zeichenketten verbunden zu sein; mit Text unterlegte Noten oder mit Notationszeichen versehene Gesangstexte sind als solche mehrschriftlich. Aber auch instrumentalmusikalische Partituren enthalten neben Noten oft geschriebene Wörter (vgl. u.a. Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika, »Notation als Kunst«).
Die in verschiedenen Wissensdisziplinen und Praxisbereichen geläufigen Spielformen von Graphie (deren jeweilige Geschichte oft mit der textfixierender Schriften eng verbunden ist, etwa wenn dieselben Zeichen für Zahlenwerte und Buchstaben stehen) lassen sich in mehrschriftliche Gebilde einbeziehen und für literarisch-ästhetische Arbeiten nutzen: Zahlencodes, mathematische Formeln und Graphien, topographisch-geographische Codes, Diagramme sowie Formelsprachen und graphische Repertoires anderer Wissensdiskurse, ferner Zeichensprachen unterschiedlicher kultureller Provenienz und Funktion, etwa die Codes des Comics. – Geprägt ist die Geschichte der Mehrschriftlichkeit auch durch diejenige der Erfindung neuer Schriftsysteme, sei es in Konkurrenz zu, sei es als Verbesserung von bestehenden graphischen Codes (zu Geschichte und Facettenreichtum erfundener Sprachen und Schriftcodes vgl. insgesamt AlbaniAlbani, Paolo/BuonarrotiBuonarroti, Berlinghiero, Aga magéra difúra).
b) Typologie und Analysebeispiele
Der aktuelle Forschungsstand erlaubt es derzeit allenfalls in Ansätzen eine Geschichte der literarischen Nutzung von Mehrschriftlichkeit zu formulieren. Es scheint daher ergiebiger, sich dem Phänomen auf systematischem Wege zu nähern und – ausgehend von den unterschiedlichen Spielarten der Mehrschriftlichkeit – historische Ausblicke zu liefern.
Im Bereich der Schriftsysteme, mit denen es um die visuelle Fixierung verbaler Äußerungen bzw. Texte geht, lassen sich mehrere Ebenen von Mehrschriftlichkeit unterscheiden, die jeweils besondere semantische Potentiale aufweisen und Gestaltungsoptionen bieten.
(1) Kombiniert werden können erstens unterschiedliche Typen von Schriftcodes, also etwa Lautschriften, Silbenschriften, Bilderschriften, sowie Codes, deren Zeichen sich weder als Repräsentanten von Lauten noch von Dingen verstehen. Viele gebräuchliche Schriften beruhen auf mehreren Typen von Schrift, wie die japanische Schrift exemplarisch zeigt. Zudem sind Alphabetschriften, wie sie in den westlichen Ländern gebraucht werden, oft aus Bilderschriften abgeleitet worden.
Zu Mischungen differenter Typen von Schriften kommt es in außerästhetischen wie in ästhetischen Kontexten. Insbesondere Texte, die der Darstellung und Explikation differenter Schriftsysteme gelten (also der Vermittlung von Wissen über Schrift, sowie ggf. entsprechender Lese- und Schreibkompetenzen), sind in der Regel aus Elementen differenter Typen komponiert. Ein zweites wichtiges Feld der Schrifttypen-Mischung eröffnet sich mit literarischen bzw. künstlerischen Arbeiten. Das unkonventionelle Schriftbild korrespondiert dabei oft mit inhaltlich-thematischen Ausrichtungen, wie sie auch durch literarische Mehrsprachigkeit assoziiert werden: Zur Darstellung kommen Kulturdifferenzen und Grenzüberschreitungen auf synchroner und auf diachroner Ebene. Der mit Mehrschriftlichkeit verbundene Irritations-Effekt lässt sich sowohl ästhetisch (im Sinn eines Selbstverweises der Zeichenkette) als auch für praktische Zwecke funktionalisieren (etwa für Reklame oder andere Strategien der Erregung von Aufmerksamkeit). Transfers zwischen sowie Kombinationen von verschiedenen Schriften-Typen stimulieren vor allem in Moderne und Postmoderne zu vielfachen poetisch-poetologischen Reflexionen. Den Hintergrund bildet neben dem Interesse an interkulturellen Themen, Beobachtungen und Vergleichen vor allem das an der Materialität und Medialität von Schrift.
Die Integration einzelner einem anderen Typus von Schrift zugehöriger Textbausteine wird innerhalb literarischer Texte u.a. eingesetzt, um einen ›Fremdkörpereffekt‹ zu erzielen (Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika, »Geschriebene Fremdkörper«); fremd-schriftliche Elemente konfrontieren den Leser oft mit den Grenzen seiner eigenen Lektürekompetenz, bilden ein Rätsel innerhalb des Textes, einen Widerstand – und Anlass für spekulative Projektionen. So steht eine hebräische Schriftzeile in Annette von Droste-HülshoffDroste-Hülshoff, Annette vons Die Judenbuche (1842) sowohl für die aus christlicher Sicht fremde jüdische Welt als auch für weitere Dimensionen von Fremdheit, die über kulturelle und religiöse Differenzen hinausgehen. Roland BarthesBarthes, Roland integriert in L’empire des signes (1970) seinem französischen Text japanische Zeichen und reflektiert über deren Wirkung auf den westlichen Betrachter. Yoko TawadasTawada, Yoko deutsche Texte mit integrierten chinesischen Schriftzeichen legen dem Leser gezielt Stolpersteine in den Weg, lassen ein solches Stolpern aber zur spezifisch ästhetischen Erfahrung werden.1Tawada, Yoko Auf inhaltlich-thematischer Ebene verweist TawadaTawada, Yoko unter anderem auf die differenten Schriftentypen, die die japanische Schrift geprägt haben. Mehrere ihrer Texte stehen im Zeichen spielerischer Experimente mit der Übertragung von Lesestrategien von der asiatischen Schriftkultur auf die westliche.2Tawada, Yoko In den von der traditionellen asiatischen Kalligraphie inspirierten Arbeiten des chinesischen Künstlers Xu BingBing, Xu kommt es zu ästhetisch und politisch programmatischen Hybridisierungen zweier Schriftsysteme: Der Künstler hat eine eigene Schrift erfunden (»Square Word Calligraphy«), deren Zeichen sich aus den Elementen chinesischer Schriftzeichen zusammensetzen, deren Form aber der Form der lateinischen Buchstaben entspricht.3Bing, Xu
(2) Kombinieren lassen sich zweitens Elemente differenter Schriftcodes innerhalb desselben Typus von Schrift, so etwa innerhalb der (im Wesentlichen) lautschriftlichen Codes Europas Buchstaben der griechischen, lateinischen und kyrillischen Schrift.
Damit verbindet sich wiederum zunächst einmal ein Hinweis auf die Differenzen zwischen den mit den jeweiligen Schriften verbundenen historisch-kulturellen Räumen, Praktiken und Überlieferungen. Dies kann erstens zu explikativen Zwecken und insbesondere zur Heranführung an ein fremdes Schriftsystem dienen; so etwa sind westeuropäische Wörterbücher des Griechischen in griechischer und lateinischer Schrift gedruckt; vermittelnde Funktionen haben auch Sprachlehrbücher und zweisprachige Textausgaben. Zweitens können aus extrinsischen Gründen Texte in verschiedenen Schriften versammelt werden. Daran, dass mittelalterliche Sammel-Codices manchmal nebeneinander lateinische, griechische und arabische Handschriften enthielten, erinnert etwa Umberto EcoEco, Umberto in Il nome della rosa (1980), wo der gesuchte Text sich in einem solchen Codex verbirgt. Texte, innerhalb deren sich Buchstaben verschiedener Alphabete mischen, können mit Fremdheitserfahrung, mit gestörter Verständigung, aber auch mit Grenzüberschreitung und Dialog konnotiert sein. Und gerade in Texten, die auf kulturelle Differenzen, auf Fremderfahrungen und grenzüberschreitende Dialoge hinweisen oder diese textuell inszenieren, verbindet sich literarische Mehrsprachigkeit oft mit der Benutzung differenter Lautschriften. Insofern sie an die verschiedenen historischen und medialen Rahmenbedingungen von Alphabetisierung und Schriftgebrauch erinnern, stehen Alphabet-Mischungen in Literatur und Kunst u.a. im Zeichen der Autoreferenz qua Reflexion über Schriftlichkeit.
Fremde bzw. gemischte Schriften können u.a. dazu dienen, fremde bzw. gemischte Sprachanteile an Dialogen zu repräsentieren. Auch werden sie oft als Zitate aus entsprechend fremdschriftlichen Vorlagen arrangiert; zudem ist etwa die Verwendung des Griechischen vielfach mit Gelehrsamkeit konnotiert. Beispiele gemischt-graphischer Lyrik (lateinisch-griechisch) bietet schon die Barockdichtung. War es im Bereich humanistischer Bildung noch üblich, beim Lesen zwischen Lateinisch, Griechisch und oft auch Hebräisch zu wechseln, so erinnern literarische Texte, die ihrem Leser Entsprechendes abverlangen, an diese Tradition, etwa Laurence SterneSterne, Lawrence im Tristram Shandy (1759–1767), dessen Motto bereits ein griechisches Zitat bildet. Johann Georg HamannHamann, Johann Georg verwendet neben lateinisch geschriebenen auch griechische und hebräische Textpartikel, die dabei je spezifische Semantisierungen erfahren.4Hamann, Johann GeorgJørgensen, Sven-AageHamann, Johann GeorgSimon, Josef Auch in jüngerer Zeit weisen vor allem solche literarischen Texte, die auf eine Tradition der Gelehrsamkeit und der mehrschriftlichen Kompetenz Bezug nehmen – etwa in Form fingierter Forschungsberichte oder Lexika –, Elemente fremder Alphabete auf. Milorad PavićPavić, Milorads Lexikonroman Das Chasarische Wörterbuch (Hazarski rečnik, 1984) ist der Rahmenfiktion nach zusammengesetzt aus einem jüdischen, einem christlichen und einem islamischen Teil und entsprechend auf mehrere Schriftkulturen bezogen.
(3) Mehrschriftlichkeit begegnet drittens aber auch innerhalb der einzelnen Schriftcodes. So hat etwa das lateinische Alphabet auf der Ebene seiner visuell-graphischen Gestaltung seit der Antike ein breites Spektrum an diachronen und synchronen Ausdifferenzierungen erfahren. Dabei sind mehrere Ebenen zu unterscheiden, so etwa die der Glyphen: Als abstraktes Buchstabenzeichen lässt sich das lateinische »A« handschriftlich sowie druckschriftlich auf sehr unterschiedliche Weisen realisieren. Für die von einem Text vermittelte Botschaft ist nicht zuletzt auch die Art und Weise konstitutiv, wie er geschrieben oder gedruckt wurde. Insgesamt bieten Zeitschriftenlayout und Buchdesign vielfältige Beispiele für den differenzierenden und signifikanten Gebrauch spezifischer Schrifttypen, Schriftgrößen und Satzweisen. Viele literarische Texte sind durch die Verwendung spezifischer Glyphen geprägt.
Dichtungen wie Stéphane MallarméMallarmé, Stéphanes graphisches Poem Un Coup de Dès (1897) visualisieren eine Dimension von Mehrschriftlichkeit, die auf dem Einsatz differenter Schriftfonts in verschiedenen Größen beruht und die in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts (etwa im Dadaismus, im Futurismus und in der Konkreten Poesie) vielfältig erkundet wird. Im Bereich der kalligraphischen Praktiken, wie etwa der asiatischen, erscheint die jeweils konkrete Realisationsform und Gestalt bestimmter Schriftzeichen als für das entstehende Textgebilde und seine ästhetische Aussage prägend.
(4) Für die jeweilige Realisierung eines (abstrakten) Buchstabens sind auch seine physische Produktionsweise sowie die dabei eingesetzten Medien konstitutiv – insbesondere mit Blick auf die Differenz zwischen Handschrift und Druckschrift sowie rezent von Computerschriften. Insofern ergibt sich hier eine vierte Option zur Mischung von Schriften. Manuelle Schreibpraktiken sind historisch, medienspezifisch und funktional mit jeweils spezifischen Konnotationen verknüpft; dabei bestimmen auch die Schreibgeräte mit über Schriftduktus und Textgestalt. Mit der persönlichen Handschrift verbindet man bis heute vielfach die Idee einer besonders charakteristischen, Individuelles gestisch abbildenden, Schreibweise. Allerdings gilt der Gebrauch einer charakteristischen Handschrift erst von einer bestimmten Zeit an als Ausweis von Individualität; BarthesBarthes, Roland weist demgegenüber in seinem Essay »Variations sur l’écriture« (1973) darauf hin, dass einzelne Schreibende (so wie er selbst) durchaus über verschiedene Handschriften verfügen können – und akzentuiert dadurch das Konzept der Mehrschriftlichkeit auf spezifische Weise. Gerade deshalb kann die Entscheidung für einen bestimmten handschriftlichen Duktus – als nicht-determinierte, sondern fakultative Ausdrucksform – sinnbildend eingesetzt werden (vgl. NeefNeef, Sonja, Abdruck und Spur). (Auf die Hypothese eines indexikalischen Bezugs zwischen Schreibendem, Schreibgeste und Graphie setzt aber noch bis heute die Graphologie.) Es gibt zudem handschriftliche Codes, die weitgehend an bestimmte nationalsprachliche Räume gebunden sind (wie Sütterlin), aber auch Druckschriften mit nationalen, historischen und kulturspezifischen Konnotationen (etwa deutsche Fraktur).
Daran, dass Hand- und Druckschriften jeweils für sich wissensdiskursiv, medientechnisch, funktional oder durch individuelle Gebrauchskontexte semantisiert sind, erinnern literarische Texte vor allem in jüngerer Zeit verstärkt, und zwar u.a. als Folge schrifttheoretischer, schrifthistorischer und medientheoretischer Diskurse und philologisch-editorischer Praktiken. So sind bestimmte Schriften mit bestimmten Produktionsweisen assoziiert (wie Minuskelschrift mit mittelalterlichen Manuskripten, die Courierschrift mit der Schreibmaschine etc.). Zugleich mit dem Einsatz spezifischer Glyphen, typographischer Fonts und anderer Gestaltungsoptionen von Schrift kommen in literarischen Texten jeweils auch deren spezifische Semantiken und Assoziationshorizonte ins Spiel. Das kann durchaus zitatweise und spielerisch geschehen, etwa um in den entsprechenden Schriftzügen ›Historisches‹, ›Nationales‹ oder ›Individuelles‹ darzustellen oder zu simulieren. Auch repräsentieren unterschiedliche Drucktypen gelegentlich die Angehörigen differenter Sprachräume, so etwa in Asterix-Comics, wo Frakturschrift und andere Schriftfonts fremden Völkern zugeordnet sind. Durch faksimilierte handschriftliche Elemente in literarischen Texten simuliert das jeweilige Textbild, die Spur einer individuellen Schreibbewegung zu sein.
Der Einsatz differenter Schriftfonts innerhalb eines Werkes gestattet es literarischen Autoren, komplexe Textgebilde auch auf visuell-graphischer Ebene prägnant zu strukturieren – etwa im Sinn der Zuordnung zu mehreren fiktionalen Quellen oder Figuren. Ein Beispiel bietet Mark Z. DanielewskisDanielewski, Mark Z. House of Leaves (2000), wo die verschiedenen Darstellungsebenen und Berichtsinstanzen in verschiedenen Schriftfonts sichtbar werden. Die Markierung unterschiedlicher Textebenen durch differente Zeichensätze ist zudem auch in gedruckten Dramen weit verbreitet, wo Haupt- und Nebentext oft typographisch voneinander abgehoben sind. Dies greifen Verfasser von Romanen gelegentlich auf – ebenso wie die in wissenschaftlichen Texten geläufige Praxis einer typographischen Abhebung von Zitaten durch Kursivschrift oder kleinere Schrifttypen. Arno SchmidtSchmidt, Arno ergänzt in Zettel’s Traum (1970) die an JoyceJoyce, James anknüpfenden Verfahren der Sprachenmischung durch typographische Vielfalt – unter Verwendung von Elementen verschiedener Codes.5Schmidt, Arno
Die Kombination von faksimilierten handschriftlichen Elementen und gedruckten Textteilen als zwei differenten Spielformen von Schrift kann innerhalb literarischer Texte wichtige Funktionen übernehmen; Analoges gilt auch für Pseudo-Handschriften, die den Duktus manueller Schriftzüge imitieren. So entstehen in Nachfolge fiktionaler Aufzeichnungen und Briefromane in jüngerer Zeit literarische Notizbücher und Briefwechsel, bei denen die Simulation manueller Schriftanteile spielerisch die Authentizität des Mitgeteilten simuliert: R. Murray SchaferSchafer, R. Murrays Dicamus et Labyrinthos präsentiert sich als (angeblich) faksimiliertes handschriftlich geführtes Notizbuch; Nick BantockBantock, Nicks Serie Griffin and Sabine besteht aus (angeblich) faksimilierten Briefen und Postkarten, die partiell per Hand geschrieben wurden und insgesamt Schrift in verschiedenen Spielformen exponieren.6Bantock, NickBantock, Nick Echte Faksimiles und fiktional re-kontextualisierte Faksimiles sind als Elemente in hybriden literarischen Texten äußerlich nicht unterscheidbar; dieses Entdifferenzierungspotenzial bezogen auf Faktographisches und Fiktionales lässt sich literarisch gut nutzen. In Monika MaronsMaron, Monika Familien- und Memorialbuch Pawels Briefe (2001) und in W.G. SebaldSebald, W.G.s Büchern (vgl. etwa Logis in einem Landhaus, 2000) werden faksimilierte handschriftliche Texte als historische Spuren integriert und entsprechend semantisiert; eine Vielzahl ähnlicher Beispiele wäre zu nennen, bei denen teils die realen, teils erfundene Verfasser genannt werden.
Wie (scheinbar) Handschriftliches innerhalb gedruckter Texte vielfach mit Historischem konnotiert ist, so oft auch die für Schreibmaschinenbenutzer typische Courierschrift, vor allem nach dem Ende der Schreibmaschinen-Ära. Gedichte in Courier-Schrift verweisen in Beispielen medienbewusster Autoren wie Ernst JandlJandl, Ernst auf den literarischen Arbeitsprozess als solchen.
(5) Relevant für praktische und ästhetische Phänomene der Mehrschriftlichkeit sind im Bereich der bestehenden Schriftsysteme fünftens auch sekundäre Schriftcodes, welche als eigens zu diesem Zweck erfundene Zeichenrepertoires dazu dienen, die Elemente der alltagspraktisch verwendeten Schrift (in der Regel die Buchstaben des lateinischen Alphabets) abzubilden oder zu ersetzen.
Der Einsatz von Schriften zweiten Grades hat als eine metaisierende Darstellungspraxis Affinitäten zu Formen poetisch-poetologischer Metaisierung.7 Hans Magnus EnzensbergersEnzensberger, Hans Magnus poetologische Anthologie Das Wasserzeichen der Poesie (1985) dokumentiert unter anderem, aus welch verschiedenen Schriftcodes poetische Texte bestehen können, wenn man statt der konventionellen Alphabetzeichen andere Zeichenrepertoires (etwa die des Morsecodes, der Brailleschrift und der Flaggen) benutzt, und ist als Ganzes eine programmatisch-mehrschriftliche Sammlung.8Enzensberger, Hans Magnus
(6) Kryptographische Codes können sowohl direkt auf Inhalte oder Lautwerte bezogene als auch sekundäre (auf Normalschriften basierende) Schriftcodes sein; sie ermöglichen eine sechste Spielform von Mehrschriftlichkeit. Es gibt nicht nur eine Fülle unterschiedlicher kryptographischer Praktiken, sondern codierte Texte können sich zudem auf unterschiedliche Weisen und aus verschiedenen Anlässen mit normalschriftlichen Texten mischen respektive an deren Stelle treten.9 Manchmal muss ein kryptographischer Text als solcher überhaupt erst durchschaut werden, da es zu den Verschlüsselungsstrategien gehören kann, sich als normalgraphischer Text zu tarnen. Mehrschriftlichkeit im engeren Sinn liegt dort vor, wo der Kryptograph neue Zeichen zusammen mit konventionellen Zeichen verwendet. Aber auch die Umcodierung konventionell gebräuchlicher Zeichenbestände kann als Begründung einer anderen Schrift betrachtet werden, insofern die Zeichen nun ja nach einem anderen Schlüssel zu lesen sind. Literarische Texte können kryptographische Elemente in verschiedenen Funktionen enthalten; inhaltlich kann es um entsprechende Codierungs- und Decodierungsprozesse gehen, oft verbindet sich beides. Dass die Schrift eines fremden Kulturkreises als rätselhafte Geheimschrift erscheinen kann, illustriert durch Integration entsprechender Textelemente u.a. Jules VerneVerne, Juless Voyage au centre de la terre (1864). Ein eher schlichter Spezialfall kryptographischer Textgestaltung ist die Verwendung von Spiegelschrift, wie sie schon in Lewis CarrollCarroll, Lewiss Through the Looking-Glass (1872) erfolgt und von vielen Nachfolgern aufgegriffen wird, u.a. von Michael EndeEnde, Michael,10Ende, Michael DanielewskiDanielewski, Mark Z. und Georges PerecPerec, Georges.
Insofern Kryptographie – als ein Spezialfall von Verschlüsselung, von Hermetik – unter anderem eine poetologische Metapher ist, steht die Integration kryptographischer Elemente in literarische Texte zumindest latent im Zeichen des Selbstverweises. Auch Geschichten über versuchte Entzifferungen von Geheimschriften haben insofern oft eine latent autoreferentielle Dimension, so etwa Edgar Allan PoesPoe, Edgar Allan Erzählung über die Abenteuer des Arthur Gordon Pym (1838), bei denen u.a. seltsame Schriftzüge entdeckt werden, oder auch die Decodierung einer Geheimbotschaft in EcosEco, Umberto Il nome della rosa (1980) als Anlass zur Erörterung von Decodierungskompetenzen. In SchafersSchafer, R. Murray mehrschriftlichem Visual- und Erzähltext Dicamus et Labyrinthos. A Philologist’s Notebook (1984) geht es erstens auf inhaltlicher Ebene um die Entzifferung einer rätselhaften, der Hypothese des Protagonisten zufolge kryptographischen Schrift; darauf abgestimmt, werden zweitens auch die abgezeichneten rätselhaften Texte selbst sichtbar – zusammen mit den (pseudo-)faksimilierten handschriftlichen Notizen des Entzifferers, mit visuellen Zitaten aus Texten verschiedener Sprachen und Schriftsysteme sowie mit einigen (pseudo-)faksimilierten typographischen Dokumenten. Der mehrschrittige Entzifferungsprozess und seine Rahmenbedingungen finden sich im Duktus der (angeblichen) Handschrift sowie in den Überarbeitungen des Manuskripts, in Überschreibungen, Streichungen und entgleisender Schrift visuell inszeniert.
(7) Dienen kryptographische Texte in der Regel dazu, den Zugang zu einer Botschaft zu erschweren oder eine Kommunikation zwischen Eingeweihten zu begründen, so kann die Abkehr von vertrauten Schriftcodes doch auch durch das Bedürfnis motiviert sein, eine neuartige, eine ›bessere‹, leistungsfähigere oder schönere Schrift zu erfinden. Mit Schriftcode-Erfindungen kann sich ein utopisches Moment verbinden: Dies demonstrieren sowohl Texte in Phantasieschriften als auch Beispiele für die Integration neuer (erfundener) Schriften in konventionell-schriftliche Texte – als eine siebte Spielform von Mehrschriftlichkeit.
Die Erfindung neuer Schriften bildet einen eigenen Bereich ästhetischer Praxis. Versuche, eine ›allgemeine‹, ›universale‹ oder ›ursprüngliche‹ Schrift zu (re-)konstruieren oder aber eine neue Schrift zu erfinden, haben viele kreative Phantasien freigesetzt, wie u.a. die Anthologie Imagining Language von Jed RasulaRasula, Jed und Steve McCafferyMcCaffery, Steve dokumentiert.11Rasula, JedMcCaffery, Steve Dass Phantasieschriften auch dazu dienen, Berichte über imaginäre Welten mit (fingierten) Authentizitätssignalen auszustatten, illustriert etwa die Probe utopischer Schrift in Thomas Morus’Morus, Thomas Utopia.12Morus, ThomasRasula, JedMcCaffery, Steve Bei J.R.R. TolkienTolkien, J.R.R., der seine imaginäre Romanwelt mit eigenen Sprachen ausstattet, verstärken ›fremde‹ schriftliche Elemente die suggestive Wirkung solcher Weltkonstruktion;13Noel, Ruth S.Tolkien, J.R.R.Tolkien, J.R.R. sie wirken wie authentische Zeugnisse aus Mittelerde, ähnlich den kartographischen Paratexten der Romane. Ein Extrembeispiel für eine Schrift-Erfindungskunst, mittels deren zugleich eine imaginäre ›Andere Welt‹ porträtiert wird, bietet der Codex Seraphinianus von Luigi SerafiniSerafini, Luigi, ein reich illustriertes Buch, das einen erfundenen Kosmos im Stil einer Enzyklopädie porträtiert, dessen Textanteile aber in einer unlesbaren, von SerafiniSerafini, Luigi erfundenen Schrift oder Pseudo-Schrift verfasst sind; allein der Buch-Titel Codex Seraphinianus besteht aus lateinischen Lettern.14Serafini, Luigi
Vor spezifischeren Herausforderungen stehen Vertreter von Lautpoesie und avantgardistischer Musik, die anlässlich von neuartigen oder neu ausdifferenzierten Klängen nach neuen Notationsformen solcher Klangereignisse suchen.15Scholz, ChristianEngeler, Urs Vielfach werden dabei Elemente bestehender Schriftcodes (manchmal mehrerer, wie etwa die Alphabetschrift und die Notenschrift) kombiniert und um neue Schriftelemente erweitert; manchmal kommt es zur Modifikation der Buchstabenschrift wie bei Isidore IsouIsou, Isidore oder aber zu Anknüpfungen an bildliche Zeichencodes.
(8) Im Grenzraum zwischen Alphabetschrift einerseits, Ding- bzw. Bildschriften andererseits operieren die Gestalter von ausgemalten Initialen und anderen bildhaften Buchstaben; ihre Zeichen-Hybride repräsentieren eine achte Ebene von Mehrschriftlichkeit. Inwiefern Buchstabenbilder den Leser dazu verlocken, sich auf Text-Welten einzulassen, hat Walter BenjaminBenjamin, Walter in seinen Aufsätzen über Lese- und Kinderbücher verdeutlicht (BenjaminBenjamin, Walter, »Aussicht ins Kinderbuch«). Vom Mittelalter bis zur Gegenwart entstehen Texte, in denen ein ›normalsprachlicher‹ Anteil um bildhafte und graphisch auffällige Elemente ergänzt wird. Welche Funktion diese konkret auch immer haben mögen – sie demonstrieren, wie sich Schriftzeichen modifizieren lassen und dabei neue Bedeutungsdimensionen entfalten.
Die Initialenkunst früherer Zeiten, aber auch der Moderne, dokumentiert u.a. in der umfangreichen Sammlung Robert MassinMassin, Roberts (La lettre et l’image), findet sich in EcosEco, Umberto Il nome della rosa auf pointierende Weise semantisiert: als Inbegriff einer lebendigen und latent subversiven Zeichenwelt. Michael EndeEnde, Michael stattet Die unendliche Geschichte (1979) mit Initialen aus, aus denen sich – der Alphabetreihe folgend – die Kapitel seines Romans entwickeln. (Zudem arbeitet er mit den komplementären Textfarben Rot und Grün.) Yoko Tawada,Tawada, Yoko inspiriert vor allem durch BenjaminBenjamin, Walter, modifiziert das Konzept der ›lebendigen‹, dinghaften, eigendynamischen Buchstaben ebenfalls wiederholt.16Tawada, Yoko Kurt SchwitterSchwitters, Kurts’ i-Gedicht ist für sich zwar nicht mehrschriftlich, bildet im Kontext von SchwitterSchwitters, Kurts’ Oeuvre aber einen programmatischen Fremdkörper. Kalligraphen, Visualdichter, experimentelle Lyriker, aber auch Romanciers verdeutlichen mit spezifisch gestalteten Buchstaben oder buchstabenanalogen Formen vielfach, dass Schriftcodes und Zeichenrepertoires zu Hybridisierungen einladen.
(9) Offen wie die Grenze zwischen bildlicher Figuration und Schriftzeichen ist die zwischen Schrift und gestisch erzeugter Spur. Was im Alltag eher versehentlich zu geschehen pflegt, kann zum Ausgangspunkt literarisch-künstlerischer Experimente und Projekte werden: Spuren von Körperbewegungen, klimatischen Verhältnissen und materiellen Objekten können sich in die Textgestaltung einmischen und den Buchstaben überlagern; Kleckse, Bewegungsspuren, Spuren anderer Vorgänge können auf dem Papier sichtbar werden. Alles, was so sichtbar werde, habe eine »Lesephysiognomie«, so Franz MonMon, Franz.17Mon, Franz Wo der Gebrauch geläufiger Schriftzeichen sich mit gestischen und anderen Spuren verbindet, diese Spuren dabei als Zeichen betrachtet werden, könnte von einer neunten Form der Mehrschriftlichkeit die Rede sein.
In avantgardistischen Schreibpraktiken sowie in stark visuell konzipierten literarischen Experimentaltexten fordern vielfältige Spuren zu tentativen Lektüren heraus. Carlfriedrich ClausClaus, Carlfriedrich unternimmt ausführliche Experimente mit einer graphischen Praxis, die im Ausgang von handschriftlichen Prozessen den schreibenden Organismus insgesamt seine Spuren auf dem Papier ziehen lässt; in hochkomplexen Schriftfigurationen bleiben Reste konventionell geschriebener Texte entzifferbar.18Claus, CarlfriedrichClaus, CarlfriedrichWerner, Klaus Auch Ernst JandlJandl, Ernst schafft Blätter mit Spuren einer Schreibgestik, die einerseits codifizierte Buchstaben reproduziert, andererseits eigene Bewegungsformen erprobt.19Jandl, Ernst SchafersSchafer, R. Murray transkribierender und transliterierender Philologe hinterlässt auch heftige gestische Spuren.
Der Literaturwissenschaftler hat es insgesamt nicht nur bezogen auf publizierte Werke mit mehrschriftlichen Phänomenen zu tun. Auch und gerade deren Entwürfe und Vorstufen, handschriftliche, maschinenschriftliche oder handschriftlich korrigierte Textfassungen bieten, was ihre Schriftlichkeit angeht, oft ein ausdifferenziertes und deutungsrelevantes Erscheinungsbild. So greift die handschriftliche Variante oder Korrektur als eine spätere Textschicht in das maschinenschriftliche oder gedruckte Textbild ein. Analoges gilt, wo Durchstreichungen einen Ausgangstext modifizieren, wo diakritische Zeichen sich ihm überlagern, wo Leseanweisungen ihn skandieren. Auch solche Phänomene von Mehrschriftlichkeit lassen sich – als fingierte Dokumente schriftlicher Arbeitsprozesse – wiederum artifiziell arrangieren. In der Geschichte der Editionsphilologie haben Schriftbilder, zumal heterogene, einander überlagernde, zunehmend an Relevanz gewonnen.
Von vielen Beispielen jüngerer Literatur werden Mehr- und Vielschriftlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen einfallsreich inszeniert; das Textbild literarischer Publikationen wird tendenziell bunter. Wiederholt werden Schriftmischungen mit Variationen des Labyrinthmodells verknüpft; der Leser wird entsprechend durch Text- und Schrift-Labyrinthe geschickt, die ihm auch bezogen auf die Codes ständige Richtungswechsel abfordern.20Wühr, Paul Insgesamt tragen mehrere Motive zum verstärkten Interesse moderner und neuester Literatur an Phänomenen der Mehrschriftlichkeit bei – erstens ein thematisch-sachliches Interesse an Kulturspezifischem und kulturell Differentem (vgl. u.a. Palumbo-LiuPalumbo-Liu, David, »Schrift und kulturelles Potential in China«), inbegriffen die Schriftkulturen und Schreibpraktiken früherer Zeiten, deren ästhetische Reize sich aus ihrer relativen Fremdheit ergeben. Entsprechend werden in historischen sowie in Romanen über fremde Kulturkreise wiederholt Fremd- und Mehrschriftlichkeit zu Kernmotiven der Handlung.21Eco, UmbertoSchami, Rafik Analoges gilt für Erzählungen über fremde Welten phantastisch-utopischer Art. Motivierend ist zweitens ein verstärktes Interesse an der Medialität und Materialität von Schrift, das sich in mehreren Wissensdisziplinen, in Kunst und Literatur sowie auch in anthologischen Kompendien niederschlägt, sowie drittens eines an Innovations- und Verfremdungspotenzialen, die sich mit Grenzüberschreitungen und Hybridisierungen verbinden. Lyrische Texte, in denen mehrere Schriften in einen spannungsvollen Dialog treten, nutzen dabei die visuelle Dimension dieser Schriften oft in besonderem Maße, bis hin zum Einsatz ikonischer Effekte oder Suggestionen (zu verschiedenen Beispielen u.a. von Kitasono KatueKitasono Katue und Hiro KamimuraKamimura, Hiro vgl. Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika, »Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse«). Wenn Mehrschriftlichkeit in der jüngeren Literatur verstärkt nicht nur thematisiert, sondern auch konkret gezeigt wird, so profitiert diese Entwicklung nicht zuletzt von einer allgemeinen Tendenz zur Integration graphisch-visueller Elemente in literarische Buchpublikationen. Comics, Graphic Novels und andere Bilderzählungen, die als eigenes literarisches Genre gelten dürfen, können ohnehin auf eine längere Tradition der Mischung von Schriftcodes, Glyphen und Bildsymbolen zurückgreifen.
c) Offene Forschungsfragen
Mit den skizzierten Spielformen und Aspekten von Schriftlichkeit, Mehr- und Mischsprachigkeit eröffnet sich ein breites Feld für panoramatische Forschungen und Einzelstudien, auf dem sich literatur-, kunst-, medien- und kulturwissenschaftliche Interessen verbinden. Eine Geschichte der Mehrschriftlichkeit in der Literatur wäre ein Desiderat; sie könnte sich vor allem auf die bestehenden Anthologien und auf Überblickspublikationen zur Geschichte der Schrift, der Schreibkünste und der Schriftimaginationen stützen. Genauere Untersuchungen verdient insbesondere das Verhältnis der Verfahren der Mehrschriftlichkeit zu anderen Verfahren der Mehrsprachigkeit.
Literatur
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