3. Zitat und Anderssprachigkeit
a) Beschreibung des Verfahrens
Das Zitat in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ist ein Grundverfahren nicht nur der Philologie, sondern auch der Literatur. Insofern es auf fremde Rede verweist, wohnt ihm stets auch ein grenzüberschreitendes Potential inne. Pointiert formuliert ist jedes Zitat insofern fremdsprachig, als es auf fremde Sprachverwendung rekurriert. Umso wichtiger ist es für die Analyse des Verhältnisses von Zitat und Anderssprachigkeit, die unterschiedlichen Grade und Formen von Sprachdifferenz auseinanderzuhalten, die beim Zitieren in der Literatur im Spiel sind.
Unschärfen lassen sich allerdings allein schon beim Versuch, das Zitat begrifflich zu bestimmen, nicht vermeiden. Plausibel ist es aber, das Zitat als den Zusammenfall zweier Operationen zu bestimmen, die jeweils in graduell unterschiedlicher Ausprägung erfolgen können: Jedes Zitat ist einerseits Wiederholung fremder Rede (insofern deren Wortlaut in einem anderen Kontext Verwendung findet), andererseits Verweis auf fremde Rede (insofern mit dem Zitat der Text, dem es entnommen ist, aufgerufen wird). Dabei ist es möglich, dass sowohl das Moment der Wiederholung als auch das Moment des Verweises auf ein Minimum reduziert werden. Man kann global auf ein Werk verweisen – etwa mit dem Satz: ›GoetheGoethe, Johann Wolfgang vons Faust ist ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur‹ –, ohne, vom Titel abgesehen, eine wörtliche oder auch nur paraphrasierende Wiederholung vorzunehmen. Dennoch ist bereits diese Nennung des (überdies verkürzten) Titels auch eine Wiederholung des (unweigerlich konnotierten) Textes, der zumindest tendenziell Präsenz gewinnt. Umgekehrt ist das ungekennzeichnete wörtliche Zitat nur dann eines, wenn es auch als Verweis auf ein anderes Werk erkannt wird. Ein Extremfall liegt vor, wenn sowohl der Verweis als auch die Wiederholung ausgesprochen schwach ausfallen. Man hat es dann wahrscheinlich mit der Minimalform desjenigen zu tun, was man vom Verfahren her Applikation, vom Ergebnis her Intertextualität nennt (zu alternativen Versuchen einer systematischen Beschreibung des Zitats siehe Abschnitt c).
Für die Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit kommt zur doppelten Graduierung von Wörtlichkeit und Paraphrase einerseits, explizitem und implizitem Verweis andererseits die Vielfalt von Sprachdifferenzen hinzu, die zwischen zitierendem und zitiertem Text womöglich anzutreffen sind. Solche Differenzen lassen sich zum einen systematisch mittels der Kategorien beschreiben, die von der (Sozio-)Linguistik zur Beschreibung von Idiomen benutzt werden: Zitierter und zitierender Text können in unterschiedlichen Soziolekten, Dialekten, Ausbausprachen, Standardsprachen etc. verfasst sein, deren Sprecher einander mehr oder weniger gut verstehen können. Zum anderen aber zeigt die Tatsache, dass beispielsweise philologische Versuche zur Klärung unbekannter Autorschaft regelmäßig auf eine Vielzahl weiterer stilistischer Merkmale von Sprache zurückgreifen, dass mit Blick auf Zitathaftigkeit auch solche Sprachdifferenzen eine Rolle spielen, die sich nicht unbedingt mit linguistischen Kategorien (oder zumindest nicht mit den eben genannten) erfassen lassen. Denn letztlich ist jede irgendwie regulierte sprachliche Struktur zur Zitation (Applikation) in einem neuen, auch anderssprachigen Zusammenhang geeignet – anderssprachige Zitation kann also beispielsweise auch Tonlagen, Reim- und Strophenformen oder Arten und Weisen der Charakterzeichnung betreffen. Die folgende Darstellung geht vor allem auf die markanteren oben genannten Formen der Sprachdifferenz ein und konzentriert sich überdies auf solche Fälle, in denen ein Mindestgrad an Wörtlichkeit der Wiederholung gegeben ist, so dass die Möglichkeit besteht, dass Sprachdifferenzen zwischen zitiertem und zitierendem Text im zitierenden Text erkennbar werden.
Zitate tauchen in unterschiedlichen Situationen und Kontexten auf. Sie finden sich in literarischen Texten, in Gérard GenetteGenette, Gérards Terminologie formuliert, sowohl im Peritext, insbesondere im Motto, als auch im sog. Haupttext. Das Motto bietet als institutionalisierte Form des peritextuellen Zitats in besonderem Maße die Gelegenheit, andere Sprachen als die Grundsprache des jeweiligen Textes zu Wort kommen zu lassen. Im Haupttext wiederum sind es häufig handelnde Figuren, die Zitate benutzen. Für das literarische Feld sind ferner Zitatensammlungen von einer gewissen Bedeutung, die es in unterschiedlichen Formaten seit jeher gibt und die mittelbar auch auf (andere) literarische Texte Einfluss ausüben. Auch Zitatensammlungen gehen auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit Anderssprachigkeit um.
Mit Blick auf das anderssprachige Zitat ist zu beobachten, dass sich in viel größerem Maße als bei anderen Verfahren ethische Fragen stellen. Dies gilt schon für das ›einsprachige‹ Zitat, das in Literatur wie Philologie bestimmten ethischen Ansprüchen gerecht werden muss. Dies hat erstens damit zu tun, dass jedes Zitat Autorität ins Spiel bringt – indem es sich entweder auf eine Autorität beruft oder selbst Autorität über das Zitierte beansprucht. Zweitens sind, spätestens seit dem 18. Jahrhundert, Fragen des (geistigen) Eigentums im Spiel. Damit zusammenhängend stellt sich drittens die Frage der Treue des Zitats, die dann besonders akut (und eventuell problematisch) ist, wenn das Zitat aus einer gegenüber der Sprache des zitierenden Textes fremden Sprache stammt. Die Treue gegenüber dem Original ist in diesem Falle abzuwägen gegen die Interessen des potentiellen Lesers, der häufig der Meinung ist, er habe ein Recht darauf, den Text zu verstehen. Die grundlegende ethische Problematik des Zitats bringt es mit sich, dass Zitieren immer auch (kultur-)politisch interpretiert werden kann. Zitate können beispielsweise einen Bildungsanspruch signalisieren oder ihn subvertieren, Kulturdifferenzen aufrufen und verarbeiten oder etwas bzw. jemanden vorführen (in jedem Sinne des Wortes).
Bei der Analyse anderssprachiger Zitate in literarischen Texten sind somit drei Punkte entscheidend: Erstens muss jeweils genau beschrieben werden, wie wörtlich und wie explizit das Zitat ist. Zweitens muss untersucht werden, welche Art von Sprachdifferenz zwischen zitierendem und zitiertem Text besteht und wie der Text mit der Sprachdifferenz umgeht. Drittens kann gefragt werden, inwiefern dabei zugleich Kulturdifferenzen behandelt werden.
b) Sachgeschichte
Historisch betrachtet lässt sich der Umgang von Literatur mit anderssprachigen Zitaten grob in Korrelation zur Geschichte des Zitats in der Literatur beschreiben. Diese wiederum steht in engem Bezug sowohl zur Mediengeschichte als auch zur Geschichte der historischen Semantik von Sprachvielfalt bzw. der Sprach- und Kulturpolitik.
Für die Antike sind hier vor allem zwei Konstellationen von Interesse: der Umgang lateinischer Texte mit griechischen Bezugstexten und der Umgang des (griechischen) Neuen Testaments mit dem (hebräischen) Alten Testament. Im Hintergrund steht dabei, zumindest für die lateinische Literatur, die rhetorische Lehre vom Umgang mit (meist versförmigen) Sinnsprüchen, den ›sententiae‹. Die sententia ist hier vor allem im Zusammenhang mit der inventio, also der Lehre von der Findung von Argumenten, Topoi etc., behandelt worden, etwa bei AristotelesAristoteles – dort heißt sie γνώμη (gnōmē) – und später bei QuintilianQuintilian, Marcus Fabius. Wie Antoine CompagnonCompagnon, Antoine hervorgehoben hat, wird über die sententia in privilegierter Weise der Zugriff auf die bewährte Tradition geregelt, ohne den keine Rede erfolgreich sein kann. Für die antike Rhetorik gilt ihm zufolge: »Un discours en somme est jugé sur l’épreuve de contrôle des répétitions qu’il met en œuvre.« (CompagnonCompagnon, Antoine, La seconde main, 154; allgemein zum Umgang mit sprachlicher Wiederholung bei PlatonPlaton und AristotelesAristoteles sowie in der rhetorischen Tradition siehe ebd., 95–154.) Die Wörtlichkeit der Wiederholung ist dabei weniger entscheidend, ja sie kann sogar erfolgsverhindernd sein, denn das wörtliche Zitat signalisiert womöglich weniger die Einbettung in eine gemeinsame Tradition als die Uneigenständigkeit des Redners (van den BergVan den Berg, Wim, »Autorität und Schmuck«, 14f.). Dieses Bedenken bleibt aller Wahrscheinlichkeit nicht ohne Auswirkungen auf den Umgang lateinischer Texte mit Bezügen auf griechische Texte. Insgesamt lässt sich nach den Befunden von Otta WenskusWenskus, Otta eine Tendenz erkennen, sich dem sog. »Zitatzwang«, also der Verpflichtung zur wörtlichen Wiederholung des anderssprachigen Originals, zu widersetzen (WenskuWenskus, Ottas, »Zitatzwang als Motiv für Codewechsel«). Das Zitieren nach dem Original ist zum einen weitgehend auf bestimmte Gattungen beschränkt, nämlich auf Sachliteratur, Briefe und alle Arten von metasprachlicher Argumentation. Zum anderen gilt, dass der Zitatzwang eher bei Versen und bei bereits zitierten Zitaten (Zitat im Zitat) greift als bei der Zitation von Prosa. Bereits in der Antike existiert die Praxis, Florilegien, also Zitatensammlungen, anzulegen; auch entwickelt sich mit dem Cento eine Gattung, die Texte ausschließlich aus Zitaten generiert. Dabei werden strenge Regeln für die syntaktische wie metrische Integration der Zitate entwickelt, die eine Einbindung anderssprachiger Texte eher ausschließen (KunzmannKunzmann, Franz/HochHoch, Christoph, »Cento«). Allerdings ist das Verfahren spätestens im 20. Jahrhundert aufgegriffen und für die Entfaltung literarischer Mehrsprachigkeit genutzt worden. Spätestens ab der hellenistischen Zeit kann dann unterstellt werden, dass sich ein philologisches bzw. im weiteren Sinne medientheoretisches Bewusstein darüber entwickelt hat, dass Texttreue aufgrund der Überlieferungsmethoden nie problemlos angenommen werden kann (ReynoldsReynolds, Leighton Durham/WilsonWilson, Nigel Guy, Scribes and Scholars, 5–16).
Die Zitierpraxis des Neuen Testaments bringt insofern neuartige Strukturen ins Spiel, als hier ein Bezug auf die jüdische Zitierpraxis besteht, d.h., auf den Umgang mit Heiligen Texten, wie sie weder die griechische noch die römische Kulturgeschichte kennt. Die jüdische Zitierpraxis selbst ist mit dem Phänomen der Anderssprachigkeit nicht konfrontiert, insofern die Texte des Alten Testaments in einer einigermaßen einheitlichen Sprache verfasst sind. Wichtig ist allerdings die radikale Forderung der Texttreue, die insbesondere die Konsistenz der handschriftlichen Überlieferung sichern sollte. Im Neuen Testament wird indes an keiner Stelle aus den Büchern des Alten Testaments im Original zitiert, sondern meist in griechischer Übersetzung. Erklärlich ist dies vielleicht aus dem mit dem Pfingstwunder der christlichen Kirche aufgegebenen Missionsauftrag, der die Vermittlung der Frohen Botschaft in der κοινή nahegelegt haben mag. Einzig JesuJesus letzte Worte am Kreuz, ein Zitat aus dem 22. Psalm, sind nicht auf Griechisch wiedergegeben, sondern in mit griechischen Buchstaben transkribiertem Aramäisch, also der mutmaßlichen Muttersprache JesuJesus (siehe hierzu III.2).
Die Zitierpraxis der Kirchenväter, die vehement ins Mittelalter gewirkt hat, unterscheidet sich laut CompagnonCompagnon, Antoine insofern von der jüdischen Zitiertradition, als die christliche Theologie nicht schlicht eine Einheit (des Glaubens) aus den für sich genommen zunächst sehr diversen Texten konstruiert, sondern die Einheit des Glaubens an die radikale Differenz zwischen Altem und Neuem Testament bindet (CompagnonCompagnon, Antoine, La seconde main, 169): Die Kirchenväter haben es mit einem gespaltenen Text zu tun, denn die Frohe Botschaft besteht ja gerade darin, dass Christi Tod und Auferstehung den gesamten Gehalt des Alten Testaments verändert haben. Das erzeugt einerseits eine gesteigerte Kommentarbedürftigkeit der Texte, der u.a. die Typologie und, ausgehend vom Werk des OrigenesOrigenes, die Lehre vom vierfachen Schriftsinn antworten; andererseits aber eine gesteigerte Bedeutsamkeit, denn anders als für die antiken sententiae gilt, dass »la citation biblique s’offre toujours comme un jugement nécessaire, une proposition universelle, une vérité éternelle; elle se répète sans qu’il faille s’assurer à chaque coup de sa pertinence« (ebd., 201f.). Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass die mittelalterliche Theologie mehr oder weniger ausschließlich in der lateinischen Einsprachigkeit verharrt. Allerdings ist zu bedenken, dass das Mittelalter von einem starken Vertrauen in die Übersetzung getragen ist, und zwar sowohl mit Blick auf die Bibel, deren (griechische wie lateinische) Übersetzungen durch göttliche auctoritas abgesichert gelten, als auch mit Blick auf die Texte der klassischen Antike, die immer schon, verstärkt dann aber in der Scholastik dank der intensiven AristotelesAristoteles-Rezeption, systematisch in das christliche Weltbild eingebunden werden. Das Vertrauen in die Übersetzung bewirkt hier, so Wim van den BergVan den Berg, Wim, dass in der »Aneignung der Tradition eher die Paraphrase als das Zitat« (van den BergVan den Berg, Wim, »Autorität und Schmuck«, 19) als Methode genutzt wird.
Mit Blick auf den zitierenden Umgang mit Anderssprachigkeit im Mittelalter ist daher eher die volkssprachliche Tradition von Belang. Hier findet sich eine Vielzahl von Belegen des vor allem lyrischen Umgangs mit biblischen oder liturgischen Texten, die in ihrer lateinischen Fassung in volkssprachliche Texte eingebettet werden. Paul ZumthorZumthor, Paul hat hierzu eine Vielzahl von Quellen aus dem französischen Sprachraum im 11. bis 13. Jahrhundert zusammengestellt (Zumthor, »Un problème d’esthétique médiévale«). Bei den lateinischen Anteilen dieser Texte handelt es sich meist um Zitate, und zwar vor allem um Zitate aus dem liturgischen Kontext. ZumthorZumthor, Paul beschreibt insbesondere das Verfahren der »Farciture«, also der ›Ausfüllung‹ lateinischer (liturgischer) Texte durch französische Erklärungen (ebd., 562–566, auch 310). Auch in anderen Sprachräumen finden sich solche Verfahren, beispielsweise in einem mehrsprachig glossierten »Ave Maria« von Bruder HansHans, Bruder (NoelNoel Aziz Hanna, Patrizia/SeláfSeláf, Levente, »On the Status and Effect of Formulas«).
Im Hochmittelalter entwickelt sich mit der Troubadour-Lyrik eine volkssprachliche Literaturtradition, deren Vertreter zitierend aufeinander Bezug nehmen, wie Sarah KayKay, Sarah in einer Studie zu Texten aus dem 12. bis 14. Jahrhundert nachgewiesen hat. Kay unterscheidet in der intertextuellen Bezugnahme auf die Dichtung der okzitanischen Troubadoure zwei unterschiedliche Traditionslinien, die sie, einer alten poetologischen Metapher folgend, mit der Nachtigall und dem Papagei in Verbindung bringt (KayKay, Sarah, Parrots and Nightingales, 1–23). In der ›Nachtigallen-Tradition‹ werden Stoffe, Gattungsstrukturen und/oder metrische Muster in anderen Sprachen als der okzitanischen Literatursprache nachgeahmt. Dabei handelt es sich um mehr oder weniger eng paraphrasierende oder adaptierende Verfahren. Auf diesem Wege entsteht beispielsweise der mittelhochdeutsche Minnesang. In der ›Papageien-Tradition‹ werden die okzitanischen Vorbilder wörtlich zitiert, und zwar von Texten, die selbst auf Okzitanisch verfasst sind, auch wenn die Alltagssprache der Autoren (ebenso wie die Alltagssprache ihres Publikums) einigermaßen weit vom Okzitanischen entfernt ist – wodurch die zitierte Sprache des Vorbilds den Text in gewisser Weise affiziert. Nur die ferneren Ausläufer dieses zweiten Verfahrens integrieren wörtliche Zitate aus dem Okzitanischen in andere, neue oder neu zu etablierende Literatursprachen. Dies ist etwa der Fall bei Dante AlighieriDante Alighieri und Francesco PetrarcaPetrarca, Francesco, also ausgerechnet bei den wohl berühmtesten Autoren, die KayKay, Sarah behandelt, und zugleich denjenigen, deren Wirken, sprach- und kulturpolitisch betrachtet, am stärksten auf die Etablierung jener Vielfalt einander im Prinzip äquivalenter Literatursprachen beigetragen hat, die bis heute die europäische Literatur prägt. Man kann in ihrer Bereitschaft, aus diesen Sprachen parallel zum Lateinischen zu zitieren, durchaus eine Präfiguration dieser modernen Konstellation sehen (zum Zitat bei Dante siehe auch KlinkertKlinkert, Thomas, »Dante AlighieriDante Alighieri und die Mehrsprachigkeit«).
Die Frühe Neuzeit ist gekennzeichnet durch eine nicht zuletzt medienbedingte Neuordnung der europäischen Sprachlandschaft, die auch das Zitat betrifft, denn die Durchsetzung des Buchdrucks seit dem 15. Jahrhundert verändert die Zitatpraxis in zweifacher Hinsicht. Einerseits wird durch den Buchdruck eine viel größere Menge an Texten potentiell zitierfähig als zuvor. In den ihrerseits an Prestige gewinnenden Volkssprachen vollzieht sich nicht zuletzt auf der Grundlage dieser verbreiterten Quellenbasis der »Durchbruch des klassischen Zitats« (van den BergVan den Berg, Wim, »Autorität und Schmuck«, 21), also einer neuartigen Praxis des gebildeten, in der Regel lateinischen Zitats, die weniger der Absicherung des eigenen Arguments durch die Autorität der Tradition dient denn dem Ausweis der Bildung, auf der das eigene Argument beruht. In ihren langfristigen Konsequenzen führt diese neue Funktion des klassischen Zitats, mit Marjorie GarberGarber, Marjorie gesprochen, dazu, dass »[o]ld authors are regarded as having written, not books, but quotes.« (GarberGarber, Marjorie, »›‹ (Quotation Marks)«, 667).
Andererseits führt die Durchsetzung des Buchdrucks in Kombination mit dem Erstarken der Volkssprachen dazu, dass sich massive Kritik am mittelalterlichen auctoritas-Zitat Bahn bricht, die sich zugleich gegen eine neuzeitliche Reproduktion klassischer Bildungszitate als einer Form des »cultural ventriloquism« (ebd., 663) richtet. Laut CompagnonCompagnon, Antoine stellen sich der typographischen Kultur die sehr viel unzuverlässigeren Reproduktionsverfahren der handschriftlichen Kultur als in einem grundlegenden Sinne korrupt dar. Das betrifft auch die gesamte auf die auctoritas des Zitats gegründete Tradition (CompagnonCompagnon, Antoine, La seconde main, 244–246). CompagnonCompagnon, Antoine schreibt hier eine zentrale Rolle dem Schaffen von Petrus RamusRamus, Petrus zu, dessen 1543 publizierte französischsprachige Dialectique ihm als das erste (französischsprachige) Buch mit systematischer typographischer Zitatkennzeichnung gilt (ebd., 246f.; siehe zur Zitatkennzeichnung auch GarberGarber, Marjorie, »›‹ (Quotation Marks)«, 660–662 und van den BergVan den Berg, Wim, »Autorität und Schmuck«, 22) und dessen Werk als endgültiger Bruch mit der auf der auctoritas der Heiligen Schrift und ihrer Vermittler beruhenden mittelalterlichen Kommentarpraxis gelten kann. Einschlägig für die Geschichte des (anderssprachigen) Zitats sind aber vor allem Michel de MontaigneMontaigne, Michel de und Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam.
Bei ErasmusErasmus von Rotterdam wird einerseits das Zitat der Eigengesetzlichkeit des philosophischen Denkens wie auch der philologischen Skepsis unterworfen, die beide das Prinzip der auctoritas untergraben (CompagnonCompagnon, Antoine, La seconde main, 268); andererseits setzt sich Erasmus massiv dafür ein, seinen Zeitgenossen einen eigenständigen Gebrauch des Lateinischen zu ermöglichen. Sein Dialogus ciceronianus (1528) erweist sehr anschaulich die Einschränkungen, denen sich ein Latein unterwirft, das sich starr am Sprachgebrauch eines klassischen Autors (CiceroCicero, Marcus Tullius) orientiert: Es läuft letztlich nur auf die Reproduktion von Zitaten hinaus, die nicht mehr an neue Kontexte angepasst werden können. Umgekehrt leistet die ausgesprochen erfolgreiche Sinnspruch-Sammlung von ErasmusErasmus von Rotterdam, die von 1510 bis 1535 in immer wieder erweiterten Ausgaben erschienenen Adagia, eine zeitgemäße Erschließung des antiken Zitatenschatzes.
MontaigneMontaigne, Michel de wiederum hat in seinen Essais nicht nur umfassend aus überwiegend antiken Quellen zitiert, sondern auch ebenso umfassend über das Zitieren nachgedacht. Wenn er dabei zu dem Ergebnis kommt, wie CompagnonCompagnon, Antoine formuliert, dass »tout le discours […] est affaire de foi ou […] de crédit« (CompagnonCompagnon, Antoine, La seconde main, 290), so ist das nicht nur so zu verstehen, dass alle Aussagen immer nur auf Vorschuss Bestand haben können; vor allem impliziert es vielmehr ein radikales Bewusstsein für die Schulden, die das eigene Sprechen bei demjenigen der vielen anderen hat. Dieses Bewusstsein verbindet sich im Fall Montaignes mit der radikalen Kritik an der unkritischen Autoritätshörigkeit, die sowohl den mittelalterlichen Kommentar als auch die zeitgenössisch sich etablierende Praxis des klassischen Zitats verbindet. Montaigne unterscheidet theoretisch wie praktisch zwischen allégation und emprunt: Erstere ist die (letztlich auf auctoritas beruhende, zugleich von Montaigne in dieser Funktionalität aber immer dekonstruierte) Wiedergabe von Argumenten auf Französisch, die aber in der Regel auf Latein oder Griechisch geäußert wurden (ebd., 292f.); letztere »une phrase latine, un vers […] inséré sans transition, et sans nom d’auteur« (ebd.Compagnon, Antoine, 293). Gerade an den emprunts erweist sich Montaignes Schreiben als auf Kredit gegründet: Er übernimmt ausdrücklich keine ›auktoriale‹ Verantwortung für sie, sondern sie ›unterlaufen‹ ihm gewissermaßen, er kann sie nicht vermeiden, weil seine eigenen Worte zu sehr mit denen der anderen verwoben sind (ebd.Compagnon, Antoine, 297). Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass Montaigne großen Wert darauf legt, zumindest typographisch die Anderssprachigkeit der emprunts zu markieren. Michael MetschiesMetschies, Michael weist darauf hin, dass die satztechnische Markierung der Zitate durch Kursivierung der lateinischen Passagen und durch Absetzung der Verszitate wohl nicht zuletzt von MontaigneMontaigne, Michel de selbst veranlasst wurde, der mit dem Drucker darüber kommunizierte (MetschiesMetschies, Michael, Zitat und Zitatkunst in Montaignes Essais, 73).
Die Bedeutung der typographischen Medienrevolution gerade für das Zitat, die sich dergestalt in MontaignesMontaigne, Michel de Text niederschlägt, kann kaum zu gering veranschlagt werden. Das typographische Dispositiv trägt nämlich nicht nur dazu bei, dass sich klare Regeln für die Kennzeichnung von Zitaten und von Anderssprachigkeit etablieren (wie sie beispielsweise für die Zitation griechischer Verse in lateinischen Texten nicht nötig waren), sondern vor allem dazu, dass die Texte eine hinreichende Festigkeit erlangen und sich nicht mehr, wie die ›unfesten‹ Texte des Mittelalters, von Abschrift zu Abschrift zumindest potentiell verändern. Das liegt nicht nur an der Identität der von der Druckerpresse produzierten Exemplare, sondern mehr noch an der Standardisierung der Orthographie und vor allem des Peritextes im Sinne von GenetteGenette, Gérard. CompagnonCompagnon, Antoine hat bereits vor GenetteGenette, Gérard in seinen Ausführungen über die von ihm sog. »périgraphie« (CompagnonCompagnon, Antoine, La seconde main, 328, ausführlich 328–346) darauf hingewiesen, dass der typographisch standardisierte Rahmen des Textes entscheidend dazu beigetragen hat, das Modell eines ›homeostatischen Textes‹ zu etablieren, eines Textes, innerhalb dessen der Anteil des eigenen und des fremden Sprechens ebenso wie derjenige der eigenen und anderen Sprachen klar ausbalanciert ist. So entspricht es auch den Forderungen der neuen, auf das autonome Subjekt und sein cogito sich gründenden Philosophie, deren Vertreter – etwa Blaise PascalPascal, Blaise, Antoine ArnauldArnauld, Antoine/Pierre NicoleNicole, Pierre und Nicolas MalebrancheMalebranche, Nicolas – MontaignesMontaigne, Michel de Umgang mit fremdem Text scharf kritisieren (ebd., 306–313) und überhaupt das klassische Zitat in erster Linie als Ausweis von Narzissmus betrachten (ebd., 319–322).
In der Literaturgeschichte sind die Konsequenzen der philosophischen Kritik am Zitat in der Frühen Neuzeit insofern weniger gut zu beobachten, als sich starke Autorschaftskonzepte erst später, im 18. Jahrhundert, durchsetzen. Ein neues ›Selbstbewusstsein‹ zeigt sich allerdings im Hinblick auf die literarischen Sprachen. Macht MontaigneMontaigne, Michel de seine Anleihen überwiegend im Lateinischen, so vervielfältigt sich der Referenzraum des literarischen Zitierens mit der zunehmenden Emanzipation der europäischen Volkssprachen, wie es bei Autoren wie DanteDante Alighieri und PetrarcaPetrarca, Francesco bereits deutlich sichtbar wird. Die alte Gattung des Cento kann im 16. Jahrhundert beispielsweise bei Lope de VegaLope de Vega, Félix eine ganz neue Form gewinnen, der in seinem Sonett »De versos diferentes« Zitate aus vier Sprachen montiert (HelmichHelmich, Werner, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 63). Das heißt nicht, dass nicht weiterhin das Klassiker-Zitat das verbreitetste Mittel der Anknüpfung an die literarische Tradition sei. Dubravka Oraić TolićOraić Tolić, Dubravka hat in ihrem umfassenden Werk zur ›Zitathaftigkeit‹ das Beispiel des kroatischen Autors Petar ZoranićZoranić, Petar analysiert, dessen Roman Planine (1569) den kroatischen Text mit vielen illustrativen Klassiker-Zitaten, lateinischen Redewendungen und Bibelzitaten auf Kroatisch untermischt, die in den Marginalien allesamt in der Originalsprache angeführt werden (Oraić TolićOraić Tolić, Dubravka, Das Zitat in Literatur und Kunst, 86–92). Die gelehrten Tragödien etwa eines Daniel Casper von LohensteinLohenstein, Daniel Casper von sind ebenso von Klassiker-Zitaten durchsetzt wie die Komödien der Renaissance, die allerdings oft – in Anlehnung an die Commedia dell’arte – die lateinisierenden Gelehrten mit ihren Zitaten eher der Lächerlichkeit preisgeben (siehe das Anwendungs-/Analysebeispiel 1 in III.2).
Das neue Selbstbewusstsein der literarischen Volkssprachen zeigt sich so nicht zuletzt in einem subversiven Umgang mit dem Lateinischen. So enthält beispielsweise das Tiers livre von RabelaiRabelais, Françoiss (1546) eine Parodie über das von lateinischen Zitaten durchmischte Französisch der Juristen.1Rabelais, FrançoisFezandat, Michel Herman MeyerMeyer, Herman hat in seiner Studie über das Zitat in der Erzählkunst darauf hingewiesen, dass gerade der humoristische Roman, insofern er auf dem Bauprinzip der Integration des Heterogenen beruht, dem Zitat als Fremdkörper eine zentrale Rolle einräumt (MeyerMeyer, Herman, Das Zitat in der Erzählkunst, 12). MeyersMeyer, Herman Behauptung, vor CervantesCervantes, Miguel de, RabelaiRabelais, Françoiss und SterneSterne, Lawrence habe das (klassische) Zitat nur als Autoritätsstütze fungiert (ebd., 16f.), ist sicherlich nicht zutreffend. Dennoch ist die humoristische Souveränität, mit der diese Autoren mit (anderssprachigen) Zitaten umgehen, in der Tat neuartig und bemerkenswert. MeyerMeyer, Herman, der im übrigen auf die Anderssprachigkeit vieler der in seinen Analysen behandelten Zitate in keiner Weise eingeht, weist nach, dass RabelaisRabelais, François die klassischen Zitate durchaus affirmativ verwendet, bei wörtlichen biblischen Zitaten aber subversiv und parodistisch vorgeht (ebd., 40f.). Insbesondere erzeuge hier der Kontrast zwischen ursprünglichem und neuem Kontext komische Effekte (ebd., 44f.). Alles in allem könne die Zitatbearbeitung als Grundstruktur der Erzählung gelten. Zu CervantesCervantes, Miguel de kann MeyerMeyer, Herman immerhin nachweisen, dass affirmative Zitatverwendung sich auf spanische Texte konzentriert (ebd., 54–68).
Die Selbstverständlichkeit des lateinischen, teils auch des griechischen und/oder hebräischen, später des französischen Zitats bleibt in vielen Formen von Literatur bis in das 18. oder gar 19. Jahrhundert hinein erhalten, auch wenn beispielsweise Lawrence SterneSterne, Lawrence es in seinem Tristram Shandy (1759–1767) für notwendig erachtet, das längste im Roman erhaltene lateinische Zitat, das im dritten Buch des Romans verlesene katholische Exkommunikationsformular, im Paralleldruck zusammen mit der englischen Übersetzung zu präsentieren. Für SterneSterne, Lawrence, wie allgemein für den humoristischen Roman, ist laut MeyerMeyer, Herman »die Schiefheit des Bezugs« das entscheidende »Charakteristikum [der] Zitatverwendung« (ebd., 73). Die humoristisch verzerrende Aneignung der Tradition, in der gerade der lateinische Wortlaut im volkssprachlichen Text dessen (ästhetisch, philosophisch und kulturpolitisch neuartigen) Gesetzmäßigkeiten angepasst wird, ist dann letztlich nicht mehr nur Zeugnis eines zunehmenden ›Selbstbewusstseins‹ der Sprachen, sondern auch von selbstbewusster Autorschaft. Einer der Erben dieser Tradition, Jean PaulJean Paul, ist vielleicht nicht zufällig zumindest mittelbar, nämlich über seine Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb FichteFichte, Johann Gottlieb, auch in die Diskussion des modernen Konzepts des geistigen Eigentums verwickelt, das eine Konfiguration textueller Eigentumsverhältnisse formalisiert, welche die typographische Neuordnung der Textualität zu Beginn der Frühen Neuzeit bereits vorbereitet hatte.
Die Zeit um 1800 bringt nicht nur mit Blick auf die Geschichte des geistigen Eigentums und auf die sich entfaltende Originalitätsästhetik Veränderungen im literarischen Umgang mit dem anderssprachigen Zitat mit sich. Vielmehr kann diese Zeit auch als diejenige Epoche gelten, in der sich die moderne Einsprachigkeitssemantik, d.h., die Engführung des Konzepts der Muttersprachlichkeit mit demjenigen der Nation, durchsetzt. Dies führt allerdings, vor allem eben mit Blick auf das fremdsprachige Zitat, keinesfalls dazu, dass Anderssprachigkeit aus den Texten ausgeschlossen würde. Vielmehr entsteht mit der Einsprachigkeitssemantik auch ein neues Konzept fremdsprachlicher Bildung, das sich auf je unterschiedliche neuzeitliche Fremdsprachen bezieht und demzufolge sich Bildung nicht zuletzt durch das fremdsprachliche Zitat ausweisen kann.
Die daraus sich ergebende Vielfalt des anderssprachigen Zitierens ist von der Forschung bislang nur ansatzweise in den Blick genommen worden – noch weniger als Sprachwechsel und Sprachmischung im Allgemeinen. Allerdings etabliert sich, auf der Grundlage der frühneuzeitlichen Emblematik, seit dem 18. Jahrhundert ein paratextuelles Element, das eine Art privilegierten Zugang zur Frage des anderssprachigen Zitats verspricht: das Motto. Auch wenn es nicht zwangsläufig ein Zitat sein muss – Motti sind manchmal auch erfundene Zitate, Selbstzitate oder schlicht Devisen, die der Autor für eben dieses Werk verfasst hat –, so wird der dem Motto auf der Titelseite, auf einer eigens für Motti eingefügten Seite oder unterhalb von Kapitelüberschriften eingeräumte Platz doch weit überwiegend dazu genutzt, qua Zitat einen Bezug zur (literarischen) Tradition herzustellen. Und sehr häufig entstammen die für Motti verwendeten Zitate nicht derselben Sprache wie der folgende Text, ob sie nun in Übersetzung dargeboten werden oder im Original – oder beides.
Eine zentrale Rolle für die Etablierung des Mottos hat in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Joseph AddisonsAddison, Joseph Zeitschrift The Spectator gespielt, die weit über den englischen Sprachraum hinaus gewirkt hat (siehe hierzu SegermannSegermann, Krista, Das Motto in der Lyrik, 31–35). Die zumeist lateinischen Motti zu den essayförmigen Texten in der Zeitschrift galten AddisonAddison, Joseph, durchaus im Sinne einer Devise, als Bestätigung der jeweils vertretenen Argumente. Die Popularität dieser Motti, aber auch die Tatsache, dass sie dem Publikum nicht mehr ohne weiteres verständlich waren, zeigt sich daran, dass sie im 18. Jahrhundert zu eigenständig publizierten Sammlungen zusammengeführt wurden, die auch Übersetzungen enthielten (BöhmBöhm, Rudolf, Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, 10f.).
Eine systematische Erforschung der Motti in den europäischen Literaturen steht weitgehend noch aus, kann aber auf wegweisende erste Arbeiten zurückgreifen, denen sich zumindest entnehmen lässt, auf welche anderssprachigen Quellen in den unterschiedlichen Traditionen Bezug genommen wurde. So wurde gezeigt, dass deutschsprachige Texte aus dem 18. Jahrhundert weiterhin vorwiegend Motti aus dem Lateinischen verwenden (mit HorazHoraz als Spitzenreiter), das dann fast immer auch im Original wiedergegeben wird, wohingegen griechische Zitate oft in lateinischer (!) Übersetzung, die Bibel hingegen auf Deutsch angeführt wird. Nur Johann Georg HamannHamann, Johann Georg zitiert grundsätzlich (und nicht nur in seinen reichhaltigen Motti) alles im Original (AntonsenAntonsen, Jan Erik, Text-Inseln, 34f.). Für die Lyrik der französischen Romantik ist, wenn auch nur in Seitenblicken, gezeigt worden, dass die Integration von Motti, die aus anderen Sprachen stammten, selbst bei Wiedergabe in der Übersetzung, zur »Propagierung neuer Vorbilder« genutzt wurde (Segermann,Segermann, Krista Das Motto in der Lyrik, 121). Beispielsweise hat Théophile GautierGautier, Théophile in zwei Gedichten deutschsprachige Lautmalereien aus den vorangestellten Motti von BürgerBürger, Gottfried August und GoetheGoethe, Johann Wolfgang von aufgegriffen (ebd., 124). Auch die konventionelle typographische Differenzierung zwischen dem Französischen und anderen Sprachen konnte bei der Einfügung von Motti formbildend eingesetzt werden (ebd., 46). Alles in allem zeichnet sich im 19. Jahrhundert die Möglichkeit ab, Motti als »Freiraum für gewagte Formexperimente« (ebd., 161) zu nutzen – und insbesondere Anderssprachigkeit ist ja, auch unabhängig vom Zitat, im 19. und 20. Jahrhundert in den unterschiedlichsten europäischen Literaturen als Motor der insbesondere lyrischen Formbildung verwendet worden (siehe III.1 sowie V.1).
Für die englische Literatur des 19. Jahrhunderts liegen ausführliche statistische Auswertungen des anderssprachlichen Zitatmaterials in den Motti vor (BöhmBöhm, Rudolf, Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts). Der kulturpolitische Stellenwert dieser Motti wie auch der Entscheidung darüber, sie im Original oder in Übersetzung wiederzugeben, müsste allerdings noch an Einzelfällen eingeschätzt werden. Ähnlich wie im deutschsprachigen Raum wird auch in englischsprachiger Literatur aus dem Lateinischen überwiegend im Original ohne Übersetzung zitiert (nur 15 % der Motti werden übersetzt), bei griechischen Quellen ist das anders, hier werden 60 % der Motti mit paralleler Übersetzung gegeben (ebd., 52–54). Bei deutschen Quellen finden sich keine solchen Doppelungen, hier wird ungefähr zur Hälfte das Original, zur anderen Hälfte eine englische Übersetzung gegeben (ebd., 57). Demgegenüber wird Französisch so gut wie immer nur im Original zitiert (ebd., 58), was mit der Kenntnis des Französischen als Bildungssprache erklärt werden kann. Dasselbe gilt allerdings auch für das (insgesamt weniger zitierte) Italienische (ebd., 62) und für das Spanische (ebd., 66) – beides Sprachen, deren Kenntnis eher nicht vorausgesetzt werden konnte. Auch historiographische Quellen sind, unabhängig von der jeweiligen Sprache, in der Regel im Original wiedergegeben (ebd., 71), anders als philosophische (ebd., 74), die zur Hälfte ins Englische übersetzt werden. Die Bibel wird, ebenso wie im deutschsprachigen Raum, fast immer in der Volkssprache zitiert, genauer im Englisch der King-James-BibelJakob I. (England) (ebd., 84). Für den deutschsprachigen Raum lässt sich für das 19. Jahrhundert im Vergleich mit dem 18. eine deutliche Abnahme der lateinischen Motti im Vergleich zu denjenigen konstatieren, die aus französischen oder englischen Quellen stammen; das Griechische verschwindet hier fast gänzlich, während das Italienische an Wirkmacht gewinnt. In Wilhelm RaabeRaabe, Wilhelms »Abu Telfan« findet sich sogar ein Koran-Zitat in deutscher Übersetzung (AntonsenAntonsen, Jan Erik, Text-Inseln, 38).
Auch über die ausgeprägte Motto-Kultur hinaus sind anderssprachige literarische Zitate im 19. Jahrhundert ausgesprochen verbreitet. Die Konjunktur der von Georg BüchmannBüchmann, Georg herausgegebenen Zitatensammlung Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes (erstmals 1864, in weiteren Ausgaben bis heute), die im englischen Sprachraum eine Parallele in Bartlett’s Familiar QuotationsBartlett, John (erstmals 1855) findet, zeigt einen erheblichen Bedarf an der Verfügbarkeit von Bildungszitaten an. Dabei ist BüchmannsBüchmann, Georg Text sowohl ausgesprochen weltoffen als auch philologisch einigermaßen ambitioniert, denn es geht ihm darum, seinen Lesern nicht nur die Zitate, sondern auch ihre Ursprünge und Hintergründe mitzuteilen. BüchmannBüchmann, Georg führt, wieder mit Ausnahme der Bibel, nahezu alle der sehr umfassenden fremdsprachlichen Quellen (ihnen widmen sich in der fünften Ausgabe von 1868 fast zwei Drittel des Buchs) im Original an, erläutert mögliche Übersetzungen, Entstellungen etc. Darin unterscheidet er sich merklich von BartlettBartlett, John, der (ausweislich der dritten Ausgabe von 1858) ausschließlich auf Englisch zitiert und über den bloßen Wortlaut und die Quellenangabe hinaus kaum weitere Informationen mitteilt.
Zumindest die Tatsache, dass das anderssprachige Zitat im 19. Jahrhundert eine gesteigerte bildungs- wie kulturpolitische Wertigkeit hat, lässt sich an der Verbreitung anderssprachiger Motti wie auch an den populären Zitatensammlungen unmittelbar ablesen. Zudem deutet sich an, dass das anderssprachige Motto als eine Art Index allgemeinerer ästhetischer oder formaler Entlehnungsbewegungen über Sprachgrenzen hinweg gelesen werden kann. Darin erschöpft sich das anderssprachige literarische Zitieren allerdings nicht. Insbesondere im realistischen Roman wird – und zwar im Grunde bis heute –, unter Vorschützen eines »Anlass[es] […], etwa eine[r] bestimmte[n] ästhetische[n] oder sentimentale[n] Vorliebe der Protagonisten oder des Erzählers« (HelmicHelmich, Wernerh, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 546), dem Zitat oft die Funktion zugemessen, den Kontakt zur literarischen Tradition herzustellen. Spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird beispielsweise im deutschsprachigen Raum, aber nicht nur hier, die Praxis des Bildungszitats selbst zum Gegenstand auch durchaus subversiver Darstellungen, etwa bei RaabeRaabe, Wilhelm (siehe unten Anwendungs-/Analysebeispiel 1); Zitate bzw. Zitatkonstellationen können überdies, wie MeyerMeyer, Herman an Texten Theodor FontaneFontane, Theodors nachgewiesen hat, strukturbildend sein, d.h., als ›heimliche Motivation‹ für den Fortgang der Handlung gelesen werden (MeyerMeyer, Herman, Das Zitat in der Erzählkunst, 170f.; zum Zitat bei FontaneFontane, Theodor siehe auch GrätzGrätz, Katharina, »›Four o clock tea‹ […]«). Hier ergibt sich aus dem Bezug auf die literarische Tradition eine ästhetische Überformung der realistischen Darstellung. Die spezifische Funktion von Anderssprachigkeit für den zitierenden Anschluss an die Tradition wäre zwar erst noch im Einzelnen zu ergründen. Eine Vermutung kann aber vielleicht schon in Anlehnung an eine Formulierung von BöhmBöhm, Rudolf geäußert werden, dessen Untersuchung über das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts u.a. den Typus des »orphischen Mottos« (BöhmBöhm, Rudolf, Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, 156) aufführt, also eines Mottos, dessen Verhältnis zum Haupttext zunächst rätselhaft ist. Denn im Grunde schreibt jedes Zitat bzw. jede Konstellation von Zitaten dem Text ein ihm potentiell fremdes Strukturprinzip ein. Dies wirft immer schon die Frage nach der spezifischen Natur der Beziehung zwischen zitiertem und zitierendem Text, zwischen ›eigenem‹ und ›fremdem‹ Sprechen auf. Gerade die Anderssprachigkeit von Zitaten mag, zumindest seitdem sich eine Ästhetik der Originalität durchgesetzt hat, als Mittel zur pointierten Vergegenwärtigung dieser Frage gedient haben.
Für die Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts konstatiert die Zitatforschung einhellig das Aufkommen einer neuartigen Konstellation von Zitat und zitierendem Text: die Montage. Der Begriff der Montage indiziert in erster Linie eine verminderte Integrationsleistung – oder auch: eine verminderte Integrationsbereitschaft – des zitierenden Texts: Zitate werden nicht (mehr) so in die syntaktische, semantische, darstellerische, argumentative Struktur des zitierenden Textes eingefügt, dass sich auf all diesen Ebenen eine möglichst große Kohärenz ergäbe. Vielmehr führt der bewusste Verzicht auf die Kohärenzstiftung dazu, dass Zitatmaterial aus unterschiedlichen Kontexten mehr oder weniger unvermittelt nebeneinander zu stehen kommt. In der Forschung ist dieses Verfahren als spezifisch modern ausgewiesen worden, als eine Wendung gegen das ästhetische Ideal des organisierten (organischen) Kunstwerks, das noch der Literatur des Realismus unterstellt werden konnte. Im montierten Kunstwerk, so Volker KlotzKlotz, Volker, sind Zitate »mehr als nur metrische, fremdsprachliche, stilistische Fremdkörper. Sie verkörpern externe, importierte Äußerungen, die ins Gedicht stoßen, um es mit abwesenden Lebensbezirken zu verklinken« (KlotzKlotz, Volker, »Zitat und Montage«, 261). Als paradigmatische literarische Werke, die einer solchen Ästhetik der Montage gehorchen, können Alfred DöblinDöblin, Alfreds Roman Berlin Alexanderplatz (1929) und natürlich James JoyceJoyce, James’ Ulysses (1922) gelten sowie auf dem Gebiet der Lyrik viele Arbeiten aus dem Kontext des Dada. Es liegt auf der Hand, dass Texte, die einer Poetik der Montage gehorchen, eine deutlich größere Bereitschaft dazu an den Tag legen werden, anderssprachige Zitate im Original anzuführen. Das wird am Ulysses augenfällig, der eine sehr hohe Zahl anderssprachiger Zitate aus dem Lateinischen, Deutschen, Französischen, Italienischen usw. aufweist. Ähnliches gilt für die Werke von Ezra PoundPound, Ezra und T.S. EliotEliot, T.S., die auf dem Gebiet der Lyrik die wohl prominentesten Beispiele für die montageartige Zitation anderssprachiger (literarischer) Quellen sind. So haben etwa in EliotsEliot, T.S. The Waste Land (1922) die in den Text eingefügten »Sprach- und Stilechos der toten Autoren« der Forschung zufolge die Funktion, »[a]lles Vergangene […] gleichzeitig in die Anwesenheit zu rufen und zur gegenwärtigen Geltung zu bringen« (HillgärtnerHillgärtner, Rüdiger, »Das Zitat in T.S. EliotsEliot, T.S. Waste Land«, 113; siehe auch das Anwendungs-/Analysebeispiel 2 in V.1). Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass Eliots Langgedicht die Tradition zugleich vergegenwärtigt und auf Abstand hält: Noch EliotsEliot, T.S. eigene Erläuterung nicht zuletzt der anderssprachigen Zitate in den Anmerkungen, die er der Buchausgabe des Waste Land beigefügt hat, lassen sich nicht nur teils ironisch lesen, sondern tragen ohnehin allenfalls mittelbar zur Erschließung der Verbindung bei, die Zitate und zitierender Text eingehen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich, soweit dies auf der Grundlage der bestehenden Forschung abgeschätzt werden kann, eine Fortschreibung wie auch eine Radikalisierung der bereits entwickelten Verfahren der anderssprachigen Zitation feststellen. Wichtige Hinweise hierzu gibt vor allem die Arbeit von Werner HelmichHelmich, Werner. Für den französischen Sprachraum gelten ihm insbesondere Texte aus dem Umfeld der Autorengruppen Tel Quel und Oulipo als bemerkenswert. So ist den Romanen des französischen Tel Quel-Autors Philippe SollersSollers, Philippe ein ausschweifender Umgang mit anderssprachigen Zitaten eigen. SollersSollers, Philippe arbeitet mit der subversiven Verformung des Zitatmaterials, das gerne lateinischen theologischen Schriften entnommen ist (HelmichHelmich, Werner, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 386–389) – etwa in der folgenden Parodie des Vaterunser: »mater nostra qui est in terra fiascoït voluptas tua« (zit. nach ebd., 389). Georges PerecPerec, Georges, Mitglied von Oulipo seit 1967, zitiert in seinem Roman La vie mode d’emploi (1978) neben literarischen Texten eine Vielzahl von oft auch anderssprachigen »alltagsgeschichtliche[n] Auf- und Inschriften« (ebd., 357), die als »Zitat-Objekt[e]« und in ihrer Fremdartigkeit »blinde Motive aus einer nicht romanhaft geschlossenen Lebenswelt« (ebd., 358) darstellen. Maurice RocheRoche, Maurices Romane Compact (1966) und Circus (1972) bestehen zu sehr großen Anteilen aus Zitatmontagen, die unterschiedlichste Quellen wie Sprachen einbegreifen, ohne dass sie notwendigerweise erzählerisch (oder sonst durch den darstellerischen Kontext) integriert würden (ebd., 382–386). HelmichHelmich, Werner hat in Roches clusterförmigen Zitatanordnungen immerhin eine gewisse Homogenität des jeweils evozierten »Bildfeld[s]« (ebd., 383) ausgemacht und deutet die anderssprachigen Zitate als Teil einer Strategie, die Entlarvung der »Sprachgüter der großen Kulturnationen als Ideologie« mit dem Ausdruck einer ungehemmten »Lust an der Vielfalt der Sprachen, Schriften und Zeichen« (ebd., 386) zu verbinden. Im deutschsprachigen Raum nennt Helmich als herausragenden Autor Arno SchmidtSchmidt, Arno, der seine Romane mit einem dichten Gewebe aus oft anderssprachigen Zitaten überzieht und zu dessen bevorzugten Referenzautoren nicht zufällig James JoyceJoyce, James zählt. In Abend mit Goldrand (1975) greift (wie auch in anderen Texten SchmidtSchmidt, Arnos) die Zitathaftigkeit der Rede des (gebildeten) Ich-Erzählers auf die Rede der anderen Figuren über – gegen jede darstellerische Wahrscheinlichkeit. Diese »Intertextualitätspoetik« baut auf dem Bewusstsein auf, dass »letztlich alles Zitat ist« (ebd., 414–418, hier 418). In der italienischen Literatur sind, neben den Romanen Umberto EcosEco, Umberto, vor allem die Werke Edoardo SanguinetiSanguineti, Edoardos von anderssprachigem Zitieren geprägt (ebd., 199–203 sowie 495–500). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist schließlich erneut die antike Tradition des Cento aufgegriffen worden; HelmichHelmich, Werner nennt als Beispiel einen polnisch-deutsch-englisch-französisch-italienischsprachigen Cento von Konstanty Jeleński Jeleński, Konstanty von 1986 (ebd., 52) und Bernardo SchiavettasSchiavetta, Bernardo mehrsprachigen »Lyrik-Generator«, der einen »prinzipiell unbegrenzt erweiterbaren Cento aus lauter Zitaten in echten und erfundenen Sprachen« (ebd., 526) erzeugt.
Eine entscheidende Rolle spielt das anderssprachige Zitat schließlich in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Pop seit den 1970er Jahren, die sich insgesamt durch ein hohes Maß an Zitathaftigkeit sowie die Anwendung von Montagetechniken auszeichnet. Im deutschen Sprachraum ist hier zunächst an Autoren wie Rolf Dieter BrinkmannBrinkmann, Rolf Dieter zu denken, dessen Texte die Nähe zu Pop-Art wie Pop-Musik suchen und, beispielsweise in den Rom-Gedichten in Westwärts 1&2 (1975), die präzise Beobachtung und Wahrnehmung des großstädtischen Lebensraums mit Ausschnitten von Zitaten aus Alltagstexten und -aufschriften verbinden (Dembeck, »›No pasaran‹«, 25–36). Auch spätere Texte aus dieser Traditionslinie zeichnen sich durch intensive Zitathaftigkeit aus, beispielsweise seit den 1980er Jahren diejenigen von Rainald GoetzGoetz, Rainald oder Thomas MeineckeMeinecke, Thomas, die sich beide auf die jeweils aktuelle Theorielandschaft ebenso ausgiebig beziehen wie auf Pop-Musik und die dabei anderssprachige (meist englischsprachige) Quellen ausführlich zu Wort kommen lassen. Klaus ModickModick, Klaus, der als »Popliterat avant la lettre« (Parr, »Vom Lesen und Schreiben und Leben«) bezeichnet worden ist, integriert in seine Erzählung »Am Parktor« von 1989 über 80 Zitate aus in den 1960er und 1970er Jahren populären Songs, die dem Erzählen einen dichten gegenwartskulturellen Konnotationsteppich unterlegen (ebd.). Ebenso wie die wiederum jüngere Generation von Popliteraten um Benjamin von Stuckrad-BarreStuckrad-Barre, Benjamin von (siehe unten Anwendungs-/Analysebeispiel 3) oder Christian KrachtKracht, Christian wird man GoetzGoetz, Rainald, MeineckeMeinecke, Thomas und ModickModick, Klaus ein klares Bewusstsein dafür unterstellen können, dass jeder Zugriff auf Wirklichkeit und auf die im Pop beschworene Gegenwart immer schon zitathaft vermittelt ist und dass sich insbesondere individuelle Identität durch die Selektion aus zitierbarem Material konstituiert. Es wäre allerdings noch zu beschreiben, welche kulturpolitische Relevanz die Auswahl anderssprachigen Zitatmaterials im Zusammenhang von Pop hat.
c) Forschungsgeschichte
Philologie ist von jeher Zitatkunde. Daher ist die Theorie der Philologie immer auch schon eine implizite Theorie des Zitats; und vielleicht ist deswegen die Zahl der expliziten Zitattheorien so bemerkenswert gering. Die Gruppe der bedeutenden Theoretiker des Zitats ist entsprechend klein, und fast keiner der einschlägigen Texte macht sich ausführlich Gedanken über anderssprachige Zitate. Dies verwundert insofern, als neben dem Verweis auf einen anderen Text fast durchgängig ein gewisser Grad der Genauigkeit in der Wiederholung des Wortlauts dieses Textes als Definiens des Zitats ausgemacht wird. Die wörtliche Integration anderssprachigen Materials erzeugt immer eine interpretationsbedürftige Spannung im zitierenden Text, während umgekehrt die Zitation von Übersetzungen bzw. die übersetzende Zitation daraufhin befragt werden muss, inwiefern sie überhaupt wörtlich sein kann.
Für die Beschreibung der Doppelstruktur des Zitats, die auch hier zugrundegelegt wird, existieren in der Forschung unterschiedliche terminologische Vorschläge. CompagnonCompagnon, Antoine, dessen Buch nach wie vor einen zentralen Referenztext der Zitatforschung darstellt, bettet seine Theorie des Zitats in eine allgemeine Theorie der sprachlichen Wiederholung ein und bestimmt das Zitat als eine auf die parole bzw. den discours (in der Terminologie von Émile BenvenisteBenveniste, Émile) bezogene Wiederholung (CompagnonCompagnon, Antoine, La seconde main, 49–92). Dies impliziert, auch wenn CompagnonCompagnon, Antoine das nicht direkt so ausführt, eine gewisse Verweisfunktion der Wiederholung, denn als Funktion der parole bezieht sich die zitathafte Wiederholung per definitionem auf einen konkreten Äußerungskontext. Peter Horst NeumannNeumann, Peter Horst hat in einem kurzen Aufsatz mit Vorüberlegungen zu einer Theorie des Zitats »für das Verhältnis von Zitat-Objekt und Zitat-Medium eine Gleichzeitigkeit von Separation und Integration« verlangt und daraus zwei Extremtypen des Zitats abgeleitet, bei denen dann entweder »die Trennung des Eigenen vom Fremden am deutlichsten oder […] deren Verschmelzung am innigsten ist«, was einerseits beim Motto, andererseits bei der Anspielung der Fall sei (NeumannNeumann, Peter Horst, »Das Eigene und das Fremde«, 300). AntonsensAntonsen, Jan Erik Überlegungen zum Motto lassen sich damit insofern verbinden, als hier das Motto als »Insel im Text« ausgewiesen wird, das besonders offenherzig die »Signatur des Fremden« trägt (AntonsenAntonsen, Jan Erik, Text-Inseln, 49). Das Motto erweist sich so nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch aus systematischer Sicht insofern als potentiell privilegierter Ort der anderssprachigen Zitation, als es Fremdheit nachgerade verlangt.
Beim Motto ist, so ließe sich formulieren, die Gleichzeitigkeit von Wiederholung und Verweis besonders stark ausgeprägt, wie sie auch die Theoriebildung des englischsprachigen Raums als charakteristisch hervorhebt. So unterscheidet die oben zitierte Studie von KayKay, Sarah über Zitate in der Troubadour-Lyrik zwischen »citation«, also Verweis, und »quotation«, d.h., wörtlicher Wiederholung (KayKay, Sarah, Parrots and Nightingales, 2). Gary Saul MorsonMorson, Gary Saul wiederum differenziert zwischen der bloßen wörtlichen Wiederholung, die er als »extract« (Morson, The Words of Others, 80) bezeichnet, und dem eigentlichen Zitat, der »quotation«, für die charakteristisch ist, dass sie ›ein Original reproduziert‹ (»reproduce an original«) und zugleich performativ erneuert (»reenactment«; ebd., 79). Dadurch löst sich das Zitat, das laut Morson definitorisch schwer von anderen Formen der Wiederholung – »proverbs, sayings, clichés, and idioms« (ebd., 65) – zu unterscheiden ist, von seinem ursprünglichen Kontext ab und beginnt ein eigenständiges Dasein zu führen. Diese Verdoppelung des Zitats nennt Morson »twinning« (ebd., 84f.); es ist dasjenige Strukturmoment, das den Zitaten die sprichwörtlichen Flügel verleiht. Morson betont, dass sich ›quotations‹ notwendigerweise in der Benutzung verändern. Diese Veränderung ist für ihn nachgerade das Kriterium dafür, dass aus einem bloßen ›extract‹ eine ›quotation‹ wird (ebd., 92–113). Einen der unterschiedlichen Freiheitsgrade, die sich aus dieser notwendigen Offenheit für Veränderungen ergeben, bezeichnet MorsonMorson, Gary Saul als »translator’s range« (ebd., 101f.; vgl. zur »transcriber’s range« 105–108). Das Zitieren aus anderssprachigen Texten in Übersetzung stellt demzufolge eine spezifische Form der Abweichung vom Wortlaut dar. Daraus ergibt sich die bislang offene Frage, ob, und wenn ja, wie Literatur diese ›translator’s range‹ strategisch nutzt.
Die (post-)strukturalistische Theorie hat sich in unterschiedlichen Zusammenhängen mehr oder weniger ausführlich mit dem Zitat auseinandergesetzt. Auch hier steht das anderssprachige Zitat keinesfalls im Mittelpunkt des Interesses. Dennoch lassen sich den Texten durchaus einige Fingerzeige entnehmen. So hat Jacques DerridaDerrida, Jacques in seiner Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie J.L. AustinAustin, John L.s die prinzipielle Zitierbarkeit zur Voraussetzung der Konstitution von Sprachzeichen gemacht – und zugleich gezeigt, dass es gerade aufgrund dieser Zitierbarkeit (oder allgemeiner: Wiederholbarkeit, iterabilité) unmöglich ist, eine fixe Bestimmung ihrer Bedeutsamkeit vorzunehmen (DerridaDerrida, Jacques, »Signatur, Ereignis, Kontext«). Dieses Argument hat Konsequenzen auch für die Bestimmung der Sprachigkeit der Zeichen, also den Grad ihrer Zugehörigkeit zu einer (fest umrissenen) langue. Denn die für das Funktionieren sprachlicher Zeichen grundlegende Möglichkeit, in anderen Kontexten benutzt zu werden, macht an Sprachgrenzen keinen Halt. Gerade darin besteht die theoretische Relevanz des anderssprachigen Zitats. Michael HolquistHolquist, Michael hat darauf hingewiesen, dass bereits Michail M. BachtinBachtin, Michail M.s Begriff der разноречие (›Redevielfalt‹, ›heteroglossia‹), also die Eigenschaft aller Wörter, in ihrer Bedeutung grundsätzlich von dem konkreten Kontext abhängig zu sein, eine strikte Wendung gegen das Konzept der langue impliziert (HolquiHolquist, Michaelst, »What Would BakhtinBachtin, Michail M. Do?«, ein entscheidender Bezugstext ist BachtinBachtin, Michail M., »Das Wort im Roman«). Bachtins Überlegungen, die auch die Grundlage für Julia KristevasKristeva, Julia Prägung des Begriffs der Intertextualität gewesen sind, könnten dazu benutzt werden, gerade dem Zitat, und sei es in seinen Minimalformen, das Potential zuzuschreiben, auf dem Wege der Wiederholung von parole/discours jede Grenze von Sprachigkeit/langue merklich oder unmerklich zu überwinden.
Dubravka Oraić TolićOraić Tolić, Dubravka hat in einer vielbeachteten Monographie im Rückgriff auf BachtinBachtin, Michail M. und KristevaKristeva, Julia den Begriff der »Zitathaftigkeit« (kroat. »citatnost«) (Oraić Tolić, Das Zitat in Literatur und Kunst, 19) geprägt, der »jene intertextuelle Beziehung« bezeichnet, »die sich über das Prinzip der Übereinstimmung oder der Äquivalenz zwischen dem eigenen und dem fremden Text vermittelt« (ebd., 29). Oraić Tolić erwähnt an einer Stelle das Vorkommen von »interlingualen Zitaten« (ebd., 42), ohne allerdings weiter auf die Charakteristik eines solchen Zitierens einzugehen. Interessanter dürfte für die weitere Erforschung des anderssprachigen Zitats etwa ihre Unterscheidung zwischen einer »organischen, geschlossenen Komposition« auf der einen und einer »offenen, montagehaften Konstruktion« (ebd., 69) auf der anderen Seite sein, die zwei Extremformen der Einbindung von zitiertem Text in den zitierenden Text bezeichnen. Oraić TolićOraić Tolić, Dubravka zeigt auf, dass das erste Verfahren (vergangene) Kultur als »SCHATZKAMMER« (ebd., 70) betrachtet, während das zweite von einer »TABULA RASA« (ebd., 71) ausgeht, also davon, gänzlich frei über die Tradition verfügen und sie zitierend von ihren Ursprüngen ganz ablösen zu können. Dabei schreibt sie das zweite Verfahren vor allem den europäischen Avantgarden zu. Die Unterscheidung könnte insofern für die Erforschung des anderssprachigen Zitats von Interesse sein, als die Entscheidung über die Übersetzung oder Nicht-Übersetzung in Abhängigkeit vom kulturpolitischen Stellenwert der Originalsprache sehr unterschiedliche Auswirkungen haben kann. So unterscheidet sich etwa die Einbindung von anderssprachigen Bildungszitaten im realistischen Roman gerade in darstellungstechnischer Hinsicht stark von derjenigen in JoyceJoyce, James’ Ulysses. In der Tat unterhält dieser Text ein gänzlich anderes Verhältnis zur Tradition, als es die realistischen Texte tun. In beiden Fällen wird man aber genauer zu bestimmen haben, inwiefern die zitierte Tradition in ihrer Bindungskraft (›Schatzkammer‹) und inwiefern sie in ihrer freien Verfügbarkeit fokussiert wird. In beiden Fällen wird, wenn auch je anders, grundsätzlich beides der Fall sein.
Mit Blick auf die kulturelle Wertigkeit von Zitaten unterscheidet Oraić TolićOraić Tolić, Dubravka zwei Funktionen, die ein zitathafter Text haben kann, nämlich diejenige der »Repräsentation des fremden Textes und der fremden Kultur« von derjenigen der »Präsentation seiner selbst und seiner Kultur« (ebd., 73). Sicherlich ist der Kulturbegriff, der diesen Formulierungen zugrundeliegt, angreifbar. Allerdings wird man davon ausgehen können, dass die Zitation anderssprachiger Quellen in Abhängigkeit davon, wie sie erfolgt, mit Blick auf die ihr potentiell innewohnende Konfiguration von Kulturdifferenz hin untersucht werden kann und muss. In dieser Hinsicht ließe sich auch Elke Sturm-TrigonakisSturm-Trigonakis, Elke’ Hinweis darauf verstehen, dass »Transtextualität« ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit darstellen dürfte (Sturm-TrigonakisSturm-Trigonakis, Elke, Global Playing, 139). Ob allerdings der einzige Effekt solcher Transtextualität, also der Bezugnahme auf anderssprachige Texte, in der »Entkanonisierung« (ebd., 155), also der Auflösung bestehender Kanones, besteht, darf insofern bezweifelt werden, als das Zitieren grundsätzlich der (wenn auch womöglich alternativen) Kanonbildung zuarbeitet. So ließe sich beispielsweise für den Gebrauch fremdsprachiger Zitate in Tageszeitungen zeigen, dass sie eine eigene Form von Kanonisierung darstellen, wenn dieser Kanon auch einer des Gebrauchs und nicht der literarästhetischen Wertung ist. Ähnliches gilt für das Zitieren von (beispielsweise englischsprachigen) Songtexten in der (beispielsweise deutschsprachigen) Popliteratur bei Klaus ModickModick, Klaus, Benjamin von Stuckrad-BarreStuckrad-Barre, Benjamin von und Rainald GoetzGoetz, Rainald.
In literaturhistorischer Hinsicht findet sich eine große Fülle von Studien, die auf einzelne anderssprachige Zitate eingehen, was sich allein schon daraus erklärt, dass die Erläuterung solcher Zitate eine der vordringlichsten Aufgaben des Stellenkommentars ist. Fallweise mag dabei auch über die Entscheidung, den Text entweder im Original oder in Übersetzung wiederzugeben, nachgedacht werden. Es scheint allerdings bislang durchaus an Versuchen zu mangeln, diese Entscheidung zur Grundlage literaturhistorischer Darstellungen zu machen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung stellt die sehr umfassende und materialreiche Studie von HelmichHelmich, Werner dar, die sich dem Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur widmet und die mehr oder weniger systematisch auch anderssprachige Zitate untersucht. Helmich beschreibt die »umfassende Bedeutung des fremdsprachigen Zitats als […] Evokation der Welt der Literatur« (ebd., 37). Damit ist offenbar einerseits die »literarisch[e] Sonderwelt« (ebd., 40) im Unterschied zu anderen (kulturellen oder gesellschaftlichen) Welten gemeint, andererseits aber auch ›Welt‹ im Sinne des Gesamthorizonts menschlicher Sprachlichkeit wie Sprachigkeit. In systematischer Hinsicht bietet HelmichHelmich, Werner – neben der Vermutung, es falle Autoren zuweilen durch Zitate leichter, auf grammatisch korrekte Art und Weise andere Sprachen erscheinen zu lassen (ebd., 547) – im Sachregister seines Buches noch weitere begriffliche Differenzierungen: »Bibelzitat; Bildungszitat; Literaturzitat; Pseudozitat; Verehrungszitat«, das »Zitat […] als Erzähler- oder Figurenrede«, das »Zitat […] als Generator der Diegese«, die »Zitatentstellung« und die »Zitatmischung aus fremdsprachigen Quelltexten« (ebd., 633). Darauf muss die zukünftige Forschung erst noch aufbauen.
d) Anwendungs-/Analysebeispiele
(1) Wilhelm RaabeRaabe, Wilhelms 1876 erschienene Erzählung Horacker ist, wie viele andere Texte des Autors, gespickt mit einer Vielzahl von (literarischen) Zitaten, überwiegend aus dem Lateinischen und Deutschen. Überdies handelt es sich aber um einen Text, der das Zitat und das Zitieren wie auch den Stellenwert der humanistischen Erziehung auf vielfache Art zum Thema macht. Dabei wird das Zitat mit dem Gerücht in Verbindung gesetzt.
Die Geschichte, die erzählt wird, ist im Grunde sehr einfach: Zwei Lehrer, Eckerbusch (Latein) und Windwebel (Zeichnen), überreden bei einer Wanderung von ihrer Stadt durch den Wald zum Haus eines befreundeten Pfarrerehepaars den seiner Besserungsanstalt entflohenen Cord Horacker dazu, sich zu dem Pfarrer seines Heimatdorfes zu begeben, wo er auf seine – ihrerseits ihrer Herrschaft entflohene – Jugendliebe Lotte Achterhang trifft. Dramatik gewinnt die Erzählung aber dadurch, dass über Horacker schlimme Gerüchte im Umlauf sind, die von den Zeitungen weiterverbreitet werden und ihn zu einem Mörder und Räuber stilisieren; Nachrichten, die auch der Anlass dafür sind, dass Lotte ihre Herrschaft verlässt. Erste Erzählungen vom Treffen der Lehrer mit Horacker wachsen sich in der Stadt zu dem Gerücht aus, Horacker habe die beiden ermordet, was auch deren Gattinnen in Bewegung setzt, so dass sich letztlich das gesamte Personal der Erzählung im Pfarrhaus zusammenfindet.
Der Text übt ganz offenkundig Medienkritik, nämlich insofern gerade den Zeitungen und ihrem neuen Hilfsmedium, dem Telegraphen, ein verantwortungsloser Umgang mit Gerüchten unterstellt wird; darin liegt auch eine Kritik an der deutschnationalen Bewegung zur Zeit der Handlung (zwischen dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 und dem deutsch-französischen Krieg 1870/71) wie auch der Publikation (1876, also fünf Jahre nach Reichsgründung). Die Deutschnationalen sind in der Erzählung durch den bornierten Lehrerkollegen Neubauer vertreten, der in seiner Freizeit eine »Sechsundsechsiade«1Raabe, WilhelmHoppe, Karl in Hexametern verfasst. Der Vorwurf an den deutschen Nationalismus ließe sich vielleicht dahingehend zuspitzen, dass dieser durch die mediale Manipulation der öffentlichen Meinung die Bevölkerung auf eine Art und Weise in Bewegung setzen will, die strukturell der Funktionsweise des Gerüchts kongruent ist. Schließlich stellt der Text eine Auseinandersetzung mit der Idylle dar, verstanden sowohl als literarisches Genre wie auch als Lebensform. Man könnte die humoristisch-resignierte Volte des Textes darin sehen, dass in der Einsicht in die Unzulänglichkeit der eigenen Urteilskraft und der eigenen moralischen Integrität zumindest die Chance liegt, dem überwältigenden Druck der im Text immer bewusst gehaltenen, alles beeinflussenden Großwetterlagen der modernen (politischen) Welt zum Trotz eine, allerdings immer prekäre und instabil bleibende, Sphäre von Geborgenheit zu erzeugen.2Simon, RalfGöttsche, DirkKrobb, Florian
RaabeRaabe, Wilhelms Erzählung weist eine sehr hohe Dichte an Anspielungen und Zitaten auf, und eine Vielzahl von ihnen hat mit Anderssprachigkeit zu tun. Im Kommentar der Braunschweiger Ausgabe von Hans ButzmannButzmann, Hans und Hans OppermannOppermann, Hans finden sich Erläuterungen zu 11 klassischen, lateinischen Zitaten, 13 Anspielungen auf die klassische Antike oder klassisch-antike Texte, 29 sonstigen lateinischen oder griechischen Formulierungen, die allerdings größtenteils den Charakter von ›geflügelten Worten‹ haben, und 31 sonstigen (literarischen) Zitaten und Anspielungen.3Raabe, WilhelmRaabe, WilhelmScharrer, Walther Teils sind diese in die Figurenrede integriert, teils benutzt sie auch der Erzähler selbst. Dabei ist für die unterschiedlichen Gruppierungen, die in der Geschichte aufeinandertreffen, ein jeweils unterschiedlicher Umgang mit dem Zitat und mit der Anderssprachigkeit charakteristisch.
Besonders der Lateinlehrer Eckerbusch, in geringerem Maße sein Kollege Windwebel sowie der Pfarrer, greifen routinemäßig auf klassische Zitate zurück, die zu einem nicht geringen Teil zugleich auch geflügelte Worte im Sinne BüchmannBüchmann, Georgs, nämlich Konversationswissen über Sprachgrenzen hinweg sind. Das Zitat ist hier das Universalmedium der humoristischen Bewältigung des Lebens. So zeigt sich Windwebel, als er sich in einer schwierigen Situation befindet und auf ein SchillerSchiller, Friedrich-Gedicht anspielt, »durch das Zitat wenigstens als ein klassisch gebildeter Mensch in seiner Ratlosigkeit«.4Raabe, Wilhelm Und Eckerbusch erzählt seinem Kollegen Windwebel folgendermaßen von der Verlobung mit seiner Frau Ida:
Sie haben […] manche schöne Stelle kennengelernt, lieber Freund; was mich anbetrifft, so habe ich in keinem Klassiker eine schönere als diese hier ausfindig gemacht. Stellen Sie’s sich nur vor; da, wo Sie stehen, stand ich auch einmal, und hier, wo ich sitze, saß meine nunmehrige langjährige Proceleusmatica [Ida]. ›Aura veni!‹ rief ich; denn es war ein sehr schwüler Sommerabend und ein kühlendes Lüftchen höchst erwünscht. Aber was sagte meine Prokris – nein, ich will doch lieber sagen meine Ida? ›O Gott, Herr Kollaborator – lieber Werner, ist es denn wirklich und wahrhaftig dein Ernst? Nun dann habe ich auch nichts dagegen!‹… Und, Windwebel, so purzelten wir aus den ›Metamorphosen‹ nach Gottes Willen mitten hinein in die ›Ars amatoria‹ und gingen hinunter in die Stadt und sagten es den Eltern.5
Eckerbusch zitiert hier, angesichts der Hitze, aber wohl auch aus Aufregung, aus OvidOvids Metamorphosen den Satz des Cephalos, ›Aura veni!‹, wörtlich: ›Luft, komm!‹, Ida aber missversteht dies als Versuch eines Heiratsantrags – und hat damit Eckerbuschs Intention wohl korrekt erfasst. Die Ironie des Zitats besteht nicht zuletzt darin, dass bei OvidOvid die Frau des Kephalos, Procris, das Wort ›Aura‹ ebenfalls missversteht – allerdings mit weniger glücklichen Folgen, denn sie vermutet darin den Namen einer Nebenbuhlerin.6Althaus, ThomasGöttsche, DirkKrobb, Florian
Sämtliche Vertreter der ›alten‹, vor-nationalistischen, humanistischen Tradition in der Erzählung benutzen ihre Zitate im Bewusstsein der unhintergehbaren historischen Differenz, die diese Episode paradigmatisch vor Augen führt: Angesichts der Kontingenz des Lebens und zumal des medial gesteigerten Bewusstseins dafür, einem dynamisierten Weltgeschehen unterworfen zu sein, kann der Rückgriff auf die Tradition immer nur eine scheinbare Rückversicherung darstellen, und es hängt viel davon ab, sich diese Scheinhaftigkeit bewusst zu halten. Den umgekehrten Fall, nämlich den gänzlich humorlosen und ironiefreien Rückbezug auf die Tradition mit dem Ziel der systematischen Absicherung der eigenen Position, verkörpert der deutschnational gesinnte Oberlehrer Neubauer. Dass seine ›Sechsundsechsiade‹ ausgerechnet in Hexametern verfasst ist, zeigt, dass die ›neue‹ Generation keineswegs auf Tradition verzichtet, sondern nur anders über sie zu verfügen sucht. Der Text weist aber subtil darauf hin, dass die souveräne Form, die hier gesucht wird, einer letztlich gewalttätigen Identitätspolitik gehorcht – wenn etwa Neubauer vorgestellt wird, wie er »[d]en letzterzeugten Hexameter der Sechsundsechsiade auf der Rückfläche der linken Hand nachfinger[t] und das Wort Predsmirzitz nochmals nachkostend hineinskandier[t]«.7Raabe, Wilhelm Von Neubauer heißt es, er halte es für »die höchste Bildung«, wenn jemand »in jeder Lage und unter jeglichem Geschrei, Gewirr und Gewinsel das eigene Leben als eigenes Kunstwerk« ansehen und »den Faden in der Hand« behalten kann, »an welchem, sonderbarerweise, das Schicksal auch sie hält.«8 Der inhumane Grundzug dieser Lebenshaltung offenbart sich in Neubauers Reaktion auf das Gerücht, seine Kollegen seien ermordet worden. Auch wenn Neubauer das Gerücht kalt lässt, tut er nichts dafür, die Gattin Windwebels zu beruhigen – im Gegenteil. Eckerbuschs Gattin straft sein Verhalten auf einer anschließenden gemeinsamen Kutschfahrt nicht zuletzt mithilfe eines dem Gatten abgelauschten gelehrten Zitats: »Qwusqwe abbuttereh Patienziam Catilinam?«9
Wie Neubauer ist die gesamte ›alte‹ Generation, Ida Eckerbusch eingeschlossen, immun gegen das Gerücht. Sie ist in ihrer humoristischen Grundhaltung zugleich ein klein wenig korrupt. So fährt der Staatsanwalt, der ihr ebenfalls zuzurechnen ist, nur deshalb aus der Stadt ins Pfarrhaus, um den Gerüchten über die Ermordung der beiden Lehrer auf den Grund zu gehen, weil er vermutet, dort seine Tabakdose vergessen zu haben. Und der Pfarrer ist sehr interessiert daran, eine ihm von den Bauern seines Dorfs auf der Grundlage alter Dokumente nachgewiesene Verpflichtung loszuwerden. Hier macht sich eine gewisse Neigung dazu bemerkbar, eigenmächtig mit der Überlieferung umzugehen, auf die man sich zugleich beruft – als rechtfertigte die Korrumpiertheit der Tradition diesen seinerseits korrupten Zugriff auf sie. Keineswegs ist das humoristische Klassikerzitat also unschuldig, ja, es wird indirekt sogar die Philologie selbst als eine Spielart des Gerüchts, der wohl korruptesten Art und Weise der Überlieferung, ausgewiesen: »Also«, heißt es an einer Stelle, »ging die grause Mär mit den dazugehörigen und daraus erwachsenden Kommentationen herum in dem in holdestem Abendsonnenschein daliegenden Städtchen.«10 Was aber ist charakteristischer für humanistische Bildung als die Kombination aus Zitat und Kommentar – das Grundelement einer jeden Gerüchtebildung?
Dennoch: Gegenüber der unmenschlichen Souveränität Neubauers und der Deutschnationalen bleibt der korrupte und manchmal vielleicht auch selbstgerechte, humoristische Zugriff auf die Tradition, wie ihn Eckerbusch und die Seinen verkörpern, zumindest in dieser Erzählung die sympathischere Variante der Bewältigung von Moderne. Vielleicht liegt das nur daran, dass sie auf einer ausgesprochen pessimistischen Lehre aus der Geschichte fußt: »Ach, die Welt ist eben ohne jegliche Rücksicht auf das Sittengesetz und die Ästhetik ganz antiquarisch, d.h. vom Anfang an darauf gegründet, daß eine Spinne die andere frißt!«11
(2) »No pasaran« – diese Worte finden sich, und zwar in eben dieser ›fehlerhaften‹ Form, also ohne Akzent auf der letzten Silbe von »pasaran«, in CelansCelan, Paul berühmtem Gedicht »Schibboleth« aus Von Schwelle zu Schwelle (1955).12Celan, PaulGehle, Holger Das Zitieren der anti-faschistischen Parole aus dem Spanischen Bürgerkrieg hat handfeste politische Implikationen. Zugleich verweist der Titel des Gedichts auf eine Problematik der kulturellen Differenz, denn die Eigenart, das Wort »Schibboleth« nur so oder auch anders aussprechen zu können, offenbart nach dem Buch der Richter (Ri 12, 5f.) die kulturelle Identität eines Sprechers. Insofern mit dem Schibboleth zugleich die Redeweise der Lyrik selbst angesprochen ist, stellt das fehlerhafte, die Betonung des Wortes verändernde ›Spanisch‹ im ›deutschen‹ Gedicht eine unmittelbare Verbindung zwischen der lyrischen Form und den Politiken der kulturellen wie sprachlichen Differenz her.
»Schibboleth« findet sich etwa in der Mitte des Zyklus »Inselhin«, der den Band Von Schwelle zu Schwelle abschließt.
Schibboleth
Mitsamt meinen Steinen,
den großgeweinten
hinter den Gittern,
schleiften sie mich
in die Mitte des Marktes,
dorthin,
wo die Fahne sich aufrollt, der ich
keinerlei Eid schwor.
Flöte,
Doppelflöte der Nacht:
denke der dunklen
Zwillingsröte
in Wien und Madrid.
Setz deine Fahne auf Halbmast,
Erinnrung.
Auf Halbmast
für heute und immer.
Herz:
gib dich auch hier zu erkennen,
hier, in der Mitte des Marktes.
Ruf’s, das Schibboleth, hinaus
in die Fremde der Heimat:
Februar. No pasaran.
Einhorn:
du weißt um die Steine,
du weißt um die Wasser,
komm,
ich führ dich hinweg
zu den Stimmen
von Estremadura.
Es handelt sich bei dem »No pasaran« um ein Losungswort, einen politischen Slogan, der dazu dient, sich als Verfechter eines politischen Programms zu erkennen zu geben. Es scheint so auch zunächst, anders als das »Schibboleth« im Buch der Richter, niemanden zu verraten. Die dargebotene Szene ist mit nur sehr wenigen Kontextinformationen bemerkenswert klar zu rekonstruieren, dank der Anspielungen auf den »Februar« und auf »Wien und Madrid«. Die Monatsangabe verweist einerseits auf die letztlich erfolglosen sozialistischen Aufstände gegen die erstarkenden autoritären Bewegungen in Österreich im Februar 1934 und in Spanien im Februar 1936. Andererseits erinnert sie daran, dass das FrancoFranco, Francisco-Regime am 13. Februar 1939 die Beteiligung am republikanischen Widerstand gegen die faschistische Bewegung, dessen Parole das »No pasarán« war, auch rückwirkend unter Todesstrafe stellte, was tausende Hinrichtungen zur Folge hatte. Es handelt sich bei dem Gedicht also klar um die Darstellung einer Hinrichtung. Das Losungswort, mit dem sich der Hinzurichtende »in der Mitte des Marktes« zu erkennen geben will, ist aber zugleich eine Behauptung; »no pasarán« besagt so viel wie ›sie [die Faschisten] werden nicht durchkommen‹. Wenn auch die Feinde denken könnten, sie hätten diese Behauptung durch ihren Sieg widerlegt, versucht das Bekenntnis zu ihr, in den Moment der Niederlage, die in der Hinrichtung gipfelt, ein Moment von Selbstbehauptung einzuschreiben. Denn auf die Möglichkeit des Bekennens als solche haben die Feinde keinen Zugriff gewonnen – gerade dies aber muss ihnen uneinsichtig bleiben. Und in genau diesem Sinne ist »No pasaran« ein ›echtes‹ Schibboleth. DerridaDerrida, Jacques hat darauf hingewiesen, dass das Wort ›Schibboleth‹ für die Möglichkeit einsteht, sprachlichen Differenzen, die scheinbar keine Bedeutung haben, dennoch Bedeutung zuzumessen. Damit ist das Schibboleth eben nicht mehr nur ein Kennzeichen, an dem man sich verrät, sondern umgekehrt auch eine unmerkliche Nuance, in der sich etwas Signifikantes verbergen kann.13Derrida, JacquesCelan, Paul In CelansCelan, Paul Gedicht ist die Behauptung, die das »No pasaran« aufstellt, wahr, wenn den Feinden, die es hören und auch hören sollen, dennoch diese entscheidende Nuance, auf die es aber gerade ankommt, unvernehmbar bleibt. Sie muss es aber bleiben, weil sie eine Form der persönlichen Unantastbarkeit verkörpert, an welche die Feinde nicht glauben. Insofern geraten die Feinde in diesem Gedicht in die Rolle der Ephraimiter: Sie sind unempfindlich für das Schibboleth – und verraten sich so. Das Schibboleth soll in diesem Gedicht also ein Wort sein, das sich dem Zugriff derjenigen entzieht, die um eines Wortmerkmals wegen willens sind zu töten.
Die Gesamtanlage des Zyklus »Inselhin« legt es nahe, die Figur des Schibboleth, wie es DerridaDerrida, Jacques tut, als Metapher für die hier entworfene Dichtung selbst zu lesen. Denn die Gedichte sind durchsetzt von Reflexionen auf das Wort und das Sprechen in seinem (buchstäblichen) Bezug auf Leben und Tod, die aus einem dichten Bezugsgeflecht aus Motiven, Argumenten und Imperativen herausstechen.14 DerridaDerrida, Jacques hat die Doppeldeutigkeit des Schibboleth als Erkennungszeichen sehr genau beschrieben: »Ob nun als Parole oder Losungswort im Kampf gegen Unterdrückung, Ausschließung, Faschismus, Rassismus, kann der differentielle Wert des Schibboleth umkippen ins Gegenteil, die Bedingung für Verbündung und Gedicht in diskriminierende Einschränkung, polizeistaatliche Methoden, Gleichschaltung und Bespitzelung ausarten.«15Derrida, Jacques Gegen den Versuch, das »No pasaran« (oder jedes andere Wort) als Erkennungsmerkmal festzulegen und so die Zugehörigkeit von Einzelnen zu einer Gruppe zu bestimmen, entwerfen »Schibboleth« und die Gedichte, die es umrahmen, einen Umgang mit dem Erkennungswort, der es ermöglicht, jenseits jedes verallgemeinernden Bekenntnisses das unzugängliche Singuläre des Einzelnen zu bergen. Der Zyklus »Inselhin« fordert so (sich selbst) zu einem poetischen Engagement jenseits bekennender Festlegung auf, bei allen Risiken, welche die zwingende Wörtlichkeit dieses Engagements impliziert.
Was bedeutet vor diesem Hintergrund die einfache Tatsache, dass »No pasaran« ein Zitat aus dem Spanischen ist? Zunächst ließe sich formulieren, dass der lyrische Text, will er rettendes, engagiertes Wort sein, sich gegen jede Festlegung verschließen muss, die eine ontologisierende Vereinnahmung mit sich bringen könnte. Dieser Zwang führt einerseits zu einer schattenhaften ›Hermetik‹, zu einer (sich) nicht festlegenden Redeweise, die dazu zwingt, Sinnstrukturen nur mehr aus den im Text vollzogenen Operationen der Bedeutungsverschiebung, -verzeichnung und -negation zu erschließen. Andererseits ergibt sich die Notwendigkeit, die poetische Form auf eine sehr spezifische Art zu handhaben. Das Gedicht bietet – auf den ersten Blick im Kontext des Zyklus ungewohnt – fast volksliedhafte, klassisch-romantische, mehrheitlich daktylische Formen (dreihebig, nahezu durchgängig zwei Senkungen, abwechselnd weibliche und männliche Kadenzen, bis auf den ersten Vers mit Auftakt). Dieser Rhythmus klingt in allen vorangehenden Gedichten immer wieder an, denn der Zyklus formt fast durchgängig flexibel Verszeilen nach dem Prinzip der Alternation mit ein oder zwei Senkungen, wobei die Doppelsenkungen entschieden zur Dynamik der Reihen beitragen. So ergibt sich eine an den Satzrhythmus angepasste, dennoch sehr sinnfällige Redeweise, die ebenso präzise wie unauffällige Sinnsegmentierungen durch die sehr variablen Versgrenzen vornimmt. Ein Effekt dieser Versbauweise ist, dass sich über die Versgrenzen hinweg immer wieder klassische längere Versmaße hören lassen, insbesondere Hexameter. Das ist gerade in »Schibboleth« der Fall – und darin liegt eine bestechende Konsequenz: Wenn das Gedicht zum erinnernden Bekenntnis im Zeichen des »No pasaran« aufruft, so ist es kein Zufall, wenn es hin und wieder in das epischste aller Versmaße fällt. Auch die vier Verse unmittelbar vor dem Vers, in dem das Schibboleth namhaft gemacht wird, bilden zwei Hexameter, die folgende Versgruppe besteht ›fast‹ aus zwei weiteren – der erste umfasst nur fünf Versfüße, was dem Höreindruck aber kaum Abbruch tut. Der Vers »Februar. No pasaran« selbst könnte sich als doppelter Choriambus ›symmetrisch‹ dazwischen fügen; er stünde dann für sich im Gedicht, ragte aus der Erzählung davor und danach heraus; zugleich aber wäre er der in sich symmetrisch organisierte formale Angelpunkt, um den sich das Gedicht in seinem epischen Tonfall drehte.
Dieser in sich sehr stimmigen Deutung der metrischen Form des Gedichts steht nur ein Detail entgegen: Denn es fehlt sowohl in allen acht überlieferten Handschriften des Gedichts als auch in der Erstausgabe und weiteren Ausgaben der Akzent auf »pasarán«, der anzeigt, dass das Wort auf der letzten und nicht auf der vorletzten Silbe betont wird. Für die Deutung des Gedichts wird in diesem Moment die Frage entscheidend, ob es sich bei dem fehlenden Akzent um einen Fehler handelt oder um eine Figur, ob der ›Fehler‹ also gewollt und damit ein Stück weit kein Fehler mehr ist. Sobald diese Frage auftaucht, weiß man nicht mehr, ob und wie sich das Losungswort in die Gedichtlandschaft einfügt. Die Parole, die man zu kennen und zu verstehen meint, wird fremd gemacht, ihr wird eine Nuance vielleicht genommen oder vielleicht gegeben, die im Umgang mit dem riskanten Wort entscheidend sein könnte. Das Schibboleth, das rettendes Wort sein will, sich aber gerade deshalb nie wird festlegen dürfen, macht sich selbst im entscheidenden Moment unlesbar und torpediert so jene epische Erinnerung, zu der es zugleich anhält. Gegen die eindeutige Festlegung auf ein eindeutiges Merkmal markiert der Text an einer Stelle, wo er darauf aufmerksam macht, dass es auf dieses Merkmal gerade ankommt, seine Offenheit – er schließt sich in dieser Offenheit ab gegenüber dem festlegenden Zugriff: ›no pasarán‹! Er kann dies, weil der fremde Ton des anderssprachigen Zitats den Zweifel an seiner Festlegbarkeit manifest werden lässt.
(3) Soloalbum, der 1998 erschienene Debütroman von Benjamin von Stuckrad-BarreStuckrad-Barre, Benjamin von, enthält in großer Dichte Zitate von Songtiteln und/oder -texten, die durchgängig im englischen Original wiedergegeben werden. Die Zitate haben dabei einerseits diegetische Funktion, denn der Ich-Erzähler ist mit seinem ganzen Leben, insbesondere aber seinen Beziehungen, unmittelbar auf Popmusik bezogen und gibt großzügig Auskunft über seine Einstellungen zu unterschiedlichen Bands, Genres und deren jeweiligen Fans. Andererseits ist der Roman auf paratextueller Ebene durch anderssprachige Zitate strukturiert: Sämtliche Kapitelüberschriften sind Songtitel der britischen Band Oasis, oft solche, von denen dann auch irgendwo im Roman (aber immer in einem anderen Kapitel als dem mit dem jeweiligen Song überschriebenen) die Rede ist. Der Roman baut also paratextuell parallel zum Erzählen eine Playlist auf. Auch in der Aufmachung sucht das Buch die Nähe zum Format der Schallplatte: Es ist unterteilt in eine A- und eine B-Seite, und den Hintergrund des Inhaltsverzeichnisses bildet die graue Kontur von zwei Schallplatten(seiten) bzw. CDs (vgl. dazu Parr, »Literatur als literarisches (Medien-)Leben«).
Der Titel des Romans, Soloalbum, bezieht sich aber nicht nur auf dieses Format, sondern auch auf die nicht gewollte Trennung des Ich-Erzählers von seiner Freundin, die dem Erzählten unmittelbar vorangegangen ist. Die Songtexte und -titel werden auf diese Weise mit der Bewältigung der Lebenskrise in Zusammenhang gebracht, so dass die Kapitelüberschriften durch das jeweils Erzählte motiviert sind (»Don’t Look Back in Anger«, »It’s getting Better (Man!!)«). Der ›Ton‹ des Erzählers verändert sich im Laufe des Erzählens. Gegen Ende weicht der fahrige, von Schimpftiraden und ausgiebigen, allseitigen Abneigungsbekundungen geprägte Stil des Anfangs einer etwas ruhigeren, nur noch wenig Selbstmitleid zur Schau stellenden Schreibweise.
Allerdings gilt es selbst bei dem Versuch einer oberflächlichen Inhaltsangabe zu bedenken, dass nahezu alles an und in diesem Text unter dem Verdacht stehen muss, ›nur‹ zitiert zu sein. Das Medienzitat (Buch als Schallplatte) und die Songzitate sind insofern nur die besonders gut sichtbaren Facetten einer Struktur, die für den Text insgesamt kennzeichnend ist. Der Erzähler ist ein Meister darin, die Klischee- und damit Zitathaftigkeit der Meinungen, Haltungen und Gesinnungen seiner Umgebung zu entlarven. Besonders genüsslich betreibt er dies mit Blick auf ›Hippies‹, deren angeblich wohlmeinende und ›authentische‹ Gesinnung als Attitüde ausgewiesen wird. Die Phrasen- und Zitathaftigkeit der Medienwirklichkeit illustrieren nicht zuletzt eine Reihe von Katalogen, etwa die systematische Zusammenstellung der Redaktionskommentare zum Page-One-Girl der BILD-Zeitung16Stuckrad-Barre, Benjamin von oder die Zusammenstellung der Gründe, die Band Fury in the Slaughterhouse zu hassen, die sich nahezu alle als zum Zweck der Satire vorgeführte, klischeehafte Fan-Zuschreibungen entpuppen.17 Die sich hinter der Gesinnungsphrase verbergende Leere veranschaulicht das Resümee des Erzählers über die allgemeine Bestürzung anlässlich des Todes von Lady DiDiana, Princess of Wales: »[D]ie Leute sind beim Heulen so froh, daß sie endlich mal wieder wissen, was sie fühlen sollen.«18
Ein Erzähler wie der von Stuckrad-BarreStuckrad-Barre, Benjamin von konzipierte nimmt trotz seines geradezu zur Schau getragenen Distinktionsbedürfnisses keinerlei Authentizität für sich in Anspruch, sondern forciert bewusst die bei anderen (als unbewusst) kritisierten Mechanismen der Identitätskonstitution qua Zitat. Einer Frauenzeitschriftbeilage setzt er einen eigenen Katalog mit »Singles zum Verlieben« entgegen, der die Tracklists aller Oasis-Singles enthält.19 Wenn nicht der Erzähler selbst, so doch der Roman macht die Wahl dessen, was zitiert wird, um sich affirmativ darauf zu beziehen, als kontingent kenntlich und baut insofern eine (selbst-)ironische Distanz auf. Dies gilt trotz des Pathos des Erzählers und auch trotz der Tatsache, dass er an seiner Umgebung ebenso leidet wie daran, sich selbst, d.h., den Konsequenzen seiner kontingenten, qua Zitat bewerkstelligten Identitäts(de)konstruktion nicht entkommen zu können (vgl. Parr, »Literatur als literarisches (Medien-)Leben«). Dass sich der Erzähler zur Konstitution seiner persönlichen Identität ausgerechnet auf Oasis bezieht, ist kein Zufall. Denn die Musik und mediale Inszenierung dieser Band zeichnen sich, wie Eckhard SchumacherSchumacher, Eckhard betont, ihrerseits durch ein hohes Maß an Zitathaftigkeit aus, die hier paradoxerweise gerade dazu dient, die ewige Präsenz von ›Pop‹ erlebbar zu machen (SchumacherSchumacher, Eckhard, »›Be Here Now‹«).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Relevanz der Tatsache zuzuschreiben ist, dass Oasis grundsätzlich im Original zitiert wird, bzw., ob es in irgendeiner Weise bedeutsam ist, dass eine Band im Zentrum des Romans steht, die auf Englisch singt und nicht auf Deutsch, der Hauptsprache des Romans. Natürlich spielt die kulturpolitische Konnotation des Englischen hierbei eine Rolle – England ist eben, wie der Erzähler sagt, »Popland«.20 Insofern verweisen die anderssprachigen Zitate darauf, dass Pop grundsätzlich ›woanders‹ verortet werden muss, in einer ›Oase‹ gleichsam, in der ein andersartiges Erleben möglich ist. Das bedeutet aber nicht grundsätzlich, dass Pop nicht in die Vertrautheit des Erzähleridioms übertragen werden kann. Gegen Ende des Romans gibt es eine Episode, in der genau dies getan wird: Die Gäste einer Party singen den Song »Three Lions (Football’s Coming Home)« von The Lightning Seeds21 mit einem deutschen Text, der die ursprünglich anlässlich der Europameisterschaft in England 1996 geschriebene Heimkehrhymne (der Fußball kehrt an seinen Ursprungsort zurück) auf den Bundesligisten Werder Bremen bezieht. Dem Erzähler gefällt das offenbar durchaus. Es gilt allerdings genau zu sehen, was gerade diese Übersetzung leistet: Sie nimmt die englische Anspruchsbekundung (›Fußball gehört uns‹) als ironische, also zugleich ernst und scherzhaft gemeinte Feier des Augenblicks (Europameisterschaft im eigenen Land) und eignet sie sich in ebenso ironischer Art und Weise an (immerhin hatte Deutschland die Europameisterschaft in England gewonnen). In diesem Falle wird also gerade die Übersetzung dem kulturpolitischen Impetus des zitierten Texts gerecht und demonstriert, dass das ›Woanders‹ des Pop an keinen festen Ort gebunden sein kann. So rechtfertigt sich die Sprachwahl des Romans letztlich selbst.
e) Offene Forschungsfragen
Auch wenn in der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit immer wieder auf anderssprachige Zitate hingewiesen wird und einzelne Zitate untersucht werden, stellt das Phänomen doch in systematischer wie historischer Hinsicht eines der größten Desiderate der Mehrsprachigkeitsphilologie dar. Zweifelsfrei handelt es sich um die derzeit am wenigsten beschriebene Technik literarischer Mehrsprachigkeit. Das grundlegende Problem des Gebiets besteht darin, dass zwar eine sehr große Menge an Einzelbeobachtungen zu anderssprachigen Zitaten in einzelnen Texten vorliegt, da ihre Erläuterung zu den Kernaufgaben des philologischen Kommentars gehört. Fallweise mag es auch Beobachtungen zur Motivation der Wiedergabe im Original bzw. in der Übersetzung geben. Eine Systematisierung solcher Einzelbeobachtungen, mit denen man potentiell in jedem philologischen Beitrag rechnen kann, steht aber noch aus.
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