10 Aspekte der luxemburgischen Syntax: Offene Fragen und Herausforderungen für die Zukunft
1384Vor etwa zehn Jahren formulierte Glaser (2006) ein zentrales Forschungsdesiderat für die Linguistik des Luxemburgischen: die systematische Erschließung der luxemburgischen Syntax. In dieser Arbeit konnte die Mehrheit der von Glaser (2006) benannten Einzelphänomene in ihren Grundzügen beschrieben werden. Die Herangehensweise mit einem umfangreichen Korpus ermöglichte es, unterschiedliche Formen und Funktionen der Satzbausteine herauszuarbeiten und die wichtigsten Kategorien und Prinzipien zu erläutern.
1385Es erklärt sich von selbst, dass die vorliegende Untersuchung keine „komplette“ Beschreibung der luxemburgischen Syntax darstellt. Einerseits wurde ein zuvor festgelegter Phänomenkatalog analysiert und andererseits ist die Arbeit mit einem Korpus nicht für jede Art der Fragestellung geeignet. Dennoch konnten durch eine gezielte Exploration der Korpusdaten neue Zusammenhänge und Kategorisierungen aufgezeigt werden.
1386Da sich die ausführlichen inhaltlichen Zusammenfassungen zu den einzelnen Themenblöcken immer am Ende des bezüglichen Kapitels befinden, möchte ich an dieser Stelle im Besonderen auf die offenen Fragen eingehen, die im Laufe dieser Arbeit entstanden sind. Auf diese Weise kann – rückblickend auf die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit – dargelegt werden, wie die Syntax des Luxemburgischen weiterhin als zukünftiger Forschungsgegenstand genutzt werden kann.
- Kasussyntax und -funktionen: Genitiv, Possession, Partitiv (vgl. Kapitel 5)
1388Die Analyse des Genitivs beschränkte sich auf Substantive im Singular Maskulinum und Neutrum, da nur hier aufgrund des es-Flexivs am Artikel sichergestellt werden kann, dass es sich um einen Genitiv handelt (im Femininum Singular und im Plural sind Genitiv und Dativ formgleich). Insgesamt zeigt sich der Genitiv hauptsächlich in festen Wortverbindung wie Enn des Joers ‚Ende des Jahres’. Daneben finden sich auch noch vereinzelte Verben und Adjektive mit Genitivrektion, die meistens auch den Dativ als Rektionskasus haben (wierdeg sinn ‚würdig sein’). Dabei konnte auch beobachtet werden, dass in manchen Fällen auch die Substantive ein entsprechendes Flexiv erhalten können (enges Lëtzebuergers ‚eines Luxemburgers’).
1389In Bezug auf den Gebrauch von Genitiven gibt es erste Anzeichen für die Entwicklung eines „Prestige-Genitivs“, der vor allem in den Online-Kommentaren verwendet wird und hauptsächlich von Verben und Adjektiven regiert wird. Dies würde sich dadurch erklären lassen, dass der Ausbau des Luxemburgischen im Schriftbereich auch einen Registerausbau mit sich bringt. Ich gehe davon aus, dass es sich hierbei um eine Lehnprägung aus dem Standarddeutschen mit stilistischer Funktion handelt, da Genitive häufig (in Abgrenzung zum Dativ) als prestigereichere Form angesehen werden (vgl. Szczepaniak 2014). Dies lässt sich allerdings nur ansatzweise beobachten. Hinzu kommt, dass diese Genitive von einigen Sprechern abgelehnt werden. Dennoch sollte weiterhin untersucht werden, inwiefern der Ausbau des Luxemburgischen zu einer Veränderung bzw. Etablierung von Sprachstilen führt und so möglicherweise den Satzbau beeinflusst.
1390Bei der adnominalen Possession wurde gezeigt, dass – obwohl der possessive Dativ im Luxemburgischen stark verbreitet ist – nicht alle semantischen Relationen hierdurch ausgedrückt werden können (*dem Gaart seng Mauer ‚dem Garten seine Mauer’). Neben bestimmten Belebtheitsbedingungen gilt auch, dass komplexe Possessor-NPs meistens eine vun-PP selektieren. Somit scheint die Variation zwischen possessivem Dativ und der vun-PP hauptsächlich semantisch und syntaktisch gesteuert zu sein. Daneben sind possessive Dative im Luxemburgischen auch für unbelebte Possessoren durch die Mittel der Metonymie und Personifizierung verfügbar. Hier wären weitere Studien mit Produktions- und Bewertungstests ein vielversprechendes Vorhaben, um die Grenzen und Präferenzmuster der jeweiligen Konstruktion aufzeigen zu können.
1391Als besonders vielschichtig erwies sich das System der Partitivartikel und Pronomen. Im Zusammenhang mit den komplexen semantischen und syntaktischen Bedingungen der Partitiva konnten auch erste Erkenntnisse über den Einsatz von Resumptivpronomen sowie über das Verhältnis von Partitivität und Quantifikation gewonnen werden. Eine zentrale Frage, die sich hier stellte, aber leider offenbleiben musste, war, wann Partitivpronomen, die einen quantifizierenden Ausdruck begleiten, obligatorisch sind (zwee sinn der erauskomm vs. zwee sinn erauskomm ‚zwei sind (davon) herausgekommen’). Auch der Einsatz und die Position von schwachen partitivischen Resumptivpronomen sollte weiter untersucht werden.
1392Neben den Konstruktionen mit Partitivartikel und -pronomen wurde auch das Konzept eines synthetischen Partitivs in der Form von ersten Grundüberlegungen erwähnt. Es handelt sich hierbei um die partitive er-Endung, die nominalisierte Adjektive erhalten, sobald sie ohne Artikel oder mit einem Quantor verwendet werden (dräi / ØGrouss-er ‚drei / Ø Große’). Hier gilt es, diese ersten Überlegungen weiter zu substantiieren, um auch herausfinden zu können, inwiefern es sich hier um die Markierung von Partitivität und Indefinitheit handelt.
1393Der diachronen Entwicklung des Genitivs im Luxemburgischen sollte ebenfalls nachgegangen werden, um mehr über synthetische Partitive und die Entstehung des Partitivartikels zu erfahren. Auch in Bezug auf die zahlreichen Lexikalisierungen und die hier gezeigten Verben oder Adjektive mit Genitivrektion wäre eine Analyse des Genitivgebrauchs in älteren Sprachstufen gewinnbringend.
- Pronominalsyntax: Stark-schwach-Distinktion der Personalpronomen, Pronomencluster (Abfolge Nom>Dat>Akk) (vgl. Kapitel 6+7)
1395Ziel dieses Themenkomplexes war es, die semantisch-syntaktischen Bedingungen für die Wahl eines starken oder schwachen Pronomens herauszuarbeiten. Die vorgestellten Ergebnisse zu den referentiellen Eigenschaften der Personalpronomen konnten durchaus Aufschluss darüber geben, wie sich die Personalpronomen in Bezug auf die semantischen Klassen ihrer Referenten verhalten. Gerade die starken Formen im Neutrum und Maskulinum sind hier eingeschränkt: hatt (Neutr.) kann nur auf Personen und Tiere mit weiblichem Rufnamen referieren, hien (Mask.) nur auf belebte Entitäten (als Ausnahme gelten individualisierte Objekte wie den Nobelpräis ‚der Nobelpreis’). Diese ersten Kategorisierungen könnten auch als Ausgangspunkt für weitere Analysen herangezogen werden, wie etwa Fragebogenstudien mit gezielt vorgegebenen Referenten (mit Belebtheitskontrast und unterschiedlichen Graden an Individualität).
1396Bei der Abfolge von Personalpronomen im Mittelfeld zeigt sich in den Daten eine starke Tendenz zur Abfolge Nom>Dat>Akk, wobei vor allem die Folge Dat>Akk besonders strikt ist und anders als beispielsweise im Standarddeutschen verläuft, da klitische Akkusativpronomen (wie et ‚es’) im Luxemburgischen nicht nach vorne rücken müssen.
1397Spannend wäre in diesem Zusammenhang auch eine Ausweitung des Analysegegenstands auf nominale Satzglieder. In Einzelbelegen konnte bereits gezeigt werden, dass die Abfolge Dat>Akk auch dann zutrifft, wenn das Dativobjekt eine nominale Konstituente und das Akkusativobjekt das schwache neutrale Pronomen et ist. In diesem Fall müsste auch geklärt werden, inwiefern es sich bei et generell um ein klitisches Pronomen handelt. Gerade der Bereich der Klitika wurde in diesem Kontext kritisch diskutiert, da die so genannten „klitischen“ Pronomen auch hinter Präpositionen stehen können und nicht ausschließlich im Zusammenhang mit der Wackernagelposition vorkommen (unmittelbar hinter der linken Satzklammer). Das gesamte Thema der Klitisierung sollte neben dem Luxemburgischen auch aus allgemein theoretischer Sicht weiter analysiert werden – unter syntaktischen und phonologischen Gesichtspunkten. Denn auch die schwache Form des Neutrumpronomens ‘t (wie in ‘t ass gutt ‚es ist gut’), die nicht im Zentrum der vorliegenden Analysen stand, kann nur im Vorfeld verwendet werden, wodurch sie auch als Klitikon gewertet werden kann, allerdings mit anderen strukturellen Besonderheiten.
1398Da es sich bei diesen Untersuchungen um einen ersten explorativen Zugriff auf ein unstrukturiertes Korpus handelt, sind noch weitere Studien nötig, um diese Tendenzen zu prüfen und generell mehr Einsicht in die Wortstellungsoptionen des Luxemburgischen zu gewinnen.
- Verbcluster: 2-, 3- und 4-gliedrige Cluster im Nebensatz (vgl. Kapitel 8)
1400Der Bereich der Verbcluster zeigt in den meisten kontinentalwestgermanischen Varietäten ein erhebliches Maß an struktureller Fluktuation. Bei den Analysen zu den luxemburgischen Verbclustern konnte herausgefunden werden, dass vor allem die Modal- und Konjunktivhilfsverben einen restrukturierenden Effekt auf den Verbcluster haben, sodass die finiten Verbteile häufig vorangestellt und der Cluster auch durch Konstituenten unterbrochen werden kann. Partizipregierende Hilfsverben und infinitivregierende Vollverben weisen hingegen wenig bis keine Variation auf. Daneben zeigten die Modalverben eine hohe Variation in IPP-Konstruktionen, da hier nicht nur einfache Infinitive, sondern auch so genannte Supina verwendet werden können (hybride Verbformen aus Präteritum und Infinitiv oder Konjunktiv und Infinitiv): en hätt sollte goen ‚er hätte sollten gehen’. Da dieses Phänomen im Luxemburgischen bislang kaum beachtet wurde (auch nicht in den luxemburgischen Grammatiken) bietet die vorliegende Studie wichtige erste Erkenntnisse zu der Variantenvielfalt und zu der quantitativen Verteilung der Modal-Supina, die in etwa einem Viertel der IPP-Konstruktionen nachgewiesen werden konnten. Als Hauptfaktor für die unterschiedlichen Varianten gilt vor allem der Modus des jeweiligen Kopfverbs in der IPP-Konstruktion.
1401Aufgrund unzureichender Datenabdeckung konnten leider keine Aussagen zu Verblcustern mit AcI-Verben gemacht werden. Auch viergliedrige Verbcluster waren in den Daten deutlich unterrepräsentiert, sodass an der Stelle nur Einzelbelege besprochen wurden. In diesen beiden Fällen müssten demnach gezielt Daten erhoben werden, um mehr Aufschluss über diese Konstruktionen zu erhalten.
1402Neben den syntaktisch-strukturellen Faktoren, die für die Verbclustervariation herausgearbeitet wurden (u.a. Verbtyp, Modus und Satzfunktion), können auch prosodische Faktoren die Abfolge der Prädikatsteile beeinflussen. Dies gilt im Übrigen auch für Analysen der Wortstellung im Mittelfeld, sodass sich hier zukünftige Forschungspfade mit neuen Methoden und Fragestellungen auftun.
- Nebensatzeinleitungen: „flektierende“ und doppelt besetzte Nebensatzeinleitungen (inflecting COMP, doubly filled COMP) (vgl. Kapitel 9)
1404Der Einsatz von Flexionsmarkern (die häufig als flektierende Nebensatzeinleitungen bezeichnet werden) kann nur für die 2. Person Singular sowie für die 1. und 3. Person Plural belegt werden. Hierbei gilt, dass der s-Marker (2.Pers.Sg., Typ: datt s de laachs ‚dass #s# du lachst’) obligatorisch ist und Adjazenz zum Subjektpronomen du/de bestehen muss. Der en-Marker (1./3.Pers.Pl., Typ: datt #e# mer laachen ‚dass #e# wir lachen’) ist zum einen optional und zum anderen strukturell deutlich eingeschränkter, da er in den Daten nur hinter einfachen (und meist einsilbigen) Nebensatzeinleitungen nachgewiesen werden konnte. Hier könnte man in Produktions- oder Bewertungstests der Frage nachgehen, inwieweit mehrsilbige Nebensatzeinleitungen tatsächlich blockiert sind und ob es strukturelle Gründe für den Einsatz dieses fakultativen Markers gibt. Zudem fehlen historische Daten, welche die genaue Entstehung dieser Flexionsmarker anhand von Beispielen dokumentieren.
1405Die Erweiterung von Nebensatzeinleitungen mit der Subjunktion dass/datt ist im Luxemburgischen hinter sämtlichen interrogativen NS-Einleitungen möglich (wat fir Leit datt dat sinn ‚was für Leute dass das sind’). Es konnte allerdings keine klare Antwort auf die Frage gefunden werden, welchen Zweck diese Dopplung erfüllt. Eine Hypothese, die in dieser Arbeit aufgeworfen wurde, war die der Subjekthervorhebung, da die dass/datt-Erweiterungen häufig dann auftreten, wenn das Subjekt im Nebensatz ein starkes Pronomen oder die Subjekt-NP einen starken Artikel enthält. Aus phonologischer Perspektive wäre auch denkbar, dass eine zusätzliche Silbe (in der Form der erweiternden Subjunktion dass/datt) die Struktur von betonten und unbetonten Silben beeinflusst und somit den Satzrhythmus gegebenenfalls optimiert. Neben diesen ersten Erkenntnissen in Bezug auf die Erweiterung mit dass/datt gilt es also, diesem Phänomen in zukünftigen Studien weiter nachzugehen.
1406Das „Forschungsprogramm“ zur luxemburgischen Syntax von Glaser (2006) konnte mit dieser Arbeit an wichtigen Stellen mit ersten Kategorisierungen und empirischen Analysen umgesetzt werden. Nichtsdestotrotz besteht noch viel Forschungsbedarf – jedoch nicht nur im direkten Zusammenhang mit den hier behandelten Phänomenen. Bei Glaser (2006) werden beispielsweise noch Infinitivanschlüsse, die Setzung eines Artikels bei Eigennamen oder die Form von Präpositionaladverbien genannt.
1407Vielversprechend wäre sicherlich auch eine technische Optimierung des vorhandenen Korpus (Standardisierung und Annotation), wodurch bestimmte Fragestellungen erneut angegangen werden könnten.
1408Bestimmte Phänomene wie etwa Partitivpronomen zeigen auch strukturelle Überschneidungen
mit verwandten Varietäten, sodass auch die areale Erschließung der westgermanischen
Syntax – unter Einbeziehung der luxemburgischen Syntax – ein spannendes Forschungsvorhaben
für die Zukunft ist. Bereits Glaser (2006: 241) erkennt „wechselnde areale Allianzen
“ mit dem Oberdeutschen und teilweise mit den westlichen Dialektgebieten des Mittel-
und Oberdeutschen (mitunter kommt es aber auch zu isolierten Strukturmerkmalen). Die
genaue Erschließung syntaktischer Isoglossen erfordert jedoch ein Höchstmaß an Vorbereitung
und Feldforschung, da nicht alle Gebiete durch syntaktische Dialektbeschreibungen
und nicht alle Phänomene durch passende Wenkersätze abgedeckt sind. Darüber hinaus
wurde in dieser Arbeit auch versucht, Vergleiche mit dem Niederländischen und Flämischen
herzustellen. Tatsächlich zeigen sich beispielsweise bei den Partitivpronomen, der
Stark-schwach-Distinktion von Pronomen, den Verbclustern und der Mehrfachbesetzung
von Nebensatzeinleitungen strukturelle Ähnlichkeiten, die weiterhin systematisch untersucht
werden sollten. Für die Zukunft hält die Syntax dieser kleinen Sprache also noch große
Fragestellungen bereit.