5 Genitiv, Possession und Partitiv
226Für die Kasuskategorien in Kapitel 4 wurde der Genitiv bei den Pronomen- und Artikelparadigmen zunächst ausgeklammert. In den Grammatiken des Luxemburgischen variiert die Kasusdarstellung zwischen einem Zwei-Kasus- (Nom/Akk vs. Dat) und einem Drei-Kasus-System (Nom/Akk vs. Dat vs. Gen), welche sich im Prinzip dadurch unterscheiden, ob der Genitiv als Kasus integriert wird oder nicht.43
227Dieses Kapitel widmet sich einerseits der Frage, ob und in welcher Form sich der Genitiv im Luxemburgischen manifestiert und zeigt in zwei weiteren Kapiteln, wie sich zwei verwandte Funktionsbereiche verhalten. Mit verwandten Bereichen sind einerseits Possessivkonstruktionen des Typs mengem Papp säin Auto ‚das Auto meines Vaters’ und andererseits Partitive des Typs zevill däers Eewäiss ‚zuviel von diesem Eiweiß’ gemeint. Da Possession und Partitivität im ursprünglichen Funktionsbereich der formalen Kategorie Genitiv liegen, werden diese Bereiche hier in einem Kapitel vorgestellt. In Kapitel 5.1 wird der Genitiv aus morphosyntaktischer Perspektive beschrieben. Hier werden die morphologischen Sichtbarkeitsbedingungen sowie die syntaktischen Kontexte diskutiert. Kapitel 5.2 widmet sich der adnominalen Possession. Da Possession im Luxemburgischen nicht anhand eines Genitivs realisiert werden kann, wird hier die Verteilung von possessivem Dativ und Präpositionalphrasen untersucht. Das anschließende Kapitel 5.3 dreht sich um die Form und die Semantik von Partitivpronomen (Typ: ech hunn der ‚ich habe welche’) und Partitivartikeln (Typ: däers Wäin ‚von diesem Wein’), die anhand von zahlreichen Beispielen ausführlich behandelt werden. Zur besseren Darstellung werden Genitive und Partitive zunächst als zwei Einzelphänomene betrachtet, selbst wenn diese Partitive aus ursprünglichen Genitiven entstanden sind (vgl. u.a. Glaser 1992; Strobel 2016). Das letzte Kapitel 5.4 dieses Themenblocks wird die hier vorgestellten Bereiche Genitiv, Possession und Partitiv im Hinblick auf die Ergebnisse reflektieren und kategorisieren, sodass sie in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden können.
5.1 Genitiv
228Das Hauptaugenmerk dieses Kapitels liegt auf den Verwendungsmustern des Genitivs im Luxemburgischen: Gibt es den Genitiv im Luxemburgischen und wenn ja, welche syntaktischen Stellen nimmt er ein? Kann er als Strukturkasus definiert werden?44
229Zunächst soll gezeigt werden, wie der Genitiv bislang in den luxemburgischen Grammatiken und Wörterbüchern dargestellt wurde (Kapitel 5.1.1). Darüber hinaus werden auch Fragen nach morphologischer Sichtbarkeit, Authentizität, Textsortenrelevanz und Lexikalisierungsgraden aufgeworfen. In der anschließenden Analyse (Kapitel 5.1.2) werden die Genitivbelege aus dem Gesamtkorpus in morphosyntaktische Kategorien eingeteilt und diskutiert. Neben Flexions- und Rektionsmustern soll ebenfalls gezeigt werden, welche Strukturen mit den Genitiven konkurrieren und welche Funktionen der Genitiv im Luxemburgischen übernimmt.
230Ein weiteres Kapitel (5.1.3) geht auf die typologischen Besonderheiten des Genitivs ein. Hier wird unter anderem gezeigt, wie sich Genitive in verwandten Sprachen verhalten, um Kontraste oder Parallelen aufzudecken. Auch die Frage von Sprachstilistik und Registerbildung wird in diesem Kapitel thematisiert. Kapitel 5.1.4 fasst alle Ergebnisse noch einmal zusammen.
5.1.1 Der Status des Genitivs im Luxemburgischen
231Die Kategorisierung des Genitivs in den Beschreibungen des Luxemburgischen ist teilweise inkohärent und bleibt häufig unkommentiert. Aus kasusstruktureller Sicht tauchen Genitivformen in unterschiedlichen Paradigmen auf: teils bei Demonstrativa (däers), bei Possessiva (senges), bei Indefinita (enges) oder als bestimmter Artikel (des) (vgl. Bruch 1955: 47; Schanen 1980: 702; Schmitt 1984: 55f.; Krier 2002: 50f.; Schanen & Zimmer 2012). Wie Formen wie däers oder senges zu bewerten sind, d. h., wie sie sich in ihrer Syntax und Semantik verhalten und wie häufig sie in unterschiedlichen Kontexten vorkommen, bleibt meistens unbeantwortet.
232Insgesamt wird dem Genitiv hauptsächlich ein Platz in lexikalisierten Fügungen, Redensarten oder adverbialen Bestimmungen zugewiesen, wie etwa in enges Daags ‚eines Tages’, des Däiwels sinn ‚des Teufels sein’ oder der Meenung sinn ‚der Meinung sein’ (vgl. Bruch 1955; Russ 1990; Schanen & Zimmer 2012: 10645).46
233Genitivregierende Verben und Adjektive werden meistens nicht explizit benannt, tauchen aber in unterschiedlichen Beispielsätzen auf. Bei Keller (1961) und Christophory (1974) regieren die Verben sech schummen ‚sich schämen’ oder brauchen sowie die Adjektive sécher ‚sicher’ und midd ‚müde’ jeweils einen Genitiv: ech brauch denger net (Keller 1961: 273) oder e Kand as enges schéine Liewe sécher ‚ein Kind ist eines schönen Lebens sicher’ (vgl. Bruch 1955: 48; s. auch Christophory 1974; Schanen & Zimmer 2012).
234Bei den hier vorgestellten Beschreibungen werden häufig Form und Funktion vermischt und auch bei der terminologischen Handhabung mangelt es zunehmend an Kohärenz. Auch andere Quellen – wie das Luxemburger Wörterbuch (LWB 1950-1975) – neigen dazu, Kategorien unreflektiert aufzulisten. Im LWB finden sich neben Genitivzuordnungen dénger Mamm ‚deiner Mutter’ (Fem.Sg., Genitiv, Dativ) auch unzutreffende Partitivzuordnungen wie dénges Krom ‚deines Krams’ (Mask. Sing.) (vgl. LWB 1950-1975 Bd. 1: Sp. 188a). Da diese Beispiele hier ohne syntaktische Kontexte dargestellt werden, fällt es dem Leser schwer, die Systematik und den möglichen Zusammenhang dieser Kategorien zu erkennen. Es gibt durchaus enge Verstrickungen zwischen Genitiv und Partitivität – weshalb sie in dieser Arbeit auch gemeinsam in einem großen Kapitel behandelt werden – doch eine derartige Vermischung von Form und Funktion trägt nicht zum Verständnis der strukturellen Kasusmuster bei (vgl. dazu Kapitel 5.4).
235An dieser Stelle soll nun versucht werden, diese Bereiche systematisch zu erschließen. Als Grundlage dient das Gesamtkorpus, das aus verschiedenen Textsorten besteht (vgl. Kapitel 3.1). Generell ist bei der Einstufung des Genitivs im Luxemburgischen auf gewisse Grundfaktoren zu achten, die vor der Korpusauswertung problematisiert werden müssen: die morphologischen Sichtbarkeitsbedingungen (Wie kann der Kasus erkannt werden?), Textsorte (Ist der Genitiv Teil eines Stilregisters?), Authentizität (Wie repräsentativ sind die Formen?) sowie der Lexikalisierungsgrad (Ist der Genitiv Teil einer verfestigten Wendung?).
- Morphologische Sichtbarkeit und Synkretismen
237Bei einer Kasusanalyse müssen zunächst die morphologischen Sichtbarkeitsbedingungen des Genitivs aufgedeckt werden. Ein einfacher Fragetest (Wessen?) steht zur Erkennung des Genitivs nicht zur Verfügung, da es im Luxemburgischen keine Interrogativa im Genitiv gibt. Zugehörigkeitsrelationen werden beispielsweise mit possessiven Dativen erfragt (vgl. Kapitel 5.2):
238(26)Wiem seng Jackett ass dat? (Lehrbuch)
wem seine Jacke ist das?
239Bei Femininum Singular gibt es im Luxemburgischen einen Formzusammenfall von Genitiv
und Dativ, sodass diese beiden Formen nicht ausreichend disambiguierbar sind: denger léiwer Mamm ‚deiner lieben Mutter’ (Dativ + Genitiv). Da die Genitivrektion dadurch nicht von
der Dativrektion unterschieden werden kann – und diese häufig bei der Kasusvergabe
konkurrieren – sind Beispiele mit Feminina wenig zielführend und werden somit nicht
weiter berücksichtigt. Aus diesem Grund können zahlreiche „prädikativen Genitive
“ (nach Willems 1997: 189) nicht analysiert werden, da hier häufig Substantive im Femininum Singular verwendet
werden: der Meenung sinn ‚der Meinung sein’, der Usiicht sinn ‚der Ansicht sein’, usw.
240Einen eindeutigen morphologischen Genitivmarker tragen nur die Artikel von Maskulinum- und Neutrumformen im Singular ({es} als Kasusmerkmalträger). Hierzu gehören der Definitartikel des ‚des’, der Possessivartikel menges ‚meines’ oder der Indefinitartikel enges ‚eines’. Der Genitiv verfügt demnach noch über eine eigene Morphologie im Luxemburgischen.
- Register und Textsorte
242Ähnlich wie im Deutschen kann der Genitiv der sozialen Markierung dienen (vgl. Szczepaniak 2014: 36). Es ist denkbar, dass Genitivkonstruktionen verwendet werden als Abgrenzungsmerkmal vom ‚einfachen’ Sprachgebrauch (als Stilmittel). Demnach sollte darauf geachtet werden, in welchen Kontexten die Genitive besonders häufig verwendet werden. Auch der Textsortenvergleich (mündlich vs. schriftlich) kann hier gewinnbringend sein.
243Dieses Thema wird in Kapitel 5.1.3 noch einmal aufgegriffen und näher betrachtet. Im Hinblick auf die empirischen Daten wird demnach die Frage aufgeworfen, ob sich der Genitiv im Luxemburgischen unter dem Aspekt des Registerausbaus nach und nach als Registermarker einer „neuen Schriftlichkeit“ entwickelt.
- Authentizität
245Dieser Punkt bezieht sich auf standarddeutsche Interferenzen. Es kann vorkommen, dass Genitivkonstruktionen aus dem Deutschen übernommen werden und diese Entlehnungen unter Umständen zu ‚nicht nativen’ Genitiven im Luxemburgischen führen. Diese Formen können in erster Linie nur durch kompetente Sprecher identifiziert werden. Alle hier vorgestellten Beispiele wurden von sechs Muttersprachlerinnen diesbezüglich bewertet. Zweifelsfälle werden dementsprechend gekennzeichnet.
- Lexikalisierungsgrad
247Die Auseinandersetzung mit dem ‚aktiven’ Genitivgebrauch ist an die zentralen Konzepte von Produktivität, Lexikalisierung und Idiomatisierung gebunden. Selbst wenn das Luxemburgische Genitive aufweist, können diese lexikalisiert sein und dadurch nicht mehr als produktives Muster gewertet werden. Lexikalisierungen bzw. Phraseologismen erkennt man an den strukturell verfestigten Wortverbindungen, die nicht oder nur bedingt lexikalisch ausgetauscht werden können (Burger 2010: 19ff.). Auch wenn Produktivität ein Terminus aus der Morphologie ist, kann er auf die Syntax projiziert werden: Findet sich im Korpus nur ein Type eines Genitivbelegs, d. h. identische Wortfolge mit identischen Lexemen, kann die Konstruktion als unproduktiv angesehen werden. Wird sie jedoch in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Lexemen verwendet, kann sie als (verhältnismäßig) produktiv angesehen werden. Lexikalisierung und Idiomatisierung werden in der Forschungsliteratur unterschiedlich definiert. Lexikalisierung wird hier verstanden als strukturelle Verfestigung einer Phrase, in der die Bestandteile als Mehrworteinheit lexikalisch fest besetzt sind. Dies kann teilweise mit morphosyntaktischen Irregularitäten oder anderen strukturellen Restriktionen einhergehen (vgl. Burger 2010: 19ff.).
248Die Idiomatisierung beschreibt eine verfestigte Phrase, deren Bedeutung nicht durch die Einzelbestandteile hergeleitet werden kann: das ist kalter Kaffee ist beispielsweise idiomatisiert, da die Bedeutung dieses Idioms nichts mit kaltem Kaffee, sondern mit nicht aktuellen Nachrichten zu tun hat. Die Bedeutung entsteht somit nicht durch die Einzelbestandteile, sondern durch spezifisches Wissen (vgl. Fillmore et al. 1988; Burger 2010: 29f.).
249Durch die Lexikalisierung einer Mehrworteinheit entsteht eine phraseologische Wendung. Ziel dieses Kapitels ist es jedoch, den lebendigen Gebrauch des Genitivs im Luxemburgischen aufzuzeigen oder gegebenenfalls zu widerlegen. Demnach werden phraseologische Wendungen entsprechend gekennzeichnet und gesondert interpretiert.
5.1.2 Korpusanalyse zum Genitivgebrauch
250Genitive werden oft im Zusammenhang mit ihren semantischen Funktionen beschrieben (Genitivus possessivus, subiectivus, usw.). In diesem Kapitel wird jedoch eine morphosyntaktische Perspektive angestrebt, sodass die Beschreibungskategorien den syntaktischen Gebrauchsmustern entsprechen: Genitivattribute, Präpositionen mit Genitiv, Genitiv regierende Verben und Adjektive, adverbiale Konstruktionen mit Genitiv, Genitive in prädikativer Funktion sowie Familiennamen im Genitiv.
- Genitivattribute
252Genitivattribute treten in den allermeisten Fällen in lexikalisierten Wendungen auf.
Relationale Zeitangaben etwa, wie Enn des Mounts ‚Ende des Monats’ oder Ufank des Joers ‚Anfang des Jahres’ sind eindeutig als Genitive zu klassifizieren, jedoch beschränken
sie sich auf genau vier attributive Zeitnomen: Dag ‚Tag’, Woch ‚Woche’, Mount ‚Monat’, Joer ‚Jahr’. Da Woch Femininum ist, Genitiv und Dativ somit formgleich sind, ist eine genaue Kasusanalyse
hinfällig. Für die Maskulina Dag und Mount sowie für das Neutrum Joer gilt, dass sie innerhalb dieser temporalen Genitiv-Konstruktion weder erweiterbar
noch substituierbar sind. Demzufolge sind Erweiterungen oder Substitutionen wie *Enn dëses Mounts ‚Ende dieses Monats’ oder *Ufank des Schaltjoers ‚Anfang des Schaltjahres’ unzulässig. Auch das Temporaladverbial Zäit senges Liewens ‚zeit seines Lebens’ verfügt über ein Genitivattribut. Die Konstruktion Zäit senges Liewens existiert auch im Deutschen, mit dem Unterschied, dass zeit als Präposition reanalysiert und dadurch klein geschrieben wird. Di Meola (2009: 202) nennt diese Kategorie „Genitiv-Präpositionen mit der Form eines Substantivs
“. Es ist davon auszugehen, dass es sich auch im Luxemburgischen bei dieser Konstruktion
um eine feste Fügung handelt, da das Substantiv Zeit bereits seine Wortformeigenschaften aufgegeben hat (was sich daran erkennen lässt,
dass Zeit ohne Artikel verwendet werden kann). Darüber hinaus existiert diese Wendung ausschließlich
mit der NP senges Liewens, was wiederum auf die Verfestigung der Phrase hinweist.
253Relationale oder explikative Attribute – oft als Possessivkonstruktionen zusammengefasst – werden überwiegend mit possessivem Dativ (Typ: dem X säin Y) oder mit einer vun-PP (Typ: den Y vum X) umgesetzt. Eine genauere Betrachtung des syntaktischen Aufbaus von Zugehörigkeitsrelationen befindet sich in Kapitel 5.2. Der so genannte possessive Genitiv mit Eigennamen (‚Ernas Hut’) kann bis auf die Ausnahme Europas Zukunft (n=2) im Korpus nicht belegt werden. Hier kann man sich allerdings die Frage stellen, ob die Wendung Europas Zukunft aufgrund ihrer hohen Frequenz in den deutschen Medien einfach übernommen wurde. Häufiger findet sich allerdings die Konstruktion mit vun: d’Zukunft vun Europa ‚die Zukunft von Europa’.
254In Bezug auf die vorhandenen Korpusbelege kann man behaupten, dass Attribute im Luxemburgischen hauptsächlich ohne einen Genitiv ausgedrückt werden. Dabei stehen mehrere morphosyntaktische Mittel der (genitivlosen) Verknüpfung zur Verfügung, wie am Beispiel von Méiglechkeet ‚Möglichkeit’ illustriert werden kann.
NP | Anschluss | Beispiel | Übersetzung |
d’Méiglechkeet | vun-PP | vu Wirtschaftsspionage (Online-Kommentar) | von Wirtschaftsspionage |
op-PP | op eng gutt Zukunft (Online-Kommentar) | auf eine gute Zukunft | |
ze-VP | Subsiden ze kréien (Internet) | Fördergelder zu bekommen | |
datt-NS | datt mir [...] all déi Coursen do kënnen ofhalen (Politik) | dass wir alle diese Kurse da halten können | |
fir...ze-VP | fir matzeschwätzen (Online-Kommentar) | um mitzureden |
255Je nach Valenz des Substantivs oder Funktion bzw. Komplexität des Attributs gibt es unterschiedliche Präferenzmuster. So kann ein ganzer Nebensatz oder nur eine PP angehängt werden. Auch die Präpositionen richten sich nach dem Substantiv, sodass für jedes Attribut unterschiedliche Bedingungen zugrunde liegen. Genitive wurden in diesem Zusammenhang keine gefunden.
256Die wenigen Genitivattribute aus dem Korpus zeigen deutliche Anzeichen von deutscher Lehnprägung. Dabei handelt es sich entweder um Übertragungen aus dem Deutschen (bei Sprichwörtern: jidereen as senges Glecks Schmad (Online-Kommentar) ‚jeder ist seines Glückes Schmied’)48 oder um direkte Übersetzungen. Bei manchen luxemburgischen Wikipedia-Autoren kann man erkennen, dass sie den attributiven Genitiv dem Anschein nach aus der deutschen Vorlage (27) übernommen haben (als komplette Nominalphrase mit kasusmarkiertem Substantiv).
257(27)de mëttlere Bunnradius senges Massezentrums vum kollektive Schwéierpunkt (wikipedia.lu)
Vorlage: der mittlere Bahnradius seines Massezentrums vom gemeinsamen Schwerpunkt
(wikipedia.de)
258In diesem Artikel zum Zwergplaneten Pluto ist eindeutig zu erkennen, dass der Autor den Beitrag nicht selbst formuliert hat, sondern dass er den Text aus dem deutschen Artikel einfach übernommen hat. Wikipedia-Texte verfügen jedoch über die Funktion, denselben Artikel in einer anderen Sprache aufzurufen, wodurch sich der gesamte Pluto-Artikel als direkte Übertragung aus dem Deutschen entpuppt.
259(28)geméiss de Konventioune fir Benennung verännerlecher StäreGEN (wikipedia.lu)
Vorlage: gemäß den Konventionen zur Benennung veränderlicher Sterne (wikipedia.de)
260Auch an dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die deutsche Vorlage bei Beispiel (29), an der deutlich zu erkennen ist, dass die Konstruktion mit einem Genitivattribut adaptiert wurde. Darüber hinaus ist dem Übersetzer entgangen, einen Artikel für Benennung einzufügen, da er offensichtlich nicht bemerkt hat, dass zur im Deutschen eine Klitisierung von zu und der darstellt. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass an dieser Stelle nahezu blind übersetzt wurde, ohne eigenständig umzuformulieren.
261Diese Beobachtungen können auch bei anderen Wikipedia-Artikeln gemacht werden, in denen ein Genitiv entlehnt wurde. In Satz (35) zeigt sich eine besondere Form der Entlehnung, da hier deutlich wird, dass der Autor nicht die Gesamtkonstruktion in seine Sprache übersetzt hat, sondern Wort für Wort übertragen hat.
262(29)sou léisst sech e beschtuschléissendes Ellipsoid (Referenzellipsoid) vun enger ganzer Regioun oder enges KontinentsGEN ofleeden (wikipedia.lu)
Vorlage: so lässt sich ein bestanschließendes Ellipsoid (Referenzellipsoid) einer
ganzen Region oder eines KontinentsGEN ableiten (wikipedia.de)
263In Beispiel (29) wird der erste Teil des Attributs zu Ellipsoid wie erwartet als vun-Periphrase realisiert. Der dazu koordinierte Teil zeigt jedoch ein Genitivattribut mit einem Genitiv-s sowohl am Artikel als auch am Nomen: enges Kontinents ‚eines Kontinents’. Dass an dieser Stelle die feminine NP (eng ganz Regioun) als vun-PP, die maskuline NP (ee Kontinent) hingegen als Genitivattribut verwendet wird, ist eine bemerkenswerte Tatsache. Es wäre denkbar, dass die Genitiv-NP durch den eindeutigen Genitiv-Marker im Maskulinum (enges) für den Autor akzeptabel ist. Da die Form enger ganzer Regioun keinen eindeutigen Genitiv anzeigt (da es auch ein Dativ sein könnte), ist es möglich, dass der Autor diese NP in eine PP mit Dativ einbettet. Dass dieses Beispiel strukturell sehr auffällig ist, zeigt auch das falsch deklinierte Adjektiv beschtuschléissendes, denn im Luxemburgischen existiert keine {es}-Adjektivendung für Neutra, wodurch dieses Adjektiv als morphologische Übersetzung der deutschen Vorlage gewertet werden kann („bestanschließendes“).49 Somit bleiben die Genitivattribute aus der luxemburgischen Wikipedia (mit standarddeutscher Vorlage) ein problematischer Fall. Hinzu kommt, dass diese Genitive von den hier befragten sechs Muttersprachlerinnen in dieser Form abgelehnt werden. Auch abgelehnt wurde das folgende Genitivattribut aus einem medial schriftlichen Äußerungskontext.
264(30)NET CONFORME mat den Normen enges DRENKWASSER (Online-Kommentar)
nicht konform mit den Normen eines Trinkwassers
265Bei manchen Attributen ist die Kasusidentifikation nicht eindeutig, da es sich auch
um so genannte „Apposition[en] mit Maßangabe
“ handeln kann (Eisenberg 2016b: 260ff.). Hierbei handelt es sich um kasusunterspezifizierte Attribute (dementsprechend Appositionen),
die nach Mengen- oder Maßangaben folgen. Da das luxemburgische Substantiv im Allgemeinen
keine Kasusmerkmale trägt, werden hier Beispiele mit attributivem Adjektiv herangezogen.
Die Kasusendungen der Adjektive können somit Aufschluss über vorhandene Kasusmuster
geben.
266(31)Des Zort pflanzlech-en Diesel (Internet)
diese Sorte pflanzlicher Diesel
267(32)e Grupp jonk-Ø Hollaenner (Online-Kommentar)
eine Gruppe junge Holländer
268Die Flexionsendungen {-en} für Maskulinum Singular (Diesel) und {-Ø} für Femininum Singular und Plural (Hollänner) zeigen eine einfache Nominativmarkierung. Keiner der Belege zeigte an dieser Stelle eine NP im Genitiv.
269In Bezug auf Genitivattribute kann man behaupten, dass diese im Luxemburgischen kaum auftreten. Allein in Fällen von direkten – nicht immer akzeptablen – Entlehnungen (bei deutscher Vorlage) oder bei Lexikalisierungen ist er gelegentlich anzutreffen. Letztere werden allerdings aufgrund ihres Lexikalisierungsgrades für eine strukturelle Kasusanalyse des Luxemburgischen ausgeklammert. Die Funktion des Attributs übernehmen je nach Äußerungskontext Präpositionalphrasen, Nebensätze oder kasuslose Appositionen.
- Präpositionen mit Genitiv
271Die Korpusauswertung zeigt, dass Genitive im Zusammenhang mit Präpositionen kaum anzutreffen sind. Allein die Präposition wéinst/wéint ‚wegen’ findet sich gelegentlich mit ausschließlich pronominalen Genitiven. Hier wird neben dem Dativ (mir/dir), auch der Genitiv (menger/denger) verwendet, obwohl wéinst/wéint bei Substantiven nur Dativ regiert.
272(33)wéin(s)t menger (Genitiv, n= 60)
wegen meiner
273(34)wéin(s)t mir (Dativ, n=17)
wegen mir
274Auch die Präpositionen innerhalb und trotz (Bsp. (35), (36)) wurden jeweils einmal mit einem Genitiv verwendet. Interessanterweise handelt es sich bei dem Genitivbeleg nach der Präposition innerhalb erneut um die Form Europas, die auch bereits beim relativ untypischen pränominalen Genitiv Europas Zukunft vorgefunden wurde. Es ist denkbar, dass diese Form per se, also voll flektiert, aus dem Deutschen ins Luxemburgische integriert wurde. Hinzu kommt die Tatsache, dass das luxemburgische Substantiv im Allgemeinen keine Kasusmarker trägt, hier allerdings ein {s} erhält. Weitere Belege machen in diesem Kapitel deutlich, dass diese s-Markierung am luxemburgischen Substantiv durchaus schwanken kann (zum Standarddeutschen vgl. u.a. Zimmer 2018).
275(35)e Machtkampf innerhalb Europas (Online-Kommentar)
ein Machtkampf innerhalb Europas
276(36)trotz senges mol méi mol manner souveränen Optriedens an der Ëffentlechkeet (Online-News)
trotz seines mal mehr mal weniger souveränen Auftretens in der Öffentlichkeit
277Der folgende sanktionierte Genitiv in der Wikipedia zeigt, dass dieser Kasus für Präpositionen eigentlich nicht zur Verfügung steht. Ein Wikipedia-Autor bildet in einem Text die Konstruktion op Grond enges Strukturfeelers (parallel zur deutschen Vorlage ‚auf Grund eines Strukturfehlers’). Durch die Artikelverlaufsfunktion der Seite kann man erkennen, dass diese Version von einem weiteren Nutzer ein halbes Jahr später korrigiert wurde. Die Konstruktion wurde auf eine andere kausale Präposition mit Dativrektion umgestellt (wéinst ‚wegen’):
278(37)Awer schonns no 59 Sekonnen hat d’Rakéit wéinst engem StrukturfeelerDAT gesprengt
misse ginn. (wikipedia.lu: 19.8.13)
Aber schon nach 59 Sekunden hat die Rakete wegen einem Strukturfehler gesprengt müssen
werden.
279Bei der Rektion von Präpositionen kann man festhalten, dass Präpositionen nur selten den Genitiv regieren (Einzelbelege mit trotz, innerhalb sowie wéinst+GenitivPRO) und als stark markiert wahrgenommen werden. Anders als im Deutschen gibt es im literaten Bereich im Luxemburgischen keine verstärkte Genitivpräsenz bei Präpositionen, sondern eher das Gegenteil ist der Fall (zum Standarddeutschen vgl. Szczepaniak 2014).
- Genitiv regierende Verben und Adjektive
281Tatsächlich gibt es einige Belege für luxemburgische Verben und Adjektive mit Genitivrektion. So finden sich beispielsweise Genitivobjekte, die vor allem im Zusammenhang mit dem so genannten Genitivus Criminis, dem Genitiv der Rechtssprache, zusammenhängen. Hierzu zählen in erster Linie Konstruktionen mit iwwerféieren ‚überführen’ und sech schëlleg maachen ‚sich schuldig machen’. Der Genitiv steht allerdings immer in Konkurrenz zu anderen – meistens bevorzugten – Varianten, wie an de Tabelle (39) dargelegt werden kann. Aufgrund der geringen Trefferanzahl können hier keine quantitativen Angaben gemacht werden. Es soll lediglich deutlich gemacht werden, dass der Genitiv mit den anderen Varianten koexistiert.
Verb | Ergänzung | Beispiel | Übersetzung |
iwwerféieren | wéinst-PP | wéngst Doping iwwerfouert | wegen Doping überführt |
vum-PP | vum Doping iwwerfouert | von Doping überführt | |
Dativ | dem Doping iwwerfouert | dem Doping überführt | |
Genitiv | des Doping(s) iwwerfouert50 | des Doping(s) überführt | |
sech schëlleg maachen | an-PP | sech an der selwechter Saach schëlleg gemaach | sich in derselben Sache schuldig gemacht |
un-PP | sech un engem Massaker [...] schëlleg gemaach | sich an einem Massaker [..] schuldig gemacht | |
Genitiv | sech enges Fehlverhalens schëlleg gemaach | sich eines Fehlverhaltens schuldig gemacht |
282Die beiden von Christophory (1974: 58) erwähnten Verben mit Genitivrektion konnten im Korpus nicht nachgewiesen werden (sech schummen ‚sich schämen’, net brauchen ‚nicht brauchen’). Das Verb sech schummen ‚sich schämen’ kommt im Korpus allgemein selten vor und fordert wahlweise eine PP mit fir ‚für’, wéinst ‚wegen’ oder einen Nebensatz (dass-Satz51 oder ze-Infinitiv), jedoch kein Genitivobjekt. Auch für brauchen bzw. die negierte Form net brauchen konnten keine Genitivbelege gefunden werden. Im Korpus fordert brauchen stets ein Akkusativobjekt: brauch dech net (Chat) ‚brauch dich nicht’.52
283Zu den genitivregierenden Adjektiven zählt in erster Linie die Form (on)würdeg bzw. (on)wierdeg53 ‚(un)würdig’. Doch auch hier koexistiert eine Dativ-Variante.
Adjektiv | Ergänzung | Beispiel | Übersetzung |
wierdeg/ würdeg | Dativ | deen awer dësem Gemengerot würdeg ass dem Chrëschtentum wierdeg | der aber diesem Gemeinderat würdig ist dem Christentum würdig |
Genitiv | kenges Sportlers a kenges Staatschefs wierdeg eng Pei di enges Letzebuergers würdeg as | keines Sportlers und keines Staatschefs würdig ein Gehalt, das eines Luxemburgers würdig ist | |
GenitivPRO | op enger Plaz, déi senger net onbedéngt wierdeg ass | an einer Stelle, die seiner nicht unbedingt würdig ist |
284Die Adjektive sat und midd regieren mitunter auch Genitive, allerdings nur in der Form däers/es, die in dieser Arbeit als Partitivpronomen eingeordnet werden (vgl. Kapitel 5.3). Zudem sind Konstruktionen wie es midd sinn ‚es leid/müde sein’ bereits bis zu einem gewissen Punkt lexikalisiert, da sie nur in dieser Kombination auftreten.
285Bei Verben und Adjektiven lässt sich der Genitiv demnach in bestimmten Konstruktionen nachweisen. Häufig findet sich allerdings ein koexistierender Dativ oder Akkusativ. Der Einsatz des Genitivs hat womöglich stilistische Eigenschaften, auf die im Anschluss (Kapitel 5.1.4) noch einmal eingegangen wird.
- adverbiale Konstruktionen mit Genitiv
287Die meisten luxemburgischen Adverbialkonstruktionen sind zwar historisch aus einem Genitiv entstanden, heute allerdings lexikalisiert, d. h. als Muster nicht mehr produktiv vorhanden (ähnlich wie im Deutschen, vgl. Dudengrammatik 2006: 982). Zu diesen Formen gehören unter anderem folgende Adverbiale: mëttwochs ‚mittwochs’, blannemännerchers ‚blindlings’, gréisstendeels ‚größtenteils’, kengesfalls ‚keinesfalls’.
288Auch komplexere Phrasen gehören zu diesem Bereich dazu: rouege Gewëssens ‚ruhigen Gewissens’, schwéieren Häerzens ‚schweren Herzens’, menges Wëssens ‚meines Wissens’ oder menges Erachtens / menges Eruechtens ‚meines Erachtens.
289Es handelt sich meistens um substantivierte adverbiale Genitive in modaler oder temporaler Funktion (parallel zum Gebrauch im Deutschen, vgl. Hentschel & Weydt 2003: 237). Eine kleine Sammlung an festen Wendungen mit solchen Genitiven findet sich in Christophory (1974: 50). Bemerkenswert ist auch hier die variable s-Markierung am Substantiv: Monn-s bei (38), aber Doud-Ø bei (39).
290(38)en huet e laaches Monns gesot (Christophory 1974: 50)
er hat es lachenden Mundes gesagt
291(39)wou [...] eng aal Fraa enges natierlichen Doud stierwt (Interview)
wo [..] eine alte Frau eines natürlichen Todes stirbt
292(40)wat ech schonn des Öfteren hei gesot hunn (Politik)
was ich schon des Öfteren hier gesagt habe
293Die Verfestigung, inklusive der lexikalischen Restriktionen, und die Formelhaftigkeit dieser Wendungen reichen eigentlich nicht aus, um heute noch einen lebendigen Genitiv erkennen zu können. Zudem sind die Elemente dieser adverbialen Konstruktionen häufig nicht erweiterbar und können auch nicht durch andere Substantive ersetzt werden. Aus diesem Grund werden sie als lexikalisierte Genitive klassifiziert.
- Genitive in prädikativer Funktion
295Zu den prädikativen Genitiven gehören Wendungen mit dem Kopulaverb sinn ‚sein’ und einer NP im Genitiv (zu diesem Genitivtyp im Deutschen, vgl. Pittner 2009). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass hierunter auch Fälle wie der Meenung sinn ‚der Meinung sein’ fallen, die aufgrund der Formgleichheit im Femininum von Dativ und Genitiv nicht berücksichtigt werden können.
296In den Grammatiken des Luxemburgischen wird häufig das Beispiel des Däiwels sinn ‘des Teufels sein’ (Bsp. u.a. bei Christophory 1974: 50; Schanen & Zimmer 2012: 106) erwähnt. Hierbei handelt es sich jedoch um eine lexikalisierte Wortverbindung mit einer festen, nicht veränderbaren Struktur. Parallele Bildungen führen dazu, dass die Konstruktion ungrammatisch wird: *des Engels sinn ‚des Engels sein’, *des Satans sinn ‚des Satans sein’. Diese einfache Substitutionsprobe zeigt, dass es sich hierbei also nicht um eine freie Wortverbindung, sondern vielmehr um eine Lexikalisierung handelt (vgl. Burger 2010: 19). Behaghel (1923 Bd.1: 580) geht davon aus, dass dieser Genitiv des Teufels früher einmal ein Possessionsverhältnis darstellte und die Grundbedeutung zunehmend verblasst ist, was die These der Lexikalisierung hier unterstützt.
297Ein weiterer Genitiv in prädikativer Funktion findet sich bei Possessivpronomen, die persönliche Vorlieben ausdrücken, wie bei dat ass net esou menges ‚das ist nicht so meins’ (124 Belege). Diese prädikativen Possessivpronomen im Genitiv (menges, denges, hires) werden in diesem Kontext für den Ausdruck des persönlichen Geschmacks verwendet, allerdings vorrangig im Singular, obschon sie auch gelegentlich im Plural vorkommen: dat ass net grad eises ‚das ist nicht gerade unseres’, im Sinne von ‚das passt nicht zu uns / das ist nicht unser Geschmack’. Obwohl hier eine gewisse Austauschbarkeit in Bezug auf Person und Numerus besteht, gilt diese Kombination nur für Personalpronomen.
- Familiennamen im Genitiv
299Die Verwendung des Familiennamens im Genitiv ist ein Phänomen, dem bislang nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde (bis auf Bach 1952; Dammel & Berchtold 2014; Flores 2014). Im Luxemburgischen besteht die Möglichkeit den Nachnamen von Personen dem Vornamen voranzustellen, sodass der Nachname ein starkes oder schwaches Genitivsuffix erhält. Gesetzt sei der Fall einer Person mit dem Namen Anne Weber (oder Anne Thill), so kann man auf unterschiedliche Weise von dieser Person sprechen (ohne Gebrauch eines Pronomens).
- kasus-unmarkiert: d‘Weber Anne
- Genitiv (stark): d‘Thills Anne
- Genitiv (stark+assimiliert): d‘Webesch Anne (< d’Weber+s Anne)
- Genitiv (schwach): d‘Weberen Anne
301Diese Konstruktion ist so zu verstehen, dass ein Träger des Familiennamens Weber durch die Nennung des Rufnamens Anne näher bestimmt wird (vgl. Bach 1952: 68-69). Der Familienname wirkt in diesem Fall wie ein attributives Adjektiv. Dies scheint
zudem eine ursprüngliche Funktion des Genitivs gewesen zu sein. Behaghel (1923 Bd 1: 508) nennt dies den „Verhältnisgenitiv
“, der in erster Linie „ein Verwandtschafts- oder Freundschaftsverhältnis
“ bezeichnet. Ein Gebrauch außerhalb dieser Familiennamendomäne ist für das Luxemburgische
jedoch auszuschließen.
302Strukturell gesehen gibt es hier einige Besonderheiten: Zunächst werden sämtliche Namen im Luxemburgischen mit einem Artikel versehen. Hervorzuheben ist ebenfalls die Tatsache, dass der attributive Nachname sowohl unflektiert (1) als auch flektiert (2-3) verwendet werden kann. Im Fall (3) wird die Endung -ers sogar lautgesetzlich zu -esch assimiliert. Bei (4) zeigt sich zudem eine schwache Genitivendung auf -en. Viele dieser Punkte ergeben sich allerdings aus der Tatsache heraus, dass es sich hier um einen Namen mit auslautendem -er handelt. Für andere Namen wie Thill bleiben dann nur die kasuslose Variante (1) oder die Genitiv-s-Variante (2) übrig: Den Thill(s) Marc.
303Zudem kann der Nachname im Genitiv auch ohne Vornamen verwendet werden. Er steht dann stellvertretend für die Familie (Müllesch hunn eis invitéiert ‚Müllers haben uns eingeladen’) und wurde früher auch zur Bezeichnung von Hausnamen verwendet (a Müllesch ‚wörtl.: in Müllers’). Diese Genitivvariante kann auch in einen possessiven Dativ integriert werden, wie im folgenden Beispiel gezeigt wird.
304(41)Müllesch hiren Hond ass wierklech e Problem (Lehrbuch)
Müllers ihr Hund ist wirklich ein Problem
305Bei den vorangestellten Familiennamen im Genitiv (Typ: den Thills Marc) handelt es sich um eine vornehmlich gesprochensprachliche Variante, die größtenteils von älteren Sprechern verwendet wird.54 Früher war diese Art der Namensnennung besonders frequent in den Dorfgemeinschaften. Bei jüngeren Sprechern scheint diese Form nur noch passiv bekannt zu sein.
5.1.3 Die Verwendung des Genitivs in anderen westgermanischen Varietäten
306In diesem Kapitel möchte ich einen kurzen Blick auf die Verwendung (bzw. Nichtverwendung) des Genitivs in den verschiedenen germanischen Sprachen werfen (u.a. im Englischen, Niederländischen, Jiddischen, in verschiedenen deutschen Varietäten sowie im Standarddeutschen). Im Anschluss wird die offene Frage gestellt, ob sich der Genitiv – parallel zu seiner Funktion im Deutschen – auch im Luxemburgischen allmählich als Registermarker etabliert.
307Aus diachroner Perspektive gehörte der Genitiv zum Kasusinventar des Indogermanischen, auch wenn das heutige Niederländische oder das Englische kaum noch Genitive aufweisen. Das Indogermanische verfügte über ein System mit acht Kasus: Nominativ, Vokativ, Akkusativ, Dativ, Ablativ, Lokativ, Instrumentalis und Genitiv (vgl. Hentschel & Weydt 2003: 167f.). In vielen germanischen Sprachen hat sich dieses System durch unterschiedliche Formzusammenfälle und Suffixveränderungen im Laufe der Zeit deutlich reduziert. Im Englischen etwa wurde das Kasussystem – bis auf die Pronomen – ganz abgebaut (Allen 2008: 1). Im Standardniederländischen geht der Gebrauch des Genitivs seit dem Mittelniederländischen ebenfalls stark zurück und existiert nur noch als postnominales Attribut in mehr oder weniger stark lexikalisierten Wendungen (vgl. Weerman & de Wit 1999: 1184). So gilt der Sonntag beispielsweise als de dag des Heeren ‚der Tag des Herrn’ (vgl. ebd., vgl. auch Scott 2013).
308Im Jiddischen wird der Genitiv nur noch als pränominales Attribut verwendet (der adverbale Genitiv wurde durch den Akkusativ verdrängt, vgl. Lockwood 1995: 110f.). Jiddische adnominale Genitive haben drei Kerneigenschaften: (a) sie stehen meistens im Singular, (b) sie beziehen sich auf Personen und (c) sie stehen vor dem bezüglichen Nomen: mit zayn waybs visn ‚mit dem Wissen seiner Frau’ (vgl. Lockwood 1995: 110). Relationsverhältnisse werden häufig anhand der Präpositionen bay oder fun ausgedrückt: der vaydl bay/fun a leyb ‚der Schwanz bei/von einem Löwen’ (vgl. Lockwood 1995: 111).
309In vielen Varietäten des Deutschen zählt der Genitiv überhaupt nicht mehr zum Kasusinventar und existiert nur noch in erstarrter Form (vgl. Behaghel 1923 Bd.1: 479; Zifonun 2003: 122). Vereinzelte Schweizer Dialekte verfügen hingegen noch über Genitive, so etwa im Tessin, im Wallis oder in Graubünden (vgl. Behaghel 1923 Bd.1: 479; Russ 2002: 88). Den Beispielen zufolge gelten hier scheinbar ähnliche semantisch-syntaktische Bedingungen wie für den adnominalen Genitivgebrauch im Jiddischen (Singular, Bezug auf Person, pränominal).
310(42)ds Chenns Chappi (Russ 2002: 88)
des Kindes Kappe
311Bart (2006: 51) beschreibt in ihrer Analyse zum Ausdruck von Possession im Schweizerdeutschen, dass adnominale possessive Genitive (Typ: (s) Leerers Hund) von den meisten Sprechern aus den Kantonen Bern, Schwyz, Glarus, St. Gallen und Graubünden akzeptiert werden. Im schweizerischen Gesamtbild gaben allerdings 74 % der Befragten an, den possessiven Dativ zu präferieren (vgl. Bart 2006: 50). Selbst wenn Dative bei der Possession bevorzugt werden, kann für die Schweiz kein radikaler Genitivschwund – wie er für andere Dialekte angenommen wird – notiert werden. Außerdem existieren in der schweizerdeutschen Schriftsprache auch noch Präpositionen mit (alternativer) Genitivrektion (Bsp.: während, vgl. Gelhaus 1972: 105f., zit. nach Elter 2005: 132).
312Aufgrund der reichhaltigen Forschungsliteratur zum Genitiv im Standarddeutschen sowie der typologischen Ähnlichkeit zum Luxemburgischen soll nun die Entwicklung des Genitivs im Deutschen skizziert werden. Der Genitiv diente ursprünglich zur Markierung von Zugehörigkeitsrelationen im weitesten Sinn (Besitz, Ähnlichkeit, usw.) sowie zum Anzeigen von bestimmten Verhältnissen (Verwandtschafts- oder Freundschaftsverhältnissen, Verhältnis der Über- oder Unterordnung, Partitivität) (vgl. Behaghel Bd. 1 1923: 508). Wie bereits erwähnt, werden einige dieser Funktionen (Bsp. Possession) in vielen Sprachen mit anderen Konstruktionen ausgedrückt. Hierzu zählen etwa Dativ im Schweizerdeutschen, of im Englischen oder van im Niederländischen (zum Englischen und Niederländischen vgl. Rijkhoff 2009). Hinzu kommt die Verwendung des Genitivs im Deutschen als Rektionskasus (Verben, Adjektive, Präpositionen).
313Insgesamt gilt der Genitiv im Standarddeutschen allerdings als “unproduktiv und größtenteils außerdem reliktär
” (Willems 1997: 189). Darüber hinaus ist der Genitiv in der gesprochenen Alltagssprache nur selten anzutreffen
(Hentschel & Weydt 2003: 171). An seine Stelle treten vornehmlich Dativ- oder Präpositionalkonstruktionen (vgl. Scott 2011: 59). Insgesamt geht Scott (2011) allerdings weniger von einem Reliktstatus des Genitivs aus als vielmehr von einer
komplexen Neuordnung possessiver Strukturen und Rektionsmuster. In der deutschen Schriftsprache
hat der Genitiv noch seine relativ uneingeschränkte Daseinsberechtigung und wird hier
vor allem als Stilmarker oder – wie ihn Szczepaniak (2014: 33) treffend benennt – als „Prestige-Genitiv
“ verwendet.
314Dass sich eine solche Prestige-Form etablieren konnte, führt Szczepaniak (2014) auf die Unsicherheit bei der Verwendung des Genitivs zurück, da es mitunter zu Rektionsschwankungen von Präpositionen kommt, bei denen Dativ und Genitiv koexistieren. Neben der Stigmatisierung des Dativs erhält der Genitiv immer mehr Prestige und gilt insgesamt als schriftsprachlicher, wodurch aus einer strukturellen Variation eine wertgebundene wird (vgl. Szczepaniak 2014: 36). Darüber hinaus kommt es im Schriftdeutschen zu Fällen, in denen Genitive an Präpositionen angehängt werden, die eigentlich einen Dativ regieren. Zu diesen ‚ursprünglichen’ Dativpräpositionen gehören u.a. binnen, entlang, dank, trotz und inmitten. Im geschriebenen Standarddeutschen wird bei diesen Präpositionen in über 50 % der Fälle ein Genitiv verwendet. Trotz und inmitten zeigen bei über 90 % Genitivrektion (vgl. Di Meola 2000: 207ff.). Der Genitiv kennzeichnet Äußerungen somit als besonders formell und standardsprachlich (vgl. Barbour & Stevenson 1998: 172).
315Im Luxemburgischen spielt der Genitiv eine sehr spezifische Rolle. Im Laufe dieses Kapitels wurde der Terminus der Pseudoproduktivität angeführt. Die Idee dahinter ist mit einer Art restriktiver Produktivität vergleichbar: die Daten zeigen, dass Verben und Adjektive durchaus Genitive regieren können. Dabei lohnt sich auch ein Blick auf die Textsorten, in denen Genitive vorkommen: Viele der hier aufgezeigten Genitivbelege stammen vor allem aus dem konzeptionell schriftlichen Bereich (Wikipedia, Online-Kommentare). Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass mit dem Ausbau der luxemburgischen Schriftsprache auch ein gewisser Registerausbau einhergeht.
316Szczepaniak (2014: 33) spricht bei der Entwicklung des Genitivs im Deutschen (seit dem Frühneuhochdeutschen)
von aufkommenden sozialen Kontrasten, die dem Genitiv eine mehr und mehr soziale Funktion
zukommen lassen. Zudem weist sie darauf hin, dass Varianz (Bsp.: Präp. mit Dativ oder
Genitiv) zu Unsicherheit bei den Sprechern führen kann. Durch das Aufkommen dieses
„Prestigegenitivs
“, wie die Autorin ihn nennt, kann diese Unsicherheit aufgehoben werden.
317Ich möchte an dieser Stelle die offene Frage formulieren, ob es sich beim Genitiv
im Luxemburgischen nicht auch um eine Prestigeform handeln kann. Durch den Ausbau
des Luxemburgischen im Schriftbereich und das schnelle Wachstum der luxemburgischen
Onlinetextsorten kann es durchaus sein, dass hier bestimmte Stilregister aufgebaut
werden. Denkbar wäre demnach eine Lehnprägung mit stilistischer Funktion, indem sich
das Luxemburgische an Stilelementen konzeptioneller Schriftlichkeit der standarddeutschen
Sprache (in diesem Fall am Genitiv) orientiert. Dabei geht es nicht darum, dass bestimmte
lexikalische Ausdrücke übernommen werden. Es geht vielmehr um Norm und Assoziation:
Dadurch, dass eine Teilidentität des deutschen Genitivs als Prestigemarker übernommen
wird, kann es dazu führen, dass luxemburgische Sprecher ihre Äußerungen durch die
Verwendung von Genitiven als besonders schriftsprachlich markieren wollen. Bei Szczepaniak
(2014: 36) heißt es in Bezug auf den deutschen Genitiv: „Diese wertgebundene Variation kann zur Selbstdarstellung und Abgrenzung von anderen
genutzt (und so auch verfestigt) werden.
“ Ob sich das Luxemburgische eine ähnliche Art der wertgebundenen Variation derzeit
aufbaut, kann hier allerdings nur als Vermutung geäußert werden. Der Aufbau des Korpus
(etwa 90 % medial schriftlich realisierte Sprache) sowie die Anonymität der Sprecher
lassen leider kaum Rückschlüsse auf Stil- und Registerebenen zu. Durch den Domänenausbau
des Luxemburgischen auf den Schriftbereich wäre ein solcher struktureller Wandel durchaus
vorstellbar. Durch das Entstehen neuer Register erhalten demnach auch neue Sprachmuster
Einzug in die Struktur des Luxemburgischen. In Zukunft sollte diese Art der stilistischen
Assoziation weiter – vor allem auch unter soziopragmatischen Aspekten – untersucht
werden.
5.1.4 Zusammenfassung
318Der Status des Genitivs im Luxemburgischen wurde hier aus zwei Blickwinkeln betrachtet: historisch-diachron (reliktärer Genitiv) oder synchron (produktiver Genitiv). Dass ehemals produktive Genitive immer stärker schwinden bzw. in festen Phraseologismen weiter existieren, ist eine Entwicklung, die sich durch viele germanische Sprachen zieht. Die Frage nach der diachronen Entwicklung des luxemburgischen Genitivs kann aufgrund der geringen Datenlage und auch aufgrund der methodischen Ausrichtung dieser Arbeit nicht hinreichend beantwortet werden. Dennoch kann festgehalten werden, dass Präpositional- und Dativkonstruktionen im Vergleich zu Konstruktionen mit Genitiv deutlich überwiegen, der Genitiv allerdings noch in vereinzelten Strukturen auffindbar ist.
319Insgesamt führt die Kasusunterspezifizierung am luxemburgischen Nomen dazu, dass häufig präpositionale Fügungen verwendet werden.
320(43)e Geste vum Commerçant (Online-News)
eine Geste vom Händler
321Die nachfolgende Tabelle zeigt eine Übersicht aller im Korpus zusammengetragenen luxemburgischen Genitivtypen. Dabei werden sowohl der jeweilige Status beschrieben und bei Bedarf im Feld Bemerkungen kommentiert sowie prägnante Beispiele aufgeführt, um den Status des Genitivs noch einmal zu rekapitulieren.
Genitivtyp | Status | Beispiel | Bemerkung |
Attribut | lexikalisiert | Enn des Mounts | lexikalische Restriktionen (Kalenderangaben) |
Präposition+Gen | nur Einzelfälle | wéinst menger | Lehnprägung durch das Deutsche nicht ausgeschlossen, häufig pronominaler Genitiv |
Verb+Gen | produktiv bei bestimmten Verben (Genitivus Criminis) | iwwerféieren, sech schëlleg maachen | Koexistenz mit Dativ, PP oder Nebensätzen |
Adjektiv+Gen | produktiv bei bestimmten Adjektiven | wierdeg/würdeg sinn | midd/sat häufig mit Partitivpronomen |
Adverbial | lexikalisiert | hautdesdaags | kein transparentes Muster |
prädikative Funktion | lexikalisiert | des Däiwels sinn | nur wenige Belege |
Familiennamen- form | frequent bei älteren Sprechern | d’Webesch Anne | eher ältere Sprecher und eher im Mündlichen |
322Eine Verankerung des Genitivs im luxemburgischen Kasusparadigma ist demnach möglich, jedoch mit deutlichen Einschränkungen, da es sich in vielen Fällen um verfestigte Wendungen handelt (Lexikalisierung).
5.2 Adnominale Possession
5.2.1 Prinzipien der Possession
323Possession ist in zweierlei Hinsicht mit dem Genitiv in Relation zu setzen. Zum einen gehört Possession zum ehemaligen Funktionsbereich des Genitivs, denn diese Bereiche (Kasus und Funktion) sind aus historischer Perspektive eng verknüpft. Zum anderen wurde im vorangegangenen Kapitel darauf hingewiesen, dass Possession im Luxemburgischen nicht mit dem Genitiv ausgedrückt wird. An dieser Stelle sollen also nun die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten für Possession aufgezeigt werden. Auf diese Weise wird das Bild des Funktionsbereichs Genitiv vervollständigt, auch wenn sich in diesem Unterkapitel keine Genitivbelege befinden.
324Zunächst muss allerdings der Terminus Possession problematisiert werden, denn das, was in der Linguistik oft als „Possession“ beschrieben wird, behandelt weitaus mehr als nur Besitzrelationen (also Possession im engeren Sinn). Im weiteren Sinn handelt es sich um verschiedene Arten von Zugehörigkeitsrelationen. Hierzu gehören unter anderem Teil-von-Beziehungen, Teil-Ganzes-Beziehungen, Verwandtschaftsrelationen, Macht- oder Urheberrelationen, Besitzverhältnisse sowie allgemeine Relationen zwischen Personen, Gegenständen und Eigenschaften (vgl. auch McGregor 2009: 1). Demnach steht der Begriff Possession stellvertretend für mehrere Relationskonzepte. Das zugrundeliegende funktionale Prinzip der Possession kann wie folgt generalisiert werden: A (Possessum) steht in relationalem Verhältnis zu B (Possessor). Bei Pauls Buch ist demnach Paul der Possessor (der Besitzer) und das Buch das Possessum (der Besitz). In dieser Terminologie ist bei Pauls Tante auch Paul der Possessor und seine Tante das Possessum, da hier ein verwandtschaftliches Verhältnis vorliegt (Possession im weiteren Sinn).
325Dieses funktionale Prinzip kann im Luxemburgischen durch unterschiedliche syntaktische Konstruktionen ausgedrückt werden, die im vorliegenden Kapitel anhand von Korpusbelegen näher beschrieben werden:
- Possessivartikel und -pronomen (seng Bicher ‚seine Bücher’, mäint ‚meins’)
- possessiver Dativ (dem Pol säi Buch ‚dem Paul sein Buch’)
- vun-PP (d’Buch vum Pol ‚das Buch vom Paul’)
327Im Anschluss an diese Beschreibung wird es kein gesondertes sprachvergleichendes Kapitel geben, da viele Charakteristiken der Possession in anderen westgermanischen Sprachen bereits im Genitiv-Kapitel (5.1.3) besprochen wurden. Dort finden sich auch Literaturhinweise zur Vertiefung.
5.2.2 Ausdruck von Zugehörigkeitsrelationen
328Es gibt mehrere Möglichkeiten, Zugehörigkeitsrelationen syntaktisch auszudrücken. Im Fokus dieses Kapitels stehen Possessivartikel und -pronomen (säin Auto ‚sein Auto’), der adnominale oder possessive Dativ (dem Noper säin Auto ‚dem Nachbarn sein Auto’) sowie vun-PPs (den Auto vum Noper ‚das Auto vom Nachbarn’). Zunächst wird das Formeninventar von Possessivartikeln und -pronomen vorgestellt. Im Anschluss werden die strukturellen Eigenschaften des possessiven Dativs und der vun-PP aufgezeigt. Vor allem die spezifische Besetzung von Possessor und Possessum wird beim possessiven Dativ eingehend untersucht, da es hier zu Restriktionen kommen kann. Eine Korpusanalyse soll anschließend erste Hinweise auf die Verteilung zwischen der Possession mit Dativ und derjenigen mit vun-PP liefern. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass possessive Dative nur dann möglich sind, wenn der Possessor belebt ist wie beispielsweise bei Noper ‚Nachbar’ (vgl. u.a. Bruch 1955).
329Der Possessivartikel und das Possessivpronomen
330Für jedes Personalpronomen steht ein Possessivartikel bzw. ein entsprechendes Possessivpronomen zur Verfügung. Die Formen des Artikels und des Pronomens werden nach Kasus, Genus, Person und Numerus flektiert, die wiederum von den grammatischen Eigenschaften des Possessums und von der syntaktischen Funktion der possessiven NP im Satz vorgegeben werden.
331In Beispiel (54) muss der Possessivartikel mengem (Possessivartikel zu ech, 1.Pers.Sg.) im Dativ stehen, da das Verb gratuléieren ‚gratulieren’ ein Dativobjekt verlangt. Das Nomen, das vom Possessivartikel begleitet wird, hat die Merkmale [Singular] und [Maskulinum].
332Da die Grundaspekte der Possession bereits in Kapitel 4 beschrieben wurden, sollen hier nur noch einmal die Flexionstabellen mit den Possessivpronomen und -artikeln aufgeführt werden. Tabelle 42 zeigt Nominativ/Akkusativ, die durch ihre identische Oberflächenstruktur gemeinsam dargestellt werden können, und Tabelle 43 zeigt die Dativformen.
Num. | Pers. | Genus | Pers.-Pro. | Possessivartikel (Mask. - Neutr. - Fem./Pl.) | Possessivpronomen (Mask. - Neutr. - Fem./Pl.) |
Sg. | 1. | – | ech | mäin - mäin - meng | mäin - mäint - meng |
2. | – | du | däin - däin - deng | däin - däint - deng | |
3. | Mask. | hien | säin - säin - seng | säin - säint - seng | |
Neutr. | hatt | säin - säin - seng | säin - säint - seng | ||
Fem. | si | hiren - hiert - hir | |||
Pl. | 1. | – | mir | eisen - eist - eis | |
2. | – | dir | ären - äert - är | ||
3. | – | si | hiren - hiert - hir |
Num. | Pers. | Genus | Pers.-Pro. | Possessivartikel (Mask. - Neutr. - Fem. - Pl.) | Possessivpronomen (Mask. - Neutr. - Fem. - Pl.) |
Sg. | 1. | – | ech | mengem - mengem - menger - mengen | |
2. | – | du | dengem - dengem - denger - dengen | ||
3. | Mask. | hien | sengem - sengem - senger - sengen | ||
Neutr. | hatt | sengem - sengem - senger - sengen | |||
Fem. | si | hirem - hirem - hirer - hiren | |||
Pl. | 1. | – | mir | eisem - eisem - eiser - eisen | |
2. | – | dir | ärem - ärem - ärer - ären | ||
3. | – | si | hirem - hirem - hirer - hiren |
333Die Formen von Possessivartikeln/-pronomen leiten sich aus historischen Genitiven ab (vgl. Olsen 1989, zit. nach Zifonun 2004). Die folgenden Sätze zeigen einige Beispiele mit Possessivartikeln (vgl. (44), (45)) und -pronomen (vgl. (45), (46)).
334(44)Och mäin Dag huet nëmme 24 Stonnen. (Politik)
Auch mein Tag hat nur 24 Stunden.
335(45)Ech nennen hien nët „eisen Andy“, well mäin ass en nët. (Online-Kommentar)
Ich nenne ihn nicht ‚unsren Andy’, weil meiner ist er nicht.
336(46)Wat mäint ass, ass däint. (Online-News)
Was meins ist, ist deins.
337Possessivartikel und -pronomen sind nur dann verfügbar, wenn die Referenz anaphorisch auf bereits erwähnte Bezugsgrößen stattfindet, d. h. bei säin Auto muss deutlich werden, um wessen Auto es sich handelt. Außerdem können diese Possessivartikel und -pronomen keine Relationsverhältnisse zwischen zwei nominalen Referenten anzeigen, da sie immer nur eine verweisende Funktion haben. Um die Possession nominaler Referenten auszudrücken, muss auf den possessiven Dativ oder auf vun-PPs zurückgegriffen werden.
338Possessiver Dativ
339Das Verhältnis zwischen Possessor und Possessum spielt auch bei der possessiven Dativkonstruktion eine zentrale Rolle. Possessive Dative verfügen über den folgenden formalen Aufbau: der Possessor (den Andy) bildet eine Dativ-NP (dem Andy), die vor der Possessum-NP steht (vgl. (47)). Das Possessum wird von einem entsprechenden Possessivartikel begleitet (seng) und nimmt den Kasus an, der ihm vom Verb zugewiesen wird (Beispiel (47) zeigt eine Possessivkonstruktion ohne syntaktischen Kontext, wodurch das Possessum im Nominativ steht). Die einzelnen Bestandteile dieser possessiven Konstruktion stehen gewöhnlich zusammen und werden nicht durch andere Konstituenten unterbrochen.
340(47)dem Andy seng Ausried
dem Andy seine Ausrede
Det + N(Possessor) + Poss.-Art. +N(Possessum)
341Possessive Dative sind im Luxemburgischen sehr frequent. Im folgenden Beispiel etwa gibt es eine Aufzählung von mehreren (teils elliptischen) possessiven Dativkonstruktionen mit dem Possessum Schold ‚Schuld’.
342(48)De Fehler ass bestëmmt den Schüler hir Schold. Oder hiren Elteren hir? Dem Portier
seng? (Online-Kommentar)
Der Fehler ist bestimmt den Schülern ihre Schuld. Oder ihren Eltern ihre? Dem Portier
seine?
343Der Gebrauch des possessiven Dativs ist nicht nur im Luxemburgischen, sondern nahezu
im gesamten deutschen Sprachraum auffindbar (vgl. Behaghel 1923; Russ 1990, zit. nach Zifonun 2003: 98). Der possessive Dativ hat dort allerdings keinen offiziellen schriftsprachlichen
Status (vgl. Dudengrammatik 2006: 835, 1224) und gilt insgesamt als Form des Substandards oder als dialektale Variante, u.a.
im Hessischen, Pfälzischen, Bairischen und Thüringischen sowie im Niederdeutschen
(vgl. Zifonun 2003: 97f.). Für die Zusammensetzung des possessiven Dativs sind im Deutschen laut Zifonun (2003) zwei zentrale Elemente zu beachten: Einerseits funktioniert die Possession nur bei
der 3. Person, d. h. 1. und 2. Person sind ausgeschlossen. Demzufolge ist mir meine Sachen ungrammatisch, ihm seine Sachen hingegen akzeptabel. Andererseits heißt es bei Zifonun (2003), dass der Possessor eine Person oder zumindest belebt sein muss. Die Autorin räumt
allerdings ein, „dass die prototypische Possessor-Relation ohnehin einen menschlichen Possesso
r fordert
“ (Zifonun 2003: 102).
344Auch für das Luxemburgische wurden bereits ähnliche Belebtheitseinschränkungen erwähnt (Bruch 1955: 50). Zunächst gilt es nun zu bestimmen, welche Wortarten im Allgemeinen in der Possessorposition stehen können. Bei Zifonun (2003) findet sich dafür eine Liste mit Wortartkombinationen, die in deutschen Dialekten bzw. im Substandard zulässig sind. Diese Liste wird nun mit luxemburgischem Datenmaterial dargestellt. In dieser Liste werden zunächst nur die möglichen Wortarten für den Possessor und ein passendes Beispiel aus dem Korpus sowie eventuelle Besonderheiten angeführt. Das Thema Belebtheit sowie die Ambiguität zwischen possessivem Dativ (him säi Buch ass do ‚ihm sein Buch ist da’) und freiem bzw. valenzgesteuertem Dativ (him säi Buch ginn ‚ihm sein Buch geben’) werden im Anschluss erklärt.
345In der syntaktischen Leerstelle für den Possessor können unterschiedliche nominale und pronominale Konstituenten stehen. Neben Eigennamen (d. h. Ruf- und Familiennamen mit Definitartikel, vgl. (49) und (50)) können auch definite (vgl. (51)) und indefinite (vgl. (52)) Phrasen in der Possessor-Leerstelle stehen.
346(49)„nee“ ass dem Pol seng äntwert (Interview)
„nein“ ist dem Paul seine Antwort
347(50)Dem Juncker säin Afloss am Ausland (Online-Kommentar)
Dem Juncker sein Einfluss im Ausland
348(51)Ech kann dem Auteur seng Meenung net deelen (Online-Kommentar)
Ich kann dem Autor seine Meinung nicht teilen
349(52)enger Fra hire Schal huet sech ëm déi hënnescht Achse vun hirem Kaart gewéckelt (Online-News)
einer Frau ihr Schal hat sich um die hintere Achse von ihrem Kart gewickelt
350Auch pronominale Konstituenten können als Possessor Teil einer possessiven Dativkonstruktion sein. Konstruktionen mit Personalpronomen sind nur bei der 3. Person möglich. Ein Satz wie *dat ass iech ären Hutt ‚das ist Euch Euer Hut’ (2.Pers.Pl.) (Bsp. angelehnt an Zifonun 2003: 30) ist im Luxemburgischen daher nicht möglich. Im Korpus finden sich nur Belege für die 3. Person Singular Maskulinum und Neutrum (vgl. (53)) sowie für die 3. Person Plural (vgl. (54)).
351(53)well him seng witzer sou domm ann awer witzeg sinn (Online-News)
weil ihm seine witze so dumm und aber witzig sind
352(54)Hir eege Fantasie gëtt hinnen hir Realitéit. (wikipedia.lu)
Ihre eigene Fantasie wird ihnen ihre Realität
353Die Kombination von zwei femininen Pronomen ist für das Luxemburgische nicht belegt, was unter Umständen damit zusammenhängt, dass in diesem Fall zwei identische Pronomen kombiniert werden (das feminine Personalpronomen im Dativ und der Possessivartikel lauten beide hir), sodass es zu folgender Konstruktion käme: ?hir hir Saachen ‚ihr ihre Sachen’.
354Man mag sich bei diesen Belegen die Frage stellen, warum diese Redundanz im Satz nötig ist, schließlich verweist bereits der Possessivartikel seng in seng Witzer ‚seine Witze’ auf eine bestimmte Person (in der Rolle des Possessors). Die Redundanz entsteht nun dadurch, dass ein zusätzliches Personalpronomen in die Leerstelle des Possessors gesetzt wird, das auf dieselbe Person wie der Possessivartikel verweist (him seng Witzer). Die Antwort liegt in der Pragmatik, denn häufig wird die Kombination von Personalpronomen und Possessivartikel verwendet, um die referentiellen Möglichkeiten des Pronomens einzugrenzen oder einfach um sie hervorzuheben. Zifonun (2005: 42) zufolge handelt es sich bei einem einfachen Possessivartikel (seng Witzer) um eine „schwache“ Variante und bei der Verstärkung durch ein Personalpronomen im possessiven Dativ (him seng Witzer) um die „starke“ Variante.
355Als „starke“ Variante können demnach auch possessive Dative mit Demonstrativpronomen in der Possessor-Leerstelle verstanden werden. Als Demonstrativpronomen stehen hier die starken Formen des pronominalisierten Definitartikels (deen/déi/dat) oder das Demonstrativum (dësen, dës, dëst) zur Verfügung.
356(55)säi Brudder, seng Schwëster an där hir Filsen (Online-News)
sein Bruder, seine Schwester und der ihre Söhne
357(56)si këmmert sech nie sou gutt ëm e Kand wéi dësem seng eege Mamm (Online-Kommentar)
sie kümmert sich nie so gut um ein Kind wie diesem seine eigene Mutter
358Zu den weiteren Pronomentypen, die in einen possessiven Dativ integriert werden können, zählen Indefinita (57), Fragepronomen (58) und Relativpronomen (59). Wie bereits in der Wortartenlehre (Kapitel 4) dargelegt wurde, kennt das Luxemburgische kein direktes Indefinitpronomen, das dem Deutschen niemand entspricht. Demzufolge wird für Personen keen/keng (keiner/keine) verwendet. Im possessiven Dativ steht demzufolge häufig kengem säin oder kenger hir.
359(57)daat schengt kengem säin problem ze sin (Online-Kommentar)
das scheint keinem sein problem zu sein
360(58)Wiem säi Bild a wiem seng Opschrëft ass dat hei? (Prosa)
Wem sein Bild und wem seine Aufschrift ist das hier?
361(59)Kanner, deenen hir Elteren schaffen gin (Online-Kommentar)
Kinder, denen ihre Eltern arbeiten gehen
362Neben der unterschiedlichen Besetzung der Possessor-Leerstelle gibt es noch weitere strukturelle Eigenschaften, die den possessiven Dativ auszeichnen. Hierzu zählen
- Rekursion (Einbettung mehrerer possessiver Dative),
- Reanalyse (unterschiedliche Lesarten von Dativen als possessives Dativattribut oder Dativobjekt) und
- Belebtheitskriterien (semantische Eigenschaften des Possessors).
364Possessive Dative können auch rekursiv verwendet werden, das bedeutet, dass eine Possessivkonstruktion in eine weitere eingebettet sein kann, sodass der Possessor ebenfalls aus einem possessiven Dativ besteht wie im folgenden Teilsatz.
365(60)dem Jakobus an dem Jouseph hir Mamm, an och dem Zebedäus senge Jongen hir Mamm (Prosa)
dem Jakobus und dem Joseph ihre Mutter, und auch dem Zebedäus seinen Jungs ihre Mutter
[[dem Zebedäus]POSSESSOR [senge Jongen]POSSESSUM]POSSESSOR [hir Mamm]POSSESSUM
366Bei dieser komplexen syntaktischen Einbettung kann es mitunter auch zu Konstruktionsfehlern kommen, sodass entweder ein falscher Kasus oder ein falscher Possessiv-artikel verwendet werden. Im folgenden Beispiel geht es um die Hochschulstudien von den Kindern einer bestimmten Person.
367(61)da sinn deem seng Kanner seng Studien finanzéiert (Online-Kommentar)
dann sind dem seine Kinder seine Studien finanziert.
368Die in (61) intendierte rekursive Possessivkonstruktion enthält allerdings zwei Fehler: Zum einen fehlt die Dativendung beim Possessivartikel seng, der eigentlich senge(n) lauten müsste. Zum anderen nimmt der hier verwendete zweite Possessivartikel Bezug auf die 3. Person Singular seng. Dabei muss der Bezug zum Plural Kanner hergestellt werden, d. h. hir Studien.
369Als nächsten Punkt möchte ich diejenigen Konstruktionen ansprechen, bei denen der Dativ zwei strukturelle Zuordnungen zulässt, sodass er entweder vom Verb abhängt (als Teil der Valenz) oder einen possessiven Dativ darstellt (als Teil einer Possessivkonstruktion). In einem strukturell ambigen Satz wie (62) kann nicht eindeutig geklärt werden, ob der Dativ als indirektes Objekt in der semantischen Rolle des Malefaktiv fungiert oder der Dativ ein adnominales Attribut zu Poche ‚Handtasche’ ist (in einer possessiven Dativkonstruktion).
370(62)Si haten esouguer enger Fra hir Poche geklaut. (Online-News)
sie hatten sogar einer Frau ihre Handasche geklaut.
371Dies trifft auch auf Beispiele mit einem Personalpronomen als Possessor zu. Das nachfolgende Beispiel zeigt das Pronomen him (3.Pers.Sg.Dativ), welches sowohl Teil der Possession sein kann (him säin Hobby ‚ihm sein Hobby’) als auch als selbstständiges Dativobjekt (erneut in der Rolle als Malefaktiv) vom Verb abhängen kann (him eppes verbidden ‚ihm etwas verbieten’).
372(63)Se konnten him säin Hobby net verbidden (Prosa)
Sie konnten ihm sein Hobby nicht verbieten
373Genau an dieser Stelle wird auch der Reanalyse-Pfad dieser possessiven Konstruktion deutlich, der dazu geführt hat, dass sich der possessive Dativ überhaupt grammatikalisieren konnte. Demnach wurde der adverbale Dativ (das eigentliche Dativobjekt) syntaktisch reanalysiert und durch den Possessivartikel mit dem darauffolgenden Substantiv assoziiert: enger Fra hir Poche ‚einer Frau ihre Tasche’.55 Demzufolge kann der Dativ wie bei (64)a) Teil der Verbvalenz sein oder wie bei b) ein Attribut zum Nomen Poche ‚Handtasche’.
374(64)a) Si haten [enger Fra]DAT [hir Poche]AKK geklaut.
Dativ als Teil der Valenz: klauen + [Dat] [Akk]
b) Si haten [[enger Fra]DAT hir Poche]AKK geklaut.
Dativ als nominales Attribut: klauen + [[Dat+]Akk]
375Beim Thema Belebtheit herrscht aus deutscher sowie aus luxemburgischer Forschungsperspektive weitestgehend
Konsens darüber, dass nur belebte Possessoren für einen possessiven Dativ verwendet
werden können (vgl. u.a. Behaghel 1923; Bruch 1955; Zifonun 2003). Auch wenn Zifonun (2003: 102) keine deutschen Belege (Dialekt und Substandard) für einen possessiven Dativ mit
unbelebten Possessoren finden kann, so räumt die Autorin dennoch ein, dass diese Regel
womöglich „durchlässig
“ sein kann. Tatsächlich finden sich im Luxemburgischen vereinzelte nichtmenschliche
(vgl. (65)) sowie unbelebte Possessoren (vgl. (66)) im Dativ.
376(65)dem Calamar seng Gréisst (Online-News)
dem Kalmar seine Größe
377(66)dem Kamion seng Lued vu Kräsi (Online-News)
dem LKW seine Ladung von Kies
378Die Belebtheit bzw. die Unbelebtheit des Possessors galt bis dato als distributives Kriterium zwischen dem possessiven Dativ und dem Ausdruck der Possession mit einer vun-PP (vgl. u.a. Bruch 1955; Christophory 1974). Im folgenden Abschnitt sollen nun einerseits die Eigenschaften der Konstruktion mit Präposition aufgezeigt werden und andererseits soll geklärt werden, welche Kriterien ausschlaggebend für die Wahl zwischen possessivem Dativ und der Umschreibung mit einer PP sind.
379Präpositionale Possessivmarkierung
380Possessivkonstruktionen mit PPs werden mit der Präposition vun bzw. bei klitisiertem Definitartikel mit vum ‚vom(=von+dem)’ gebildet. Die lineare Abfolge von Possessor und Possessum ist im Gegensatz zur Dativkonstruktion umgekehrt.
381(67)d’ Ausried vum(=vun+dem) Andy
die Ausrede vom(=von+dem) Andy
Det + N(Possessum) + vun + N(Possessor)
382Präpositionale Possessivmarkierung mit vun hat den Vorteil, dass semantische Rollen differenzierter ausgedrückt werden können. Beim reinen possessiven Dativ dem Grand-Duc säi Cadeau ‚dem Großherzog sein Geschenk’ wird beispielsweise nicht klar, ob der Großherzog in diesem Beispiel als Agens (sozusagen als Schenker) oder als Rezipient (er ist der Beschenkte) zu verstehen ist. Solche Ambiguitäten können nur durch den Einsatz von Präpositionen aufgelöst werden.
383(68)dem Grand-Duc säi Cadeau vum Popst Benedikt (Online-Kommentar)
dem Großherzog sein Geschenk von Papst Benedikt
384(69)de Kaddo vun der Stater Gemeng un déi jonk Koppel (Online-News)
das Geschenk von der Luxemburger Gemeinde an das junge Paar
385Darüber hinaus merkt Kasper (2017: o.S.) an, dass diese präpositionale Konstruktion (hier mit vun) „am wenigsten von strukturellen und lexikalisch-semantischen Restriktionen betroffen
[ist]
” und dadurch in vielen Kontexten verwendet werden kann.
386In den älteren Beschreibungen des Luxemburgischen von Bruch (1955: 50) oder Christophory (1974: 49) heißt es, dass Possession immer dann mit vun ausgedrückt wird, wenn der Possessor
nicht belebt ist, wie bei d’Mauer vun eisem Gaart ‚die Mauer von unserem Garten’ (vgl. Bruch 1955: 50). Auch im Deutschen gilt nach Zifonun (2003: 123) in diesem Kontext eine Art „Domänenaufteilung
“ durch das Belebtheitskriterium, d. h. „Dat+Poss ist die Konstruktion für belebte Possessoren, die von-Phrase die für unbelebte
“. Für das Schweizerdeutsche wird auf eine ähnliche Belebtheits-Aufteilung hingewiesen
(vgl. Reese 2007: 51).
387Diese mutmaßliche Aufteilung zwischen possessivem Dativ und vun-PPs soll nun anhand einer Korpusanalyse für das Luxemburgische überprüft werden. Hierzu wurde eine spezifische Possessum-NP (hier: Schold ‚Schuld’) gewählt und systematisch auf die syntaktische Einbettung des Possessors (PP oder Dativ) untersucht. Das Possessum Schuld bietet den Vorteil, dass es von seiner Semantik her auch unbelebte „Schuldträger“ zulässt, sodass eine breite Streuung von Possessoren zu erwarten ist.
388Nach der Auswertung der 722 Possessionskonstruktionen mit dem Possessum Schold ‚Schuld’ zeigt sich in der nachfolgenden Tabelle, dass Dativkonstruktionen des Typs de Politiker hir Schold ‚den Politikern ihre Schuld’ im Vergleich zu den von-Konstruktionen des Typs d’Schold vun de Politiker ‚die Schuld von den Politikern’ deutlich überwiegen.
Possessor = beliebig; Possessum = Schold ‚Schuld’ | |
Possessiver Dativ (dem XY seng Schold) | 86,6 % (n=625) |
Possessive PP (d’Schold vum XY) | 13,4 % (n=97) |
389Nun gilt es, einen genaueren Blick auf die Possessoren und deren Belebtheitsaspekte zu werfen. Tatsächlich finden sich auch unbelebte Possessoren in der Dativkonstruktion (Bsp. dem Alkohol seng Schold), d. h. hier wurde trotz unbelebtem Possessor keine vun-PP gewählt, worauf ich gleich noch einmal gezielt eingehen möchte. Bei der qualitativen Analyse wird außerdem deutlich, dass die Dativkonstruktionen vor allem dann verwendet werden, wenn die Dativ-NP (Possessor) die Struktur [Det+N] aufweist. Sobald die Possessor-NP also komplexer ist als [Det+N], etwa durch Hinzufügen eines attributiven Adjektivs oder eines Relativsatzes, wird auf eine PP ausgewichen. In (70) findet sich eine beispielhafte Auflistung einiger Konstruktionen mit Dativ, in (71) mit vun-PP.
390(70)possessiver Dativ (dem XY seng Schold)
a) mengem papp seng schold (Chat) [Poss.: belebt]
meinem Vater seine Schuld
b) de Schleckbridder hir Schold (Online-Kommentar) [Poss.: belebt]
den Schleck-Brüdern ihre Schuld
c) onse Politiker hier Schold (Online-Kommentar) [Poss.: belebt]
unseren Politkern ihre Schuld
d) dem Bam séng Schold (Online-Kommentar) [Poss.: unbelebt]
dem Baum seine Schuld
e) dem Alkohol seng Schold (Online-Kommentar) [Poss.: unbelebt]
dem Alkohol seine Schuld
391(71)possessive vun-PP (d’Schold vum XY)
a) d’Schold vum Bouf a senger Mamm (Online-Kommentar) [Poss.: belebt]
die Schuld vom Sohn und seiner Mutter
b) d’Schold vum 42 Joer ale Mann (Online-News) [Poss.: belebt]
die Schuld vom 42 Jahre alten Mann
c) d’Schold vun eise Politiker (Online-Kommentar) [Poss.: belebt]
die Schuld von unseren Politikern
d) d’Schold vun der Welt, an där mir liewen (Online-Kommentar) [Poss.: unbelebt]
die Schuld von der Welt, in der wir leben
e) d’Schold vun de Waffen (Online-Kommentar) [Poss.: unbelebt]
die Schuld von den Waffen
392Dass unbelebte Possessoren wie Alkohol oder Bam ‚Baum’ in der Possessor-Leerstelle eines possessiven Dativs stehen können, hängt einerseits mit dem Prinzip der Metonymie oder Personifizierung und andererseits mit den „semantischen Möglichkeiten“ des Possessums zusammen.
393Semantisch gesehen weitet sich der possessive Dativ auf nicht menschliche Possessoren
über die Mittel der Metonymie und der Personifizierung aus. Bei Metonymien werden
etwa Institutionen oder Länder stellvertretend für regierende Personen oder Mitarbeiter
verwendet. Kaspar (2017: o.S.) fasst dies als „abstrakte Besitzrelation
“ auf. In Beispiel (72) ist zwar die Bank der Possessor, allerdings in metonymischer
Lesart, denn nicht das Gebäude, sondern die Betreiber des Geldinstituts sind als Possessoren
zu verstehen.
394(72)Dir hut der bank hir suen (Online-Kommentar)
Sie haben der Bank ihr Geld
395Gerade beim Possessum Schuld finden sich sehr häufig Metonymien beim possessiven Dativ: der Santé hir Schold ‚der Gesundheit ihre Schuld’ (Aufgabenbereich für zuständige Person), dem Ausland seng Schold ‚dem Ausland seine Schuld’ (Land für Regierungsmitglieder).
396Die Personifizierung ist eine weitere Option, die es ermöglicht, dass unbelebte Possessoren in der Possessorposition eines possessiven Dativs stehen können. Dabei kann dann auch Alkohol in dem Alkohol seng Schold ‚dem Alkohol seine Schuld’ ein personifizierter Schuldträger sein.
397Im folgenden Beispiel (73) werden drei Beispiele mit unterschiedlichen Possessoren gezeigt, die von (a) belebt, über (b) metaphorisch belebt bis (c) unbelebt reichen.
398(73)a) dem Voldemort seng Muecht (Prosa)
dem Voldemort seine Macht
b) dem Buedem seng Kraaft (Prosa)
dem Boden seine Kraft
c) dem Adjektiv seng syntaktesch Funktioun (wiss.Arbeit)
dem Adjektiv seine syntaktische Funktion
399Bei der Frage nach der Belebtheit des Possessors dürfen auch die „semantischen Möglichkeiten“ des Possessums nicht außer Acht gelassen werden, genauer genommen die Art der Relation, die zwischen Possessor und Possessum herrscht (vgl. auch Kasper 2017). Dass eine Konstruktion wie dem Gaart seng Mauer weniger plausibel ist als dem Bam seng Schold liegt zuletzt auch am Possessum. Hier sei auch noch einmal darauf hingewiesen, dass Possession als Begriff mehrere Relationsverhältnisse umfasst. Schaut man sich die semantische Dimension der Possessiva einmal genauer an, wird deutlich, dass Schold einen Auslöser braucht und demnach wie eine Art Urheberrelation funktioniert. Die Mauer hingegen ist im Beispiel mit dem Garten nur eine Teil-Ganzes-Beziehung und keine Besitzrelation: d’Mauer vum Gaart ‚die Mauer vom Garten’. Der possessive Dativ wäre hier nur möglich, wenn es sich um eine Besitzrelation handelt (d. h. Possession im engeren Sinn): dem Noper seng Mauer ‚dem Nachbarn seine Mauer’. Da aber im Prinzip nur ein belebtes Agens in der Lage ist, etwas zu besitzen, verfügen die meisten Besitzrelationen, die mit Dativ ausgedrückt werden, über einen belebten Possessor, sei es eine Person, eine Institution oder zumindest ein Tier (dem Mupp seng Spillsaach ‚dem Hund sein Spielzeug’). Dies verleitet wiederum zur Übergeneralisierung, dass nur belebte Possessoren mithilfe eines possessiven Dativs ausgedrückt werden können.
400Neben der Belebtheit und den semantischen Möglichkeiten scheint auch die Komplexität der Possessor-NP eine wichtige Rolle zu spielen. Aus den Daten geht hervor, dass vor allem Possessor-NPs, die attribuiert sind und somit komplexer als [Det+N], mit der vun-Konstruktion ausgedrückt werden. Zusätzlich können auch Stil und Informationsstruktur als bestimmende Faktoren gewertet werden. Tatsächlich zeigen die meisten possessiven Dative aus dem Korpus singularische, einfache NPs mit dem Aufbau [Det+N] (seltener auch Plural).
401Ein Beispiel aus einer akademischen Abschlussarbeit zeigt, wie diese Komplexitätsrestriktion auf die Possessivkonstruktion wirkt.
402(74)awer dem Tunnel seng Roll [...]d’Roll vum Gotthard-Tunnel am Portante sengem Roman (wiss.Arbeit)
aber dem Tunnel seine Rolle [..] die Rolle vom Gotthard-Tunnel im Portante seinem Roman
403Aufgrund der NP-Struktur des Possessors [Det+N] den Tunnel kann dieser in eine Dativkonstruktion eingebaut werden. Im Verlaufe des Satzes wird das Nomen durch ein onymisches Determinans als Kompositum erweitert und folglich in eine PP-Konstruktion umgewandelt, wobei das Possessum identisch bleibt (Roll). Die einzige Variable, die sich also verändert, ist die Zusammensetzung der Possessor-NP (den Tunnel vs. de Gotthard-Tunnel), sodass in diesem Fall nicht zwangsläufig Belebtheit, sondern NP-Komplexität als Kriterium ausschlaggebend zu sein scheint.
404Da es sich hier um ein verhältnismäßig kleines Sample aus einem unstrukturierten Korpus handelt, können nur Erklärungsansätze angebracht werden, die in weiteren Studien vertieft werden sollten. Dennoch lassen sich anhand der Daten drei Tendenzen erkennen:
- Je komplexer die Possessor-NP, desto wahrscheinlicher wird eine vun-PP verwendet.
- Metonymie und Personifizierung ermöglichen unbelebte Possessoren beim possessiven Dativ.
- Durch die semantische Relation zwischen Possessor und Possessum kann die Wahl zwischen possessivem Dativ und Possession mit vun beeinflusst werden.
5.2.3 Zusammenfassung
406Relationsverhältnisse können im Luxemburgischen auf drei Arten ausgedrückt werden: durch Possessivartikel oder -pronomen, durch einen possessiven Dativ oder durch eine PP mit vun. Besonders interessant ist das Verhältnis der letzten beiden Typen, denn hier gibt es bestimmte Tendenzen, die bei der jeweiligen Konstruktion beachtet werden müssen.
407Der possessive Dativ wird vor allem dann verwendet, wenn der Possessor belebt ist. Bei Belegen des Typs dem XY seng Schold hat sich gezeigt, dass auch unbelebte Possessoren möglich sind – allerdings nur dann, wenn die NP, die in der Possessor-Position steht, nicht attribuiert ist, d. h. den Aufbau Det+N aufweist wie in dem Fleesch seng Schold ‚dem Fleisch seine Schuld’. Daneben können auch Personifizierung und Metonymie eine wichtige Rolle beim Belebtheitskriterium spielen.
408Relationsverhältnisse, die mit vun ausgedrückt werden, haben den Vorteil, dass sie für alle Arten von Possessoren, semantischen
Rollen und für jede noch so komplexe NP verfügbar sind. Dennoch finden sich neben
der vun-PP auch sehr viele possessive Dative. Zifonun (2003) führt dies im Deutschen auf den Umstand zurück, dass der zentrale Referent beim
possessiven Dativ zuerst genannt wird und somit eine Art Topik eröffnet wird. Aus
informationsstrukturellen Gründen ist die Vorerwähnung des Possessors demnach durchaus
sinnvoll und nur durch einen possessiven Dativ umsetzbar. Diese Vorerwähnung des Possessors
liefert einen für die Possessionskonstruktion wichtigen „referentiellen Anker
“, vor allem dann, wenn dieser Possessor belebt ist (vgl. Zifonun 2003: 123).
409Eine strikte „Domänenteilung
“ nach der Belebtheit des Referenten (belebt=Dativ, unbelebt=PP), wie sie von verschiedenen
luxemburgischen Autoren und von Zifonun (2003: 123) für den deutschen Substandard angenommen wird, wird im Luxemburgischen nur bis zu
einem gewissen Grad eingehalten. Insgesamt ist ein Belebtheitskriterium als Tendenz
durchaus sinnvoll, jedoch müssen auch die Komplexität sowie die semantische Relation
der Possessor-NP berücksichtigt werden.
5.3 Partitivkonstruktionen mit däers/es und där/der
5.3.1 Einleitung
410Im Allgemeinen markieren Partitivkonstruktionen unterschiedliche Teilmengen- und Spezifizitätsaspekte von Referenzobjekten. Das Luxemburgische verfügt über ein ausgebautes System an Partitivkonstruktionen, dessen Grundzüge in diesem Kapitel dargelegt werden sollen. Ausgangspunkt dieses Kapitels sind Konstruktionen, welche die Partitivformen däers/es oder där/der enthalten. Neben der Verwendung eines Partitivpronomens (Typ: ech brauch es nach ‚ich brauche noch welches’) sind auch Partitivartikel (Typ: däers Kéis doheem hunn ‚diese Art von/solchen Käse zuhause haben’)56 im Luxemburgischen belegt. Um diese Formen in ihrer Syntax und Semantik besser verstehen zu können, werden im Folgenden unterschiedliche Partitivkonstruktionen aus dem Korpus vorgestellt und erste Analysen zu ihren syntaktischen und semantischen Eigenschaften gezeigt. Insgesamt sollen diese Belege erste Beispielanalysen zu diesem Phänomenbereich liefern, die mit einem nicht standardisierten und nicht annotierten Korpus durchführbar sind.
411Zunächst werden in Kapitel 5.3.2 die strukturellen Eigenschaften besprochen: Welche sind die formalen Eigenschaften von Partitiva und für welche Referenzobjekte sind sie verfügbar? Kapitel 5.3.3 widmet sich den Verwendungsweisen und der Semantik von Partitivkonstruktionen. Dabei muss die nominale von der pronominalen Verwendung unterschieden werden, da sie über unterschiedliche Bedeutungsdimensionen verfügen. Des Weiteren werden in den Kapiteln auch Wortstellungsoptionen sowie die Konzepte von Spezifizität und synthetischen Partitiven besprochen. Im Anschluss werden die luxemburgischen Partitivkonstruktionen dann in einem größeren, typologischen Kontext betrachtet (Kapitel 5.3.4), da nicht nur das Luxemburgische über Partitiva verfügt. Abschließend werden die wichtigsten Prinzipien zum luxemburgischen Partitiv noch einmal zusammengefasst (Kapitel 5.3.5). Am Ende des Themenkomplexes wird in Kapitel 5.4 ein umfassenderes Fazit gezogen, was sowohl auf den Partitiv als auch auf Possession und Genitiv eingeht, um diese drei Bereiche systematisch in Relation zu setzen.
5.3.2 Form und Distribution von partitiven Konstruktionen
412Wie Pronomen im Allgemeinen stehen auch Partitivpronomen stellvertretend für ein Substantiv. Dieser phorische Gebrauch ist in diesem Fall jedoch nicht für alle Substantivklassen verfügbar. Je nach Art des Referenten (Zählbarkeit, Genus, Numerus) stehen die Varianten där/der (87) sowie däers/es (88) zur Verfügung, wobei die erstgenannte die starke (där [dɛə], däers [dɛəs]) und die zweitgenannte die schwache Variante (der [dɐ], es [əs]) darstellt.
413(75)Kanns du mir där/der matbréngen?
Kannst du mir PRTV57 mitbringen?
möglicher Referent 1: Mëllech ‚Milch’ (Sg., unzählbar, Fem.)
möglicher Referent 2: Kamellen ‚Bonbons’ (Pl., zählbar, Fem.)
414(76)Kanns du mir däers/es matbréngen?
Kannst du mir PRTV mitbringen?
möglicher Referent 1: Botter ‚Butter’ (Sg., unzählbar, Mask.)
möglicher Referent 2: Gehacktes ‚Hackfleisch’ (Sg., unzählbar, Neutr.)
415Mögliche Referenten für där/der (75) können unzählbare Feminina im Singular oder Plurale sein. Die Formen däers/es (76) referieren ihrerseits ausschließlich auf unzählbare Singulare im Maskulinum und Neutrum. Am häufigsten finden sich Sätze mit dem Partitivpronomen där/der mit Pluralreferenz. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Anzahl an potentiell verfügbaren Referenten im Plural deutlich größer ist als die Anzahl an unzählbaren Substantiven im Singular. Die mögliche Referenz auf Plurale macht deutlich, dass Partitiva im Grunde genommen kein Zählbarkeitskriterium haben, sondern vielmehr ein Individuierbarkeitskriterium.58 Der Plural Kamellen ‚Bonbons’, auf den mit dem Partitivpronomen där/der referiert werden kann, ist durchaus zählbar, in der Pluralform allerdings nicht individuierbar (der Plural wird als indefinite Menge wahrgenommen). Das Partitivpronomen dient demnach dazu, auf Mengen zu referieren, die nicht individuierbar sind, seien es unzählbare Singulare oder Plurale im Allgemeinen. Zählbare Singulare sowie definite Plurale können nicht durch ein Partitivpronomen ersetzt werden.
416Auch Partitivartikel können nur an Plurale oder an unzählbare Substantive im Singular angehängt werden. Wie bei den Partitivpronomen sind Genus, Numerus und Zählbarkeit (i.S.v. Individuierbarkeit) ausschlaggebend für die Wahl des entsprechenden Partitivartikels. Unzählbare Maskulina und Neutra verlangen die Form däers (77), unzählbare Feminina und Plurale bekommen den Partitivartikel där (78).
417(77)Hu mer nach däers Téi?
Haben wir noch PRTV Tee?
‚Haben wir noch (etwas) von diesem Tee?’
418(78)Hu mer nach där Äppel?
Haben wir noch PRTV Äpfel?
‚Haben wir noch welche von diesen Äpfeln?’
419Bei der Verwendung als Partitivpronomen besteht Variation zwischen den starken und schwachen Varianten, wobei vornehmlich die schwachen verwendet werden. Beim Gebrauch als Partitivartikel sind hingegen nur die starken Pronomen zulässig.
420Partitiva (Pronomen sowie Artikel) kongruieren mit ihrem Referenznomen in Numerus und Genus; dabei stehen zwei Grundformen zur Verfügung: däers (schwache Form es) für Maskulina und Neutra im Singular und där (mit der pronominalen Reduktionsvariante der) für Femininum Singular und Plurale.59 Die folgende Abbildung veranschaulicht die eben genannten Kongruenzmuster (starke Form in Fettdruck).
421Doch nicht nur die Artikel, auch die Adjektive innerhalb partitiver NPs (d. h. NPs mit Partitivartikel) unterliegen bestimmten Flexionsbedingungen. Wie in der kleinen Wortartenlehre (Kapitel 4) bereits beschrieben wurde, wird am Substantiv nur noch Numerus markiert. Auch in partitiven NPs bleibt diese Regel konstant. Die Flexion des Adjektivs in einer partitiven NP mit dem Aufbau [däers/där + Adj. + N] kann der folgenden Tabelle entnommen werden.
Numerus | Genus | partitive NP mit Adjektiv | Flexionssuffix (Adj. in Partitiv-NP) |
Sg. | Mask. | däers gudd-en Hunneg ‚PRTV guter Honig’ | {-en} |
Neutr. | däers deier-en Holz ‚PRTV teures Holz’ | {-en} | |
Fem. | där gudd-er Mëllech ‚PRTV gute Milch’ | {-er} | |
Pl. | – | där kleng-er Betrib-er ‚PRTV kleine Betriebe’ | {-er} |
422Vergleicht man diese Flexionssuffixe nun mit den Suffixen, die in Kapitel 4 vorgestellt wurden, fällt auf, dass sich die partitiven Singularformen des attributiven Adjektivs nicht von den Dativformen unterscheiden, wodurch es im Singular zu einer Formgleichheit zwischen Dativ und Partitiv kommt.
423Der Plural zeigt jedoch ein gesondertes Flexiv beim Partitiv, nämlich {-er}. An dieser Stelle wird deutlich, dass dem Partitiv nicht nur eine besondere Semantik, sondern auch eine besondere Morphologie zugrunde liegt (ein Umstand, der in Bezug auf den nominalisierten Partitiv eine wichtige Rolle spielt, vgl. Kapitel 5.3.3). Die Flexionssuffixe dieser Adjektive überschneiden sich dabei mit den Genitivsuffixen im Mittelhochdeutschen (vgl. Paul 2007: § M 23), sodass hier eine Verbindung zu einem älteren Genitivflexiv zu sehen ist. Aufgrund dieser historischen Zugehörigkeit sind die Partitiva auch Teil des Genitivkapitels. Da sie aber – im Gegensatz zum sporadischen Genitiv – ein stabiles System im Luxemburgischen darstellen, werden sie dem Genitivkapitel sozusagen beigeordnet (und nicht untergeordnet). Dem genauen Zusammenhang zwischen Genitiv und Partitiv ist am Ende ein gesondertes Kapitel gewidmet (vgl. Kapitel 5.4).
424Beim Blick auf das mittelhochdeutsche Paradigma der Personal- und Demonstrativpronomen zeigen sich ähnliche Formen wie bei den luxemburgischen Partitiva däers (stark) und es (schwach), nämlich des (Demonstrativpronomen, Mask./Neutr.Gen.Sg.) und ës (Personalpronomen, 3.Pers.Mask./Neutr.Gen.Sg.) (vgl. Paul 2007: § M 41, M 44). Das Genitiv-Pronomen es (Mask.Sg./Neutr.Sg.) wurde jedoch bereits im Frühneuhochdeutschen durch die Formen sin-/seiner ersetzt (vgl. Walch & Häckel 1988: 85).
425Die Formen där (stark) und der (schwach) gehen auf die althochdeutschen Demonstrativa thëro/dëro/dëra (Dem.Pro.Sg.Gen.Fem.+Pl.Gen.) zurück (vgl. Strobel 2012: 410). Auch im Mittelhochdeutschen lauten die genitivischen Demonstrativpronomen im Femininum Singular und Plural dëre oder dër (vgl. Paul 2007: § M 44, M 46). Demnach zeigen die luxemburgischen Partitiva eine große formale Ähnlichkeit zu den genitivischen Demonstrativa und Personalpronomen im Mittelhochdeutschen.
5.3.3 Semantische und syntaktische Eigenschaften
426Luxemburgische Partitiva verfügen über besondere syntaktische und semantische Eigenschaften. Dabei ist die folgende Beschreibung in zwei Bereiche unterteilt: die Verwendungsweisen von Partitivpronomen sowie von Partitivartikeln. Danach werden Wortstellungsoptionen und syntaktische Funktionen von Partitivkonstruktionen besprochen. Ein zusätzliches Kapitel bezieht sich auf den Ausdruck von Spezifizität im Luxemburgischen. Da Spezifizität eine große Rolle bei der Semantik von Partitiva spielt, soll gezeigt werden, welche (weiteren) Möglichkeiten zur Markierung von Spezifizität bestehen. Darüber hinaus soll auch über „synthetische Partitive“ im Luxemburgischen diskutiert werden, d. h. über Partitivflexive an nominalisierten Adjektiven.
Partitivpronomen
427Partitivpronomen haben zwei zentrale Eigenschaften, die im Folgenden anhand von Korpusbelegen erklärt und diskutiert werden:
- Partitivpronomen stellen einen indefiniten anaphorischen Bezug her.
- Quantoren werden häufig von einem pluralischen Partitivpronomen (där/der) begleitet.
429Partitivpronomen stellen einen indefiniten anaphorischen Bezug her.
430Die Partitivpronomen där/der sowie däers/es haben die Eigenschaft, indefinite, unzählbare Singulare und Plurale zu pronominalisieren. Die Verwendung von där/der sowie däers/es als indefinites anaphorisches Pronomen lässt sich in seinen Grundzügen mit dem standarddeutschen Indefinitpronomen welch- (flektierbar nach Genus, Numerus und Kasus) oder dem französischen Partitivpronomen en (nicht flektierbar) vergleichen.60 Wie im Kapitel zuvor bereits gezeigt wurde, verweisen die Formen däers/es auf Maskulinum und Neutrum Singular (unzählbar), die Formen där/der auf Femininum Singular (unzählbar) und auf Plurale.
431Das Partitivpronomen däers (stark) bzw. es (schwach) kann demnach auf Substantive wie Schockela ‚Schokolade’ (unzählbar, Mask.Sg.), Salz oder Cannabis (beide unzählbar, Neutr.Sg.) referieren.
432(79)ech haat scho chokolat am printer [...] elo hun ech es an der tastatur (Chat)
ich hatte schon Schokolade im Drucker [...] jetzt habe ich PRTV in der Tastatur
433Bei diesem Beispiel wird das indefinite unzählbare Nomen chokolat (grafische Variante zu Schockela ‚Schokolade’) eingeführt. Im nachfolgenden Satz wird mittels des schwachen Partitivpronomens es darauf Bezug genommen (markiert durch Unterstreichung).
434In Satz (80) soll anaphorisch auf das indefinite unzählbare Nomen Salz (Neutrum) verwiesen werden. Auch hier erfolgt die Referenz durch das schwache Partitivpronomen es. In (81) wird die starke Form däers als Pronomen für Cannabis verwendet.
435(80)Den Ament hu mer nach e Stock vu 4.000 Tonne Salz a mir kréien es och all Dag nogeliwwert. (Online-News)
den Moment haben wir noch einen Vorrat von 4000 Tonnen Salz und wir bekommen PRTV auch jeden Tag nachgeliefert.
436(81)[...] vun deenen, déi Cannabis consomméieren [...]. Et sinn [...] ëmmer méi jonk Leit, déi däers consomméieren. (Politik)
von denen, die Cannabis konsumieren [...]. Es sind [...] immer mehr junge Leute, die PRTV konsumieren
437Deutlich häufiger sind die Partitivpronomen där/der anzutreffen. Im folgenden Satz stellt das schwache Partitivpronomen der [dɐ] einen indefinit-anaphorischen Bezug zum pluralischen Referenznomen Schnecken ‚süße Schnecken’ her.
438(82)Hutt dir Schnecken? – Jo, ech hunn der. (Lehrbuch)
haben Sie Schnecken? – Ja, ich habe PRTV.
439Bei (83) dient das Partitivpronomen der als anaphorisches Pronomen zu dem indefiniten Plural e puer Studioen ‚ein paar Einzimmerwohnungen’, der zuvor im Textverlauf genannt wurde.
440(83)Do sinn nach e puer Studioe um ieweschte Stack ze verlounen. [...] Mir hunn der vun 20 a vu 25 Quadratmeter. (Lehrbuch)
Da sind noch ein paar Einzimmerwohnungen im obersten Stock zu vermieten. [...] Wir haben PRTV von 20 und von 25 Quadratmetern.
441Das Partitivpronomen für Plurale där/der bildet in gewisser Weise das pluralische Pendant zum singularischen Indefinitpronomen een/eng/eent ‚ein/eine/eins’. Beispiel (84) zeigt, dass bei (a) der Indefinitartikel eng in (b) zum Indefinitpronomen eng wird. Bei (85) hingegen wird aus dem Ø-Artikel der indefiniten Plural-NP in (a) ein der-Pronomen bei (b), d. h. ein Partitivpronomen für Plural. Die einzige Variable, die sich bei diesem Beispiel ändert, ist Numerus, sodass das Indefinitum eng und das Partitivum der über eine parallele Funktion des indefiniten Verweises verfügen (jeweils für Singular und für Plural).
442(84)a) Hutt dir eng Äppeltaart?
Haben Sie eine Apfeltarte?
b) Jo, ech hunn eng.
Ja, ich habe eine.
443(85)a) Hutt dir Ø Äppeltaarten? (Lehrbuch)
Haben sie Apfeltartes?
b) Jo, ech hunn der.
Ja, ich habe PRTV.
444Dieser indefinite Gebrauch kommt in manchen Fällen auch ohne explizites Referenznomen aus. Der entsprechende Referent erschließt sich meistens aus dem Kontext. Im folgenden Beispiel etwa werden Prügel, Ohrfeigen oder andere Handgreiflichkeiten angedroht, in (86) als indefiniter Singular mit eng ‚eine’, in (87) als indefiniter Plural mit der ‚welche’.
445(86)Pass op, soss kriss de eng. [indef. Sg.]
Pass auf, sonst kriegst du eine.
446(87)Pass op, soss kriss de der! [indef. Pl.]
Pass auf, sonst kriegst du PRTV!
447Das Partitivpronomen där/der dient also als pluralisches Indefinitpronomen, wobei Partitivität und Indefinitheit
als zwei unterschiedliche Kategorien zu bewerten sind, „die jedoch Berührungspunkte und Überschneidungen aufweisen, die zu ihrer begrifflichen
Vermischung führen können
“ (Glaser 1993: 100). Die Markierung von Indefinitheit ist somit nur eine Funktion des Partitivums im
Luxemburgischen, wie im Laufe des Kapitels gezeigt werden wird.
448Quantoren werden häufig von einem pluralischen Partitivpronomen begleitet.
449Der Gebrauch von Partitivpronomen kann ohne Quantor (a) oder mit Quantor (b+c) erfolgen. Im folgenden Beispiel (88) finden sich drei unterschiedliche Quantifikationsmuster: (a) zeigt eine Verwendung ohne Quantor (mit einfachem Partitivpronomen, wie es zuvor beschrieben wurde), (b) und (c) hingegen zeigen eine Kombination aus Partitivpronomen (der) und Quantor (zwou ‚zwei’; e puer ‚ein paar’).
450(88)Keefs du Mëtschen? (Lehrbuch)
Kaufst du Kaffeeteilchen?
a) Jo, ech kafen der. (Quantität: unbekannt, jedoch > 1)
ja, ich kaufe PRTV
b) Jo, ech kafen der zwou. (Quantität: 2)
ja, ich kaufe PRTV zwei
c) Jo, ech kafen der (e) puer. (Quantität: ≥ 2)
ja, ich kaufe PRTV ein paar
451An dieser Stelle soll zunächst ein näherer Blick auf die Quantoren und das Verhältnis zwischen Partitivpronomen und Quantor geworfen werden. Unter einem Quantor werden in diesem Zusammenhang definite und indefinite Mengenangaben verstanden. Da die Wortartenzugehörigkeit nicht immer eindeutig ist, werden hier diejenigen Wortarten genannt, die darunter zu verstehen sind. Zahlwörter (Numeralia) werden als definite Quantoren eingestuft. Sie können als alleiniges Zahlwort (2, 345, 1000) oder in Kombination mit einem Adverb wie bei bal 200 ‚fast 200’ oder schonn dräi ‚schon drei’ auftreten. Zu den indefiniten Quantoren zählen verschiedene quantifizierende Pronomen und Adjektive wie genuch ‚genug’, e puer ‚ein paar’ oder ze wéineg ‚zu wenig’, da sie eine unbestimmte Quantität angeben.
452In den zuvor genannten Beispielsätzen aus (88) werden bei (b) und (c) die beiden Quantoren (2, e puer) pronominal verwendet, d. h. das Bezugsnomen Mëtschen ‚Kaffeeteilchen’ wird nicht ausgedrückt. Der schwache Partitivartikel der in (b) ech kafen der zwou erfüllt hier zwei Funktionen: zum einen referiert der auf das Bezugsnomen Mëtschen, das im Satz zuvor erwähnt wurde. Zum anderen verweist das Partitivpronomen auf die Referenzmenge, auf die sich der Quantor bezieht: der zwou steht demnach für ‚zwei davon’ – oder noch genauer: ‚zwei aus der zuvor genannten Referenzmenge Mëtschen’. Der entsprechende Satz (b) ohne Partitivpronomen (*Jo, ech kafen zwou.) ist im Luxemburgischen ungrammatisch.61 Das folgende Beispiel soll diese beiden Punkte (1: indefiniter Bezug auf den Referenten, 2: Bezug zur Referenzmenge) verdeutlichen.
453(89)ech kafen der1 zwou2
ich kaufe PRTV zwei
1: indefiniter Bezug zu Mëtschen
2: Bezug auf Referenzmenge
454Das nachfolgende Beispiel aus dem Korpus dreht sich um den indefiniten Plural Fligeren ‚Flieger’. Im anschließenden Satz wird erwähnt, dass – obwohl Luxemburg nur ein Exemplar kauft – manche Länder 50 oder 60 Stück kaufen. Der Quantor lautet also 50 bis 60 und wird auch hier vom Partitivpronomen der begleitet, wodurch einerseits der indefinite Bezug zu Fligeren hergestellt und andererseits die Referenzmenge für den Quantor 50 bis 60 verdeutlicht wird.
455(90)Dofir kafe mir jo och an deem risege Programm vun 180 Fligeren [...] nëmmen een. Anerer kafen der 50 bis 60. (Politik)
darum kaufen wir ja auch in diesem riesigen Programm von 180 Fliegern nur einen. Andere kaufen PRTV 50 bis 60.
456Im folgenden Kontext geht es um das indefinite Bezugsnomen Kanner ‚Kinder’. Da im folgenden Kontext auf die Anzahl der Kinder verwiesen wird, ohne die Referenzmenge Kanner explizit zu benennen, wird auch hier ein entsprechendes pluralisches Partitivpronomen neben den pronominalen Quantor 2 oder 11 eingesetzt.
457(91)dann ass et egal ob et der 2 oder 11 sin (Chat)
dann ist es egal ob es PRTV 2 oder 11 sind
458Wie bereits zuvor erwähnt, muss ein Partitivpronomen nicht immer ein explizites Referenznomen haben. Die Referenz kann auch durch den Kontext ergänzt werden. Im folgenden Satz etwa soll ausgedrückt werden, dass eine große Menschenmenge bei einem Gottesdienst anwesend war. Der Sprecher möchte demnach ausdrücken, dass ‚genug Menschen’ dort waren, ohne im Satz das Wort ‚Menschen’ explizit auszudrücken und ohne dass dieses Wort zuvor verwendet wurde. Dies geschieht mit dem Partitivpronomen der, das mit dem Quantor genuch in Verbindung zu setzen ist (‚genug von der impliziten Referenzmenge Menschen’).
459(92)jo do waren der genuch (Chat)
ja, dort waren PRTV genug
460Ein weiteres Beispiel mit Partitivpronomen und pronominalem Quantor wird in (93) gezeigt. Bei diesem Beispiel handelt es sich um ein Vorstellungsgespräch, in dem nach weiteren Bewerbern gefragt wird. Daraufhin antwortet der Arbeitgeber, dass sich morgen noch drei Bewerber vorstellen. Da das Referenznomen Bewerber jedoch nicht wiederholt wird, kommt auch hier ein Partitivpronomen zum Einsatz: (et kommen) der dräi.
461(93)Et komme sech der mar nach 3 virstellen. (Haupert et al. 2002: 117)
es kommen sich PRTV morgen noch drei vorstellen
462Partitivpronomen und Quantor werden in (93) allerdings durch das Temporaladverb mar ‚morgen’ auseinandergeschoben. Aufgrund dieser Distanzstellung des Quantors ergeben sich für pronominale Partitive mit Quantor mehrere Wortstellungsoptionen, die im weiterenVerlauf dieses Kapitels ausführlicher besprochen werden. Dort wird auch auf das so genannte Quantorenfloating näher eingegangen (Terminus nach Hoeksema 1996).
463Aus den Daten geht also hervor, dass Quantoren, die pronominal verwendet werden, meistens ein Partitivpronomen fordern, wodurch auf die (indefinite) Referenzmenge Bezug genommen werden kann (der dräi ‚drei davon/von diesen’). Diese Aussagen beziehen sich in erster Linie auf die hier gemachten Beobachtungen im Korpus und sollten in weiteren Studien in Bezug auf Obligatorik und auch für negative Quantoren (keng ‚keine’) überprüft werden. Dass in diesem Bereich Variation besteht, zeigt der folgenden Beleg aus dem Korpus, bei dem deutlich wird, dass bei topikalisiertem Quantor das Partitivpronomen weglassbar sein kann:
464(94)Zwee sinn der vum selwen erauskomm, zwee sinn Ø vun de Beruffspompjeeën erausgeholl ginn. (Online-News)
zwei sind PRTV vom selben herausgekommen, zwei sind von den Berufsfeuerwehrleuten herausgeholt worden
Partitivartikel
465Partitivartikel zeichnen sich dadurch aus, dass sie Substantive näher spezifizieren, indem sie auf eine besondere Eigenschaft des Referenten hinweisen. Zudem können sie auf spezifizierte62 Teilmengen Bezug nehmen. Im vorliegenden Kapitel werden diese beiden zentralen Eigenschaften von Partitivartikeln nun anhand von Korpusbelegen näher beschrieben.
466Partitivartikel heben besondere Eigenschaften eines Nomens hervor.
467Der Partitivartikel (däers, där – nur in der starken Form) erfüllt im Luxemburgischen eine Funktion, die einem Demonstrativartikel nahekommt (bei Schanen & Zimmer 2012 wird er auch als genitivischer Demonstrativartikel klassifiziert). Ähnlich wie beim demonstrativen solch-Artikel im Deutschen (vgl. Dudengrammatik 2006: 330) wird durch den Partitivartikel auf eine besondere Eigenschaft des Nomens hingewiesen (Verweisfunktion), wodurch das Referenznomen näher spezifiziert wird.63 Der Partitivartikel darf jedoch nur bei nicht individuierbaren Substantiven verwendet werden (d. h. bei unzählbaren Singularen oder Pluralen).
468In einem Satz wie (95) wird durch den Partitivartikel där auf eine bestimmte Sorte von Kostümen hingewiesen, d. h. die Aussage trifft nicht auf alle Kostüme zu, sondern nur auf eine spezifizierte Referenzmenge. Diese Spezifizierung muss allerdings durch den Kontext ableitbar sein. E puer där Kostümer ‚ein paar solcher Kostüme’ bezieht sich in diesem Fall auf Halloweenkostüme, die zuvor im Text erwähnt wurden.
469(95)et ginn e puer där Kostümer64
es gibt ein paar PRTV Kostüme
‚es gibt ein paar solcher Kostüme’
470Wenn es nun e puer där Kostümer gibt, dann wird damit ausgedrückt, dass man:
- über ein paar Kostüme spricht (Quantität),
- auf eine bestimmte Art von Kostümen referiert (Spezifizität),
- was sich wiederum aus dem Gesprächskontext oder einem zuvor erwähnten Bezugsnomen ableiten lässt (Verweisfunktion).
472Somit kann mit der partitiven NP där Kostümer auf die im Text zuvor angesprochenen Halloweenkostüme referiert werden. Da im Anschluss näher auf Quantitätsaspekte eingegangen wird, stehen hier Spezifizität und Verweisfunktion im Vordergrund.
473Wenn in diesem Zusammenhang von Spezifizität65 gesprochen wird, so handelt es sich um ein semantisch-pragmatisches Konzept, bei
dem der Sprecher auf eine bestimmte Eigenschaft des Referenznomens hinweisen möchte,
die er für besonders relevant („noteworthy
“) erachtet (vgl. Ionin et al. 2004). Spezifizität, im Sinne eines gezielten Verweises auf eine bestimmte Eigenschaft,
wird mitunter auch als „noteworthy property
“ beschrieben (vgl. Ionin et al. 2004; Ionin 2006). Für den luxemburgischen Partitivartikel möchte ich hier den Begriff „Hervorhebungsprinzip“
etablieren, da durch den Einsatz dieses Artikels bestimmte Eigenschaften des Referenten
hervorgehoben werden.
474Die Spezifizität einer partitiven Nominalphrase (partitive NP in (96)b) bezieht sich meistens auf einen zuvor genannten Diskursreferenten (in (96)a). Dieser thematisch relevante Diskursreferent verfügt dabei häufig über ein Attribut, das eine besondere Eigenschaft kennzeichnet.66 Dies kann wie im folgenden Beispiel eine Apposition sein, die bestimmte Käsesorten aufzählt (Diskursreferent ist bei (a) unterstrichen). Da im Verlauf des Textes auf diesen Diskursreferenten – mitsamt den spezifizierten Käsesorten – verwiesen werden soll, kommt es in (b) zur partitiven NP däers Kéis ‚diese Art von / solchen Käse’.
475(96)a) Et handelt sech ëm d'Kéiszorten „Reinhardshof, Harzer Käse“ a „Reinhardshof, Bauernkäse mit Edelschimmel“ [...] (Online-News)
Es handelt sich um die Käsesorten „Reinhardshof, Harzer Käse“ und „Reinhardshof, Bauernkäse mit Edelschimmel“ [..]
b) [...] Leit déi nach däers Kéis doheem hunn, sollen en op kee Fall iessen.
[..] Leute die noch PRTV Käse zuhause haben, sollen ihn auf keinen Fall essen.
476Der Partitivartikel kann demnach gezielt auf das Attribut der zuvor genannten NP (d. h. die genauen Sorten) verweisen. Im Gegensatz zum Partitivpronomen, das auf das Substantiv an sich verweist, wird das Referenznomen in diesem Fall wiederholt: däers Kéis. Der Partitivartikel verweist somit nicht auf das Nomen an sich, sondern nur auf eine besondere Eigenschaft, die das bezügliche Nomen näher spezifiziert und im Text hervorgehoben werden soll. Die Partitiv-NP ist dabei nur möglich, wenn das Substantiv – wie bei Kéis ‚Käse’ – nicht individuierbar ist.
477Die Referenz auf eine besondere Eigenschaft kann auch am Beispiel des Determinativkompositums Schifergas ‚Schiefergas’ verdeutlicht werden. Das Gas wird hier anhand eines Determinativkompositums näher spezifiziert: Welche Art von Gas? – Schiefergas. Im Folgesatz wird ebendiese Funktion vom Partitivartikel übernommen: Welche Art von Gas? däers Gas (stellvertretend für Schifergas).
478(97)geologesch Schichten, wou däers Gas ze fannen ass (Online-Kommentar)
geologische Schichten, wo PRTV Gas zu finden ist
479Somit erhält die partitive NP däers Gas zwei zusammenhängende Funktionen: sie markiert ein spezifiziertes Gas, indem sie auf das Kompositum Schifergas referiert, und hebt diese Eigenschaft im weiteren Textverlauf hervor. Insgesamt dient der Einsatz eines Partitivartikels hauptsächlich dazu, bestimmte Spezifizitätsaspekte darzustellen, auf die der Sprecher gezielt hinweisen möchte (Hervorhebungsprinzip).
480Partitivartikel können auf spezifizierte Teilmengen Bezug nehmen.
481Manche NPs mit Partitivartikel werden von Quantoren begleitet, auf die im Zuge der Partitivpronomen bereits hingewiesen wurde. Der Quantor sorgt dafür, dass eine Mengenangabe spezifiziert werden kann (hier: e puer ‚ein paar’, Beispiel aus (95)).
482(98)et ginn e puer där Kostümer (Online-News)
es gibt ein paar PRTV Kostüme
483Bei diesem Beispiel gibt es demnach eine spezifizierte Quantität (e puer ‚ein paar’) aus einer spezifizierten Menge (Wieviele? – ein paar. Wovon? – där Kostümer ‚solcher Kostüme’ stellvertretend für Halloweenkostüme). Der Quantor ist in diesem Beispiel indefinit. In Beispiel (99) findet sich eine partitive NP mit definitem Quantor. Hier verweist der Autor mit der partitiven NP 7 Deeg däers Congé ‚sieben Tage (eines) solchen Urlaubs’ auf eine bestimmte Art von Urlaub (hier: Sonderurlaub für Freiwillige) und auf die genaue Anzahl dieser Urlaubstage.
484(99)De Moment kréien déi 7 Deeg däers Congé d’Joer (Online-News)
der Moment bekommen die 7 Tage PRTV Urlaub das Jahr
485Da es sich um einen spezifizierten Urlaub handelt und das Wort Congé ‚Urlaub’ ein unzählbares Singularetantum (Maskulinum) ist, wird hier der Partitivartikel däers Congé verwendet, zusammen mit dem vorangestellten Quantor 7 Deeg ‚7 Tage’.
486Wie nun das Verhältnis von spezifizierten und unspezifizierten Quantitäten und Teilmengen zu verstehen ist, zeigt die folgende Tabelle (Tabellenaufbau angelehnt an Carlier 2007). Grundsätzlich gehe ich von insgesamt vier verschiedenen Quantitäts- und Spezifikationstypen aus (Typ A-D): Diese reichen von der reinen Nennung einer Masse (Typ A) bis hin zu einer spezifizierten Quantität aus einer spezifizierten Teilmenge (Typ D), wie in den Beispielen (98) und (99). Der Ausdruck Masse legt nahe, dass es sich hier – wie bei Partitiven üblich – um eine nicht individuierbare Menge handelt (unzählbare Singulare oder Plurale). Exemplarisch werden in der tabellarischen Übersicht die Referenznomen Wäin ‚Wein’ (Sg.Mask., unzählbar) und Äppel ‚Äpfel’ (Pl.Mask., zählbar) verwendet.
Aufbau der NP | Beispiel | Bedeutung |
Ø + Ø + N | Wäin ‚Wein’ Äppel ‚Äpfel’ | unspezifizierte Quantität aus unspezifizierter Masse |
Quan + Ø + N | genuch Wäin ‚genug Wein’ genuch Äppel ‚genug Äpfel’ | spezifizierte Quantität aus unspezifizierter Masse |
Ø + däers + N Ø + där + N | däers Wäin ‚von diesem Wein’ där Äppel ‚von diesen Äpfeln’ | unspezifizierte Quantität aus spezifizierter Masse (Teilmenge) |
Quan + däers + N Quan + där + N | genuch / e Glas däers Wäin ‚genug / ein Glas von diesem Wein’ genuch / dräi där Äppel ‚genug / drei von diesen Äpfeln’ | spezifizierte Quantität aus spezifizierter Masse (Teilmenge) |
487Die hier aufgestellten Typen bezeichnen unterschiedliche Markierungen von Spezifizität und Quantifikation. Typ A stellt eine einfache, allgemeine Bezeichnung der Masse dar, ohne einschränkende Spezifizierung. In diesem Sinn bezeichnet Wäin ‚Wein’ den Allgemeinbegriff, ohne auf Quantität oder Teilmengen einzugehen. Dieser unspezifizierten Masse Wein kann ein Quantor hinzugestellt werden, wodurch Typ B entsteht: genug Wäin ‚genug Wein’, zwee Glieser Wäin ‚zwei Gläser Wein’. Die referierte Masse wird also durch eine Quantitätsangabe (e puer, genuch, e Glas) semantisch weiter spezifiziert. Nun verfügt das Luxemburgische über einen Partitivartikel, der es ermöglicht, weitere semantische Aspekte auszudrücken. Typ C etwa kennzeichnet eine Nominalkonstruktion mit einem Partitivartikel, der die Funktion hat, eine spezifizierte Teilmenge zu benennen: däers Wäin ‚von diesem Wein’. Diese Untermenge kann zusätzlich durch einen Quantor ergänzt werden (Typ D), der die Teilmenge in Bezug auf ihre Quantität spezifiziert: genuch däers Wäin ‚genug von diesem Wein’, e Glas däers Wäin ‚ein Glas von diesem Wein’. Dabei wird deutlich, dass der Grad an Spezifizität von A nach D zunimmt. Die Typen A und B verfügen über eine nicht spezifische Lesart, die Typen C und D über eine spezifische.
488Die folgende Abbildung soll die unterschiedlichen Quantitäts- und Spezifizitätstypen anhand des Nomens Beispiller ‚Beispiele’ erläutern. Neben der grafischen Darstellung, die eine bessere Übersicht zu den hier relevanten Teilmengenaspekten geben soll, wird zusätzlich markiert, ob bei dem jeweiligen Typ eine Quantitätsangabe vorliegt [+/–QUAN] und ob ein Partitivartikel zur weiteren Spezifizierung verwendet wird [+/–SPEZ].
489Zu Typ A gehören demnach alle nicht individuierbaren Substantive ohne Determinierer und ohne Quantitäts- oder Spezifikationsangabe.
490(100)Gitt Beispiller! (wiss.Arbeit)
Gebt Beispiele!
491Typ B unterscheidet sich insofern von Typ A, als dass Typ B zusätzlich über einen Quantor verfügt. Dieser kann entweder ein Zahlwort, ein Adverb oder eine andere Mengen- oder Maßangabe sein.
492(101)ech hunn hei zwee Beispiller zitéiert (Politik)
ich habe zwei Beispiele zitiert
493Beispiller ‚Beispiele’ wird hier durch das Zahlwort zwee ‚zwei’ in Bezug auf die Quantität näher spezifiziert, d. h. der Bezug von Beispiller wird durch den Quantor deutlich eingeschränkt (das Substantiv bezieht sich somit nur auf zwei Beispiele).
494Bei den Typen C und D handelt es sich um partitive NPs, da hier spezifizierte Teilmengen benannt werden. In diesen Konstruktionen wird auf bestimmte Eigenschaften des Referenznomens verwiesen. Dabei stellt Typ C einen einfachen nominalen Partitiv (där Beispiller) und Typ D eine Partitiv-NP mit Quantor dar (nach 100 där Beispiller). Der folgende Satz zeigt eine Partitiv-NP des Typs C.
495(102)mir hunn all Dag där Beispiller (Politik)
wir haben jeden Tag PRTV Beispiele
496Die Partitive des Typs D entsprechen von der Grundkonstruktion Typ C, nur dass sie zusätzlich einen Quantor haben.67 Durch den Einsatz eines Quantors wird die Menge an potentiellen Referenten noch weiter eingeengt, ohne dass dabei der indefinite Charakter der Konstruktion verloren geht.
497(103)an ech kéint nach 100 där Beispiller nennen (Online-Kommentar)
und ich könnte noch 100 PRTV Beispiele nennen
Weitere syntaktische Besonderheiten
498Dieses Kapitel beschreibt die Wortstellungsbesonderheiten und syntaktischen Funktionen der Partitiva, die im Zuge der Korpusuntersuchung herausgearbeitet wurden. An dieser Stelle wird also ein erster Versuch unternommen, einen Überblick zur Wortstellung sowie zu den syntaktischen Funktionen von Partitivkonstruktionen zu geben. Dabei sind drei syntaktische Besonderheiten hervorzuheben:
- Bei topikalisierten Partitiva im Plural kann ein schwaches Resumptivpronomen (der) im Mittelfeld auftreten.
- Bei Konstruktionen mit Quantoren kann es zum so genannten Quantorenfloating kommen, d. h., dass der Quantor an unterschiedliche Satzpositionen rücken kann.
- Partitiva stehen meistens in der syntaktischen Funktion als direktes Objekt.
500Topikalisierte Partitiva im Plural können ein Resumptivpronomen fordern.
501Wenn eine Partitivkonstruktion im Vorfeld steht – durch Topikalisierung68 oder weil sie das Subjekt bildet – sind zwei Dinge zu beachten: Zum einen können Partitiva nur in der Vollform (däers, där) im Vorfeld stehen und zum anderen kann es bei Partitiva, die sich auf Plurale beziehen, dazu kommen, dass ein zweites, schwaches Partitivpronomen als optionales Resumptivpronomen im Mittelfeld auftritt.
502Bei den Sätzen (104) und (105) wird das Partitivpronomen topikalisiert und es erscheint ein Resumptivpronomen (der) nach dem Subjekt im Mittelfeld. Im Satz (106) erscheint das Resumptivpronomen unmittelbar hinter dem Subjekt mer ‚wir’.
503(104)Referent: <Leit, déi eng Première gemaach hunn> ‚Personen mit Abitur’
Där hu mer der awer nach haut am Chômage (Politik)
PRTV haben wir PRTV aber noch heute in der Arbeitslosigkeit
504(105)Referent: <Leit ouni Diplom> ‚Leute ohne Abschluss’
An där hu mer der vill ze vill an dësem Land. (Politik)
Und PRTV haben wir PRTV viel zu viele in diesem Land.
505Satz (106) zeigt eine Topikalisierungsstruktur ohne ein solches Resumptivpronomen (hier mit Ø gekennzeichnet).
506(106)Referent: <Terrainen, déi broochleien> ‚Grundstücke, die brachliegen’
Och där hu mer Ø hei am Land (Politik)
auch PRTV haben wir ø hier im Land
507Die drei eben gezeigten Sätze verfügen über einen ähnlichen Aufbau, d. h., dass das Partitivpronomen där vom Verb hunn (1.Pers.Pl.) regiert wird und am Satzanfang steht. Selbst die Textsorte ist identisch. Trotzdem scheint Variation zu bestehen, ob ein Resumptivum gesetzt wird oder nicht. Das folgende topologische Feldermodell soll den Gebrauch und die Stellung dieses fakultativen Resumptivpronomens noch einmal deutlich machen.
VF | LK | MF | NF | RK |
Där PRTV | hu haben | mer (der) hei am Land wir PRTV hier im Land |
508Partitive Resumptivpronomen treten nur im Plural auf. Zwar kann das Partitivpronomen däers (stellvertretend für Maskulinum und Neutrum Singular) ebenfalls topikalisiert werden, eine Wiederholung durch die schwache Form es kann allerdings nicht im Korpus belegt werden.
509(107)Referent: <Geld> ‚Geld’
[...] an däers huet déi britesch Kinneksfamill nawell net ze knapp (Online-News)
und PRTV hat die britische Königsfamilie durchaus nicht zu wenig
510Die Resumptivpronomen finden sich sowohl bei topikalisierten Partitivpronomen als auch bei topikalisierter Partitiv-NP, wie im folgenden Beispiel deutlich wird.
511(108)An där Beispiller ginn et der vill. (Online-Kommentar)
Und PRTV Beispiele gibt es PRTV viele.
512In diesem Satz passieren aus syntaktischer Perspektive zwei Dinge: Zum einen wird der Quantor vill aus der partitiven NP vill där Beispiller ans Satzende bewegt (mehr dazu im Anschluss). Zum anderen wird der restliche Teil der partitiven NP där Beispiller topikalisiert, was dazu führt, dass im Mittelfeld das optionale resumptive Partitivpronomen der eingefügt wird.
513Quantoren können bei Partitiva unterschiedliche Satzpositionen einnehmen.
514An dieser Stelle möchte ich eine Beispielanalyse vorstellen, die zeigt, welche Positionen für Quantoren verfügbar sind. Auch hier gilt es, erste Tendenzen darzulegen. Da das Korpus leider zu wenige vergleichbare Sätze aufweist, um alle möglichen Positionen aufzuzeigen, wurde hier eine kleine informelle mündliche Befragung mit sechs Muttersprachlerinnen durchgeführt. Um verschiedene Satzbaupläne mit Partitiven durchspielen zu können, wurden die sechs Informanten gebeten, die umgestellten Sätze zu bewerten.
515Der Satz, der als Startpunkt dient, ist dem Korpus entnommen und wird in der Liste als „Neutralstellung“ bezeichnet. Im Anschluss werden die Stellungsmöglichkeiten für die Kombination von Quantor (Zahlwort) und Partitivpronomen (vgl. (109)) sowie für Quantor (Zahlwort) und NP mit Partitivartikel (vgl. (110)) aufgezeigt (in beiden Fällen in der Rolle als direktes Objekt). Die variable Stellung der optionalen Resumptivpronomen (der) wird in den Beispielen entsprechend gekennzeichnet.
516(109)Referent: <Gebaier> ‚Gebäude’
a) Neutralstellung: D’Post huet där/der bal 200. (Online-News)
Die Post hat PRTV fast 200.
NP → V → PRTV → QUAN
b) PRTV-Pronomen im VF: Där huet (der) d’Post (der) bal 200.
PRTV → V → NP (→ PRTV)→ QUAN | PRTV → V (→ PRTV)→ NP → QUAN
c) PRTV-Pronomen im VF: Där huet se (der) bal 200.
PRTV → V → PRO (→ PRTV)→ QUAN
d) Quantor im VF: Bal 200 huet (där/der) d’Post (där/der).
QUAN → V → NP (→ PRTV) | QUAN → V (→ PRTV)→ NP
e) Quantor im VF: Bal 200 huet se (där/der).
QUAN → V → PRO → PRTV
517An den Beispielen kann deutlich gemacht werden, dass der Quantor als Satellit im Satz fungiert (dies gilt für definite als auch für indefinite Quantoren). Aus syntaktischer Perspektive sind mehrere Positionen für den Quantor bal 200 ‚fast 200’ verfügbar.69 Der mehrteilige Quantor bildet im Satz eine einzige Konstituente und kann nicht unterbrochen werden (*bal der 200). In neutraler Position befindet sich der Quantor hinter dem Partitivpronomen (a). Ist der pronominale Partitiv topikalisiert (b, c), befindet sich der Quantor hinter dem Subjekt. Der Quantor selbst kann auch topikalisiert werden (d, e).
518Das folgende topologische Feldermodell soll die syntaktischen Bedingungen der Topikalisierung noch einmal offenlegen. In Satz (b) und (c) ist das Partitivpronomen topikalisiert, wodurch es in seiner starken Form verwendet werden muss. Es kann jedoch im Mittelfeld als Resumptivpronomen wiederholt werden. Dabei sind zwei Positionen verfügbar: Ist das Subjekt ein Substantiv, kann das Resumptivum im Mittelfeld vor oder hinter dem Subjekt stehen (b). Liegt das Subjekt in pronominaler Form vor (c), darf das fakultative Resumptivpronomen der nur hinter dem Subjektpronomen stehen. Gleiches gilt auch bei topikalisiertem Quantor, wenn erneut Subjekt und Partitivpronomen im Mittelfeld aufeinandertreffen (d, e).
VF | LK | MF | NF | RK |
b) Där PRTV | huet PRÄD | (der) d’Post (der) bal 200. PRTV NP PRTV QUAN | ||
c) Där PRTV | huet PRÄD | se (der) bal 200. PRO (PRTV) QUAN |
519Nachdem nun Stellungsoptionen für Quantoren bei Partitivpronomen des Typs der bal 200 gezeigt wurden, komme ich nun zu den syntaktischen Besonderheiten der Quantoren beim Partitivartikel (Typ: 13 där Maschinnen ‚13 solcher Maschinen’). In diesem Fall stehen zunächst zwei Optionen zur Verfügung. Besteht der definite Quantor nur aus einem Zahlwort (hier: 13), hat er eine feste Position vor dem nominalen Partitiv. Dabei kann er entweder zusammen mit dem nominalen Partitiv im Mittelfeld stehen (a) oder am Satzanfang (b). Bei (b) sind Quantor und nominaler Partitiv topikalisiert. Hier kann im Mittelfeld ein partitives Resumptivpronomen (der) auftreten. Da dieser Satz über ein nominales Subjekt verfügt, kann das fakultative Resumptivpronomen vor oder nach dem Subjekt verwendet werden.
520(110)a) D’Airline huet 13 där Maschinne bestallt. (Online-News)
die Airline hat 13 PRTV Maschinen bestellt
NP → V → QUAN → PRTV-NP → V
b) 13 där Maschinnen huet (der) d’Airline (der) bestallt.
QUAN → PRTV-NP → V → NP → V
QUAN → PRTV-NP → V (→ PRTV) → NP → V
QUAN → PRTV-NP → V → NP (→ PRTV) → V
c) Där Maschinnen huet d’Airline der 13 bestallt.
PRTV-NP → V → NP → PRTV → QUAN → V
d) Där Maschinnen huet d’Airline (der) 13 Stéck bestallt.
PRTV-NP → V → NP (→ PRTV)→ [QUAN + N] → V
521Möchte man nur die partitive NP topikalisieren wie bei (c) und (d), d. h. den Quantor 13 als Satellit verwenden, muss der Quantor von einem anderen Element begleitet werden, da isolierte Numeralia, die zu einer partitiven NP gehören, von den meisten Sprecherinnen (5 von 6) abgelehnt werden. Definite Quantoren können unter drei Voraussetzungen isoliert im Mittelfeld stehen: wie bei (c) zusammen mit dem pluralischen partitiven Resumptivpronomen der oder wie bei (d) zusammen mit einem „Hilfssubstantiv“ für Zeit- oder Mengenangaben (hier: Stéck ‚Stück’). In diesem Fall kann erneut ein fakultatives Resumptivpronomen eingefügt werden.
522Im Gegensatz zum definiten Quantor 13, der nicht als isoliertes Zahlwort hinter dem bezüglichen Partitiv stehen kann (*där Maschinnen 13), können indefinite Quantoren wahlweise vor oder hinter der Partitiv-NP stehen, wobei die nachgestellte Variante im Korpus eher selten anzutreffen ist.
523(111)Den Foto-Trade [...] huet vill dees Geschier an der Fënster leien. (Internet)
Der Foto-Trade [..] hat viel PRTV Zeug in dem Fenster liegen.
524(112)Mir brauchen däers Waasser vill (Politik)70
wir brauchen PRTV Wasser viel
525Partitiva haben meistens eine Funktion als direktes Objekt im Satz.
526In den vorangegangenen Beispielen wurden Partitiva von unterschiedlichen Verben regiert. Aus den Daten geht hervor, dass pronominale Partitive meistens in der Objektposition auftreten (22 von 30 untersuchten Sätzen). Weitere acht Sätze zeigen Partitiva in der Rolle als Subjekt oder Subjektsprädikativ71. Die Objektrolle wird meistens vom Vollverb hunn ‚haben/über etwas verfügen’ vergeben. Doch auch andere Verben mit direktem Objekt können Partitive auslösen, hierzu zählen u.a. brauchen ‚brauchen’, kafen ‚kaufen’ oder kréien ‚kriegen’. Die Subjektrolle ist ebenfalls verfügbar (vor allem als Subjektsprädikativ), kommt jedoch insgesamt seltener vor. Als indirektes Objekt werden Partitivkonstruktionen von allen sechs befragten Sprecherinnen abgelehnt (*ech vertrauen där Leit net ‚ich vertraue solchen Leuten nicht’). Auch hinter Präpositionen wird eine partitive NP als ungrammatisch eingestuft (*mat där Leit ginn ech net eens ‚mit solchen Leuten komme ich nicht zurecht’). Da Partitiva hier blockiert sind, wird in diesen Fällen auf andere Mittel der Spezifizierung zurückgegriffen (vgl. dazu die Tabellen (49) und (50) im nachfolgenden Kapitel).
527An dieser Stelle soll noch ein Einzelbeleg angeführt werden, der ein Partitivpronomen als Relativsatzeinleitung zeigt:
528(113)a villen bilateralen Gespréicher, där ech och ee ganze Koup mat dem iresche Premier
hat (Interview)
in vielen bilateralen Gesprächen, PRTV ich auch einen ganzen Haufen mit dem irischen
Premier hatte
529Das Bezugsnomen lautet in diesem Beispiel Gespréicher ‚Gespräche’. Im direkt anschließenden Relativsatz befindet sich das starke Partitivpronomen där sowie der Quantor ee ganze Koup ‚einen ganzen Haufen’ (Partitiv-NP: där ee ganze Koup ‚davon einen ganzen Haufen’). Das Partitivpronomen där wird neben seiner syntaktischen Funktion als Objekt zusätzlich als Relativpronomen verwendet. Dass es sich hier um einen weiteren, selbstständigen Satz handelt, kann ausgeschlossen werden, da das finite Hilfsverb hat ‚hatte’ am Satzende steht (zur Verbstellung im Nebensatz vgl. Kapitel 8). Eine Verwendung als Relativum ist für Partitiva eher ungewöhnlich und es konnten keine weiteren Belege gefunden werden.
530Neben den Satzfunktionen als Objekt oder Subjekt können Partitiva auch Teil von lexikalisierten Konstruktionen sein. Vor allem die folgenden drei Konstruktionen finden sich jeweils über 40mal in den Daten.
531(114)zevill däers Gudden sinn
zuviel PRTV Guten sein
532(115)sech däers/es bewosst sinn
sich PRTV bewusst sein
533(116)däers/es genuch hunn
PRTV genug haben
534In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass bei topikalisiertem Partitiv im Plural ein entsprechendes schwaches Pronomen im Mittelfeld als so genanntes Resumptivpronomen auftreten kann. Bei den Quantoren hat sich gezeigt, dass diese unterschiedliche Positionen im Satz einnehmen können. Dabei muss neben den allgemeinen Satzbaubedingungen auch auf den Quantorentyp (indefinit / definit) sowie auf die Art des Partitivums geachtet werden (Pronomen, Artikel). Bei den syntaktischen Funktionen hat sich herausgestellt, dass Partitive in den meisten Fällen eine Rolle als direktes Objekt einnehmen. Sie finden sich allerdings auch als Subjekte bzw. Subjektsprädikative. Darüber hinaus existiert ebenfalls eine Reihe an festen Verb-Konstruktionen mit Partitiva.
Ausdrucksmittel für Spezifizität
535Partitivkonstruktionen verbinden unterschiedliche semantische Eigenschaften, u.a.
Indefinitheit und Spezifizität. Letztere wurde im Zusammenhang mit dem Gebrauch des
Partitivartikels als „Hervorhebungsprinzip“ gekennzeichnet (nach dem Prinzip der „noteworthy property
“ von Ionin 2006). Spezifizität, d. h. der Verweis auf eine bestimmte Menge mit bestimmten Eigenschaften,
kann nicht nur durch einen Partitiv ausgedrückt werden, sondern ebenfalls durch andere
syntaktische Mittel (Prosodie wird hier nicht berücksichtigt). Diese Mittel variieren
durchaus in ihrem Spezifizitätsgrad, sind allerdings für die textuelle Hervorhebung
eines nominalen Ausdrucks gleichermaßen relevant. Außerdem sollte beachtet werden,
dass Partitive nur für nicht individuierbare Substantive infrage kommen und nicht
als indirektes Objekt verwendet werden können, im Gegensatz zu den meisten in Tabelle
49 genannten Mitteln, die keine solche Restriktionen haben.
Partitivartikel | däers/es, där/der |
Determinierer | Definitartikel (stark: den/déi/dat) oder Demonstrativartikel (dësen/dës/dëst) |
Attribute | Adjektive, restriktive Relativsätze, PP |
Adverbien | nicht flektierbarer Demonstrativartikel ((e)sou) |
Adjunktorphrasen | wéi-Vergleiche (‚wie’) |
Komposita | Determinativkomposita |
536Im Folgenden werden diese Spezifikationsmöglichkeiten an einem Beispielsatz illustriert.
537(117)et leet een dann där klenger Steng dohinner (Politik)
es legt man dann PRTV kleine Steine dorthin
538Die Spezifikation der Steine (‚solche kleinen Steine’) kann nicht nur durch ein Partitivpronomen geleistet werden. Auch die folgenden syntaktischen Mittel in Tabelle 50 können die „kleinen Steine“ näher spezifizieren.
Partitivartikel | där klenger Steng ‚von diesen / solche kleinen Steine’ |
Def./Dem.-Artikel | déi /dës kleng Steng ‚die/diese kleinen Steine’ |
Attribute | Adjektiv: déi speziell kleng Steng ‚diese speziellen kleinen Steine’ Lokaladjektiv:72 déi dote Steng ‚die dortigen Steine’ Relativsatz: déi kleng Steng, vun deenen ech geschwat hunn ‚die kleinen Steine, von denen ich sprach’ |
Adverbien | (e)sou kleng Steng ‚so kleine Steine’ |
Adjunktorphrasen | kleng Steng wéi déi heiten ‚kleine Steine wie die hiesigen’ |
Komposita | Gaardesteng ‚Gartensteine’ |
539Man kann sich in diesem Zusammenhang nun die Frage stellen, warum das Luxemburgische nun ein elaboriertes Set an Partitivkonstruktionen entwickelt hat, wenn es auch andere Konstruktionen für die Markierung von Spezifizität gibt. Im Grunde genommen verfügen Partitivartikel über eine Verweisfunktion für Spezifizität, wohingegen die meisten anderen syntaktischen Mittel die Spezifizierung an sich leisten. Diese Verweisfunktion soll noch einmal an einem Beispiel verdeutlicht werden. In Beispiel (118) wird über eine bestimmte Art von Aktien gesprochen. Im Matrixsatz wird das Substantiv Aktien zunächst durch einen restriktiven Relativsatz näher spezifiziert (SPEZ_1). Im anschließenden Nebensatz wird erneut auf diese Aktien verwiesen; das Substantiv Aktien wird wiederholt (jedoch nicht als Pronomen) und der Partitivartikel verweist auf die Spezifizierung des Relativsatzes (SPEZ_1). Dadurch erhält der Partitivartikel eine phorische Funktion (PHOR_SPEZ_1), die in diesem Fall auf den semantischen Inhalt des Relativsatzes verweist.
540(118)Dat ass entstanen duerch déi Aktien, [déi déi Leit kritt hunn deemools als Kompensatioun fir d’Lounkierzungen]SPEZ_1, wou Leit nach haut [där]PHOR_SPEZ_1 Aktien hunn.
‚Das ist entstanden durch die Aktien, die die Leute damals bekommen haben als Ausgleich
für die Lohnkürzungen, wo die Leute heute noch solche Aktien haben.’
541Partitivartikel benötigen stets einen bestimmten Kontext, der eine genaue Spezifizierung ermöglicht. Allerdings unterliegen Partitiva auch syntaktischen Restriktionen, sodass in bestimmten Satzkontexten auf ein anderes Ausdrucksmittel für Spezifizität ausgewichen werden muss.
542(119)Referent: <Den Här Schleck an d’Regierung> ‚der Herr Schleck und die Regierung’
esou Leit mat esou Kompetenzen brauche mer do. (Online-Kommentar)
so Leute mit so Kompetenzen brauchen wir da
543Bei (119) hätte die Spezifizierung der ersten NP esou Leit auch anhand einer Partitiv-NP ausgedrückt werden können, schließlich steht die NP satzinitial in der Rolle als direktes Objekt und Leit ist ein nicht individuierbares Nomen: där Leit brauche mer do ‚solche Leute brauchen wir da’. Nicht austauschbar durch einen Partitiv wäre die PP mat esou Kompetenzen, da Partitive nicht von Präpositionen regiert werden können.
544Im Allgemeinen ist es nicht ungewöhnlich, dass unterschiedliche Ausdrucksmittel für Spezifizität in ein und derselben Äußerungssequenz auffindbar sind, schließlich können Elemente auf unterschiedliche Weise umschrieben werden. Das Besondere beim Gebrauch des Partitivartikels bleibt allerdings die Möglichkeit, nicht individuierbare Substantive näher spezifizieren zu können.
Nominalisierte Adjektive und Partitive
545Bei der Darstellung der morphologischen Eigenschaften von Partitiva wurde auf das besondere Adjektivsuffix {er} im Plural hingewiesen: där klenger Betriber ‚solche kleinen Firmen’ (vgl. Kapitel 5.3.2). Diese mit {er} suffigierten Adjektive finden sich jedoch nicht nur in partitiven NPs, sondern auch bei nominalisierten Adjektiven. Das er-Suffix tritt allerdings nur dann bei Adjektiven auf, wenn diese nominalisiert sind, im Plural stehen und ohne Artikel oder mit Quantor verwendet werden. Die folgende Darstellung zeigt demnach das Adjektiv in seiner Grundform, eine Nominalisierung im Plural mit Definitartikel und einen nominalisierten Plural, der ein er-Suffix erhält (einmal mit Ø-Artikel und einmal mit Quantor).
546(120)schlecht > déi Schlecht > Ø Schlechter > e puer Schlechter
schlecht > die Schlechten > Ø Schlechte > ein paar Schlechte
547Das folgende Beispiel aus dem Luxemburgisch-Lehrbuch von Schintgen et al. (2000: 17) zeigt, wie diese nominalisierten artikellosen Adjektive im Kontext verwendet werden.
548(121)Ech hätt gär e Pond Drauwen. (Lehrbuch)
ich hätte gerne ein Pfund Trauben
Wat fir w.e.g.? - Schwaarzer.
Was für bitte - schwarze.PRTV
‚Welche bitte? – Von den Schwarzen.’
549Für die Form Schwaarzer sind zunächst zwei Erklärungsansätze denkbar: Einerseits kann hier eine Adjazenzellipse vorliegen. Die ausgelassenen Wortformen werden in (122) durch die Notation (#Wortform) markiert.
550(122)Wat fir w.e.g.? (#där) schwaarzer (#Drauwen)
was für bitte? (#PRTV) schwarze (#Trauben)
551Andererseits könnte man auch von einer Art synthetischem Partitiv ausgehen, d. h., dass die er-Markierung am Adjektiv eine Partitivmarkierung ist, die ohne den entsprechenden Partitivartikel vorkommt (ohne Annahme einer Adjazenzstruktur wie beim ersten Erklärungsansatz).
552An dieser Stelle soll nun gezeigt werden, wie diese nominalisierten Adjektive bislang kategorisiert wurden und welche Hinweise das Korpus liefern kann. Bei Keller (1961) wird dieses {-er} als normales Wortbildungssuffix klassifiziert. Dort heißt es, dass nominalisierte Adjektive das Genitivsuffix {-er} bekommen, wenn sie nach Numeralia oder ohne Artikel verwendet werden: dräi Grousser ‚drei Große’, dat si Schlechter ‚das sind Schlechte’ (Keller 1961: 272). Auch Schanen & Zimmer (2012: 99, 154) gehen auf diese besonderen Formen ein und kategorisieren sie als artikellose nominalisierte Adjektive im partitiven Genitiv.73 Diese nominalisierten Adjektive können ebenfalls mit den für Partitive typischen Quantoren verwendet werden: zéng / vill / e puer Jonker ‘zehn / viele / ein paar Junge’ (Bsp. nach Schanen & Zimmer 2012: 154).
553Aus formaler Perspektive handelt es sich zunächst um den morphologischen Prozess der Nominalisierung eines Adjektivs. Auffällig ist allerdings, dass nur Plurale ohne Artikel oder mit Quantor ein er-Suffix erhalten. Dabei handelt es sich um das gleiche Suffix, das sich auch in partitiven Nominalphrasen findet: där kleng-er Betriber. Auch aus funktionaler Perspektive gibt es durchaus Überschneidungen mit den Partitiva: Einerseits wird hier eine besondere Eigenschaft hervorgehoben und andererseits wird ein indefiniter Referent im Plural angegeben (dräi Grouss-er ‚drei Große’ vs. déi dräi Grouss-Ø ‚die drei Großen’). Die artikellose Form Schwaarzer aus Beispiel (121) bedeutet demnach ‚solche, auf die die Eigenschaft [schwarz] zutrifft’. Dies lässt sich auch mit verschiedenen Belegen aus dem Korpus verdeutlichen.
554Der folgende Satz ist einem Chat-Gespräch entnommen, in dem über Personen geredet wird, die man nachts auf der Straße trifft. Nachdem eine Person behauptet, nachts niemandem zu begegnen, antwortet eine andere Person mit folgendem Satz:
555(123)an wann ..dann sin et gaaaanz luscher (Chat)
und wenn..dann sind es gaaaanz zwielichtig.PRTV
556Hier wird durch die Nominalisierung des Adjektivs lusch ‚zwielichtig’ (abgeleitet von frz. louche) auf eine Personengruppe verwiesen, auf die die Eigenschaft [+zwielichtig] zutrifft. Durch die artikellose Pluralform bleibt die Gesamtmenge indefinit (Stärkung der Indefinitheit durch er-Suffix), sodass nur ihre Eigenschaft hervorgehoben wird.
557Diese synthetischen Partitive (d. h. die nominalisierten Adjektive mit dem Partitiv-Flexiv) finden sich auch nach Quantoren, wie in (124) zu erkennen ist.
558(124)Wéi eng Ham soll et sinn? (Lehrbuch)
welcher Schinken soll es sein?
Maacht mir 200g gekachtener!
macht mir 200g gekochten.PRTV
‚Geben Sie mir 200g vom gekochten.’
559An dieser Stelle wird die partitive Funktion deutlich, da hier durch den synthetischen Partitiv gekachtener, der meines Erachtens als Nominalisierung großgeschrieben werden müsste, eine Referenzmenge beschrieben wird, aus der 200g zu entnehmen sind. Die in (125) gezeigten Schritte der Wortbildung lauten demzufolge: Verb > attributives Adjektiv aus Partizip II > synthetischer Partitiv (hier mit Quantor).
560(125)kachen > gekachten Ham > 200g Gekachtener
kochen > gekochter Schinken > 200g Gekocht.PRTV
561Im Rahmen dieser vorläufigen Grundüberlegungen zu diesem Phänomen möchte ich auch noch auf den Effekt der Übergeneralisierung dieser er-Suffixe bei nominalisierten Adjektiven hinweisen. Synthetische Partitive lassen sich generell nach akkusativregierenden Präpositionen verwenden: e Buch fir Jugendlecher ‚ein Buch für Jugendliche’ (eine Eigenschaft, die nicht auf Partitivkonstruktionen mit däers/es oder där/der zutrifft). Bei dativregierenden Präpositionen hingegen zeigt sich Variation zwischen der erwartbaren en- und der partitiven er-Endung. Im Korpus findet sich die PP ‚mit Jugendlichen’ 19mal: In 12 Fällen lautet die Form mat Jugendlechen, in den restlichen 7 Instanzen zeigt sich jedoch die partitive Form mat Jugendlecher. Dies bedeutet einerseits, dass sich die er-Endung ausbreitet, und andererseits, dass synthetische Partitive keine Beschränkung in Bezug auf Präpositionen kennen.
562Die genaue Struktur dieser synthetischen Partitive, deren genauen funktionalen Merkmale sowie weitere Belege für Übergeneralisierungen müssen in zukünftigen Studien gezielt analysiert werden. An dieser Stelle sollten lediglich einige Belege und Überlegungen zu diesen Formen gezeigt und problematisiert werden.
5.3.4 Partitivkonstruktionen in anderen Sprachen
563Partitive Strukturen werden für zahlreiche Sprachen beschrieben, beispielsweise für das Finnische, Russische, Armenische, Katalanische, Französische oder Niederländische (vgl. die Überblicksdarstellungen bei Koptjevskaja-Tamm 2001 oder Martí-Girbau 2010). Die Kategorie Partitiv umfasst jedoch ein weites Feld mit unterschiedlichen formalen und funktionalen Eigenschaften in den Einzelsprachen. Demzufolge kann der Bezeichnung Partitiv eine sehr unterschiedliche Bedeutung zugrunde liegen. Im Finnischen oder im Russischen etwa stellt der Partitiv eine feste Größe dar, da es sich in diesen Sprachen um einen eigenständigen Kasus handelt.
564Der Fokus liegt in diesem Kapitel auf den Partitivkonstruktionen im Französischen, Niederländischen sowie in bestimmten Varietäten des Deutschen. Dabei wird auch ein Blick auf frühere Sprachstufen des Deutschen geworfen. Bei der typologischen Betrachtung müssen zunächst Partitivpronomen von -artikeln getrennt werden. Partitivartikel sind in den Varietäten des Deutschen sowie im Niederländischen – soweit die Quellen das Phänomen berücksichtigen – nicht belegt. Sie sind allgemein-typologisch betrachtet durchaus selten (vgl. Carlier 2007: 43). Allein ein kleines laienlinguistisches Heft (Le platt lorrain pour les nuls 2012) beschreibt einen solchen Artikel für das (germanisch-stämmige) Lothringische, das eine Nachbarvarietät zum Luxemburgischen darstellt (der nördliche Teil des Sprachgebiets ist moselfränkisch, der südliche Teil rheinfränkisch) (vgl. Haas-Heckel et al. 2012). Bis auf ein dort abgebildetes Paradigma lässt sich jedoch nichts Essentielles über die Verwendung dieses Partitivartikels sagen.
565Das Französische und das Italienische kennen noch einen Partitivartikel. Dieser hat seine partitive Funktion allerdings zugunsten von reiner Indefinitheit weitestgehend aufgegeben (vgl. Martí-Girbau 2010: 38): des livres ‚Ø Bücher’ oder un verre d’eau ‚ein Glas Ø Wasser’ (eine diachrone Analyse des Partitivartikels im Französischen findet sich bei Carlier 2007). Allein bei der Kombination mit einem quantifizierenden Ausdruck kann Spezifizität mit dem du-bzw. dem de la-Artikel markiert werden: Das unzählbare Substantiv vin ‚Wein’ kann demnach nicht spezifiziert bei un verre de vin oder spezifiziert bei un verre du vin verwendet werden. Diese Art der Opposition beim französischen Artikel de<=>du offenbart sich im Luxemburgischen mit Ø<=>däers/där.
566Deutlich verbreiteter in den indogermanischen Sprachen sind Partitivpronomen.74 Ein prominentes Beispiel sind dabei die romanischen Partitivpronomen. Ohne im Detail auf die entsprechenden Eigenschaften der jeweiligen Pronomen eingehen zu wollen, kann festgehalten werden, dass der partitiv-anaphorische Bezug im Französischen mit en, im Italienischen und im Katalanischen mit ne geleistet werden kann (vgl. u.a. Pollock 1986; Cresti 2003; Carlier 2007; Glaser 2008). Diese Pronomen gehen jedoch nicht auf Genitive zurück, sondern auf das demonstrative Pronominaladverb inde ‚von da’ (vgl. Strobel 2016: 149).
567Im Niederländischen ist der Gebrauch des Partitivpronomens er gut dokumentiert (vgl. De Schutter 1992; Corver, van Koppen & Kranendonk 2009). Neben der partitiven Funktion kann er auch lokativisch, expletiv oder präpositional verwendet werden (vgl. De Schutter 1992; Strobel 2016).75 Insgesamt sind niederländische Partitivkonstruktionen durchaus vergleichbar mit dem Luxemburgischen, d. h., dass sie einerseits eine indefinit-anaphorische Referenz herstellen (vgl. Bsp. (126)) und dass pronominal verwendete Quantoren häufig ein Partitivpronomen verlangen (vgl. Bsp. (127)).76
568(126)a) Mineraal water? – we hebben er ook dat war beter smaakt
b) De l’eau minérale? – Nous en avons aussi qui est mieux
(beide Beispiele nach De Schutter 1992: 17)
‚Mineralwasser? Wir haben auch welches, das besser schmeckt.’
569Bei (126) lautet der vorgegebene Referent Mineralwasser. Als unzählbares Substantiv im Singular kann darauf mithilfe eines Partitivpronomens (nl. er bzw. frz. en) referiert werden. De Schutter (1992: 17) macht hier deutlich, dass das niederländische Partitivpronomen er mit dem französischen Pronomen en in seiner Verwendungsweise verglichen werden kann. In dem folgenden Beispiel nach De Schutter (1992: 15) wird gezeigt, dass das Partitivpronomen er auch zusammen mit den Quantoren al twee ‚bereits zwei’ oder een paar ‚ein paar’ vorkommen kann.
570(127)Van de kandidaten hebben we er al twee / een paar gesproken77
von den Kandidaten haben wir PRTV bereits zwei / ein paar gesprochen
571Zu den Partitivpronomen in den deutschen Dialekten sind vor allem die Arbeiten von Glaser (1992, 1993, 2008) und Strobel (2012, 2016) hervorzuheben. Im Zusammenhang mit dem SyHD-Projekt zeigt Strobel (2012), dass deutsche Partitivpronomen, die aus alten pronominalen Genitiven entstanden sind, unterschiedliche Formen aufweisen: der, dere, ere oder sen. Sie können mit oder ohne Quantor auftreten, wobei die Pronomen häufiger ohne Quantor zu beobachten sind (vgl. Strobel 2016). Die folgenden Sätze illustrieren die partitiven Pronomen ere (für Plurale) und sen (für Neutr.Sg.) im Zentralhessischen.
572(128)Ref.: <Pilze> Hei sen ere! (Strobel 2012: 410)
hier sind PRTV
573(129)Ref.: <Fleisch> Soll eich sen holle? (ebd.)
soll ich PRTV holen
574Auch in den moselfränkischen Dialekten (auf deutscher Seite) sind partitive Pronomen belegt. Ihre anaphorische Funktion gilt ebenso wie im Luxemburgischen für nicht individuierbare Substantive. Für diese Formen liegen zwar keine ausführlichen Dialektbeschreibungen vor, doch das Trierer Wörterbuch (Marx & Schmitt 2011) führt die Formen däs und där als Lemmata mit entsprechenden Beispielsätzen auf.
575(130)Ref.: <Viez> hoatt er däs naoch? (Marx & Schmitt 2011)
habt ihr PRTV noch
576(131)Ref.: <Kartoffeln> eisch könnt där naoch en Dotzend verdraon (ebd.)
ich könnte PRTV noch ein Dutzend vertragen
577Die Formen däs und där sind hier parallel zu den luxemburgischen Formen däers und där zu sehen. Auch im pronominalen Gebrauch scheinen keine großen Unterschiede vorzuliegen (schwache Formen sind allerdings nicht bekannt). In diesen Beispielen werden sie einmal ohne Quantor und einmal mit Quantor (‚ein Dutzend’) verwendet.
578Für die moselfränkischen Varietäten in Belgien (im ehemaligen Herzogtum Limburg, das
sich ungefähr von der nördlichen Grenze Luxemburgs bis nach Aachen erstreckt) werden
auch Partitivpronomen beschrieben (vgl. Wintgens 1999). In dieser Beschreibung78 werden unter dem Kapitel „pronominale Demonstrativa
“ die Partitivpronomen däs/es und ter/der/er aufgeführt (vgl. Wintgens 1999: 79). Der Autor (ebd.) kennzeichnet sie als „Sonderformen [...] in der Bedeutung <dessen, deren, derer>
“. Die Pronomen werden allerdings nur nach Numerus (und nicht nach Genus getrennt),
d. h. im Singular lautet das Pronomen däs/es, im Plural er/ter.79 Das Beispiel zeigt die pronominale Verwendung mit dem Quantor sechs (mit den jeweiligen regionalen Varianten).
579(132)a) Östliches Sprachgebiet (Belgien): Ech han er zé(é)s.
b) Westliches Sprachgebiet (Belgien): Ech han ter/der zé(é)s.
‚Ich habe deren sechs / J’en ai six.’
(Beispiele und Übersetzung nach Wintgens 1999: 79)
580Die folgende Karte aus Glaser (2008: 108) zeigt die Verteilung der pronominalen (d)er(e)-Formen im deutschen Sprachraum. Glaser (2008) geht auf dieser Karte ausschließlich auf die pronominalen Pluralformen des Partitivs ein.
581Insgesamt finden sich diese Partitivpronomen des Typs (d)er(e) überwiegend im mitteldeutschen Gebiet sowie in kleineren Arealen in der Schweiz.80 Somit zieht sich dieses Gebiet durch Mitteldeutschland über Luxemburg bis in das
niederländische Sprachgebiet. Wobei die einzelsprachlichen Verwendungsweisen dieser
Pronomen sicherlich zu differenzieren sind. Strobel (2016: 151) kennzeichnet den Bereich der pronominalen Partitivität im Deutschen als „minimal voneinander abweichende (Mikro-)Systeme
“. Die Beschreibung des Luxemburgischen kann demnach dazu beitragen, das Bild dieser
Mikrosysteme zu ergänzen. Ein direkter Vergleich mit deutschen, luxemburgischen und
niederländischen Verwendungsweisen der Partitiva ist an dieser Stelle nur schwer umsetzbar,
da die Datenlage stark variiert (Korpusdaten vs. Fragebogendaten aus SyHD und SAND
vs. Einzelsätze aus Dialektgrammatiken). Eine gezielte Vergleichsstudie steht demnach
noch aus und wäre vor allem im Hinblick auf starke und schwache Partitivpronomen oder
Resumptivpronomen ein zukünftiges Forschungsvorhaben. Als gemeinsame Eigenschaft ist
jedoch die partitiv-anaphorische Referenz (bei unzählbaren Singularen und Pluralen)
anzusehen.
582An dieser Stelle sollen die sprachvergleichenden Betrachtungen diachron ausgeweitet werden, genau genommen wird hier ein Vergleich mit dem Deutschen des 19. Jahrhunderts angestrebt. Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Standardisierung bietet es eine gute Vergleichsbasis mit den Strukturen des Luxemburgischen. Auch im Deutschen des 19. Jahrhunderts finden sich Beispiele für partitive Genitive im Zusammenhang mit definiten und indefiniten Quantoren. Die folgenden Beispiele zeigen Texte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts publiziert wurden, und belegen die Verwendung von deren als anaphorisches Pronomen zu einem Referenten im Plural bzw. als Referenzmenge zu einem Quantor.
583(133)Ref.: <Schwefelräucherungen> er nahm deren fünf81
584(134)Ref.: <Vorsichtsmaßregeln> es fehlen deren noch manche82
585(135)Ref.: <Försterwohnungen> es fehlen deren noch 84683
586Das Pronomen deren ist dabei ein eindeutiges Genitivpronomen, das jedoch unterschiedliche Funktionen
übernehmen kann: wie hier dargestellt mit partitiver Funktion oder aber – wie heute
noch gebräuchlich – als Possessivartikel (Typ: deren Garten). Hier wird deutlich, wie eng die Bereiche Genitiv, Possession und Partitiv miteinander
verwoben sind: Die Grundform ist ein Genitiv(pronomen) inklusive unterschiedlicher
Funktionen, die sich dann im Laufe der Zeit verändern. Eine partitive Lesart wie in
den Beispielen (133) bis (135) würde man im Standarddeutschen wahrscheinlich ablehnen
oder als höchst markiert einstufen. Die Kombination des Genitivpronomens deren mit Numeralia findet sich hingegen heute noch im Schweizer Hochdeutschen als „grammatische[r]
Helvetismus
“ (Glaser 2011: 21).
587Die Verwendung von Partitivpronomen im Niederländischen, Französischen und in manchen deutschen Dialekten scheint sich mit den luxemburgischen Entsprechungen in vielerlei Hinsicht zu überschneiden. Die genauen einzelsprachlichen Bedingungen der Partitivkonstruktionen sollen allerdings nicht Gegenstand dieser sprachvergleichenden Überblicksdarstellung sein und sind in der jeweiligen Forschungsliteratur nachzulesen.
5.3.5 Zusammenfassung
588Der luxemburgische Partitiv umfasst Konstruktionen mit den Partitivartikeln däers und där sowie mit den Partitivpronomen (mit einer starken und einer schwachen Variante) däers/es und där/der. Die Hauptfunktion von Partitiva ist das Anzeigen von Indefinitheit und Spezifizität.
589Partitivpronomen:
- sind anaphorische Pronomen für unzählbare Singulare und für Plurale.
- bilden den Plural zum Indefinitpronomen een/eng/eent ‚einer/eine/eins’.
- werden häufig mit Numeralia und anderen Quantoren verwendet.
591Partitivartikel:
- können unzählbare Singulare und Plurale begleiten, um sie näher zu spezifizieren.
- verweisen auf eine bestimmte Eigenschaft des Nomens, die aus dem Kontext hervorgeht („Hervorhebungsprinzip“).
- können mit Numeralia und anderen Quantoren verwendet werden.
593Partitiva finden sich im Luxemburgischen sowohl im Schriftlichen als auch im Mündlichen und sind nicht stilistisch markiert. Sie übernehmen meistens die Rolle des direkten Objekts, können jedoch auch als Subjekt verwendet werden.
594Auch in anderen mitteldeutschen Dialekten sowie im Niederländischen sind Partitivformen belegt sind, jedoch vorrangig als Pronomen und in teilweise unterschiedlichen Ausprägungen. Interessant ist jedoch, dass das Luxemburgische auch Partitivartikel vorweist, die im typologischen Vergleich – vor allem in anderen westgermanischen Sprachen84 – nur selten anzutreffen sind.
5.4 Das Verhältnis von Genitiv, Possession und Partitiv
595Genitiv ist zunächst ein Terminus, der aus der traditionellen Grammatikschreibung stammt. In vielen modernen Grammatiken wird noch an dieser Terminologie festgehalten, da etablierte Begriffe häufig beibehalten werden, selbst wenn sie nicht differenziert genug sind. Zudem sollte stets zwischen Form und Funktion getrennt werden. Aus diesem Grund ist eine Korpusanalyse (oder eine andere breite empirische Basis) auch essentiell für das Erstellen von Kategorien, da hier sowohl die Formen als auch die Verwendungsweisen deutlich werden.
596In diesem Kapitel wurden drei zentrale Themen erörtert: der strukturelle Genitiv in Attributen, Adverbialen und als Rektionskasus (als „reiner“ Kasus), das funktionale Merkmal [+possessiv], das – bis auf den Ursprung der Possessivartikel – nicht mehr durch den Kasus Genitiv ausgedrückt wird, und das funktionale Kasusmerkmal [+partitiv], das aus einem Genitiv hervorgegangen ist, sich im Luxemburgischen jedoch als eigenständige Funktion fest etabliert hat. Die reine Funktion [+possessiv] ist durch Attribuierung eines possessiven Dativs oder einer vun-PP gekennzeichnet.
597Dass eine Trennung von Form und Funktion gerade beim Partitiv besonders schwierig
ist, zeigen die unterschiedlichen Terminologien und Beschreibungsmodelle in diesem
Kontext. Bruch (1955: 67f.) nennt diese Konstruktionen „partitives Demonstrativum
“, welches pronominal oder als Artikel verwendet werden kann. Bei Schintgen et al.
(2000: 146) wird allein die Form der als unbestimmtes Pronomen eingestuft. Bei Schanen & Zimmer (2012: 106, 165f.) werden Partitivartikel als Demonstrativartikel im Genitiv kategorisiert, Partitivpronomen
als anaphorische Demonstrativpronomen. Keller (1961: 272) spricht dem Partitivartikel eine eigene Funktion zu, bleibt aber aus paradigmatisch-struktureller
Sicht beim Genitiv als Kasus. Der Genitivzuordnung ist entgegenzusetzen, dass bei
NPs mit Partitivartikel kein Genitiv-s am Nomen möglich ist, bei einer ‚echten’ Genitiv-NP
hingegen schon: kenges Sportlers ‚keines Sportlers’. Meiner Auffassung nach sollte die Funktion für die Klassifizierung
des Partitivs ausschlaggebend sein. Demnach handelt es sich bei däers und där um Partitivartikel und bei däers/es sowie där/der um Partitivpronomen, auch wenn diese aus formeller (diachroner) Perspektive Genitive
sind. Nichtsdestotrotz ist Partitivität an sich ein komplexes Konzept, da hierunter
nicht nur Teil-Ganzes-Relationen fallen, sondern auch Indefinitheit, Quantität und
Spezifizität.
598Auch in den Beschreibungen der deutschen (dialektalen) Partitivpronomen wird versucht,
diese Brücke zwischen Form und Funktion zu schlagen. Strobel (2016) etwa nennt die Partitivpronomen mitunter „partitive Genitivpronomina
“, um beide Aspekte gezielt zu benennen (den relikthaften Pronominalgenitiv und seine
partitive Funktion). Obwohl der Genitiv u.a. im Mittelhochdeutschen zur Kennzeichnung
von Teil-Ganzes-Relationen diente, wurde er im Laufe der Zeit in manchen Varietäten
abgebaut (vgl. Strobel 2016). Im Luxemburgischen hat sich der Gebrauch dieser Pronomen (und Artikel) allerdings
fest etabliert.
599Prinzipiell ist die ursprüngliche Funktion des Genitivs, Substantive semantisch zu
modifizieren, wie etwa durch Relationsverhältnisse (Stichwort Possession) oder Partitivität. Hinzu kommt die Verwendung als Rektionskasus von bestimmten Verben
und Adjektiven. Die possessiven Funktionen sind im Deutschen mit Genitiven belegt,
im Luxemburgischen hingegen nicht. Aus einzelsprachlicher Perspektive scheint sich
der Genitiv somit in unterschiedliche Bereiche zu spezialisieren. Für das Standarddeutsche
liegt die Hauptfunktion des Genitivs im adnominalen Bereich. Bis auf vereinzelte genitivregierende
Verben und Adjektive liegt die Hauptfunktion des (ehemaligen) luxemburgischen Genitivs
im partitiven Bereich. Der Bereich der Possession ist im Luxemburgischen nicht mehr
mit Genitiven besetzt. Für problematisch halte ich es allerdings, den possessiven
Dativ hier als „Ersatzform
“ des Genitivs (vgl. Zifonun 2003; Russ 1990) zu bewerten. Dies erweckt den Eindruck, als habe sich der Genitiv zurückgebildet
und die Sprecher hätten aktiv nach einem passenden „Ersatz“ für diese strukturelle
Lücke gesucht. Tatsächlich sind es meist andere Formen, die – wie im Fall des possessiven
Dativs – durch Grammatikalisierung in das System gelangt sind und von den Sprechern
immer häufiger verwendet werden, bis ebendieser den Funktionsbereich ergänzt und unter
Umständen übernimmt.
Fußnoten
226Zu den Autoren, die den Genitiv integrieren und somit von einem Drei-Kasus-System ausgehen, gehören u.a. Bruch (1955: 47) und Schmitt (1984: 55f.). Ausgeklammert wird der Genitiv in neueren Beschreibung, wie etwa bei Krier (2002: 50f.) oder bei Schanen & Zimmer (2012). Letztere weisen allerdings auf den reliktären Status des Genitivs hin.
232Es ist nicht ganz eindeutig, welche Rolle Schanen & Zimmer (2012) dem Genitiv zuordnen. Durch den schwer nachvollziehbaren Aufbau der Grammatik finden
sich Beispiele mit Genitivpronomen in unterschiedlichen Unterkapiteln. Auch in Flexionsparadigmen
(Artikel und Pronomen) werden Genitivformen aufgeführt, jedoch unter dem selbst gewählten
Kasus-Label „C3
“ (cas 3 ‚Kasus drei’). Ebenso häufig finden sich daneben Aussagen, dass Genitive selten,
archaisch und begrenzt verwendet werden („relativement rare et souvent limitée à des pronoms et à des expressions lexicalisées
“, Schanen & Zimmer 2012: 150), sodass keine klare Aussage zum Genitiv entsteht.
232Bei Bruch (1955: 49) finden sich allerdings auch irrtümliche Genitivzuordnungen von s-
232Fugenelementen. Der Autor nennt hier etwa das Wort Rommelsblieder ‚Rübenblätter’, um zu zeigen, dass das Fugenelement -s- einen Genitiv darstellt. Das Fugen-s bei Rommelsblieder kann jedoch nicht als Genitiv gewertet werden. Das Fugenelement ist bei diesem Wort
auch unparadigmatisch, da Rommel ‚Rübe’ als feminines Substantiv generell kein Genitiv-s bekommen kann. Im Allgemeinen
ist es schwierig, bei Fugenelementen in N-N-Komposita von klaren Kasussuffixen auszugehen,
denn sie funktionieren „ohne wortinterne Kasusvergabe
“ (Gallmann 1998: 3). Ohne eine grundlegende Diskussion zu der Fugenproblematik anzustoßen, kann festgehalten
werden, dass eine Einschätzung des Fugen-s als Genitivmarker an dieser Stelle nicht
stichhaltig ist.
256Diese sowie die im Folgenden aus der Wikipedia zitierten Konstruktionen mit Genitiv werden von allen sechs befragten Muttersprachlerinnen (kleine informelle Befragung) im Luxemburgischen abgelehnt.
282Im Luxemburgischen existieren zwei Varianten dieser Nebensatzeinleitung: dass und datt. Aus Gründen der Vereinfachung wird hier vom dass-Satz gesprochen, auch wenn dieser durch datt eingeleitet wird (zur dass/datt-Variation vgl. Kapitel 8.2.5).
282Eine Sprecherin weist jedoch auf eine mögliche Verwendung mit pronominalem Genitiv hin: ech brauch denger net ‚wörtl. ich brauche deiner nicht’.
283Die gerundete und die ungerundete Variante dieses Lexems sind funktional gleichwertig.
305Es gibt leider keine genauen Quellen für den heutigen oder früheren Gebrauch dieser Formen. Die hier gemachten Aussagen in Bezug auf das Luxemburgische gehen auf persönliche Gespräche mit älteren und jüngeren Sprechern und Sprecherinnen des Luxemburgischen zurück. Auch im Korpus ließen sich keine entsprechenden Belege sammeln (hier wird meistens nur der Rufname oder der Nachname verwendet, selten in Kombination).
373Mehr zur Grammatikalisierung und den verschiedenen Erklärungsansätzen findet sich bei Zifonun (2003: 114-121), vgl. auch Fleischer & Schallert (2011).
410Da das Standarddeutsche nicht über einen Partitivartikel verfügt, sind diese Belege nicht immer einfach zu übersetzen. Abhängig vom Beispiel wähle ich im Folgenden entweder einen solch-Artikel oder eine PP mit Demonstrativartikel (von diesem/dieser).
413Im Folgenden werden in den Beispielen immer die Partitiva bzw. die dazugehörigen Quantoren durch Unterstreichung hervorgehoben. Das Partitivpronomen bzw. der Partitivartikel wird in der Glosse mit PRTV markiert, da keine direkte Übersetzung zur Verfügung steht.
415Individuierbarkeit wird hier verstanden als semantische Eigenschaft, die Objekte von ihrer Umgebung abhebt, hierzu zählen unter anderem die Merkmale [+Singular] [+belebt] [+zählbar] [+konkret] (vgl. Hopper & Thompson 1980: 253, zit. nach Bausewein 1990: 38). Für die vorliegende Untersuchung gelten vor allem die Merkmale [+Singular] und [+zählbar] als ausschlaggebend.
420Bruch (1955: 67f.) zeigt insgesamt mehrere Varianten auf: däers, däres, dees für Singular Maskulinum und Neutrum sowie där, déier, deer für Plurale und Femininum Singular. Meines Erachtens ergeben sich diese Formen einerseits aus dialektalen Varianten und andererseits aus der damals kaum geregelten Orthografie des Luxemburgischen. Die schwache Form es wird zwar in den Beispielen zu den Personalpronomen der dritten Person erwähnt, wird in der Beschreibung jedoch nicht berücksichtigt. Die reduzierte Variante der wird nicht erwähnt.
430Keller (1961: 274) zufolge entspricht das luxemburgische Partitivpronomen in seiner Funktion „more or less“ dem französischen Partitivpronomen en.
452Hierbei handelt es sich um eine spontane mündliche Abfrage von sechs Sprecherinnen, in denen diese Sätze in Bezug auf ihre Akzeptabilität bewertet werden sollten.
465Die Begriffe spezifisch und spezifiziert überschneiden sich teilweise in der Literatur (vgl. u.a. Karttunen 1969). Da es sich um einen semantisch-pragmatischen Prozess handelt, der vom Sprecher initiiert wird (Spezifizierung), erscheint mir das nominalisierte Partizip spezifiziert sinnvoller. Allein der Terminus spezifische Lesart soll beibehalten werden.
467Im Deutschen findet man auch den Gebrauch von son/sone zur Markierung dieser Art von Spezifizität (vgl. Hole & Klumpp 2000: 235). Der Gebrauch unterscheidet sich allerdings dahingehend, dass der Artikel son auch für zählbare Singulare verwendet werden kann und somit eine andere Funktion hat. Außerdem ist es im Luxemburgischen möglich, eine ähnliche Konstruktion zu bilden: esou eng Box ‚so eine / sone Hose’ (vgl. auch Kapitel 5.3.3.4 zum Ausdruck von Spezifizität).
469Originalbeleg: Referent: <Halloween Kostümer> ‚Halloween-Kostüme’ Et ginn e puer där Kostümer déi dëst Joer e richtegen Highlight sinn. ‚Es gibt ein paar solcher Kostüme, die dieses Jahr ein echtes Highlight sind.’ (Online-News).
473In der Linguistik gibt es viele verschiedene Vorstellungen und Typen von Spezifizität (vgl. von Heusinger 2011 für einen Überblick). Ich gehe hier nur auf das Konzept der referentiellen Spezifizität sowie Ionins (2006) noteworthy property ein.
474Die hohe thematische Relevanz (discourse prominence) ist ein Konzept, das Givón (1981; 1983) im Zusammenhang mit der Grammatikalisierung des Zahlworts eins als Indefinitpronomen und der Spezifizierung von Referenten vorstellt.
496Seržant (2014b) ordnet Partitiva im Slawischen in zwei Gruppen ein, je nachdem ob sie über einen
Quantor verfügen oder nicht. Partitive NPs mit Quantor (Typ D) nennt er „dependent partitive genitive
“, da sie von einem Kopf (dem Quantor) abhängen. Einfache partitive NPs ohne Quantor
(Typ C) beschreibt er demnach als „independent
“.
501Topikalisierung wird im Allgemeinen als „Vorgang der Umordnung von Satzgliedern“ verstanden, bei der eine Konstituente an den Satzanfang rückt (vgl. Altmann 1976: 234). Die Konstituente wird dabei in das Vorfeld (VF) verschoben, um sie als Topik hervorzuheben.
517Die folgenden Erläuterungen treffen auch auf einen indefiniten Quantor zu, in diesem Fall wäre bal 200 einfach durch vill ‚viele’ oder e puer ‚ein paar’ zu ersetzen.
524Däers Waasser nimmt hier Bezug auf das Trinkwasser, das täglich verbraucht wird.
526Konstruktionen des Typs et gëtt/et ginn ‚es gibt’ werden hier als Subjektsprädikative gewertet, da das Verb ginn häufig nach den grammatischen Eigenschaften des Prädikativs flektiert (und nicht nach dem Pronomen et). Vgl. Et ginn e puer där Kostümer (ginn = 3.Pers.Pl.).
538Die Lokaladjektive doten, loten, heiten, leiten haben im Luxemburgischen eine deiktische Lesart, d.h., dass sie im Grunde genommen wie adjektivische Demonstrativa funktionieren.
552Schlägt man im Glossar der Grammatik von Schanen & Zimmer (2012) bei „partitif
“ nach, findet man nur den Verweis auf den Abschnitt mit den nominalisierten Adjektiven
des Typs Dommer ‚Dumme’. Partitivartikel und -pronomen werden dort als Demonstrativa im Genitiv bestimmt.
566Dies liegt sicherlich auch an der partitiven Verwendung des Genitivs, aus dem die Partitivpronomen entstanden sind. Solche partitiven Genitive sind im Altgriechischen sowie in älteren Stufen des Germanischen und Slawischen belegt (vgl. Carlier 2007: 24).
567Dieser Umstand ist zum Teil der Homonymie mit der Reduktionsform des Lokaladverbials daar geschuldet (vgl. Strobel 2016).
567Als Ausnahme nennt De Schutter (1992) die friesischen Dialekte aus Groningen und Nord-Drente.
578Die Arbeit von Wintgens (1999) gleicht in Aufmachung und Inhalt sehr stark der Grammatik von Bruch (1955).
578Aus struktureller Sicht ist jedoch davon auszugehen, dass er/ter auch für Femininum Singular verwendet werden kann.
581Zur Systematik der wel(k)-Formen sowie zu den Ø-Partitiven vgl. Glaser (1992; 1993; 2008).
583Aus: Praktische Beobachtungen über die Schwefelräucherungen
(de Carro 1819: 57).
584Aus: Eine freimüthige critische Beleuchtung der [...] Ansichten, Thatsachen und Urtheile
gegen die homöopathische Heilmethode
(Suppan 1837: 23).
594Als Ausnahme gilt die Erwähnung eines Partitivartikels im Lothringischen, der allerdings nicht weiter beschrieben ist. Romanische Sprachen wie das Französische kennen allerdings einen Partitivartikel.