8 Verbcluster
852Die syntaktische Variation innerhalb von Verbclustern ist in den vergangenen 15 Jahren in den westgermanischen Sprachen umfassend erforscht worden, sodass die syntaktische Erschließung des Westgermanischen immer weiter voranschreitet. Dabei sind vor allem die Arbeiten an den syntaktischen Atlanten der niederländischen Dialekte (SAND) und der deutschen Schweiz (SADS) hervorzuheben sowie mehrere Einzelstudien und Aufsätze (vgl. u.a. Kaufmann 2007; Sapp 2007; 2011; Wurmbrand 2004; 2006). Leider ist das Luxemburgische bislang kaum berücksichtigt worden, denn selbst in vergleichenden Studien zu westgermanischen Verbclustern wird es überhaupt nicht oder nur als Randkommentar erwähnt (vgl. u.a. Zwart 1996; Wurmbrand 2004; 2006; Dubenion-Smith 2010).
853Dieses Kapitel soll die Variation in luxemburgischen Verbclustern nicht nur aufzeigen, sondern auch systematisch erklären. Nachdem Phänomen und Methodologie dargelegt wurden, werden zunächst Verbcluster im Nebensatz mit zwei Verbteilen analysiert (Kapitel 8.2). Die Ergebnisse werden dabei in vier Typen unterteilt: Kombination von einem Hilfsverb und einem Vollverb (Typ A: HV+VV), Kombination von einem Modalverb und einem Vollverb (Typ B: MV+VV), die Kombination von einem Konjunktivhilfsverb und einem Vollverb (Typ C: KHV+VV) sowie die Kombination eines Vollverbs mit Infinitivrektion und Vollverb (Typ D: VV+VV). Jeder dieser Verbtypen wird dabei ausführlich mit zahlreichen Beispielen beschrieben. In Kapitel 8.3 werden dreigliedrige Verbcluster besprochen. In diesem Kontext werden die Beispiele nach drei Haupttypen unterteilt, wobei sich die Unterteilung nach dem Verbtyp des Kopfes richtet: Hilfsverb (A), Modalverb (B) oder Konjunktivhilfsverb (C). Statistische Verfahren sollen jeweils helfen, die Bedingungen für die Stellungsoptionen bei zwei- und dreigliedrigen Verbclustern auszuwerten und ihre Signifikanz zu überprüfen. 4er-Verbcluster werden aufgrund ihrer Seltenheit und der allgemein geringeren Anzahl anhand von Einzelbelegen besprochen (Kapitel 8.4). In Kapitel 8.5 befindet sich ein – aufgrund der breiten Forschungslage in den verwandten Sprachen – umfassendes Kapitel zur Typologie der kontinentalwestgermanischen Verbcluster, inklusive einer kompakten Übersichtstabelle der beschriebenen Sprachen. Kapitel 8.6 fasst die zentralen Ergebnisse am Ende noch einmal zusammen.
8.1 Phänomen und Methodologie
854Der luxemburgische Satzbau zeichnet sich durch die verbale Klammerbildung aus (ähnlich wie im Standarddeutschen). Wie bereits mehrfach in dieser Arbeit demonstriert wurde, lassen sich Wortstellungen anhand des topologischen Feldermodells erläutern. Die verschiedenen Felder sind dabei mit bestimmten Wortarten bzw. Konstituentengruppen belegbar. Ein wichtiger Faktor ist in diesem Kontext das Verb, da das Verb im Hauptsatz eine Klammer bildet und im Nebensatz die Verbteile in der rechten Klammer „clustern“, d.h. aufeinandertreffen. Die Stellung des Verbs im luxemburgischen Haupt- und Nebensatz wird in den folgenden beiden Tabellen mit einem Beispielsatz verdeutlicht. Hierbei ist vor allem der Verbtyp zu beachten, denn gerade im Nebensatz kommt es hier zu unterschiedlichen Wortstellungen. In (211) wird der Satz se hu Konsequenze gedroen ‚sie haben Konsequenzen getragen’ einmal mit dem Hilfsverb hunn ‚haben’ gezeigt und einmal mit dem Modalverb mussen ‚müssen’.
855(211)a) Se hu Konsequenze gedroen.
Sie haben Konsequenzen getragen.
b) Se musse Konsequenzen droen.
Sie müssen Konsequenzen tragen.
VF | LK | MF | RK | NF |
Se | hu | Konsequenze | gedroen. | |
Se | musse | Konsequenzen | droen. |
856Im Nebensatz ist die linke Klammer durch die Nebensatzeinleitung belegt und die Verbteile (finite und nicht finite) rücken in die rechte Klammer. In (212) zeigt sich, dass für die Perfektkonstruktion gedroen hunn nur eine Verbstellungsoption zur Verfügung steht, für das Modalverb + Infinitiv hingegen zwei. In der in eckigen Klammern angegebenen Reihenfolge steht die 1 für die finite Verbform und die 2 für die abhängige infinite Verbform (in manchen Beispielen wird die Reihenfolge durch weitere abhängige Verbformen mit 3 und 4 fortgeführt).
857(212)a) ...datt se Konsequenze gedroen hunn.
..dass sie Konsequenzen getragen haben.
b) ...datt se Konsequenzen droe mussen // mussen droen.
..dass sie Konsequenzen tragen müssen // müssen tragen
VF | LK | MF | RK | NF |
datt | se Konsequenze | gedroen hunn. [2-1] | ||
datt | se Konsequenze(n) | droe mussen. [2-1] mussen droen. [1-2] |
858In Bezug auf die rechte Klammer stellen sich eine Reihe wichtiger struktureller Fragen, denen im Laufe dieses Kapitels nachgegangen wird: Welche Reihenfolge können die unterschiedlichen Verbtypen in der rechten Klammer annehmen? Welche Faktoren spielen eine Rolle für mögliche Variation? Können Verbcluster im Nebensatz durch andere Konstituenten unterbrochen werden und wenn ja, durch welche? Für Letzteres ist die Darstellung im topologischen Feldermodell leider ungeeignet, denn in der rechten Satzklammer dürfen bei diesem Modell nur Prädikatsteile stehen (zur Diskussion der Feingliederung in der rechten Klammer, in der auch nicht verbale Elemente möglich sind, vgl. Schallert 2014). In luxemburgischen Nebensätzen kann es jedoch beispielsweise zu Verbclusterunterbrechungen durch Objekte kommen, was in der generativen Grammatik als verb projection raising bezeichnet wird. Hierunter fallen Sätze des Typs datt se misst Konsequenzen droen ‚dass sie müsste Konsequenzen tragen’, bei denen das finite Modalverb misst ‚müsste’ zuerst genannt wird, daraufhin das direkte Objekt Konsequenzen und schließlich der vom Modalverb regierte Infinitiv droen ‚tragen’. Auch dieses Phänomen gehört zur Verbclustervariation, die in diesem Kapitel umfassend analysiert werden soll.
859In luxemburgischen Grammatiken wird dem Phänomen der Verbclustervariation nur wenig
bis gar kein Platz eingeräumt. Viele Lehrbücher, in denen Stellungsoptionen von Verben
im Nebensatz behandelt werden, beschränken sich auf die bloße Erwähnung der Variation,
ohne Hinweise auf die genaue Distribution oder Gründe für Umstellungen zu liefern
(vgl. Bruch 1955: 92-94; Schanen & Zimmer 2012: 52-54). Die Erklärungen der Autoren sind allerdings recht überschaubar. Bei Braun et al.
(2005: 49) wird nur im Zusammenhang mit Modalverben auf die Tatsache hingewiesen, dass diese
Verben einen Ersatzinfinitiv haben und dieser mit dem Infinitiv des Vollverbs manchmal
eine andere Reihenfolge aufweist („parfois interchangeables
“).129 Der Beispielsatz ist allerdings ein Hauptsatz, in dem zwei der drei Prädikatsteile
in der rechten Satzklammer variabel sind. Auf Verbstellung im Nebensatz wird nicht
eingegangen.130 Häufig wird hierfürder Einfluss des Standarddeutschen als Faktor für variable Verbpositionen
im Nebensatz genannt, d.h., wenn im Luxemburgischen AB und BA verfügbar sind, und
BA im Standarddeutschen vorkommt, wird dies von den Autoren als Einflussfaktor gewertet
(vgl. Bruch 1955: 92-94; Schanen & Zimmer 2012: 52f.).131 Andere Faktoren werden nicht genannt. Wie bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel
erwähnt wurde, spielt das Luxemburgische auch in vergleichenden Studien zur Verbclustervariation
kaum eine Rolle.
860Für die vorliegende Untersuchung wurden gezielt dass-Nebensätze aus dem Subkorpus extrahiert, manuell nach Verbclustertyp kategorisiert und ausgewertet.132 Nebensätze mit dass haben den Vorteil, dass sie einerseits hochfrequent sind und andererseits stets einen Nebensatz einleiten, im Gegensatz zur Subjunktion well ‚weil’, bei der auch Hauptsätze zu erwarten sind. Aufgrund der hohen Anzahl an Nebensätzen mit dass/datt und dem zeitlichen Aufwand der manuellen Einordnung wurde für diese Zwecke das Subkorpus (ca. 5,9 Millionen Wortformen) herangezogen (vgl. Kapitel 3.1).
861Die Nebensatzeinleitung dass hat im Luxemburgischen zwei funktional identische Varianten: dass und datt. Wenn im Folgenden von dass-Sätzen gesprochen wird, so kann es sich dabei auch um mit datt eingeleitete Sätze handeln. Die dass/datt-Variation ist Teil einer Intra-Sprecher-Variation, d.h., dass ein Sprecher beide Varianten verwenden kann, wie der folgende Beleg zeigt.
862(213)Dir wësst, Här Meisch, dass ech [...] éischter ‘pour’ sinn, datt een och soll mat de Leit schwätzen. (Politik)
Sie wissen, Herr Meisch, dass ich [..] eher 'pour' (frz. dafür) bin, dass man auch
soll mit den Leuten reden.
863Der vorliegenden Untersuchung geht die (bislang unveröffentlichte) Verbclusteranalyse des Luxemburgischen von Döhmer (2013) voraus. Die dortigen Ergebnisse und Überlegungen sollen in diesem Fall als Pilotstudie dienen und werden im Text entsprechend gekennzeichnet. Das untersuchte Sample der damaligen Studie umfasste eine einzige Textsorte (Online-Nachrichtentexte der Seite rtl.lu) mit ungefähr 250 000 Wortformen und es wurden in erster Linie zweigliedrige Verbcluster ausgewertet. In der vorliegenden Studie wird mit einem weitaus größeren Korpus gearbeitet und der Fokus wird neben den 2er-Verbclustern ebenfalls auf drei- und viergliedrige Verbcluster gelegt. In diesem Zusammenhang werden schließlich auch Konzepte wie IPP und hybride Ersatzinfinitive besprochen.
8.2 2er-Verbcluster im Luxemburgischen
864Da im Luxemburgischen nur noch rund 40 Verben über eine synthetische Präteritum- sowie über eine Konjunktiv-II-Form verfügen (vgl. Schanen & Zimmer 2012: 327ff.), ist die Zahl der zusammengesetzten Verbformen im Luxemburgischen recht hoch. Konjunktiv I wurde bei sämtlichen Verben abgebaut und existiert nur noch vereinzelt in festen Fügungen wie in et sief dann ‚es sei denn’ (vgl. Bruch 1973: 78; Schanen & Zimmer 2012: 42). Aus diesem Grund wird der Terminus „Konjunktiv“ in dieser Arbeit stellvertretend für Konjunktiv II verwendet. Für die Perfektbildung stehen die Hilfsverben hunn ‚haben’ und sinn ‚sein’ zur Verfügung, für die Bildung des analytischen Konjunktivs die Verben géif und géing, welche im Prinzip synthetische Konjunktive der Hilfsverben ginn ‚geben’ und goen ‚gehen’ sind. Neben den Hilfsverben für die Perfekt- und Konjunktivbildung hat das Luxemburgische noch weitere Hilfsverben: die Passivhilfsverben ginn ‚geben’ (Vorgangspassiv), sinn ‚sein’ (Zustandspassiv) und kréien ‚kriegen/bekommen’ (Rezipientenpassiv) sowie das modal-temporale Hilfsverb wäert (Form ohne Infinitiv, Funktion ist je nach Kontext als Futur oder Potentialis zu verstehen).
865Aufgrund der hohen Anzahl an Hilfsverben folgt nun eine Übersicht sämtlicher Verben, die im Luxemburgischen dazu dienen, unterschiedliche grammatische Kategorien auszudrücken. Die Tabelle zeigt die genauen grammatischen Domänen der sechs Verben, die dem Luxemburgischen als Auxiliare zur Verfügung stehen (angelehnt an Nübling 2006b: 183).
hunn | sinn | goen | ginn | kréien | wäert | |
Vollverb | + | + | + | + | + | – |
Kopula | – | + | – | + | – | – |
Vergangenheit | + | + | – | – | – | – |
Passiv | – | + | – | + | + | – |
Konjunktiv | – | – | + | + | – | +/– |
Futur | – | – | – | – | – | +/– |
866Da eingangs bereits gezeigt wurde, dass die Verbstellung im Nebensatz mit dem Verbtyp zusammenhängt, wird die Analyse der 2er-Verbcluster in vier Kombinationstypen unterteilt. Im Anschluss werden die Verbstellungsoptionen in den jeweiligen Unterkapiteln behandelt.
867Clustertyp A: Hilfsverben mit Partizip (HV + VV)
868Die Verben hunn, sinn, kréien und ginn gelten als eine große Kategorie, da sie alle Partizipien regieren und entweder Passiv- oder Vergangenheitsformen bilden. In der Darstellung von Schanen & Zimmer (2012: 22) bilden diese vier die „klassischen“ Hilfsverben des Luxemburgischen.
869Clustertyp B: Modalverben mit Infinitiv (MV + VV)
870Zu den Modalverben gehören däerfen ‚dürfen’, kënnen ‚können’, mussen ‚müssen’, sollen ‚sollen’ und wëllen ‚wollen’ (vgl. u.a. Braun et al. 2005: 49). Das Semi-Modalverb (net) brauchen ‚(nicht) brauchen’ spielt für die Verbcluster nur eine untergeordnete Rolle, da dieses Verb als einziges in dieser Klasse einen ze-Infinitiv verlangt und somit keine vergleichbaren Ergebnisse zeigt. Das Semi-Modalverb net brauchen (stets in negierter Form) wird erst wieder in Kapitel 8.3.2 in die Beschreibungen einfließen, da es wie die anderen Modalverben modifizierte Ersatzinfinitive aufweist.
871Clustertyp C: Konjunktivhilfsverben mit Infinitiv (KHV + VV)
872Die Verben géif, géing und wäert werden für die vorliegende Untersuchung als Konjunktivauxiliare zusammengefasst. Etwas problematisch ist dabei der Status von wäert, denn es handelt sich dabei um ein Verb mit defektivem Paradigma (es kann nur als Hilfsverb im Präsens flektiert werden), das eine temporal-modale Funktion besitzt (ähnlich wie bei werden als Futurhilfsverb im Deutschen).133 Das Verb wäert wird mitunter als Modalauxiliar eingestuft, das auch zur Futurmarkierung dienen kann (vgl. Schmitt 1984: 126; Schanen & Zimmer 2012: 22). Da es einen Infinitiv regiert und eine ähnliche Lesart wie ein Konjunktiv suggeriert, wird es zu den anderen beiden Konjunktivhilfsverben hinzugezählt (vgl. Kapitel 4).
873Clustertyp D: Vollverb mit Infinitiv (VV + VV)
874Es gibt nur eine geringe Anzahl an infinitivregierenden Vollverben, welche zugleich unterschiedlich definiert werden können.134 Für diese Analyse wurden diejenigen Verben zusammengeführt, die einen reinen Infinitiv regieren (keinen zu-Infinitiv). Unter diese Kategorie fallen unter anderem die Verben loossen ‚lassen’, bleiwen ‚bleiben’, goen ‚gehen’ und kommen ‚kommen’. Da sie bei den Verbclustern über identische Stellungsoptionen verfügen, wurden sie hier als infinitivregierende Vollverben klassifiziert.
875Im Grunde genommen müsste es ebenfalls eine Kategorie für Perzeptionsverben (wie héieren ‚hören’) und andere Verben mit AcI-Konstruktion (Accusativus cum Infinitivo) geben. Da es allerdings keinen einzigen Beleg für diesen Typ gab, werden diese Verben nicht in der Analyse berücksichtigt.
8.2.1 Clustertyp A: HV + VV
876Im Korpus wurden 300 Sätze ausgewertet, die eine zusammengesetzte Form mit den Hilfsverben hunn (Vergangenheitsauxiliar), sinn (Vergangenheitsauxiliar, Passivauxiliar), ginn (Passivauxiliar) oderkréien (Passivauxiliar) aufweisen. Sie werden jeweils mit einem Vollverb im Partizip II gebildet. Bei diesem Kombinationstyp gibt es bei zweigliedrigen Clustern keine Variation, die Abfolge ist immer 2-1.
2er-Verbcluster | 2-1 |
HV (hunn, sinn, ginn, kréien) + VVPARTIZIP | 100 % (n= 300) |
877(214)dass de mech net ignoréiert hues (Chat) [2-1]
dass du mich nicht ignoriert hast
878(215)dass d’Rettungsaktioun net ouni Panne verlaf wier (Online-News) [2-1]
dass die Rettungsaktion nicht ohne Panne verlaufen wäre
879(216)dass hie vum Club kaf gëtt (Online-News) [2-1]
dass er vom Club gekauft wird
880(217)datt d'Leit gesot kréien, datt [...] (Politik) [2-1]
dass die Leute gesagt bekommen, dass [..]
881Von 300 Clustern stehen alle in der Abfolge 2-1. Extrapositionen, d.h. das Herausstellen von Konstituenten ins Nachfeld, sind bei diesen Verben eher selten (fünf Token). Da die Verbprojektion (die vom Verb geforderten Objekte und Adverbiale) im Nebensatz links vom jeweiligen Verb stehen muss, können in der 2-1-Reihenfolge keine Elemente den Verbcluster unterbrechen.
882Die „archaische“ 1-2-Stellung von Hilfsverb und Infinitiv, wie sie von Bruch (1955: 93) und Schanen & Zimmer (2012) angesprochen wurde, konnte in den Daten nicht gefunden werden.
883Da diese Verbkombination ausschließlich die 2-1-Stellung im Nebensatz zulässt, können auch Rückschlüsse auf andere Phänomene gezogen werden. So kann man bei Sätzen mit well ‚weil’ etwa davon ausgehen, dass bei der verbalen Reihenfolge 1-2 ein Hauptsatz vorliegt.
884(218)well ech hu mech haut ganz gutt gespiert. (Online-News) [1-2]
weil ich habe mich heute ganz gut gespürt
885Dieses Beispiel zeigt einen well-Satz mit einer demnach eindeutigen Hauptsatzstellung, d.h. nach well folgen Subjekt und die finite Verbform hunn. Die Belege für die Nebensatzstellung mit temporalen Hilfsverben (konsequente 2-1-Reihenfolge) machen deutlich, dass es sich bei Beispiel (218) eindeutig um einen Hauptsatz handelt, bei dem das finite Hilfsverb und das Partizip II eine Verbalklammer bilden.
8.2.2 Clustertyp B: MV + VV
886Sehr häufig findet man in Nebensätzen die Kombination von Modalverb (wëllen, kënnen, dierfen, mussen, sollen) und Vollverb. Anhand der Korpusdaten können zwei Grundtypen der Verbstellung extrahiert werden: Reihenfolge 1-2 sowie die Reihenfolge 2-1. Unter den 1-2-Typ fallen auch die 1-x-2-Abfolgen, d.h. Verbcluster, die durch eine oder mehrere Konstituenten unterbrochen sind. Das „x“ steht dabei für eine beliebige Konstituente. Insgesamt wurden dafür 448 Cluster aus dem Subkorpus ausgewertet. Eine Übersicht der Verteilung kann der folgenden Tabelle entnommen werden.
2er-Verbcluster | 1-2 | 2-1 |
MV + VVINFINITIV (n= 448) | 81,7 % (n= 254) | 18,3 % (n= 82) |
davon 1-x-2 44,1 % (n= 112) |
887Der häufigste Typ bei den Verbclustern mit Modalverb ist die Stellung 1-2. Dabei wird bei knapp der Hälfte der Sätze mit der 1-2-Folge eine Konstituente eingeschoben. Dass der 1-x-2-Typ (1-2 mit Unterbrechung) in dieser Einteilung nicht als eigene Option gewertet wurde, lässt sich dadurch erklären, dass nicht alle Sätze über Konstituenten verfügen, die eingeschoben werden können. Wie in Satz (219) gezeigt wird, gibt es in manchen Nebensätzen neben dem Subjekt keine weitere Konstituente, die den Cluster unterbrechen könnte (das Subjekt darf im Nebensatz nicht hinter dem flektierten Verb stehen und scheidet somit aus strukturellen Gründen aus).
888(219)dass d’Qualitéit vum Wäin kéint leiden (Online-News) [1-2]
dass die Qualität vom Wein könnte leiden
889Dennoch ist ein Kontext denkbar, in dem eine adverbiale Bestimmung wie dëst Joer ‚dieses Jahr’ den Verbcluster unterbricht, wodurch 1-x-2 als Stellung verfügbar wäre. Eine präzise Trennung von 1-2 und 1-x-2 ist methodisch also wenig sinnvoll, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass nicht realisierte Konstituenten zwischen den Verbteilen stehen könnten. Demnach kann die 1-x-2-Option nur bei geeignetem Satzbau kodiert werden und sollte nicht als generelle Kategorie, sondern als Option der 1-2-Stellung verstanden werden.
890In 81,7 % der getesteten Cluster wird im Nebensatz zuerst das Modalverb und anschließend der abhängige Infinitiv genannt (1-2).
891(220)Datt een dat ka vergläichen. (Politik) [1-2]
dass man das kann vergleichen
892(221)datt d'Eisebunn an Zukunft mat gréngem Stroum soll fonktionnéieren (Online-News) [1-2]
dass die Eisenbahn in Zukunft mit grünem Strom soll funktionieren
893Beim Typ 1-2 finden sich auch vereinzelte Belege, bei denen die Verbpartikel (Ptkl) des Vollverbs vor das Modalverb tritt. Somit lautet die Abfolge für diese Nebensätze Ptkl>MV>VV.
894(222)Datt mer weider solle kucken (Politik) [Ptkl-1-2]
dass wir weiter sollen schauen
895(223)datt eng bank [...]e client derbai keint gewannen (Online-Kommentar) [Ptkl-1-2]
dass eine Bank einen Kunden dazu könnte gewinnen
896Insgesamt ist diese Konstruktion, bei der sich die Verbpartikel vom Infinitiv abtrennt und vor das Modalverb tritt, äußerst selten.135 Solche Fälle werden auch von Cravatte (1953) für die Mundart von Herzig136 beschrieben. Der Autor illustriert das Phänomen mit dem folgenden Beispiel (mit dem Konjunktivhilfsverb giff):
897(224)as dat em vir giff kommen (Bsp. nach Cravatte 1953: 311)137 [Ptkl-1-2]
dass das ihm vor würde kommen
898Bei der Option 1-x-2 gibt es unterschiedliche Elemente, die den Cluster unterbrechen können: Häufig finden sich adverbiale Bestimmungen wie in (225) oder (226) oder Präpositionalobjekte wie in (227).
899(225)Rechent domat, datt et also do kann méi lues goen. (Online-News) [1-x-2]
Rechnet damit, dass es also dort kann mehr langsam gehen.
900(226)Dass mer déi awer kënnen a Rou liesen. (Politik) [1-x-2]
Dass wir die aber können in Ruhe lesen.
901(227)Dass all Museker eng Kéier wëllt un der Spëtzt vun den Charts stoen, ass gewosst. (Online-News) [1-x-2]
Dass jeder Musiker ein Mal will an der Spitze von den Charts stehen, ist gewusst.
902Es können auch mehrere und komplexe Konstituenten zwischen den Verben stehen, wie in (228). Hier findet man ein Modaladverbial (ganz generell) sowie ein Präpositionalobjekt (mat der Fro ...Schoul) zwischen Modalverb und Infinitiv, das durch die mehrfache Einbettung von Präpositionalattributen zudem sehr komplex ist.
903(228)datt d’Educatiouns-Commissioun vun der Chamber sech sollt ganz generell mat der Fro iwwert d’Aféirung vun esou engem Unterrecht an der ëffentlecher
Schoul befaassen.(Online-News) [1-x-2]
dass die Bildungs-Kommission von der Abgeordnetenkammer sich sollte ganz generell
mit der Frage über die Einführung von so einem Unterricht in der öffentlichen Schule
befassen.
904(229)datt Däitschland misst am Joer 2005 ënnert een Defizit vun 3 Prozent kommen (Interview) [1-x-2]
dass Deutschland müsste im Jahr 2005 unter ein Defizit von 3 Prozent kommen
905Interessant ist auch das folgende Beispiel (230) aus einer mündlich realisierten Textsorte, wo eine Parenthese eingefügt wird. Die Parenthese ist dabei ein abhängiger Hauptsatz in der Rolle eines Präpositionalobjekts.
906(230)Datt d'Leit mussen, ech weess net wouhinner, sprangen, [...] (Interview) [1-x-2]
dass die Leute müssen, ich weiß nicht wohin, springen, [..]
907Bei den Verbclustern mit Modalverb ist auch die 2-1-Stellung möglich, wie sie bereits für die Hilfsverben beschrieben wurde. Beide Verben stehen am Ende des Satzes, wobei das finite Modalverb ganz am Ende zu finden ist: VV>MV.
908(231)dass en sech zesummen rappen muss (Online-News) [2-1]
dass er sich zusammen reißen muss
909(232)Dass d'Leit se liese kéinten, wa se virdru stinn. (Politik) [2-1]
Dass die Leute sie lesen können, wenn die davor stehen.
910Die 2-1-Stellung findet sich bei 18,3 % der analysierten Nebensätze mit Modalverb. Da die jeweiligen Ergänzungen des Verbs im luxemburgischen Nebensatz in der Regel vor dem bezüglichen Vollverb stehen, gibt es für den 2-1-Typ keine Variante mit eingeschobenen Konstituenten. Dennoch bleibt die Frage offen, warum manche Sätze mit Modalverbcluster die Anordnung 2-1 annehmen. Schanen & Zimmer (2012) führen diesen Umstand allein auf einen standarddeutschen Einfluss zurück. Es gibt jedoch auch grammatische und pragmatische Muster, die für Stellungsvarianten ausschlaggebend sein können. Nachdem alle 2er-Clustertypen deskriptiv vorgestellt wurden, wird im Anschluss die Systematik der Variation näher untersucht. Dabei werden unterschiedliche Faktoren besprochen und auf ihre Signifikanz überprüft.
911Am Ende sei noch darauf hingewiesen, dass es bei Infinitivphrasen mit Modalverb ebenfalls häufig zur Abfolge 1-2 kommt.
912(233)ouni mussen ze fäerten, dass een iwwerfall gëtt (Online-Kommentar) [1-2]
ohne müssen zu befürchten, dass man überfallen wird
913(234)fir kënnen ze beweisen, datt si exzellent ass (Politik) [1-2]
für können zu beweisen, dass die exzellent ist
914(235)dass d’ Lana wierklech schonn driwwer nogeduecht huet dowéint net nach emol mussen zréck an de Studio ze goen. (Online-News) [1-x-2]
dass die Lana wirklich schon darüber nachgedacht hat, deswegen nicht noch einmal müssen
zurück in das Studio zu gehen
915Doch auch Infinitivphrasen können die 2-1-Stellung aufweisen, ohne dass eine genaue Verteilung erkennbar wäre.
916(236)fir behaapten ze kënnen dass dei aktuell e bëssen besser ass (Internet) [2-1]
für behaupten zu können dass die aktuelle ein bisschen besser ist
917Leider kann dieser Satztyp nicht weiter analysiert werden, da die Beschaffenheit des Korpus keine sinnvolle Korpussuche für dieses Phänomen zulässt und der Fokus der Analyse auf Nebensätzen mit dass/datt liegt.
918Für die Kombination von Modalverb und Vollverb wurden in diesem Kapitel zwei verschiedene Abfolgemöglichkeiten vorgestellt (1-(x)-2, 2-1), die eine eindeutige Tendenz, aber zunächst kein Indiz für die Variabilität aufweisen. Aus diesem Grund werden die (grammatischen) Faktoren, die die Stellung beeinflussen können, in Kapitel 8.2.5 ausführlich besprochen.
8.2.3 Clustertyp C: KHV + VV
919Die Kategorie der Konjunktivhilfsverben besteht aus den beiden Verben ginn ‚geben’ und goen ‚gehen’ (in der jeweiligen Konjunktivform géif und géing) sowie aus dem temporal-modalen Hilfsverb wäert. Die Bildung des analytischen Konjunktivs mit den Konjunktivhilfsverben funktioniert folgendermaßen (vgl. auch Tabelle 24 in Kapitel 4):
920(237)ginn --> géif- + VVINF Bsp.: mir géife lafen
goen --> géing- + VVINF Bsp.: mir géinge lafen
wir würden laufen
921Auch bei den Verbclustern mit KHV finden sich unterschiedliche Stellungsoptionen. In den meisten Fällen (87,4 %) gilt jedoch die Reihenfolge 1-2, wobei es auch hier zu 1-x-2-Folgen mit Clusterunterbrechung kommen kann (innerhalb von 1-2 26,4 %). 12,6 % der Belege zeigen die Reihenfolge 2-1. Die unterschiedlichen Verben verhalten sich ähnlich, d.h., dass die 2er-Verbcluster mit géif, géing undwäert eine nahezu identische Verteilung aufweisen.
2er-Verbcluster | 1-2 | 2-1 |
KHV + VVINFINITIV (n= 230) | 87,4 % (n= 159) davon 1-x-2 26,4 % (n= 42) | 12,6 % (n= 29) |
922Die dominante Stellung bei diesem Clustertyp ist die Abfolge KHV>VV. Die folgenden Belege zeigen die Abfolge 1-2.
923(238)datt mer immens vill géife spueren (Online-Kommentar) [1-2]
dass wir sehr viel würden sparen
924(239)Datt et aner Weeër géinge ginn (Politik) [1-2]
Dass es andere Wege würde geben
925(240)datt och dat eng Zäitche wäert daueren (Politik) [1-2]
dass auch das eine Zeitlang wird dauern
926Wie bei den 2er-Clustern mit Modalverb stellt sich die Frage, ob Verbpartikeln (Ptkl) vor die finite Verbform rücken können (Typ: vir géif kommen ‚vor würde kommen’). Nur ein einziger – allerdings nicht unproblematischer – Fall liegt für dieses Phänomen vor.
927(241)dass et him ganz leed géif doen. (Online-News) [Ptkl-1-2]
dass es ihm ganz leid würde tun
928Problematisch ist hier die Zuordnung von leed ‚leid’, da es sich dabei nicht zwangsläufig um eine Partikel handeln muss. Demnach kann leidtun auch als (lexikalisierte) Prädikativkonstruktion empfunden werden. Abgesehen von diesem Einzelfall konnten in den 230 extrahierten Nebensätzen keine abgetrennten Verbpartikeln gefunden werden.
929Beim Typ 1-2 kann es ebenfalls zu Sätzen kommen, in denen Konstituenten zwischen die Prädikatsteile gestellt werden (26,4 %). Auch hier verhalten sich die drei Verben weitgehend identisch.
930Bei (242) wird eine NP als temporale adverbiale Bestimmung eingefügt und bei (243) eine AdjP.
931(242)Dass hien sech dozou wäert den Owend äusseren (Online-News) [1-x-2]
dass er sich dazu wird am Abend äußern
932(243)datt ons politesch Landschaft giff ganz aaneschters ausgesinn (Online-Kommentar) [1-x-2]
dass unsere politische Landschaft würde ganz anders aussehen
933Im Beispielsatz (244) werden gleich zwei Konstituenten eingeschoben, nämlich das Präpositionalobjekt vu Cargolux ‚von Cargolux’ sowie das Akkusativobjekt Clienten ‚Kunden’.
934(244)datt Qatar géing vu Cargolux Clienten ewech huelen (Online-Kommentar) [1-x-2]
dass Qatar würde von Cargolux Kunden weg nehmen
935Bei den Clustern mit KHV findet sich auch die Abfolge 2-1, dies ist jedoch nur ein geringer Anteil (12,6 %).
936(245)Dass déi bei deem Monument stoe géif. (Politik) [2-1]
dass die bei diesem Monument stehen würde
937(246)dass Där et dann besser verstoen géingt. (Online-Kommentar) [2-1]
dass Ihr es dann besser verstehen würdet
938(247)Datt mer also och do mat de Stonnen eropgoe wäerten. (Politik) [2-1]
dass wir also auch da mit den Stunden hochgehen werden
939Auch wenn sich mit rund 87 % eine klare Stellungstendenz für diesen Clustertyp abzeichnet, sollte ebenfalls überprüft werden, welche Faktoren die 2-1- bzw. die 1-2-Stellung beeinflussen (vgl. Kapitel 8.2.5).
8.2.4 Clustertyp D: VV + VV
940Die Kombination von zwei Vollverben (Typ: datt se hinnen hëllefe kommen ‚dass sie ihnen helfen kommen’) findet sich 26mal im Korpus. Zu diesen infinitivregierenden Verben gehören im Datensample: brauchen ‚brauchen’,loossen ‚lassen’, doen ‚tun’ (kausativ), kommen ‚kommen’ und goen ‚gehen’. Sämtliche 2er-Cluster dieses Typs weisen die Serialisierung 2-1 auf und verhalten sich somit identisch wie Clustertyp A (HV+VV).
941(248)datt se hier leit schwetze loossen (Online-Kommentar) [2-1]
dass sie ihre leute reden lassen
942(249)datt net „alles“ an dee Rapport stoe kënnt. (Online-Kommentar) [2-1]
dass nicht „alles“ in diesen Bericht stehen kommt
2er-Verbcluster | 2-1 |
VV (brauchen, loossen, goen, doen, kommen) + VVINFINITIV | 100 % (n= 26) |
8.2.5 Welche Faktoren beeinflussen die Variation?
943Die eben beschriebenen Clustertypen verhalten sich zunächst unterschiedlich in Bezug
auf den Verbtyp: Clustertyp A (HV+VV) sowie Typ D (VV+VV) zeigen keinerlei Variation,
hier gilt stets die Abfolge 2-1. Die beiden anderen Typen B (MV+VV) und C (KHV+VV)
verhalten sich untereinander ähnlich: Hier ist die Reihenfolge 1-(x)-2 dominant (für
Typ B: 81,7 %, für Typ C: 87,4 %). Bei der 1-2-Abfolge wurden auch Fälle beschrieben,
in denen mindestens eine Konstituente zwischen die Verben rückt (1-x-2), wodurch der
Verbcluster im Grunde genommen aufgelöst wird. Dennoch findet sich bei den Typen B
und C auch die Reihenfolge 2-1. Laut Schanen & Zimmer (2012: 52) ist die „luxemburgische“ Abfolge für diese Verbtypen 1-2, die Stellung 2-1 wird
hingegen als „standarddeutsche“ Variante abgetan („sous l’influence de l’allemand standard
“). Die 2-1-Abfolge kann jedoch nicht allein auf einen deutschen Einfluss reduziert
werden, denn erstens ist die 2-1-Abfolge auch im Luxemburgischen etabliert (vgl. Clustertyp
A und D) und zweitens gibt es bei syntaktischer Variation mehrere Faktoren, welche
die Wortstellung beeinflussen können.
944Obschon Zwart (1996: 6) in der Verbclustervariation im Niederländischen, Friesischen, Flämischen und Schweizerdeutschen
davon ausgeht, es wäre „not clear what triggers the various movements
“, hat die Forschungslage in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutliche Fortschritte
gemacht (vgl. Kapitel 8.5 zu den Clusteroptionen in den hier aufgeführten Varietäten).
In der Verbclusterforschung wurden bislang diverse Faktoren vorgestellt, die in den
verschiedenen kontinentalwestgermanischen Sprachen die Abfolge von mehrteiligen Prädikaten
im Nebensatz beeinflussen können (die Erkenntnisse beziehen sich in erster Linie auf
zwei- und dreigliedrige Verbcluster). Der wichtigste Aspekt, der hier bereits mehrfach
angesprochen wurde, ist die Zusammensetzung des Verbclusters, d.h. die Kombination
verschiedener Verbarten. So zeigen unter anderem Seiler (2004) oder Schmid & Bader (2009), dass sich Verbcluster in Bezug auf ihr Kopfverb unterschiedlich verhalten. Ein
weiterer Aspekt, der von vielen Autoren in puncto Verbstellung – aber auch Wortstellung
im Allgemeinen – angesprochen wird, sind informationsstrukturelle Veränderungen, welche
die Abfolge der Konstituenten beeinflussen können (vgl. Lötscher 1978; Sapp 2007). Sapp (2007) kommt etwa in seiner Korpusstudie zu Verbclustern im FNHD zu dem Schluss, dass die
Abfolge 1-2 favorisiert wird, sobald das Objekt im Fokus steht. Fokus ist jedoch ein
Kriterium, welches sich nicht immer leicht und eindeutig definieren lässt – das gilt
auch für die Auswertungen von Sapp (2007). Zum einen fällt es schwer, eine neutrale Lesart anzunehmen, und zum anderen kann
dieser Faktor in einer Korpusanalyse kaum kontrolliert werden, da es sich bei den
Daten um natürliche Sprache handelt, die nicht in einem kontrollierten Fragebogenszenario
oder Ähnlichem erhoben wurde (vgl. Sapp 2007: 311). Demzufolge wäre die Einzelauswertung jedes Satzes in Bezug auf die Informationsstruktur
ein enormes und nicht unproblematisches Vorhaben. Das Bewerten der Informationsstruktur
ist somit ein Faktor, der zwar wichtig, in einer Korpusstudie mit natürlichen Daten
jedoch nicht ohne methodische Einwände analysierbar ist (vor allem bei einer derart
hohen Anzahl an Sätzen).
945Das Thema Prosodie bleibt in der Forschungsliteratur weitgehend unbeachtet, da die meisten Autoren mit Fragebögen oder schriftsprachlichen Korpora arbeiten (u.a. SAND; SADS; Sapp 2007; 2011). Auch in dieser Studie müssen prosodische Hypothesen aufgrund der empirischen Datenlage ausgeklammert werden.
946Weiterhin werden noch andere Faktoren für die Umstellung von Verben in den Beschreibungen
von kontinentalwestgermanischen Varietäten erwähnt: Präfix- bzw. Partikeltyp, extraponierte
Konstituenten sowie negierte oder quantifizierte Objekte (vgl. Haegeman & van Riemsdijk 1986; Sapp 2007; 2011; Dubenion-Smith 2010). Dass negierte und quantifizierte Objekte im Zürichdeutschen und im Westflämischen
zu Umstellungen im Verbcluster führen können, ist sozusagen ein Reflex der Objekt-Hervorhebung,
d.h. ein Reflex unterschiedlicher Lesarten und Foki; Haegeman & van Riemsdijk (1986: 442) fassen dies als „semantische Effekte
“ zusammen. Bei Korpusanalysen können auch die Textsorte und die jeweiligen Sprecherprofile
wichtig sein (vgl. Sapp 2007; 2011). Dubenion-Smith (2010) kann zeigen, dass ein Infinitiv mit betonter Partikel (Bsp. mitmachen) innerhalb eines 2er-Verbclusters in einem westmitteldeutschen Nebensatz eher die
1-2-Stellung favorisiert. Weiterhin stellt der Autor fest, dass nach rechts herausgestellte
Satzglieder im Nebensatz zur 2-1-Stellung tendieren.
947Aufgrund der Korpuszusammensetzung können leider keine Angaben zur Herkunft oder dem Bildungsgrad der Sprecher gemacht werden. Auch die Textsortenunterscheidung ist in dieser Untersuchung nicht ausschlaggebend, da sich sämtliche Stellungstypen in allen Textsorten wiederfinden. Darüber hinaus kann eine sprecherabhängige Variation ausgeschlossen werden, denn es finden sich zahlreiche Belege, bei denen derselbe Autor innerhalb desselben Satzes beide Abfolgen (1-2, 2-1) bei identischer Verbkombination (sollt stoen ‚sollte stehen’ verwendet.
948(250)Dat wëllt net heeschen, datt den Obama net zu séngen Iwwerzeegunge stoe sollt, ... [2-1]
das will nicht heißen, dass der Obama nicht zu seinen Überzeugungen stehen sollte
949(251)... et wëllt just heeschen, datt hien zum Numm vu sénger Partei sollt stoen (Online-News) [1-2]
es will bloß heißen, dass er zum Namen von seiner Partei sollte stehen
950Doch auch weitere, in der Literatur bisher unberücksichtigte strukturelle Faktoren könnten einen Einfluss auf die Verbstellung ausüben. Für die statistische Auswertung können auch das Verhältnis von Matrix- und Nebensatz oder der Modus der finiten Verbform eine Rolle spielen. Demzufolge sollte auch getestet werden, ob die Position oder die syntaktische Funktion des Nebensatzes eine Rolle spielen. Hinzu kommt die im Luxemburgischen variable Nebensatzeinleitung dass/datt, die auch in den Faktorenkatalog mit aufgenommen werden sollte.
951Man kann sich nun fragen, warum man überhaupt einen derart großen und komplexen Faktorenkatalog
benötigt. Die Grundidee der Faktorenbestimmung besteht darin, einen oder mehrere Auslöser
zu finden, die zu einer bestimmten Stellungsvariante führen. Laut Seiler (2004) gibt es drei unterschiedliche Typen von syntaktischer Variation: Neben der diatopischen
Variation, die in dieser Studie nicht berücksichtigt wird,138 gibt es noch die beiden Typen der freien sowie der konditionierten Variation (aufgrund
syntaktischer, semantischer oder pragmatischer Einflüsse). Dabei unterscheidet Seiler
(2004: 383) weiter zwischen „harter
“ und „weicher
“ Konditionierung: Je deutlicher die Personen zu einer bestimmten Variante neigen,
desto „härter“ ist die entsprechende Konditionierung. Es geht in dieser Untersuchung
darum herauszufinden, ob es einen strukturellen Grund für die Umstellung gibt oder
ob es sich um freie, d.h. grammatisch ungebundene Variation handelt. Um dies belegen
oder ausschließen zu können, müssen die eben genannten Faktoren für jeden extrahierten
Satz bestimmt und in einem statistischen Verfahren auf Signifikanz getestet werden.
Bei variabler Wortstellung spielen demnach auch die quantitativen Aspekte eine Rolle,
da hier Stellungspräferenzen bzw. die „Härte“ der Konditionierung deutlich werden.
952Die wichtigsten testbaren Faktoren wurden bereits von Döhmer (2013) in einer kleineren Studie zu den luxemburgischen Verbclustern ausgewertet. Dabei wurden die folgenden strukturellen Eigenschaften für über 240 2er-Cluster bestimmt, die eine variable Verbstellung aufwiesen (MV+VV, KHV+VV):
- Verbtyp (MV, KHV)
- Satzposition innerhalb des Matrixsatzes (initial, zentral, final)
- syntaktische Funktion des dass-Satzes (Subjekt, Objekt, Attribut)
- Nebensatzeinleitungstyp (dass oder datt)
- Verben mit abtrennbarer Partikel
- Extraponierte Satzelemente
- Einbettungstiefe
- Negationselemente
- Modus des Verbs im dass-Satz
- Satzlänge
954In Döhmer (2013) wurden alle Faktoren bereits anhand eines Chi-Quadrat-Tests139 (nach Pearson) ausgewertet und für die vorliegende Untersuchung werden nun allein diejenigen Faktoren ausgewertet, die in der Studie von Döhmer (2013) eine leichte statistische Tendenz aufwiesen oder hoch signifikant waren (nach Signifikanz absteigende Reihenfolge): Verbart, Verbmodus, syntaktische Funktion, syntaktische Position, Nebensatzeinleitungstyp (dass/datt).
956Ein Faktor, der sicherlich am höchsten zu bewerten ist und bereits zu Beginn des Kapitels thematisiert wurde, ist die Verbart. Der strukturelle Aufbau der Analyse ist auch durch diesen Faktor bedingt und wird in den meisten Studien als Hauptkriterium gewertet. Des Weiteren soll überprüft werden, wie sich die Klasse der Konjunktivhilfsverben verhält, d.h. ob es Unterschiede in Bezug auf die Verbstellung zwischen den Verben géif, géing und wäert gibt.
- Verbmodus
958Für die Modalverben gilt es herauszufinden, ob es bestimmte Stellungspräferenzen gibt, sobald das Modalverb im Konjunktiv steht. Jedes der Modalverben verfügt im Luxemburgischen über einen synthetischen Konjunktiv (jedoch teilweise formgleich mit der Präteritalform, wie etwa bei sollt ‚sollte’). Die Konjunktivauxiliare können nicht nach Indikativ und Konjunktiv bewertet werden, da sie inhärent konjunktivisch sind.
- Syntaktische Funktion
960Es bleibt zu klären, welche Funktion der dass-Satz im Matrixsatz einnimmt. Generell wurden drei Grundfunktionen bewertet: Akkusativobjektsatz/Präpositionalobjektsatz, Subjektsatz/Prädikativsatz) oder Attributsatz (zu einem Nomen oder Adverb). In manchen Fällen kann im Satz eine korrelative Pro-Form stehen, die auf den dass-Satz verweist. Die Bezugselemente sind in den Beispielen jeweils fett gedruckt. Ein nicht realisiertes Korrelat wird in Klammern angegeben.
961Objektsätze oder Präpositionalobjektsätze werden vom Verb gefordert und können ein optionales Korrelat im Hauptsatz aufweisen: dat/et bei Objektsätzen (252) oder ein Präpositionaladverb bei einem Präpositionalobjektsatz (253).
962(252)Hien huet (et) scho laang gewosst, dass hie fréi a Pensioun geet.
Er hat (es) schon lange gewusst, dass er früh in Rente geht.
963(253)Hie freet sech (drop), dass e geschwënn vill Zäit huet.
Er freut sich (drauf), dass er bald viel Zeit hat.
964In den Sätzen (254) und (255) finden sich Beispiele für dass-Sätze in der Rolle als Subjekt oder Prädikativ. Et und dat müssen bei diesem Satztyp häufig als Dummy-Konstituente im Vorfeld stehen, wenn der dass-Satz im Nachfeld steht.
965(254)Dass ee reegelméisseg bei den Dokter geet, sollt een net vergiessen.
Dass man regelmäßig zum Arzt geht, sollte man nicht vergessen.
966(255)Dat wichtegst ass, dass ee reegelméisseg bei den Dokter geet.
Das wichtigste ist, dass man regelmäßig zum Arzt geht.
967Die beiden letzten Varianten aus (256) und (257) zeigen attributive dass-Sätze. Sie können entweder auf ein Nomen (die Tatsache, dass...) oder ein Adverb (so sehr, dass...) ergänzen.
968(256)Ech schwätze vun der Tatsaach, dass et net gutt erkläert ass.
Ich spreche von der Tatsache, dass es nicht gut erklärt ist.
969(257)Et ass esou erkläert, dass een et net richteg versteet.
Es ist so erklärt, dass man es nicht richtig versteht.
970Doppelte oder fest kombinierte Nebensatzeinleitung wie wéini dass ‚wann dass’, sou dass ‚so dass’ oder ouni datt ‚ohne dass’ wurden nicht in die Daten aufgenommen (zu den doubly filled complementizers des Typs wéini dass ‚wann dass’ vgl. Kapitel 9.2).
- Satzposition
972Eine weitere strukturelle Eigenschaft, die bei Döhmer (2013) einen Effekt auf die Anordnung der Verben hatte, war die Position des dass-Satzes in Relation zum Matrixsatz. Hier gilt es zu überprüfen, ob die Position des dass-Satzes im Matrixsatz (initial, zentral, final) eine Auswirkung auf die Anordnung im Verbcluster hat.
974Ein anderer Punkt, der bereits in der Einleitung angesprochen wurde, betrifft die Nebensatzeinleitungsvariation im Luxemburgischen, da hier dass oder datt verwendet werden kann. Auch diese Variation kann als Einflussfaktor auf die Verbstellung im Nebensatz getestet werden.
975Im Luxemburgischen stehen also zwei – laut Russ (1996) funktional identische – Subjunktionen zur Verfügung. Eine regionale Verteilung dieser Varianten ist an dieser Stelle auszuschließen, da zahlreiche Sprecher beide Formen verwenden. Russ (1996: 95) vermutet, dass es sich bei dass um eine Entlehnung aus dem Deutschen handelt, die seit mindestens 1824 in Luxemburg belegt ist.140 Die Verteilung der zwei Formen ist in den Daten unerheblich: datt liegt bei 53,5 % und dass bei 46,5 %.
976Innerhalb des Rheinischen Fächers liegt das Luxemburgische in einem Gebiet mit unverschobenem t (die Dat-das-Linie verläuft schräg zwischen Trier und Frankfurt, vgl. Beckers 1980: 469). Demnach handelt es sich bei datt um die native, bei dass um die entlehnte Variante.
977Die eben aufgeführten fünf Faktoren wurden nun für jeden 2er-Cluster, der eine variable Verbstellung aufwies (Typ B und D), statistisch ausgewertet. Da es sich um kategoriale Variablen handelt und die Signifikanz der einzelnen Faktoren in Bezug auf die 1-2- oder die 2-1-Stellung überprüft werden soll, wurde ein Chi-Quadrat-Test (nach Pearson) durchgeführt. Die Kreuztabellen geben Aufschluss über die Verteilung der beiden Stellungsoptionen innerhalb der unterschiedlichen Faktorenklassen. Der p-Wert141 zeigt an, ob ein bestimmter Faktor signifikant für eine bestimmte Stellung ist. Auf diese Weise können faktorenabhängige Präferenzmuster dargelegt werden und erste Antworten auf die Frage gefunden werden, nach welchen Regeln luxemburgische Verbcluster funktionieren. Die hier abgebildeten Kreuztabellen zeigen die verschiedenen Stellungstypen (1-2 oder 2-1) innerhalb einer Faktorenkategorie. Die prozentuale Verteilung in Kombination mit dem p-Wert gibt Aufschluss darüber, ob sich ein Faktor auf die Stellung auswirkt oder nicht.
978Zwei der fünf Faktoren zeigten keine Relevanz für die Abfolge der Verben, hierzu zählen die syntaktische Position des dass-Satzes sowie die Art des Komplementierers (dass oder datt).
979Die syntaktische Funktion des dass-Satzes zeigt eine hohe Signifikanz (p<0,001), d.h. Attributsätze neigen stärker zur 2-1-Reihenfolge als andere Satzfunktionen. Im gesamten Sample dominiert ansonsten die 1-2-Reihenfolge.
Abfolge nach Satzfunktion | Objekt | Subjekt | Attribut | Gesamt |
1-2 | 87,2 % | 85,7 % | 72,4 % | 83,6 % |
2-1 | 12,8 % | 14,3 % | 27,6 % | 16,4 % |
p< 0,001 |
980Bei der Bewertung des Verbtyps wurden die Konjunktivhilfsverben aufgespalten in die beiden Formen géif undgéing sowie in die modal-temporale Form wäert. Dabei zeigt sich, dass die Verbcluster mit géif/géing etwas häufiger in der 1-2-Stellung stehen als andere Verbtypen. An dieser Stelle kann jedoch nur von einer statistischen Tendenz gesprochen werden (p= 0,071).
Abfolge nach Verbtyp | MV | géif/géing | wäert | Gesamt |
1-2 | 81,7 % | 89,6 % | 82,9 % | 83,6 % |
2-1 | 18,3 % | 10,4 % | 17,1 % | 16,4 % |
p= 0,071 |
981Eine weitere statistische Tendenz zeigt sich bei der Kategorie Modus. Da dieser Faktor allein für die 2er-Verbcluster mit Modalverb gilt, wurden hier ausschließlich Modalverben mit den Werten Indikativ und Konjunktiv ausgezählt und es zeigt sich, dass Modalverben im Konjunktiv die 1-2-Stellung favorisieren. Dies bedeutet, dass das Modalverb im Konjunktiv im Satz häufiger nach vorne rückt.
Abfolge nach Modus | Indikativ | Konjunktiv | Gesamt |
MV>VV (1-2) | 78,2 % | 88,7 % | 81,7 % |
VV>MV (2-1) | 21,8 % | 11,3 % | 18,3 % |
p= 0,007 |
982Dieses Voranstellen der Konjunktivform soll kurz an einem Beispiel verdeutlicht werden. Bei diesem Satz betont der Autor, dass es sich um einen Konjunktiv handelt, indem er den Verbcluster zunächst unterbricht, um besonderen Nachdruck auf die Modalität seiner Aussage zu legen.
983(258)Datt een ugaanks 2008 kéint – ech betounen – kéint eng Konklusioun zéien (Politik) [1-x-2]
dass man anfangs 2008 könnte – ich betone – könnte ein Fazit ziehen
984Man könnte sich demnach die Frage stellen, ob es kognitive Gründe gibt, warum ein Modalverb im Konjunktiv häufiger vorangestellt wird. Schließlich ist es für die Aussage erheblich, ob es sich um eine hypothetische Aussage handelt. Auch Fokus spielt bei diesem Beispiel eine wichtige Rolle.
985Insgesamt bleibt der deutsche Einfluss als Faktor nicht auszuschließen. Hierbei wird allerdings nicht die Stellungsoption an sich beeinflusst (schließlich ist diese bei den Hilfsverben bereits etabliert), es handelt sich vielmehr um eine Orientierung an der deutschen konzeptionellen Schriftlichkeit. Zwei Muttersprachlerinnen gaben in einer informellen Befragung an, dass sie in schriftlichen Texten häufig die 1-2-Abfolge spontan bilden und sich beim Überlesen teilweise für die 2-1-Abfolge entscheiden, weil es im Geschriebenen korrekter wäre. Solche Einstellungen müssten in Zukunft weiter erforscht werden. Schließlich ließ sich bereits ein gewisser schriftdeutscher Einfluss beim luxemburgischen Genitiv erkennen (vgl. Kapitel 5.1).
8.2.6 Zwischenfazit
986Zweigliedrige Verbcluster verhalten sich grundsätzlich unterschiedlich, je nachdem welche Verbtypen kombiniert werden. Verbcluster mit Hilfsverben oder mit infinitivregierenden Vollverben zeigen ausnahmslos die Folge 2-1. Anders verhält es sich bei Verbkombinationen von Modal- oder Konjunktivhilfsverben: Hier gilt die dominante Stellung 1-2, wobei auch Verbcluster mit der Abfolge 2-1 zu finden sind. In der Forschungsliteratur wird teilweise beobachtet, dass infinitivregierende Verben dazu neigen, in der Abfolge 1-2 im Nebensatz zu stehen (vgl. Behaghel 1932: 105). Dies ist im Luxemburgischen nur bedingt der Fall, schließlich zeigen infinitivregierende Vollverben (Typ: VV+VV) keine Option zur 1-2-Stellung.
987Die folgende Tabelle fasst diese Stellungsoptionen noch einmal mit den entsprechenden Belegwerten zusammen.
2er-Verbcluster | 1-2 | 2-1 |
HV + VVPARTIZIP (n= 300) | – | 100 % |
VV + VVINFINITIV (n= 25) | – | 100 % |
MV + VVINFINITIV (n= 448) | 81,7 % (n= 254) | 18,3 % (n= 82) |
davon 1-x-2 44,1 % (n= 112) | ||
KHV + VVINFINITIV (n= 230) | 87,4 % (n= 159) | 12,6 % (n= 29) |
davon 1-x-2 26,4 % (n= 42) |
988In diesem Kapitel wurde der Frage nachgegangen, welche Faktoren die Variation zwischen der 1-2- und der 2-1-Stellung beeinflussen können. Dabei wurden die folgenden drei Tendenzen herausgearbeitet:
- Attributsätze zeigen häufiger die Abfolge 2-1.
- Verbcluster mit den KHV géif undgéing stehen häufiger in der 1-2-Abfolge.
- Modalverben im Konjunktiv favorisieren 1-2 als Abfolge.
8.3 3er-Verbcluster im Luxemburgischen
990Dieses Kapitel zeigt die Wortstellungsvariationen von Nebensätzen, in denen dreigliedrige Prädikate vorkommen (Typ: dass er hat gehen müssen). Um die Clustertypen sinnvoll darzustellen, wurden sie nach Kopftypen unterteilt, d.h. das Hauptkriterium ist der Verbtyp der flektierten Verbform (in der Serialisierung dargestellt durch die Rangnummer 1). Diese Einteilung hat den Vorteil, dass die dreigliedrigen Cluster in drei übersichtliche Hauptkategorien eingeteilt werden und im Nachhinein leichter mit den 2er-Clustern verglichen werden können. Zudem zeigt sich auch hier, dass der Verbtyp den Hauptfaktor für Stellungsvariationen darstellt.
8.3.1 Clustertyp A: HV als Kopf
991Für die dreigliedrigen Verbcluster mit einem Hilfsverb (HV: hunn, sinn, ginn, kréien) als Kopf finden sich drei verschiedene Verbkombinationstypen: Die Hilfsverben regieren entweder ein weiteres Hilfsverb mit Vollverb (HV+HV+VV, Typ: sind gemacht worden) wie in (259), ein infinitivregierendes Vollverb mit Vollverb (HV+VV+VV, Typ: sind arbeiten gegangen) wie in (260) oder ein Modalverb mit Vollverb (HV+MV+VV, Typ: hätte reservieren können) wie in (261).
992(259)dass se e bësse méi breet gemaach gi sinn. (Politik) [3-2-1]
dass sie ein bisschen mehr breit gemacht worden sind
993(260)Datt se mol op eng Gemeng als CAT schaffe gaange sinn (Politik) [3-2-1]
dass sie mal auf einer Gemeinde als CAT arbeiten gegangen sind
994(261)Dass een do och hätt kënne méi wéi zwou Stonne Parking reservéieren (Politik) [1-2-x-3]
dass man da auch hätte können mehr als zwei Stunden Parking reservieren
995Die jeweilige Frequenz dieser drei Typen variiert im Korpus, die Syntagmen zeigen aber mehr oder weniger einheitliche Abfolgemuster. Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle dargestellt.
3er-Verbcluster | 1-2-3 | 3-1-2 | 3-2-1 |
HV + HVPART + VVPART (n= 72) | – | 2,7 % (n= 2) | 97,3 % (n= 70) |
HV + VVPART + VVINF (n= 3) | – | – | 100 % (n= 3) |
HV + MVIPP + VVINF (n= 12) | 100 % (n=12) | – | – |
davon 50 % 1-(x)-2-x-3 (n=6) |
996Anhand der Tabelle kann man deutlich erkennen, dass die Kombinationstypen HV+HV+VV und HV+VV+VV in der Abfolge 3-2-1 auftreten (die zwei Belege mit der Abfolge 3-1-2 werden noch problematisiert). Ist das vom Kopfverb (HV) regierte Verb ein Modalverb, kommt es zu einer anderen Abfolge, in der die Verbteile nach rechts adjungiert werden: 1-2-3. Da die Verbprojektion nur links vom bezüglichen Vollverb stehen kann, sind Einschübe nur bei der Abfolge 1-2-x-3 möglich. Zudem kommt es auch zu mehrfachen Einschüben, die in der Abfolge 1-x-2-x-3 resultieren. Auch wenn keine entsprechenden Belege in den Daten vorkommen, so ist für den Typ HV+MV+VV auch die Reihenfolge 1-3-2 möglich: dass een hätt reservéiere kënnen ‚dass man hätte reservieren können’ (Beispiel parallel zu (261)). Bereits Braun et al. (2005: 54) weisen darauf hin, dass solche Infinitive (Ersatzinfinitiv eines MV plus Infinitiv des VV) im Verbcluster teilweise austauschbar sind.
997Im Folgenden werden nun drei zentrale Phänomene in Bezug auf die vorliegenden Clustertypen besprochen: (a) mögliche Konstituenteneinschübe bei der Folge 1-2-3, (b) die beiden Einzelbelege, die bei HV+HV+VV die Folge 3-1-2 aufweisen sowie (c) IPP-Konstruktionen bei Modalverben. Dem letzten Punkt (c) ist im Anschluss ein gesondertes Kapitel gewidmet, da die luxemburgischen Modalverben mitunter spezielle Ersatzinfinitive aufweisen, welche im Detail besprochen werden sollen.
998(a) Allein bei der Modalverb-Variante (HV+MV+VV, n=12) zeigen sich ebenfalls Cluster mit Konstituenteneinschub. Dies liegt daran, dass die Argumente des Vollverbs immer links vom bezüglichen Verb stehen müssen. Bei den Typen 3-1-2 und 3-2-1 befinden sich die Verbargumente somit noch im Mittelfeld und können den Cluster nicht unterbrechen. Genau die Hälfte der Belege mit der 1-2-3-Reihenfolge zeigt einen solchen Einschub (n= 6).
999(262)dass hatt huet missen an d’Klinik goen (Online-News) [1-2-x-3]
dass es hat müssen in die Klinik gehen
1000In den folgenden beiden Beispielsätzen führen jeweils zwei Einschübe zwischen den Prädikatsteilen dazu, dass der Verbcluster im Grunde genommen keinen Cluster mehr bildet. Der erste Einschub ist bei diesen Sätzen eine adverbiale Bestimmung (zwischen Verb 1 und 2), die zweite Konstituente, die zwischen die Verben 2 und 3 rückt, ist in beiden Fällen das vom VV geforderte Akkusativobjekt.
1001(263)datt een an der Zäit just huet 2 Joer mussen Formatioun maachen (Online-News) [1-x-2-x-3]
dass man in der Zeit nur hat 2 Jahre müssen Ausbildung machen
1002(264)Dass een do hätt eventuell kéinten eppes maachen. (Politik) [1-x-2-x-3]
dass man dort hätte eventuell können etwas machen
1003(b) Bei der Kombination HV+HV+VV zeigen 97,3 % der Belege die Reihenfolge 3‑2-1. Auffällig sind zwei Belege, welche die Abfolge 3-1-2 aufweisen. Beide Cluster haben den Aufbau sinn (HV) + ginn (HV) + VV.
1004(265)Datt déi eben net vun den Oppositiounsparteie gedeelt si ginn (Politik) [3-1-2]
dass die eben nicht von den Oppositionsparteien geteilt sind worden
1005(266)datt d’lescht Woch am TICE nei Ëmfroë gemaach si ginn. (Politik) [3-1-2]
dass die letzte Woche im TICE neue Umfragen gemacht sind worden
1006Dass diese Verbcluster diese Umstellung zulassen, liegt allein an der formalen Kombination der beiden Verbformen sinn und ginn. Allerdings ist dies nur zulässig bei sinn undginn (durch die n-Regel werden die Verben zu si bzw. gi) mit ebendieser Flexionsendung. Dies bedeutet, dass in einem dreigliedrigen Verbcluster die Formen sinn und ginn (Verb 1 und 2 in der Hierarchie) austauschbar sind: Partizip > gi > sinn (3-2-1, hochfrequent) oder Partizip > si > ginn (3-1-2, niedrigfrequent). Steht das Verb sinn in einer anderen konjugierten Form (etwa im Singular), führt diese Umstellung zu Ungrammatikalität: *dass déi gemaach ass ginn ‚dass diese gemacht ist worden’. Hier müsste die Abfolge dem Grundtyp 3-2-1 entsprechen (dass déi gemaach ginn ass). Aufgrund dieser formalen Einschränkung (Kombination der Formen sinn und ginn) wird die 3-1-2-Stellung nicht als Grundoption für den Clustertyp HV+HV+VV verstanden, sondern gilt als Ausnahme für die hier genannte Verbkombination.
1007(c) Im Zusammenhang mit den dreigliedrigen Verbclustern des Typs HV+MV+VV stellt sich die Frage nach IPP-Konstruktionen, d.h. in welcher Form stehen Modalverben, wenn sie von einem Hilfsverb regiert werden. Da es im Luxemburgischen nicht nur Ersatzinfinitive, sondern spezielle hybride Infinitive gibt, wird diesem Aspekt ein gesondertes Unterkapitel gewidmet.
8.3.2 IPP und supinale Formen
1008In der Theorie erfordert eine Perfektbildung mit haben, dass das regierte Verb im Partizip II steht. Ist das regierte Verb jedoch ein Modalverb, steht das Modelverb nicht im Partizip II, sondern im so genannten Ersatzinfinitiv oder IPP (infinitivus pro participio wie in (267) und (268).142
1009(267)datt de Schäfferot hätt kënnen (*gekonnt) eng Äntwert drop ginn (Diff) [1-2-x-3]
dass der Schöffenrat hätte können eine Antwort darauf geben
1010(268)dass een hätt wëllen (*gewollt) am Virfeld heiriwwer informéiert ginn. (Diff) [1-2-x-4-3]
dass man hätte wollen im Vorfeld hierüber informiert werden
1011Mitunter treten im Luxemburgischen auch so genannte supinale Formen wie in (269)-(272) auf, die an dieser Stelle näher betrachtet werden (vgl. Höhle 2006: 58). Diese Formen sind im Grunde genommen modifizierte Infinitive, denn sie sind nicht flektierbar und tragen ein Infinitivsuffix (-en), verfügen jedoch auch über ein Dentalsuffix und/oder einen Vokalwechsel im Stamm. Solche Formen sind mitunter auch im ostmitteldeutschen sowie vereinzelt im alemannischen Sprachraum belegt (vgl. Höhle 2006; vgl. auch Schallert 2014).143
1012(269)dass et hätt sollten e Gîte rural bleiwen (Politik) [1-2-x-3]
dass es hätte sollen ein Ferienhaus bleiben
1013(270)datt d'Uefa de Club net hätt dierften aus der Europa League eraushuelen (Online-News) [1-2-x-3]
dass die UEFA den Club nicht hätte dürfen aus der Europa League herausnehmen
1014(271)dass een hätt kéinten E-maile un d’Conseillere schécken (Politik)[1-2-x-3]
dass man hätte können Emails an die Berater schicken
1015(272)d'Madame Lulling ass déi Nächst-Gewielten op der Lëscht an hätt kinnen no réckelen (Online-News) [1-2-3]
die Frau Lulling ist die Nächst-Gewählte auf der Liste und hätte können nach rücken
1016Das Ziel dieses kurzen Kapitels besteht darin, die luxemburgischen Supina zu erfassen, ihre formalen Bedingungen sowie ihre Verteilung zu beschreiben, da sie bislang in den luxemburgischen Grammatiken nicht berücksichtigt wurden.
1017Die modifizierten Ersatzinfinitive der luxemburgischen Modalverben sind Formen, die teilweise einen Vokalwechsel zeigen (kënnen > kinnen), zum Teil aber auch einfach nur ein Dentalsuffix (dierfen > dierften) oder beides (kënnen > kéinten). Um die verschiedenen Formen der Modalverben ausfindig zu machen, wurde die Analyse an dieser Stelle auf alle Haupt- und Nebensatztypen ausgeweitet (zuvor wurden nur die dass/datt-Kontexte berücksichtigt). Der Ersatzinfinitiv ist kein besonderes Merkmal von Modalverben im Nebensatz, sondern ist in allen Verbkonstellationen zu finden, in denen ein Modalverb von einem Hilfsverb regiert wird, demnach auch in Hauptsätzen mit der Prädikatstruktur HV+MV+VV oder HV+MV+HV+VV.
1018Die folgende Tabelle zeigt die Ersatzinfinitive (dementsprechend die einfache Infinitivform) sowie die supinalen Formen der einzelnen Modalverben. Um erste Hinweise auf deren Verteilung zu erhalten, wurde das ganze Korpus systematisch durchsucht. Da die modifizierten Ersatzinfinitive in der Verbclusteranalyse vor allem nach hätt/en, also der Konjunktivform des Hilfsverbs hunn ‚haben’ auftreten, wurden zunächst nur konjunktivische Kontexte ausgewertet. Hierfür wurde anhand von regulären Ausdrücken für jedes Modalverb eine individuelle Suchanfrage gestartet, die auf der Kombination von hätt+MV aufbaut. Die folgende Tabelle zeigt nun die unterschiedlichen Varianten der modifizierten Ersatzinfinitive. Die rechte Kolonne zeigt jeweils einen beispielhaften Korpusbeleg (die Übersetzung, d.h. die lexikalische Glosse, befindet sich aus Gründen der Übersichtlichkeit in einer Fußnote). Die genauen Verteilungen werden in zwei weiteren Tabellen beschrieben. Die Liste der Modalverben wurde noch um das negierte Verb net brauchen ‚nicht brauchen’ ergänzt, da auch hier modifizierte Ersatzinfinitive zu finden sind.
einfacher Infinitiv | Supinum | Beispiele144 |
däerfen dierfen | däerften dierften | ech hätt dierften bei engem schlofen (Chat) datt se esou net hätten däerfte geplangt ginn(Politik) |
kënnen | kéinten kinn(t)en kënnten könnten konn(t)en | déi hätte kéinte gerett ginn (Chat) wéi een dat hätt kënnte mengen (Politik) jiddereen hätt konnten soueppes léieren (Online-Kommentar) |
mussen missen | missten miissten | wéi dat hätt misste geschéien (Politik) déi am Fong fir 2006 hätte miissten agedroen ginn (rapport) |
sollen | sollten | ech hätt sollten an de Kino fueren (Chat) |
wëllen | wéilten wëllten willten woll(t)en | si hätt wéilten hiren Throun retten (Online-Kommentar) dat, wat Lëtzebuerg eleng hätt wëllten eriwwerginn (interview) |
net brauchen | net bräich(t)en net breich(t)en145 net brichen | Et hätt een net bräichten déi Zone 30 um ganzen Territoire anzeféieren (rapport) Dann hätte mer näischt anescht laang bräichen ze sichen (Politik) |
1019Die modifizierten Infinitive verfügen teilweise über unterschiedliche Formen. Bis auf einige Ausnahmen (konnen, wollen, net bräichen/net breichen) zeigen sie überwiegend ein Dentalsuffix. In den jeweiligen Paradigmen finden sich Dentalsuffixe entweder im Präteritum kënnen > konnt (bei däerfen, net brauchen und mussen wurde Präteritum bereits abgebaut) oder im Konjunktiv: kënnen > kéint. Das Dentalsuffix findet sich zudem auch als Teil des für das Partizip relevanten Zirkumfix {ge...t}: kënnen > gekonnt, dierfen > geduerft. Die Vokalwechsel lassen sich in den meisten Fällen mit dem jeweiligen Konjunktivablaut korrelieren (sollen und däerfen zeigen keinen Ablaut im Konjunktiv): kënnen > kéinten, brauchen > bräichten. Die Vokalwechsel sind teilweise auch im Präteritum des jeweiligen Modalverbs zu finden: wëllen > gewollt > wollten. Manche Vokalwechsel lassen allerdings auch auf eine regionale Variante schließen, wie beispielsweise die Stammvokalvariation bei däerf(t)en (duerf(t)en / dierf(t)en) (vgl. Bruch 1963, Karte 16) oder bei wëll(t)en (wéil(t)en) (vgl. Bruch 1963, Karte 174).
1020Der Status der missen-Form ist in Bezug auf den Infinitiv mussen unklar. Es geht nicht eindeutig hervor, ob es sich hierbei um eine (regionale?) Infinitivvariante oder um einen (entrundeten) Umlaut handelt. Im LWB (1950-1975 Bd. 3: 184) sind mussen und missen als gleichwertige Lemmata eingetragen, auch wenn aus den Beispielen hervorgeht, dass die missen-Form häufig bei IPP-Konstruktionen verwendet wird. Die supinale Form lautet hier missten.
1021(273)et hätt nët grad miss(t)e sin (LWB 1950-1975 Bd. 3: 185)
es hätte nicht gerade müss(t)en sein
1022Zudem zeigt sich missen auch teilweise als i-haltige Form im Präsensparadigma: mir missen ‚wir müssen’, aber dir musst ‚ihr müsst’ (vgl. LOD online), sodass der Vokalwechsel nicht mit dem Ablaut der anderen Modalverben vergleichbar ist und einen Sonderstatus einnimmt. An dieser Stelle wird die Form missen als Infinitivvariante zu mussen eingeordnet und nicht als Supinum.
1023Insgesamt scheinen die Supina eine hybride Form zu sein aus Vergangenheitsform und Infinitiv bzw. aus Konjunktivform und Infinitiv. Dies lässt sich auch durch die Tatsache bekräftigen, dass sie modussensitiv sind, d.h., wenn das Kopfverb hunn ‚haben’ als Perfektauxiliar im Indikativ (Präsens)146 steht, finden sich ausschließlich Formen mit Dentalsuffix (möglicher Kontext: ech hu konnte goen ‚ich habe können gehen’). Steht das Perfektauxiliar im Konjunktiv II, ergeben sich zum Teil neue Supina, die ihrerseits auch einen Konjunktivablaut und ein optionales Dentalsuffix zeigen können (Kontext: ech hätt kéinte goen ‚ich hätte können gehen’). In der folgenden Tabelle sind alle Formen aus dem Korpus zusammengetragen.
Infinitiv | Supinum bei Indikativ | Supinum bei Konjunktiv |
däerfen dierfen | däerften dierften | |
kënnen | – kinnten – kënnten könnten konnten – | kéinten kinnten kinnen kënnten könnten konnten konnen |
mussen missen | mussten missten – | – missten miissten |
sollen | sollten | |
wëllen | – – – wollten – | wéilten wëllten willten wollten wollen |
net brauchen | net bräichten – – – – | net bräichten net bräichen net breichen net breichten147 net brichen |
1024Anhand der Daten wird deutlich, dass beide syntaktische Kontexte andere Supina triggern können. Im Indikativ-Kontext finden sich beispielsweise ausschließlich Formen mit Dentalsuffix. Steht hunn im Konjunktiv, zeigen manche Verben einen Konjunktivumlaut, wie etwa der Konjunktiv-Umlaut {éi} bei kéinten. Bei wollen zeigt sich im Indikativ nur die modifizierte Form wollten, im Konjunktiv hingegen existieren fünf verschiedene Formen: wéilten, wëllten, willten, wollten und die Form ohne Dentalsuffix wollen. Die Verben sollen und däerfen wiesen in beiden Kontexten dieselben Merkmale auf.
1025Nachdem nun alle supinalen Formen aus dem Korpus vorgestellt und nach Modus des Kopfverbs unterteilt wurden, wird im Folgenden auf die Verteilung eingegangen. Demnach soll auf Korpusbasis gezeigt werden, wie häufig ein einfacher Infinitiv nach haben im Indikativ oder im Konjunktiv folgt und wie oft ein Supinum. Aufgrund der Beschaffenheit der empirischen Grundlage wurden in dieser explorativen Untersuchung nur Kontexte ausgewertet, bei denen das Hilfsverb hunn und das Modalverb unmittelbar hintereinander stehen.
Syntagma | Modalverb | Ersatzinfinitiv | Supinum | Anzahl |
hunn.KONJ+MV+VV | däerfen dierfen | 84,8 % (n= 67) | 15,2 % (n= 12) | 79 |
kënnen | 76,4 % (n= 1018) | 23,6 % (n= 315) | 1333 | |
mussen | 69,9 % (n= 644) | 30,1 % (n= 277) | 921 | |
sollen | 80,9 % (n= 454) | 19,1 % (n= 107) | 561 | |
wëllen | 74,5 % (n= 102) | 25,5 % (n= 35) | 137 | |
net brauchen | 17,9 % (n= 5) | 82,1 % (n= 23) | 28 |
1026Die quantitative Auswertung zeigt, dass die einfachen Infinitive bei nahezu allen Verben häufiger verwendet werden als die Supina. Alleine bei Verbclustern mit net brauchen finden sich die modifizierten Formen in 82,1 % der Fälle (bei diesem Verb liegt allerdings eine relativ geringe Belegzahl vor). Eine weitere Beobachtung ist die Tatsache, dass Konstruktionen mit net brauchen immer mit einem ze-Infinitiv konstruiert werden (en hätt net bräichten ze kommen, wörtl. ‚er hat nicht bräuchten zu kommen’). Betrachtet man die „klassischen“ Modalverben im Durchschnitt, so erkennt man, dass in 22,7 % der Fälle der modifizierte Infinitiv auftritt.
1027Obwohl die modifizierten Formen in der Verbclusteranalyse mit dass/datt ausschließlich in Wendungen mit hätt, also mit einem Hilfsverb im Konjunktiv, anzutreffen sind, wurde im Gesamtkorpus ebenfalls nach Indikativen gesucht. Die Ergebnisse können der nachfolgenden Tabelle entnommen werden.
Syntagma | Modalverb | Ersatzinfinitiv | Supinum | Anzahl |
hunn.IND.PRÄS.+MV+VV | däerfen dierfen | 90,5 % (n= 275) | 9,5 % (n= 29) | 304 |
kënnen | 81,8 % (n= 108) | 18,2 % (n= 24) | 132 | |
mussen | 75,7 % (n= 4515) | 24,3 % (n= 1451) | 5966 | |
sollen | 60 % (n= 3) | 40 % (n= 2) | 5 | |
wëllen | 77,8 % (n= 14) | 22,2 % (n= 4) | 18 | |
net brauchen | 44,4 % (n= 4) | 55,6 % (n= 5) | 9 |
1028Aus dieser Tabelle geht hervor, dass auch bei hunn im Indikativ Präsens Supina auftreten. Im Gegensatz zu der vorangegangenen Analyse mit dem Kopfverb hunn im Konjunktiv finden sich insgesamt weniger Belege, abgesehen von den fast 6000 Treffern zu IPP-Konstruktionen im Indikativ Präsens mit mussen. Dennoch zeigen 28,3 % der ausgewerteten Indikativ-Sätze supinale Formen. Bei Belegzahlen unter 15 sind die Prozentangaben zudem mit Vorsicht zu genießen, da sie sie stärker vom Zufall abhängig sind und die Verteilung verzerren können. Vor allem bei däerfen finden sich in über 90 % der Fälle Belege mit einfachem Infinitiv ohne Dentalsuffix.
1029(274)déi zanter Uganks Juni hir Produiten net méi hunn duerfen u Russland liwweren. (Online-News)
die seit Anfang Juni ihre Produkte nicht mehr haben dürfen an Russland liefern
1030Die modifizierten Infinitive finden sich bei däerfen in 9,5 % der Belege (vgl. (275)). Bei wëllen wurde bei 4 von 18 Belegen ein Supinum verwendet (vgl. (276)).
1031(275)Mir hunn därften am Knascht spillen (Online-Kommentar)
wir haben dürfen im Dreck spielen
1032(276)Main Ex huet wollten d'Plättercher changéieren am ganzen Haus. (Online-Kommentar)
mein Ex hat wollen die Fliesen wechseln im ganzen Haus
1033Bei den Beispielen mit mussen gibt es bei den modifizierten Formen eine starke Tendenz zu der Form missten, allein 2 von 1451 Belege zeigen die Form mussten.
1034(277)D'Pompjéeën hunn missten mat der Dréileeder kommen (Online-News)
die Feuerwehrleute haben müssen mit der Drehleiter kommen
1035(278)Milliounen hun mussten bezuelt gin (Online-Kommentar)
Millionen haben müssen bezahlt werden
1036An dieser Stelle wurde erstmals systematisch und auf breiter empirischer Basis nachgewiesen, dass sich für die luxemburgischen Modalverben demnach mehrere infinite Formen der Modalverben innerhalb einer IPP-Konstruktion herausgebildet haben. Diese supinalen Formen finden sich etwa in 25 % der geprüften Satzkontexte (22,7 % bei hunn im Indikativ Präsens und 28,3 % bei hunn im Konjunktiv). Aufgrund der zahlreichen Vokalwechsel, die die supinalen Formen aufweisen können, wären weitere dialektologische und auch diachrone Analysen sicherlich gewinnbringend (zu einer diachronen Analyse der Präterito-Präsentia im Luxemburgischen vgl. auch Dammel 2006). Insgesamt offenbaren die Supina ein Feld in der luxemburgischen Verbalflexion, das bislang wenig beachtet wurde (sowohl in der Forschung als auch in den luxemburgischen Grammatiken) und sich durch eine hohe Variabilität auszeichnet.
8.3.3 Clustertyp B: MV als Kopf
1037Die dreigliedrigen Verbcluster mit Modalverb als Kopf weisen drei Kombinationsmöglichkeiten auf. Die Modalverben regieren entweder ein Hilfsverb mit Vollverb (MV+HV+VV, Typ: abgebaut werden konnte) wie in (279), ein infinitivregierendes Vollverb (MV+VV+VV, Typ: könnte laufen lassen) wie in (280) oder ein weiteres Modalverb mit Vollverb (MV+MV+VV, Typ: muss identifizieren können) wie in (281).
1038(279)datt Mësstrauen ofgebaut konnt ginn (Online-Kommentar) [3-1-2]
dass Misstrauen abgebaut konnte werden
1039(280)datt én alles kéint esou lafe loosse, wéi et leeft (Online-Kommentar) [1-x-3-2]
dass man alles könnte so laufen lassen, wie es läuft
1040(281)datt sech eng grouss Majoritéit am Land mat sengem Staatschef muss identifizéiere kënnen (Online-Kommentar) [1-3-2]
dass sich eine große Mehrheit im Land mit seinem Staatschef muss identifizieren können
1041Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst.
3er-Verbcluster | 1-3-2 | 3-1-2 | 3-2-1 | 1-2-3 |
MV + HVINF + VVPART (n= 165) | 77 % (n= 127) | 21,8 % (n= 36) | 1,2 % (n= 2) | – |
davon 21,3 % 1-x-3-2 (n= 27) | ||||
MV + VVINF + VVINF (n= 6) | 100 % (n= 6) | – | – | – |
MV + MVINF + VVINF (n= 2) | 50 % (n= 1) | – | – | 50 % (n= 1) |
1042Die Kombination MV+HV+VV macht den größten Teil der von Modalverben regierten dreigliedrigen Cluster aus. Dabei ist die Abfolge 1-3-2 mit 77 % die dominante Stellung.
1043(282)dass d’Sécherheet op de Stroosse muss verbessert ginn (Online-News) [1-3-2]
dass die Sicherheit auf den Straßen muss verbessert werden
1044Auch dieser Typ bietet die Möglichkeit, Konstituenten einzuschieben. 21,3 % der Cluster (n= 27) mit der Reihenfolge 1-3-2 zeigen Unterbrechungen durch Konstituenten.
1045(283)Datt deen Terrain wierklech ka laang Zäit genotzt ginn (Politik) [1-x-3-2]
dass diese Fläche wirklich kann lange Zeit genutzt werden
1046Die Kombination MV+HV+VV kann jedoch auch die Abfolge 3-1-2 (21,8 %) oder selten auch die Reihenfolge 3-2-1 (1,2 %) aufweisen.
1047(284)Dass dat eben net iwwert de Knéi gebrach soll ginn. (Politik) [3-1-2]
dass das eben nicht über das Knie gebrochen soll werden
1048(285)datt hier Meenung gefrot gi muss (Online-Kommentar) [3-2-1]
dass ihre Meinung gefragt werden muss
1049Die Kombinationen mit infinitivregierenden Vollverben (MV+VV+VV) sowie mit einem weiteren Modalverb (MV+MV+VV) sind mit 6 und 2 Belegen im Subkorpus als Typ tendenziell unterrepräsentiert. Sie stehen meistens in der Abfolge 1-3-2.
1050(286)dass een an der Vergaangenheet soll stoen bleiwen (Online-Kommentar) [1-3-2]
dass man in der Vergangenheit soll stehen bleiben
1051(287)datt de Justizminister eng intern Enquête well maan loossen (Online-News) [1-3-2]
dass der Justizminister eine interne Untersuchung will machen lassen
1052Allein ein einzelner Beleg mit doppeltem Modalverb weist die Reihenfolge 1-2-3 auf. Im Grunde genommen handelt es sich um eine 1-2-x-3-Stellung, da eine Konstituente eingeschoben wurde.
1053(288)datt jiddfer Deputéierten séng eege Meenung misst kënne beim Vote ausdrécken (Online-Kommentar) [1-2-3]
dass jeder Abgeordnete seine eigene Meinung müsste können bei der Wahl ausdrücken
1054Da die Variation hier nicht allein aufgrund der Verbtypen bestimmt werden kann, können auch hier statistische Verfahren Aufschluss über bestimmte Faktoren geben, die die Verbserialisierung beeinflussen können. Welche Faktoren die Variation bedingen, wird in Kapitel 8.3.5 besprochen.
8.3.4 Clustertyp C: KHV als Kopf
1055Die dreigliedrigen Verbcluster mit den KHV géif, géing oder wäert als Kopf können ebenfalls mit drei Verbtypen kombiniert werden. Meistens stehen sie im Zusammenhang mit Hilfsverb und Vollverb (KHV+HV+VV, Typ: würde abgehört werden) wie in (289), sie können allerdings auch ein infinitivregierendes Vollverb regieren (KHV+VV+VV, Typ: würden fallen lassen) wie in (290) oder ein Modalverb mit Vollverb (KHV+MV+VV, Typ: wird ausbrechen können) wie in (291).
1056(289)datt säin Telefon géif ofgelauschtert ginn (Online-Kommentar) [1-3-2]
dass sein Telefon würde abgehört werden
1057(290)datt mer een chrëschtleschen Feierdag am Joer géifen falen lossen (Online-Kommentar) [1-3-2]
dass wir einen christlichen Feiertag im Jahr würden fallen lassen
1058(291)datt kee méi iwwert dee Wee sou wäert kënnen ausbriechen (Online-News) [1-2-3]
dass keiner mehr über diesen Weg so wird können ausbrechen
1059Die genauen Verteilungen und Stellungsoptionen können der folgenden Übersichtstabelle entnommen werden.
3er-Verbcluster | 1-3-2 | 3-1-2 | 3-2-1 | 1-2-3 |
KHV + HVINF + VVPART (n= 30) | 83,3 % (n= 25) | 16,7 % (n= 5) | – | – |
KHV + VVINF + VVINF (n= 3) | 66,7 % (n= 2) | – | 33,3 % (n= 1) | – |
KHV + MVINF + VVINF (n= 3) | 33,3 % (n= 1) | – | – | 66,7 % (n= 2) |
1060Insgesamt weisen 3er-Verbcluster mit einem KHV als Kopfverb die geringsten Belegzahlen auf. Es ist womöglich dem Zufall geschuldet, dass es bei keinem der 36 Belege zu Konstituenteneinschüben kam (strukturell sind sie bei den Folgen 1-3-2 und 1-2-3 möglich). Die meisten dieser Cluster – vorerst unabhängig von den abhängigen Verbtypen – weisen die Abfolge 1-3-2 auf. Dennoch muss zwischen unterschiedlichen Verbkombinationen unterschieden werden, da die alternativen Abfolgen deutlich variieren.
1061Bei der Kombination KHV+HV+VV zeigen 83,3 % die dominante Abfolge 1-3-2 wie in (292), die restlichen 16,7 % hingegen 3-1-2 wie bei (293).
1062(292)datt dat ganzt Staatsgebidd zu enger Fluchverbuetszone géif erklärt ginn (Online-News) [1-3-2]
dass das ganze Staatsgebiet zu einer Flugverbotszone würde erklärt werden
1063(293)Dass déi Diskussioun gefouert géing ginn (Online-News) [3-1-2]
dass diese Diskussion geführt würde werden
1064Die KHV, die mit zwei Vollverben kombiniert werden, zeigen entweder die Abfolge 1-3-2 oder 3-2-1. Mit gerade einmal drei Belegen im Subkorpus ist dieser Typ jedoch eher selten anzutreffen.
1065(294)dass dei grupp spillen kommen geif... (Chat) [3-2-1]
dass diese Gruppe spielen kommen würde
1066Regiert das KHV ein Modalverb, so lautet die Abfolge entweder 1-3-2 oder 1-2-3. Auch diese Kombination ist nicht häufig anzutreffen (drei Belege im Subkorpus).
1067(295)dass mir ferm wäerte bäileeën mussen (Online-Kommentar) [1-3-2]
dass wir deutlich werden hinzugeben müssen
1068Übersichtsdarstellung aller Clustertypen sowie Erklärungen zu den entsprechenden Serialisierungen finden sich in den beiden anschließenden Kapiteln.
8.3.5 Welche Faktoren beeinflussen die Variation?
1069Die folgende Tabelle fasst noch einmal alle im Subkorpus zusammengetragenen Stellungsoptionen zusammen.
Kopf | abhängige Verben | 1-3-2 | 3-1-2 | 3-2-1 | 1-2-3 | Gesamt |
HV + | HV + VV | – | (2)148 | 70 | – | 72 |
VV + VV | – | – | 3 | – | 3 | |
MV + VV | – | – | – | 12 | 12 | |
MV + | HV + VV | 127 | 36 | 2 | – | 165 |
VV + VV | 6 | – | – | – | 6 | |
MV + VV | 1 | – | – | 1 | 2 | |
KHV + | HV + VV | 25 | 5 | – | – | 30 |
VV + VV | 2 | – | 1 | – | 3 | |
MV + VV | 1 | – | – | 2 | 3 | |
162 | 43 | 76 | 15 | 296 |
1070Ist das Kopfverb ein Hilfsverb, richtet sich die Verbstellung allein nach den verknüpften
Verbtypen. Ist das Kopfverb ein Modalverb oder ein Konjunktivhilfsverb kann der Verbcluster
nach bestimmten Mustern umgestellt werden. Wie in Kapitel 8.5 auch für andere Sprachen
gezeigt werden wird, ist die Variation bei dreigliedrigen Verbclustern durch die höhere
Anzahl an Kombinationsmöglichkeiten besonders hoch. Zudem gibt es in diesem Kontext
laut Dudengrammatik (2006: 483) „viel Spielraum für Abweichungen unterschiedlicher Art
“. Ein wichtiger Faktor ist sicherlich auch die Informationsstruktur: Bei variabler
Stellung kann der Sprecher bei unterschiedlichen Fokusbedingungen bewusst das Kopfverb
oder das Vollverb voranstellen.
1071Neben dem Verbtyp und der Informationsstruktur können noch weitere Faktoren den Verbclusteraufbau beeinflussen. Auch bei den dreigliedrigen Verbclustern sollen nun neben den quantitativen Auswertungen auch Signifikanztests angewandt werden. Die getesteten Faktoren überschneiden sich größtenteils mit denjenigen der zweigliedrigen Clustertypen aus Kapitel 8.2.5. Cluster mit HV als Kopfverb werden hier nicht getestet, da diese allein aufgrund ihres Syntagmas bestimmt werden können, d.h. die Variation kann durch die kombinierten Verbtypen erklärt werden. Anders verhält es sich bei den 3er-Clustern mit MV oder KHV als Kopf. Aufgrund der vielen Kombinationsmöglichkeiten von Verbtypen konnten nicht immer Kreuztabellen angefertigt werden, da die Belegzahlen in den jeweiligen Feldern teilweise unter 5 lagen und somit keine aussagekräftigen Ergebnisse generiert werden können.
MV + | HV + VV | 127 | 36 | 2 | – | 165 |
VV + VV | 6 | – | – | – | 6 | |
MV + VV | 1 | – | – | 1 | 2 | |
KHV + | HV + VV | 25 | 5 | – | – | 30 |
VV + VV | 2 | 1 | – | 3 | ||
MV + VV | 1 | – | – | 2 | 3 |
1072Demnach konnte nur die Variation für die grau hinterlegten Zeilen in einem Chi-Quadrat-Test (nach Pearson) ausgewertet werden. Getestet wurden demnach die folgenden vier Faktoren:
- Modus der flektierten Verbform (wenn anwendbar)
- syntaktische Funktion des dass-Satzes
- syntaktische Position des dass-Satzes
- Art des Komplementierers: dass oder datt
1074Es zeigt sich, dass die syntaktische Position des dass-Satzes innerhalb des Matrixsatzes keinen Einfluss auf die Verbreihenfolge ausübt. Bei der Art der Komplementierers gibt es nur eine schwache statistische Tendenz: datt-Sätze stehen etwas häufiger in der Abfolge 1-3-2, der p-Wert liegt allerdings bei 0,303, sodass dieser Faktor nur eine eigentlich keine Aussagekraft hat.
Abfolge nach dass/datt | dass | datt | Gesamt |
1-3-2 | 75,5 % | 81,4 % | 78,7 % |
3-1-2 | 24,5 % | 18,6 % | 21,3 % |
p= 0,303 |
1075Eine etwas stärkere statistische Tendenz zeigt sich bei dem Faktor Modus (p=0,1), d.h. Modalverben, die im Konjunktiv stehen werden tendenziell häufiger nach vorne gestellt (1-3-2) als Modalverben im Indikativ (3-1-2). Dieses statistische Ergebnis deckt sich auch mit den 2er-Clustern. Sind Indikativ und Konjunktiv (Präteritum) formgleich wurde bei der Auswertung n/a eingetragen (Bsp. sollt).
Abfolge nach Modus | Indikativ | Konjunktiv | n/a | Gesamt |
1-3-2 | 74,5 % | 88,9 % | 85,3 % | 78,7 % |
3-1-2 | 25,5 % | 11,1 % | 14,7 % | 21,3 % |
p= 0,101 |
1076Signifikant ist allein der Faktor Satzfunktion: Für die ausgewerteten Sätze bedeutet dies, dass Subjektsätze stärker zur 1-3-2-Stellung neigen, Attributsätze hingegen eher zur Verbfolge 3-1-2. Auch dies ist mit den Ergebnissen der 2er-Cluster vergleichbar: Dort hatte sich herausgestellt, dass Attributsätze stärker zur 2-1-Stellung neigen, d.h., dass das Vollverb vor das Kopfverb rückt. Diese Tendenz bestätigt sich nun auch bei der 3er-Clustern.
Abfolge nach Satzfunktion | Objekt | Subjekt | Attribut | Gesamt |
1-3-2 | 80,4 % | 90,9 % | 66,7 % | 78,7 % |
3-1-2 | 19,6 % | 9,1 % | 33,3 % | 21,3 % |
p= 0,054 |
1077Aus welchem Grund nun die Attributsätze diese Sonderstellung einnehmen, kann an dieser Stelle leider nicht beantwortet werden. Es eröffnet jedoch neue Erklärungswege und macht deutlich, dass eine reine Auflistung von Stellungsoptionen nur bedingt weiterhilft bei der Frage, welche Faktoren die Verbstellungsvariation beeinflussen können. Durch die statistische Auswertung der Ergebnisse konnten zudem Tendenzen aufgezeigt werden, die sowohl auf zwei- als auch auf dreigliedrige Cluster anwendbar sind und somit generelle Faktoren für den Verbclusteraufbau darstellen.
1078In einem weiteren Schritt wäre zu prüfen, wie sich diejenigen 3er-Clustertypen verhalten, die in der vorliegenden Analyse fünf oder weniger Belege aufwiesen. Um diese Variation zu beschreiben, müssten entsprechende direkte oder indirekte Erhebungen mit gezielten Satzkontexten durchgeführt werden, wie sie für die großen Dialektatlanten SADS und SAND vorgenommen wurden.
8.3.6 Zwischenfazit
1079Für die 3er-Verbcluster wurden drei Kopfverbtypen mit jeweils drei Untertypen definiert, sodass die Verbclustervariation bei dreigliedrigem Prädikat anhand von neun verschiedenen Clustertypen beschrieben wurde. Zur Vereinfachung wurden in der folgenden Übersichtstabelle entsprechende luxemburgische Beispielsätze neben die abstrakten Serialisierungen gestellt. Die Abfolge-Kolonne wurde nach Häufigkeit sortiert. Die genaue Verteilung der Abfolgen kann der Übersichtstabelle (Tab. 72) im vorherigen Kapitel 8.3.5 entnommen werden.
Kopfverb | Syntagma | Abfolge | Beispiel |
HV | HV + HV + VV149 | 3-2-1 | dass si gefrot ginn ass dass sie gefragt worden ist |
HV + VV + VV | dass si froe komm ass dass sie fragen gekommen ist | ||
HV + MV + VV | 1-2-3 | dass si hätt misse froen dass sie hätte müssen fragen | |
MV | MV + HV + VV | 1-3-2 3-1-2 3-2-1 | dass e muss gefrot ginn dass er muss gefragt werden ... gefrot muss ginn ... gefrot gi muss |
MV + VV + VV | 1-3-2 | dass se soll froe kommen dass sie soll fragen kommen | |
MV + MV + VV | 1-3-2 3-2-1 | dass se muss froen dierfen dass sie muss fragen dürfen ... froen dierfe muss | |
KHV | KHV + HV + VV | 1-3-2 3-1-2 | dass si géif gefrot ginn dass sie würde gefragt werden ... gefrot géif ginn |
KHV + VV + VV | 1-3-2 3-2-1 | dass si géif froe kommen dass sie würde fragen kommen ... froe komme géif | |
KHV + MV + VV | 1-3-2 1-2-3 | dass si wäert froen dierfen dass sie wird fragen dürfen ... wäert dierfe froen |
1080Es stellt sich heraus, dass der Kopfverbtyp Hilfsverb (HV) am wenigsten Variation zeigt, d.h. hier richtet sich die Verbstellung nach den abhängigen Verbtypen. Für die Kopfverbtypen Modalverb (MV) und Konjunktivhilfsverb (KHV) gibt es deutlich mehr Variation, sodass die Abfolgen nicht nur aufgrund der abhängigen Verben erklärt werden können. Tendenziell steht das Kopfverb bei diesen Syntagmen am linken Rand des Clusters. Hinzu kommt noch die mögliche Umstellung von Infinitiven innerhalb dreigliedriger Cluster (1-3-2 vs. 1-2-3). Das Vollverb kann in den meisten Fällen allerdings auch vorangestellt werden, sodass es zur Folge 3-1-2 bzw. 3-2-1 kommt. Anhand von Signifikanztests konnten vier verschiedene Faktoren für mögliche Clusterumstellungen herausgearbeitet werden (Liste mit abnehmender Signifikanz):
- Dass-Sätze in der Rolle als Attribut stehen häufiger in der 3-2-1-Folge, Subjektsätze hingegen häufiger in 1-3-2.
- Ist das Kopfverb ein Modalverb im Konjunktiv, besteht die Tendenz, das Kopfverb voranzustellen (1-3-2), im Indikativ rückt das Kopfverb häufiger nach hinten und zeigt somit eher die Abfolge 3-1-2.
- Bei der Wahl des Komplementierers zeigt sich, dass die Form dass tendenziell häufiger bei Verben mit der Abfolge 3-1-2 steht und datt eher mit 1-3-2.
1082Die hier aufgelisteten Serialisierungen sind dabei nicht exhaustiv, d.h. es können mitunter auch andere Abfolgen auftreten, die nicht aus dem Korpus hervorgegangen sind und dennoch grammatische Muster bilden. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die allgemeine „Umkehrbarkeit“ von Ersatzinfinitiv und Vollverb im Infinitiv: dass si hätt misse froen (1-2-3) vs. dass si hätt froe missten (1-3-2). Ebenso kann beim Typ KHV+MV+VV das Vollverb vorangestellt werden: dass si froe dierfe wäert (3-2-1). Diese Fälle sind im Luxemburgischen ebenfalls zulässig, wurden jedoch als Typ nicht vom Korpus abgedeckt.
1083Insgesamt zeigt sich, dass die Anordnung der Verben hauptsächlich vom Verbtyp abhängt. Ein anderer Faktor, der hier allerdings nicht untersucht werden konnte, sind informationsstrukturelle Gründe. Demnach kann es für die Interpretation der Aussage wichtig sein, das Vollverb oder das Kopfverb voranzustellen.
8.4 4er-Verbcluster im Luxemburgischen
1084Aufgrund des verhältnismäßig großen kognitiven Aufwandes sind viergliedrige Prädikate äußerst selten. In dem hier untersuchten Subkorpus finden sich bloß fünf Belege, die einen dass-Satz mit vier Prädikatsteilen aufweisen. An dieser Stelle werden diese fünf Belege nun auf ihre Systematik hin besprochen.
1085Die Belege lassen sich in zwei Stellungstypen unterteilen: 1-2-4-3 und 1-4-3-2. Bei beiden Abfolgen belegt das Kopfverb die erste Position im Cluster. Die Serialisierung 1-2-4-3 zeigt sich beim Clustertyp HV+MV+HV+VV, indem ein Hilfsverb den Kopf des Clusters bildet und ein Modalverb (im Ersatzinfinitiv) regiert, von dem wiederum eine Passivkonstruktion abhängt. Dieser Typ findet sich dreimal in den Daten, dabei wird bei Satz (297) deutlich, dass der Cluster auch hier durch eine Konstituente (das Subjekt nei Etudë ‚neue Studien’) unterbrochen werden kann.
1086(296)dass net nëmmen dëst Joer nei Scholden vun enger Milliard Euro hu missen gemaach ginn (Online-News) [1-2-4-3]
dass nicht nur dieses Jahr neue Schulden von einer Milliarde Euro haben müssen gemacht
werden
1087(297)dass bei deem Fonçage [...] hu missten nei Etudë gemaach ginn (Politik) [1-2-x-4-3]
dass bei diesem Vortreiben [..] haben müssen neue Studien gemacht werden
1088(298)dass dëst Haus scho säit méi wéi zéng Joer iwwerfälleg ass an duerch en neit hätt missen ersat ginn. (Politik) [1-2-4-3]
dass dieses Haus schon seit mehr wie zehn Jahren überfällig ist und durch ein neues
hätte müssen ersetzt werden
1089Die andere Stellung 1-4-3-2 zeigt sich bei Verbclustern, bei denen ein Modalverb den Kopf bildet, das wiederum eine Passivkonstruktion regiert: MV+HV+VV+VV bei (299), MV+HV+HV+VV bei (300).
1090(299)dass besonnëg keng Persoun aus de PIGS-Länner am Moment do soll wurschtelen gelooss ginn. (Online-Kommentar) [1-4-3-2]
dass besonders keine Person aus den PIGS-Ländern im Moment dort soll wurschteln gelassen
werden
1091(300)Datt d’Pompjeeë solle gesot kritt hunn (Politik) [1-4-3-2]
dass die Feuerwehrleute sollen gesagt gekriegt haben
1092Die Anordnung der Verben in einem 4er-Verbcluster scheint vom Vorhandensein und der Position des Modalverbs abhängig zu sein. Die Serialisierung ist bei diesen Belegen bis zum Modalverb aufsteigend und für alle abhängigen Verben jeweils absteigend. Dies ist jedoch nur eine erste Beobachtung anhand von fünf Belegen, sodass diesem Thema in zukünftigen Studien nachgegangen werden muss.
8.5 Kontinentalwestgermanische Verbclustervariation
1093Verbclustervariation zeigt sich in vielen kontinentalwestgermanischen Sprachen. Besonders in den vergangenen 20 Jahren wurde viel Forschungsarbeit geleistet, um diesen Bereich zu erschließen. Dieses Kapitel soll einerseits auf die Stellungsoptionen bestimmter Einzelsprachen eingehen und andererseits zeigen, ob das Luxemburgische Ähnlichkeiten aufweist. Im Vordergrund stehen dabei die folgenden Sprachen: Standarddeutsch, Schweizerdeutsch, Niederländisch und Flämisch. Ein weiteres Unterkapitel widmet sich der Verbclustervariation einer älteren Sprachstufe des Deutschen (Frühneuhochdeutsch), um auch die diachrone Entwicklung zu beleuchten.
Standarddeutsch und deutsche Varietäten
1094In Bezug auf die 2er-Verbcluster lässt das Standarddeutsche im Nebensatz keinerlei Variation zu; die Abfolge lautet stets 2-1. Das Finitum wird demnach immer nachgestellt, unabhängig vom Verbtyp (vgl. Dudengrammatik 2006: 480).
1095(301)dass sie jetzt schlafen muss [2-1]
1096(302)dass sie ausgeschlafen hat [2-1]
1097Die 3er- und 4er-Cluster zeigen im Standarddeutschen unterschiedliche Stellungsvarianten. Grundsätzlich gilt in der rechten Satzklammer: regiertes Glied vor regierendem Glied (Rektum vor Regens), demnach lautet die Grundabfolge 3-2-1. Ist das Kopfverb das Hilfsverb haben, was wiederum ein Modalverb, ein AcI-Verb oder ein anderes infinitivregierendes Verb (lassen, machen, helfen) regiert, kann sich die Abfolge verändern und es kommt zur Stellung 1-3-2 (vgl. Dudengrammatik 2006: 481). Außer für die Modalverben steht weiterhin die „Normalregel“ (3-2-1) zur Verfügung.
1098(303)dass ich ihn habe trösten wollen [1-3-2]
1099(304)dass ich ihn ziehen lassen habe [3-2-1]
1100Ist das Kopfverb ein Modalverb oder das temporal-modale Hilfsverb werden, kann ebenfalls zwischen den beiden Folgen 3-2-1 (Grundregel) oder 1-3-2 (Sonderregel) variiert werden (vgl. Dudengrammatik 2006: 482).
1101(305)a) dass es bereits begonnen haben wird [3-2-1]
b) dass es bereits wird begonnen haben [1-3-2]
1102(306)a) dass er das gelernt haben soll [3-2-1]
b) dass er das soll gelernt haben [1-3-2]
1103Bei der 1-3-2-Folge kann es ebenfalls zu Clusterunterbrechungen kommen, wie das folgende Beispiel zeigt:
1104(307)nachdem er (...) die Hilfe eines benachbarten Geistlichen hatte in Anspruch nehmen müssen (Dudengrammatik 2006: 482) [1-x-3-2]
1105Die Variation der dreigliedrigen Verbcluster wird bei Pittner & Berman (2004: 93) anhand der so genannten „Oberfeldumstellung
“ verdeutlicht. Demnach setzt sich die rechte Satzklammer im Nebensatz aus zwei weiteren
Feldern zusammen, die jeweils eine auf- oder eine absteigende Serialisierung aufweisen
(vgl. auch Bech 1983, zit. nach Pittner & Berman 2004: 92f.). Die dortige Darstellung berücksichtigt leider keine Stellungsoptionen.
rechte Klammer | ||
Oberfeld | Unterfeld | |
(weil er das) | hat1 | lesen3 müssen2 |
(weil er das) | hat1 | kommen3 sehen2 |
(dass er das Buch) | wird1 haben2 | lesen4 können3 |
(dass er sie) | wird1 haben2 | laufen4 lassen3 |
1106Laut Dudengrammatik (2006: 482) scheint die Variation hauptsächlich durch Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit sowie durch die Verbtypen beeinflusst zu sein, was jedoch nicht weiter beschrieben wird. Es wird allerdings auch auf diverse regionalsprachliche und dialektale Umstellungen hingewiesen (vgl. Dudengrammatik 2006: 483). In einer abschließenden Bemerkung zu den Verbclustern im Standarddeutschen heißt es allerdings in der Dudengrammatik (2006: 483):
Im Ganzen genommen ist die Wortstellung im Verbalkomplex durch eine gewisse Instabilität und Fluktuation geprägt. Die Entwicklung scheint sich einerseits in Richtung einer stärkeren Verallgemeinerung der Normalregel zu bewegen, andererseits gibt es viel Spielraum für Abweichungen unterschiedlicher Art.
1107Die Fluktuation im Verbalkomplex wird noch deutlicher, wenn man sich bestimmte (nicht standardisierte) Varietäten des Deutschen anschaut. In Bezug auf die Verbcluster zeigen Studien zum Hessischen und zum Plautdietschen (Mennonite Low German), dass auch hier die zwei- und dreistelligen Cluster unterschiedliche Stellungsvarianten haben (das Schweizerdeutsche wird im folgenden Kapitel beschrieben). Dominante Stellung bei den plautdietschen 2er-Clustern mit Modalverb ist die 2-1-Stellung (Satz a), wobei 1-2 auch für viele Sprecher verfügbar ist (vgl. Kaufmann 2007: 162). Auch Verbclusterunterbrechungen sind im Plautdietschen zulässig (Satz b).
1108(308)a) Waun hei daut Hüs NÜ verköpen mut (Kaufmann 2007: 162) [2-1]
wenn er das Haus nun verkaufen muss
b) Waun hei nü mut daut Hüs verköpen [1-x-2]
wenn er nun muss das Haus verkaufen
1109Auch im Hessischen ist die 2-1-Abfolge (beim Typ MV+VV) am häufigsten. Die 1-2-Stellung zeigt sich aus arealer Perspektive vor allem am östlichen Rand Hessens, was von Weiß & Schwalm (2017) darauf zurückgeführt wird, dass diese Folge vor allem in ostmitteldeutschen Dialekten belegt ist. Auch bei den dreigliedrigen Verbclustern zeigt die Mehrheit der hessischen Belege die standarddeutsche Abfolge 3-2-1. Getestet wurde hier in einer Übersetzungs- und Bewertungsaufgabe die Abfolge „operiert werden würde“ (Typ: KHV+HV+VV). Neben der dominanten 3-2-1-Folge konnten (in absteigender Häufigkeit) auch die Verbabfolgen 3-1-2, 1-3-2 oder 1-2-3 belegt werden (vgl. Weiß & Schwalm 2017), sodass auch hier innerhalb eines Clustertyps Variation besteht. Dennoch zeigt sich in den SyHD-Untersuchungen, dass das Hessische im Gesamtbild – trotz variabler Verbstellung – häufig die standarddeutschen Abfolgen aufweist.
Schweizerdeutsch
1110Eine der ersten systematischen und vergleichenden Verbclusterbeschreibungen stammt
von Lötscher (1978). In seinem Aufsatz beschreibt der Autor mehrteilige Prädikate in zürichdeutschen
Haupt- und Nebensätzen, aber auch in anderen Dialekten (darunter auch das Luxemburgische).
Lötscher (1978: 10f.) zeigt dabei auf, dass es verschiedene „Dominanzfolgen
“ gibt, welche seiner Auffassung nach durch „mindestens drei interagierende, aber primär voneinander unabhängige, Arten von Regeln
“ erklärt werden können:
- Allgemeine grammatische Stellungsregeln: Diese werden vom Autor leider nicht sehr genau ausgeführt, sodass dieser Punkt unklar bleibt. Ich denke, dass er damit ausdrücken möchte, dass die Verbstellung nicht gänzlich beliebig ist.
- „Performanzbedingte“ Faktoren: Heute würde man womöglich den Terminus kognitive Verarbeitung verwenden. Gemeint ist hiermit die Tatsache, dass der Cluster nicht zu komplex sein darf, um ihn immer noch interpretierbar zu machen.
- Funktionale Faktoren: Durch eine unterschiedliche Informationsstruktur (Thema/Rhema) kann der Cluster ebenfalls beeinflusst werden.
1112Da sich Lötscher (1978) nur an Einzelsätzen und an Sätzen aus grammatischen Beschreibungen anderer Varietäten orientiert, wird leider nicht deutlich, wie sich die Variation im schweizerdeutschen Raum manifestiert. Eine solche Übersicht legt Seiler (2004) vor, indem er die Daten des syntaktischen Atlas der Deutschschweiz (SADS) auswertet. Der Fokus lag dabei auf den 2er-Verbclustern, da hier mehrere Verbtypen abgefragt wurden. Bei den 3er-Clustern wurde nur der Typ HV+MV+VV elizitiert. Interessant ist die Tatsache, dass sich die präferierten Verbstellungsoptionen von Westen nach Osten graduell verändern, wie der folgenden Tabelle nach Seiler (2004: 380) entnommen werden kann. Gezeigt wird die für die Region dominierende Variante, d.h. Ko-Varianten sind nicht ausgeschlossen (vgl. hierzu die SADS-Karten von Seiler 2004).
Westen << >> Osten | |||||
I | II | III | IV | V | |
HV+VV | 1-2 | 2-1 | 2-1 | 2-1 | 2-1 |
MV+VV | 1-2 | 1-2 | 2-1 | 2-1 | 2-1 |
VV+VV | 1-2 | 1-2 | 1-2 | 2-1 | 2-1 |
HV+MV+VV | 1-2-3 | 1-2-3 | 1-2-3 | 1-2-3 | 3-1-2 |
1113Im Allgemeinen tendieren zweigliedrige Verbcluster stärker zur absteigenden 2-1-Stellung, die dreigliedrigen eher zur aufsteigenden Abfolge 1-2-3. Hier scheint sich die Variation vor allem nach den beteiligten Verbtypen als auch nach der regionalen Verteilung zu richten. Vogel (2004: 85) bestätigt für den Dialekt von St. Gallen ebenfalls die Stellung 1-2-3 bei besagtem Clustertyp, fügt jedoch hinzu, dass der Verbcluster aufgrund von unterschiedlichen Verbbetonungen verändert werden kann und somit in der Stellung 2-1-3 oder 3-1-2 stehen kann.
Niederländisch und Flämisch
1114Bei zweigliedrigen Verbclustern sind im Standardniederländischen und im Flämischen beide Verbabfolgen (2-1) oder (1-2) zulässig. Die umfassenden Untersuchungen zum syntaktischen Atlas der niederländischen Dialekte (SAND) machen deutlich, dass diese Variation für jeden Verbtyp zulässig ist, im Dialekt wie in der Standardsprache (vgl. Barbiers et al. 2008b).
1115(309)dat je het (lezen) moet (lezen) [2-1] [1-2]
dass du es (lesen) musst (lesen)
1116(310)da hij de krant (gelezen) heeft (gelezen) [2-1] [1-2]
dass er die Zeitung (gelesen) hat (gelesen)
1117Dabei kann der Verbcluster auch durch andere Satzelemente unterbrochen werden, wie das folgende Beispiel zeigt.
1118(311)[...] dat je moet diet niet geloven (Barbiers et al. 2008b: 46)
[..] dass du musst das nicht glauben
1119Barbiers et al. (2008b) besprechen aufgrund ihrer Erhebungen sehr ausführlich, welche Arten der Clusterunterbrechung (verschiedene Objekttypen, Partikel usw.) auftreten können. Es stellt sich heraus, dass eingeschobene Elemente vor allem im Flämischen vorkommen (dabei besonders häufig in West-Flandern) (vgl. Barbiers et al. 2008b: 26).
1120Auch im niederländischsprachigen Gebiet gibt es regionale Unterschiede in Bezug auf die präferierte Abfolge, wobei sich hier im Gegensatz zum Schweizerdeutschen ein Nord-Süd-Gefälle abzeichnet: Im Norden dominiert insgesamt die Stellung 2-1, im Süden (u.a. in Flandern) scheint der Verbtyp eine Rolle zu spielen, denn hier steht der Typ HV+VV in der Abfolge 2-1, der Typ MV+VV allerdings in 1-2.
1121Auch 3er-Cluster wurden im Rahmen der SAND-Erhebungen ausgewertet. Wie im Luxemburgischen kommt es auch hier zu zahlreichen Stellungsoptionen, die je nach Syntagma variieren können, wobei im Niederländischen die Stellung 1-2-3 für alle Clustertypen zulässig ist und im gesamten Gebiet am stärksten vertreten ist (vgl. Barbiers et al. 2008b: 21).
1122(312)3er-Cluster nach Barbiers et al. (2008b), Stellungsvarianten nach absteigender Häufigkeit:
MV + MV + VVINF: 1-2-3 / 3-1-2 / 3-2-1 / 1-3-2
MV + HV + VVINF: 3-1-2 / 1-3-2 / 1-2-3 / 3-2-1
HV (hebben) + MVIPP + VVINF: 1-2-3 / 2-3-1 / 3-2-1 / 1-3-2 / 3-1-2
HV (zijn) + VVPART/IPP + VVINF: 1-2-3 / 2-3-1 /3-2-1 / 3-1-2
1123Auch hier scheint der Bereich der Verbcluster durch starke Fluktuation bestimmt zu sein. Zudem zeigt sich hier eine neue Variante, nämlich die Abfolge 2-3-1. Es ist beachtlich, dass verschiedene Regionen einen allgemeinen Stellungstyp für alle Clustertypen aufweisen. Hierbei sind drei Kerngebiete zu unterscheiden: Die meisten Gebiete (bis auf Friesland) erlauben die aufsteigende Anordnung (1-2-3) für alle Clustertypen. Im Norden sowie am östlichen Rand der Niederlande dominiert die umgekehrte Abfolge (3-2-1) und die Regionen um Limburg und Overijssel zeigen die Abfolge 3-1-2 (vgl. Barbiers et al. 2008b: 22).
Diachronie: Mittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch
1124Die Verbstellung im Deutschen war lange Zeit von einer großen Varianz geprägt, die dann aufgrund des normierenden Einflusses der Kanzleisprache im Frühneuhochdeutschen sukzessiv abgebaut wurde (vgl. Lenerz 1995: 1268). Die mittelhochdeutschen Zeugnisse sind allerdings nicht unproblematisch, denn sowohl die lateinische Satzstellung bei Übersetzungen als auch der Satzrhythmus in lyrischen Texten kann die Verbstellung bei mehrteiligen Prädikaten beeinflusst haben (vgl. Behaghel 1932: 86, zit. nach Sapp 2011: 5). Laut Behaghel (1932: 105; zit. nach Sapp 2011: 5) werden in mittelhochdeutschen 2er-Verbclustern Infinitive tendenziell nachgestellt und Partizipien vorangestellt, was in Bezug auf die Syntagmen bedeutet: HV+VV zeigt die Tendenz 2-1, MV+VV neigt eher zu 1-2.
1125Sapp (2007; 2011)150 zeigt in seiner Untersuchung (2752 2er-Cluster), wie die allgemeine 1-2-Stellung, die im heutigen Standarddeutschen unzulässig ist, im Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen in großen Teilen Deutschlands bereits abgebaut wird. Die Anzahl der Cluster mit der Abfolge 1-2 sinkt von durchschnittlich 28,7 % auf 23,1 %. Die Daten legen offen, dass vor allem die westmitteldeutschen Regionen die 1-2-Stellung deutlich abbauen (Köln 46,6 % (MHD) > 8,6 % (FNHD); Hessen 35,9 % (MHD) > 12,4 % (FNHD)) (vgl. Sapp 2011: 96). Leider wurden in dieser Untersuchung keine Verbtypen berücksichtigt, sodass eine differenziertere Betrachtung der Ergebnisse nicht möglich ist.
1126Insgesamt kommt Sapp (2007; 2011) in seinen Untersuchungen zum Schluss, dass sowohl der Verbtyp als auch Objektfokus einen starken Einfluss auf die Anordnung der Verben im Cluster haben. Da Objektfokus in einem Korpus nicht immer leicht zu identifizieren ist, stützt er seine Einteilungen auf syntaktische Indizien für Objektfokus wie Scrambling151 und Extraposition (vgl. Sapp 2007: 311). Neben den beiden hier erwähnten strukturellen Eigenschaften (Syntagma und Objektfokus) spielen auch außersprachliche Faktoren eine Rolle, die bei Sapp (2011: 34) allerdings nur aufgelistet und nicht weiter in die Analyse miteinbezogen wurden, da sie nur sehr schwierig oder sehr unzuverlässig zu bestimmen sind (beim Faktor Geschlecht etwa stellte sich heraus, dass es keine weiblichen Autoren gab). Der Autor erwähnt dabei die Faktoren Geschlecht, Bildungsgrad und Beruf des Autors sowie die Textsorte.
1127Der Einfluss der Kopfverben im Frühneuhochdeutschen kann aus der Tabelle von Sapp (2011: 21) entnommen werden. Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit wurde die Notation des Syntagmas in der ersten Kolonne der vorliegenden Arbeit angepasst (die Notation in Klammern entspricht der Vorlage).
2-1 | 1-2 | |
HV+VV (Passiv mit sein) | 90,1 % | 9,9 % |
HV+VV (Passiv mit werden) | 82,9 % | 17,1 % |
HV+VV (Perfekt mit sein) | 71,2 % | 28,8 % |
HV+VV (Perfekt mit haben) | 70,7 % | 29,3 % |
MV+VV | 64,5 % | 35,5 % |
VV+VV | 25,9 % | 74,1 % |
1128An dieser Stelle wird deutlich, dass die 2-1-Stellung deutlich bevorzugt wird bei Auxiliaren mit Partizip. Für die Modalverben gilt, dass sie zwar noch überwiegend in der 2-1-Stellung vorliegen, allerdings in einem deutlich schwächeren Verhältnis als beispielsweise bei Passivkonstruktionen. Auffällig sind ebenfalls die Vollverben mit Infinitivrektion, da sie als einzige Klasse in dieser Tabelle die 1-2-Stellung bevorzugen. Diese Tabelle von Sapp (2011) bestätigt somit die Beobachtung von Behaghel (1932), dass Auxiliare mit Perfektrektion die 2-1-Abfolge bevorzugen. Diese Art der Variation wurde allerdings im heutigen Standarddeutsch völlig abgebaut und zeigt sich nur noch in dialektalen oder regionalen Varietäten. Auch im Luxemburgischen gibt es keinerlei Variabilität bei den Hilfsverben. Es ist durchaus bemerkenswert, dass in zwei älteren luxemburgischen Abhandlungen die These vertreten wird, das Luxemburgische zeige in Bezug auf die Verbcluster Überreste des mittelhochdeutschen Satzbaus (vgl. Palgen 1935; Bruch 1955). Meiner Auffassung nach handelt es sich hier um eine Aussage, die sich vielmehr um eine allgemein größere Stellungsfreiheit im Mittelhochdeutschen und weniger um strukturelle Ähnlichkeiten dreht. Im Vergleich zu standarddeutschen Verbclustern ist ein Vergleich mit dem mittelhochdeutschen Satzbau auf jeden Fall naheliegender. Ein (synchroner) Blick auf die westgermanische Varietätenlandschaft kann jedoch deutlich machen, dass Verbclustervariation ein weit verbreitetes Phänomen ist, das auf komplexen Regeln und Syntagmatypen aufbaut. Eine Übersicht der Variation der in diesem Kapitel beschriebenen Varietäten inklusive den hier gezeigten luxemburgischen Daten befindet sich im anschließenden Übersichtskapitel.
Übersichtstabelle
1129Die hier vorgestellten Clustertypen für das Standarddeutsche, das Schweizerdeutsche, das Standardniederländische und das Westflämische basieren einerseits auf den in den vorangegangenen Kapiteln besprochenen Stellungsoptionen und andererseits auf den umfassenden Übersichtstabellen von Wurmbrand (2004; 2006). Ziel dieser Übersicht ist eine Darstellung der Komplexität in den hier aufgeführten westgermanischen Sprachen sowie die Grundidee, das Luxemburgische Clustersystem in eine solche Tabelle zu integrieren. Es versteht sich von selbst, dass es sich hier um eine vereinfachte Darstellung handelt und sehr seltene Stellungen oder regionale Unterschiede (wie beispielsweise in der Deutschschweiz) nicht berücksichtigt werden können.
2er-Cluster | 3er-Cluster | |||||
HV +VV | MV +VV | HV +HV +VV | HV +MVIPP +VV | MV +HV +VV | MV +MV +VV | |
Standarddeutsch | 2-1 | 3-2-1 | 3-2-1 1-3-2 | 3-2-1 | 3-2-1 | |
Schweizerdeutsch | 2-1 1-2 | 3-2-1 | 1-2-3 1-3-2 3-1-2 | 1-3-2 3-2-1 3-1-2 | 1-2-3 3-2-1 1-3-2 | |
Standardniederländisch | 1-2 2-1 | –152 | 1-2-3 | 1-2-3 3-1-2 1-3-2 | 1-2-3 | |
Westflämisch | 2-1 | 1-2 | 3-2-1 1-3-2 | 1-2-3 2-3-1 | 1-3-2 3-1-2 | 1-2-3 |
Luxemburgisch | 2-1 | 1-2 2-1 | 3-2-1 | 1-2-3 | 1-3-2 3-1-2 3-2-1 | 1-3-2 1-2-3 |
1130In dieser Tabelle wird deutlich, dass die Gruppe der 3er-Cluster in allen hier gezeigten Varietäten einen erstaunlich ähnlichen Aufbau für das jeweilige Syntagma aufweist. Interessant sind dabei auch die starke Ähnlichkeit zwischen dem Luxemburgischen und dem Westflämischen sowie dem Schweizerdeutschen, was sich vielleicht auch durch die geringe Normierung im Gegensatz zu den Standardsprachen erklären lässt.
8.6 Zusammenfassung
1131Ich möchte die Zusammenfassung des gesamten Verbclusterkapitels mit einem Zitat von
Sapp (2011: 213) einleiten: “Word order variation in the German verb cluster has proven to be a complex phenomenon
that defies a simple explanation
.” Auch im Luxemburgischen manifestiert sich eine beachtliche Anzahl an Stellungsvarianten,
die in diesem Kapitel auf ihre Systematik hin untersucht wurden. Die Grundlage hierfür
lieferten 1299 aus dem Korpus extrahierte dass-Sätze mit zwei- oder dreigliedrigem Verbcluster (plus fünf 4er-Cluster, welche aufgrund
der geringen Anzahl nicht systematisiert werden konnten). Dabei haben sich für die
unterschiedlichen Clustertypen die folgenden Tendenzen ergeben:
- 2er-Verbcluster
1133Insgesamt zeigen die zweigliedrigen Verbcluster mit Hilfsverben (hunn, sinn, ginn, kréien) keine Variation und stehen immer in der Reihenfolge 2-1, d.h. die flektierte Form steht hinter der nicht flektierten, die bei diesem Syntagma immer ein Partizip II ist. Auch die Kombination eines Vollverbs mit Infinitiv (Bsp.: gehen lassen) zeigt eine strikte 2-1-Reihenfolge. Die Modalverben (kënnen, mussen, usw.) und die Konjunktivhilfsverben (géif, géing, wäert) verhalten sich als Kopfverben im Verb-cluster sehr ähnlich: die dominierende Abfolge lautet hier 1-2, obschon die 2-1-Folge in durchschnittlich 15,5 % der Fälle belegt werden konnte. Bei diesem Typ stellte sich die Frage, welche Faktoren die Variation bedingen. Signifikanztests konnten offenlegen, dass ein Modalverb im Konjunktiv die 1-2-Folge favorisiert, im Indikativ hingegen 2-1. Auch die syntaktische Funktion des dass-Satzes zeigte einen Effekt auf den Cluster: Attributsätze neigen stärker zur 2-1-Stellung. Erstaunlich ist auch, dass die beiden Konjunktivhilfsverben géif und géing in besonderem Maße zur 1-2-Abfolge tendieren.
- 3er-Verbcluster
1135Das Korpus zeigte knapp 300 Verbcluster, die neun verschiedenen Syntagmen zugeordnet werden konnten (drei Kopfverben mit jeweils drei Untertypen). Diese Einteilung konnte vor allem bei Verbclustern mit Hilfsverb als Kopfverb einen Großteil der Varianten erklären, wie etwa die einheitliche 1-2-3-Stellung beim Typ HV+MV+VV. Kombinationen mit Modalverb oder Konjunktivhilfsverb als Kopf zeigten hingegen mehrere Stellungsoptionen. Da manche Kombinationstypen allerdings unter fünf Belegen lagen, konnten nicht alle Stellungsoptionen statistisch ausgewertet werden. Für die testbaren Sätze offenbarten sich ähnliche Zusammenhänge wie bei den 2er-Clustern: Modalverben im Konjunktiv bevorzugen die Stellung 1-3-2, im Konjunktiv hingegen 3-1-2. Ist der dass-Satz ein Attribut, zeigt sich auch hier eine Präferenz dafür, das Vollverb nach vorne zu stellen: 3-1-2.
1136Außerdem konnte gezeigt werden, dass luxemburgische Modalverben, die vom Perfektauxiliar haben regiert werden, entweder als Ersatzinfinitiv oder als Supinum vorkommen können. Die supinalen Formen weisen dabei eine gewisse Modussensitivität auf und existieren in verschiedenen morphologischen Formen.
- Wie lassen sich 2er- und 3er-Verbcluster korrelieren?
1138Ohne die Variation innerhalb der Syntagmen ausblenden zu wollen, lassen sich bestimmte
allgemeine Regeln für die Abfolge der Verben im Nebensatz festhalten. In Verbclustern
mit HV als Kopf wird stets das Vollverb zuerst genannt und das Kopfverb rückt nach
hinten (2-1 bzw. 3-2-1). Ist das Kopfverb ein MV oder KHV, wird das Finitum zuerst
genannt und das Vollverb nachgestellt (1-2 bzw. 1-3-2). Dies passt auch zu den Beobachtungen
von Seiler (2004: 279) zum Schweizerdeutschen: „Auxiliaries tend most to be set at the right edge of the cluster
.” Modalverben tendieren hingegen dazu, weiter links im Verbcluster zu stehen. Solche
Beobachtungen lassen sich leicht für die 2er-Cluster machen, da ihr Aufbau einfacher
und strukturell transparenter ist als etwa bei 3er-Clustern. Dennoch lassen sich strukturelle
Parallelen ziehen, die zeigen, dass in erster Linie das Kopfverb und das Vollverb
eine ähnliche Serialisierung aufweisen.
1139Der Hauptfaktor für die Variation ist somit der restrukturierende Effekt von Modal- und Konjunktivhilfsverben. Dieser Effekt ist für die Modalverben bereits gut dokumentiert und in der Literatur diskutiert worden (u.a. Wurmbrand 2004; Schallert 2014). Da das Luxemburgische aber noch weitere „Modalitätsverben“ grammatikalisiert hat (géif, géing), die einen vergleichbaren Effekt auf den Verbcluster haben, ist die Anzahl an Verbclustern mit variabler Satzstellung besonders hoch.
1140Aufgrund der Ergebnisse der großen syntaktischen Atlanten (SADS, Schweiz, und SAND, Niederlande und Flandern) ist es nicht zu erwarten, dass es große binnenluxemburgische Unterschiede gibt (auch durch den generellen Abbau dialektaler Variation und die gleichzeitige Ausbreitung eines „Gemeinluxemburgischen“). Dennoch könnten gezielte regionalspezifische Untersuchungen helfen, mögliche Feinheiten in der Variation zu erklären. Zudem wäre es bei anderen Erhebungsmethoden möglich, Sprecherprofile zu erstellen und dadurch nicht nur Rückschlüsse auf die Herkunft, sondern auch auf Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und mögliche deutsche Einflüsse (wie etwa ein Studienaufenthalt), ziehen zu können.
Fußnoten
859Der Beispielsatz lautet: Ech hunn net kënne kommen.// Ech hunn net komme kënnen. ‚Ich habe nicht können kommen. // Ich habe nicht kommen können.’ (vgl. Braun et al. 2005: 49).
859Bei diesen Sätzen fällt jedoch auf, dass sämtliche Beispielsätze mit Modal- oder Konjunktivhilfsverben eine einheitliche 1-2-Reihenfolge aufweisen (mehr dazu in Kapitel 8.2).
859Die Autoren stellen in den meisten Fällen eine Grundoption fest und vermuten, dass jegliche Variation durch den standarddeutschen Einfluss zu erklären ist (vgl. Schanen & Zimmer 2012: 52f.). Mehr zu den Hypothesen der Verbclusterinformation findet sich in den jeweiligen Unterkapiteln.
860Da es sich bei den Verbclustern um ein high frequency phenomenon handelt und die manuelle Suche sehr zeitaufwendig ist, wurde hier auf das Subkorpus zurückgegriffen.
872Auch im Deutschen gibt es Autoren, die werden allgemein als Modalverb einstufen (vgl. Vater 1975).
874Diese Verben haben eine vergleichbare Struktur wie im Standarddeutschen und werden dort als Unterkategorie der „infinitregierenden Verben“ verstanden bzw. etwas allgemeiner als „Verben mit Spezialfunktion“ (vgl. Dudengrammatik 2004: 422).
896Im Alltag kann man solche Formen gelegentlich hören. Im Schriftgebrauch findet man sie allerdings nur selten.
896Herzig befindet sich in Deutschland, im moselfränkischen Sprachgebiet, ca. 35 km nordwestlich von Luxemburg.
897Beispiel wurde orthografisch angepasst, da Cravatte (1953) in seiner handschriftlichen Abhandlung eine eigene, lautlich orientierte Schreibweise verwendet.
951Selbst wenn die funktionalen Aspekte einen Einfluss auf die Wortstellung ausüben (conditioned variation), ist dennoch nicht auszuschließen, dass die Verteilung auch areal sein kann. Da in den meisten Fällen keine Informationen zu den Verfassern vorliegen, bleibt das Testen diatopischer Wortstellungsvariation im Luxemburgischen ein zukünftiges Anliegen. Denn auch wenn hier gemeinhin vom „Luxemburgischen“ gesprochen wird, darf man nicht vergessen, dass es sich zugleich um vier „binnenluxemburgische“ Dialektgebiete handelt, welche Präferenzen für den einen oder anderen Typ zeigen können. In den Studien von Seiler (2004, 2005) kann eindeutig belegt werden, dass syntaktische Phänomene wie Verbstellung im Nebensatz areale Variation zeigen können.
954Der Chi-Quadrat-Test nach Pearson beruht auf den Abweichungen von beobachteten Häufigkeiten zu den erwarteten Häufigkeiten zuvor festgelegter Daten (Modell der statistischen Unabhängigkeit) (vgl. Andreß 2001).
975Im ältesten Luxemburger Rechnungsbuch von 1388 kann die Koexistenz der beiden Formen jedoch schon nachgewiesen werden. Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Britta Weimann.
977Dieser Test zeigt, wie unabhängig die hier bestimmten Faktoren sind oder – anders gesagt – ob der Faktor X die Abfolge im Verbcluster beeinflusst. Ein niedriger p-Wert (>0,05) steht in diesem Fall für eine geringe Irrtumswahrscheinlichkeit und legt nahe, dass ein Einfluss besteht. Niedrige Werte, die den p-Wert jedoch knapp überschreiten, werden als statistische Tendenz bezeichnet (vgl. Schlobinski 1996: 158-160).
1008Dies gilt teilweise auch für Perzeptionsverben: ech hunn hie spillen héieren ‚ich habe ihn spielen hören’. Da dieser Verbtyp in den Daten leider nicht vorkommt, werden an dieser Stelle nur Modalverben betrachtet.
1011Höhle (2006: 59) zeigt verschiedene supinale Formen aus dem Dialekt von Kranichfeld (bei Weimar). Dort können in IPP-Konstruktionen anstelle von einfachen Infinitiven (können, wollen) auch Supina stehen (kund, wuld). Interessant sind auch Einzelbelege aus Dillingen an der Saar (34 km zur luxemburgischen Staatsgrenze), in denen u.a. die supinalen Formen du hättest das nicht bräuchten zu verraten und daß ich nicht habe dürften kommen auftreten (vgl. Labouvie 1938: 105, zit. nach Höhle 2006: 60).
1018Übersetzungen zu den luxemburgischen Beispielen (Tab. 85): a) ich hätte dürfen bei einem schlafen, b) dass sie so nicht hätten dürfen geplant werden, c) die hätten können gerettet werden, d) wie man das hätte können meinen, e) jeder hätte können so etwas lernen, f) wie das hätte müssen geschehen, g) die im Grunde für 2006 hätten müssen eingetragen werden, h) ich hätte sollen in das Kino fahren, i) sie hätte wollen ihren Thron retten, j) das, was Luxemburg alleine hätte wollen rübergeben, k) es hätte man nicht brauchen die Zone 30 im ganzen Gebiet einzuführen, l) dann hätten wir nichts anderes lange brauchen zu suchen.
1018In den Daten finden sich ebenfalls die Formen net breichen sowie net breichten. Es ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um grafische Variation handelt, denn eine [ɑɪ]-Variante ist für das Luxemburgische aller Wahrscheinlichkeit nach aus historisch-phonologischen Gründen auszuschließen. An dieser Stelle bleibt unklar, ob net breichen eine fehlerhafte grafische Variante zu net bréich(t)en [ɜɪ] oder zu net bräich(t)en ist [æːɪ].
1023Die Verteilung von hunn im Präteritum mit Modalverb wird an dieser Stelle nicht behandelt, da die Tokenfrequenz zu niedrig ist, um aussagekräftige Angaben zur Verteilung machen zu können.
1023In den Daten finden sich ebenfalls die Formen net breichen sowie net breichten. Da es sich hier um ein schriftliches Korpus mit abweichender Orthografie handelt, können an dieser Stelle nur Überlegungen angestellt werden. Demnach ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um othografische Variation handelt, denn eine [ɑɪ]-Variante ist im Grunde genommen auszuschließen. An dieser Stelle ist allerdings unklar, ob net breichen eine fehlerhafte Variante zu net bréich(t)en [ɛɪ] oder zu net bräich(t)en [æːɪ] ist.
1069Diese Stellung ist nur möglich, wenn im Syntagma des Typs HV+HV+VV die beiden Hilfsverben sinn und ginn in exakt dieser Form auftreten. In diesem Fall kann die Reihenfolge der Hilfsverben getauscht werden: dass se gutt si ginn vs. dass se gutt gi sinn ‚dass sie gut geworden sind’.
1079Allein bei der Kombination mit den Hilfsverben sinn und ginn plus Partizip II kann auch eine 3-1-2-Abfolge entstehen: dass se gedeelt si ginn (3-1-2) vs. dass se gedeelt gi sinn (3-2-1). Diese 3-1-2-Variante ist nur dann verfügbar, wenn das flektierte Hilfsverb sinn (gekennzeichnet als 1) formgleich mit dem Infinitiv sinn ist, d.h. in der 1. Person Singular, 1. Person Plural oder 3. Person Plural. Eine Form: dass e gedeelt ass ginn (3-1-2) ist nicht zulässig.
1125Die Analyse von Sapp (2007) basiert auf dem Bonner Frühneuhochdeutschen Korpus, welches aus zehn Dialekten besteht, die zwischen 1350 und 1600 festgehalten wurden. In diesem Korpus wurden 2752 2er- und 169 3er-Cluster aufgelistet.
1126Der Begriff „Scrambling“ geht zurück auf Mark Twain, der die Wortfolge im Deutschen mit scrambled eggs (Rührei) verglichen hatte (vgl. Dudengrammatik 2006: 881). Innerhalb der Generativen Grammatik „bezieht sich die theoretische Erörterung von Scrambling auf die Frage, welche Wortstellungsvariationen in Sprachen unterschiedlichen Typs Resultate von welchen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Faktoren sind und unter welchen Bedingungen Scrambling nicht möglich ist“ (Fries 2005: 577).
1129Diese Kombination ist im Niederländischen sehr unüblich (vgl. Wurmbrand 2006). Zudem wurde dieser Typ nicht um Rahmen des SAND abgefragt.