9 Syntax der Nebensatzeinleitungen
1141Das vorliegende Kapitel widmet sich zwei wesentlichen Phänomenen der Nebensatzverknüpfung im Luxemburgischen, nämlich den „flektierenden“ Nebensatzeinleitungen (inflecting complementizers, complementizer agreement), gezeigt in (313), sowie der Erweiterung von Nebensatzeinleitungen durch dass/datt153 (doubly filled complementizers), gezeigt in (314).
1142(313)wéi s de gesäis (Prosa)
wie #s# du siehst154
1143(314)wéini datt dat wor (Politik)
wann dass das war
1144In (313) scheint nicht nur das Verb mit dem Subjekt de (2.Pers.Sg.sw.) zu kongruieren, sondern auch die Nebensatzeinleitung wéi erhält ein s. Dieses Phänomen heißt zwar Komplementiererkongruenz (complementizer agreement), der s-Marker155 bezieht sich jedoch vielmehr auf die syntaktische Position als auf den Komplementierer an sich (vgl. Weiß 2005: 148). Das Wort „Komplementierer“ stammt aus der generativen Grammatik und wird dort als satzinitiales Element eingebetteter Sätze aufgefasst (hierunter fallen im Englischen etwa that, as, for, than oder WH-Elemente, vgl. Bresnan 1970: 6f.).156 Aufgrund der etablierten Terminologie wird der Begriff „Komplementierer“ beibehalten und stellvertretend für nebensatzeinleitende Elemente verwendet (generative Beschreibungsmodelle werden für die vorliegende Untersuchung nicht berücksichtigt).
1145Kapitel 9.1 geht ausführlich auf das Phänomen und die Terminologie der Komplementiererflexion ein und zeigt dabei die wichtigsten distributiven Merkmale im Luxemburgischen auf. Ein Kernaspekt wird dabei die Frage sein, inwiefern es sich bei Komplementiererflexion tatsächlich um Flexion handelt. Da sich dieses Phänomen nicht nur auf das Luxemburgische beschränkt, werden auch Belege für „flektierende“ Nebensatzeinleitungen (im Folgenden abgekürzt als NS-Einleitungen) aus anderen deutschen und niederländischen Varietäten gezeigt.
1146Beispiel (314) zeigt einen temporalen Nebensatz, der nicht nur durch wéini ‚wann’, sondern zusätzlich durch datt ‚dass’ eingeleitet wird, wodurch es zu einer Doppelbesetzung der Komplementiererposition kommt (doubly filled complementizer). In Kapitel 9.2 werden zahlreiche NS-Einleitungen aus dem Korpus gezeigt, die eine solche Doppelmarkierung aufweisen. Da dieses Phänomen im Luxemburgischen bislang kaum dokumentiert wurde, liegt das Hauptaugenmerk auf den allgemeinen Vorkommensbedingungen und gezielten Vergleichen mit anderen westgermanischen Varietäten.
1147Darüber hinaus kann es im Luxemburgischen zu Fällen kommen, in denen beide Phänomene zusammen auftreten.
1148(315)wéi streng datt s du mat där selwer bass (Interview)
wie streng dass #s# du mit dir selber bist
1149Bei diesen Beispielen ist der Komplementierer doppelt belegt, denn er beinhaltet sowohl eine NS-Einleitung (wéi streng ‚wie streng’) als auch die ergänzende Subjunktion datt. Da das Subjekt in (315) du lautet, steht hinter der Nebensatzeinleitung der Flexionsmarker s, der dem Verbalflexiv der 2. Person Singular entspricht.
1150Dieses Kapitel bietet einen deskriptiven Überblick über das Vorkommen und die Systematik dieser besonderen Nebensatzeinleitungen im Luxemburgischen. Anhand von Korpusbelegen (aus dem Gesamtkorpus) wird gezeigt, unter welchen Bedingungen NS-Einleitungen „flektieren“ und in welchen Kontexten die NS-Einleitung durch dass/datt ergänzt werden kann.
9.1 „Flektierende“ Nebensatzeinleitungen (complementizer agreement)
1151Manche NS-Einleitungen werden im Luxemburgischen durch ein Element begleitet, das
der verbalen Flexionsendung entspricht, sodass es zu einer Art „lexikalischer Kopie
“ der Flexionsendung kommt (Terminus nach Brandner 2011: o.S.). Aus diesem Grund wird das Phänomen auch „Komplementiererkongruenz“ (complementizer agreement) genannt, da das grammatische Subjekt mit dem Komplementierer in Person und Numerus
zu kongruieren scheint. Dabei fordern nicht alle grammatischen Personen diese Art
der Kongruenz: Im Luxemburgischen müssen Nebensätze, in denen das Subjekt das Pronomen
du/de ist (2.Pers.Sg.), hinter dem Komplementierer einen s-Marker erhalten. Bei der 1. und 3. Person Plural ist der Marker en hinter der Nebensatzeinleitung fakultativ.
1152(316)datt s de laachs 2.Pers.Sg.: {s} (obligatorisch)
dass #s# du lachst
1153(317)datt e mer laachen 1.Pers.Pl.: {e} (fakultativ)
dass #e# wir lachen
1154(318)datt en se laachen 3.Pers.Pl.: {en} (fakultativ)
dass #en# sie lachen
1155Die in der Forschung geläufigen Termini für dieses Phänomen (inflecting complementizer, complementizer agreement) werfen dabei zwei Fragen auf: Handelt es sich bei besagtem Phänomen im Luxemburgischen tatsächlich um Flexion (Kapitel 9.1.1) und welche Nebensatzeinleitungen können einen solchen Marker erhalten (Kapitel 9.1.2 und 9.1.3)? Da es sich bei diesen Morphemen aus struktureller Sicht nicht um echte Flexive handelt (was im Verlauf des Kapitels gezeigt werden wird), verwende ich den weiter gefassten Terminus „Marker“ bzw. „Flexionsmarker“.
1156Das letzte Unterkapitel (9.1.4) geht auf die Ausprägungen dieses Phänomens in deutschen und niederländischen Varietäten ein. Die Zusammenfassung der Ergebnisse befindet sich am Ende des Gesamtkapitels (9.3).
9.1.1 Flexion oder Klitisierung?
1157Bei den so genannten „flektierenden“ Komplementierern handelt es sich um ein Schnittstellenphänomen
zwischen Morphologie und Syntax. Ihre Entwicklung und ihre Distribution verlaufen
über unterschiedliche Etappen der Reanalyse, bei denen Flexive und Klitika eine zentrale
Rolle spielen. Der Ursprung der „flektierenden“ Komplementierer liegt in einer Fehlsegmentierung
der Inversionsstellung mit klitischem Pronomen (2.Pers.Sg.) im Nebensatz (vgl. u.a. Rinas 2005). Hierdurch kommt es zum „shifting of the morpheme boundary
“ (Weiß 2005: 162).157 Die folgenden Stufen I-III erläutern diese Entwicklungen.
1158(319)Reanalyse und Entstehung der „flektierenden“ Komplementierer
I) Verbbasis+Verbalflexiv+Pronomen kann-s|de ‚kannst du’
II) reanalysiert zu Verb+Klitikon (de>sde) kann|sde
III) Verwendung hinter NS-Einleitung wann|sde ‚wenn-st du’
1159Das Verbalflexiv s wurde hier als Teil des klitischen Pronomens reanalysiert: de > sde. Diese Fehlsegmentierung führt dazu, dass sde fortan als klitisches Pronomen im Nebensatz verwendet werden kann (als Variante zu de) und sich in einem weiteren Schritt strukturell verfestigt hat (obligatorisch für die 2.Pers.Sg.). Der Ursprung liegt also bei einem Verbalflexiv, das durch Reanalyse das Stützwort gewechselt hat, sodass es nicht mehr an einem Verb, sondern an einem Pronomen hängt. Geht man nun davon aus, dass sde als „neue“ Variante eines klitischen Pronomens im Nebensatz agiert, kann es als klitisches Subjekt nur an der ersten Position im Mittelfeld stehen (zur Position von Pronomen vgl. Kapitel 6 und 7). Da die linke Klammer in einem Nebensatz von der Nebensatzeinleitung belegt wird, positioniert sich sde als klitisches Subjektpronomen unmittelbar hinter der linken Satzklammer und erweckt somit den Eindruck, der Komplementierer würde flektieren.158
1160(320)wann s de wëlls (Chat)
wenn #s# du willst
1161Dieses eingeschobene s führt allerdings nun zu der Frage, die Rinas (2005: 26) sehr treffend formuliert: „Ist die auf eine Konjunktion folgende Sequenz als Flexionsendung oder als enklitisches
Pronomen zu deuten?
“.
1162Bei den Beschreibungen dieser „flektierenden“ Komplementierer in deutschen Varietäten wurde diese Sequenz teilweise als Flexiv (u.a. Altmann 1984; Harnisch 1989) oder Klitikon kategorisiert (u.a. Bayer 1984; Werner 1988, zit. nach Nübling 1992: 118).159 In den luxemburgischen Grammatiken finden sich drei Haupttendenzen zur Kategorisierung der „flektierenden“ Komplementierer (Typ: datt s de), die es hier zu prüfen gilt:
- Vereinfachung der Aussprache durch Epenthese (vgl. Schanen & Zimmer 2012: 158; Braun et al. 2005: 22), demnach ohne syntaktische oder morphologische Zugehörigkeit
- Einordnung als Variante eines klitischen Pronomens ste<de (vgl. Bourg 1896: 333)160
- Zuordnung als Flexionsendung des Komplementierers (vgl. Bruch 1955: 87).
1164Die Epenthesenhypothese ist meines Erachtens zu vernachlässigen, schließlich erscheint der Einschub bei der 2. Person Singular in Form eines Frikativs (s) und in der 1. und 3. Person Plural als silbisches en (durch die n-Regel kann aus en je nach Folgekontext ein einfaches Schwa werden). Es lässt sich zudem keine Systematik erkennen, warum in diesen und nicht in anderen Kontexten ein oder mehrere Laute eingeschoben werden müssen. So zeigt etwa die 1. Person Singular auch ein en-Flexiv am Verb (datt ech laf-en / datt (e)mir laf-en ‚dass ich laufe / dass (#e#) wir laufen’), löst jedoch keine Kongruenz an der NS-Einleitung aus (*datt en ech lafen ‚dass #en# ich laufe’). Dies wäre demzufolge ein Argument gegen die These, dass es sich bei diesen eingeschobenen Elementen um eine phonologische Vereinfachung handelt. Außerdem wird bei Schanen & Zimmer (2012) nicht beschrieben, in welchen phonologischen Kontexten die Aussprache „vereinfacht“ werden soll. Auch über die Komplementiererkongruenz hinaus gibt es im Luxemburgischen kaum Fälle, in denen aufeinandertreffende Vokale oder Konsonanten durch Epenthese vermieden werden.161
1165In einer vergleichsweise alten Beschreibung des Luxemburgischen weist Bourg (1896: 333) darauf hin, dass ste ein klitisches Pronomen ist, welches sich „durch Ausgleichung
“ aus dem klitischen Pronomen de/te hinter Verbalformen gebildet hat. Damit zeichnet er bereits 1896 die Reanalyse dieses
Phänomens nach. Der Autor markiert die Klise auch grafisch, indem er die Wörter zusammenschreibt:
baste, könsde (‚biste’, ‚kommste’). Er erwähnt jedoch nur eine ste-Verwendung hinter Adverbien und Konjunktionen und nennt dabei die folgenden zwei
Beispiele: wanste ‚wenn-s-du’ undwôste ‚wo-s-du’. Orthografisch hat sich eine ste-Schreibung im Luxemburgischen jedoch nicht durchgesetzt. In der luxemburgischen Orthografie
(1999) werden s- und en-Marker sowie klitische Pronomen im Allgemeinen stets getrennt geschrieben (vgl. (321)).
1166(321)wann s de mer se gëss
wenn #s# du mir sie gibst
1167Im Alltag wird die Wortkombination wann s de entgegen der geltenden Orthografie häufig zusammengeschrieben oder durch Apostroph markiert (wannsde, wann’s de). Eine grafische Anheftung an das Pronomen (Typ: wann sde / wann ste) bildet dabei eher eine Ausnahme im Korpus.
1168Leider führt Bourg (1896) die Idee des Klitikons nicht weiter aus und erwähnt keine entsprechende klitische Variante für Pluralformen. Seine Klitikon-Hypothese wird unberechtigterweise in keiner anderen luxemburgischen Grammatik erwähnt oder weitergeführt.
1169Für Bruch (1955: 87) handelt es sich um „Flexion der Pronomina, Adverbien und Konjunktionen
“, da sie die Flexionsendungen der jeweiligen Verben reproduzieren. Seine Darstellung
fällt jedoch wie bei den anderen Werken leider sehr kurz aus.
1170Neben der terminologischen Diskussion stellt sich für die Darstellung einer Sequenz des Typs wann s de wëlls ‚wenn du willst’ auch die Frage, inwiefern der Flexionsmarker (in diesem Fall s) im topologischen Feldermodell als Teil der linken Klammer, als isoliertes Element oder als Teil des Mittelfeldes gelten kann. Da ich davon ausgehe, dass es sich um einen isolierten Flexionsmarker handelt, der eine feste syntaktische Position hinter der linken Klammer einnimmt (was in diesem Kapitel anhand von Beispielen substantiiert wird), wird eine neue Position im Feldermodell eröffnet und als „FM“ für Flexionsmarker markiert. Dieses neue Feld ist eine Anpassung des topologischen Feldermodells an die strukturellen Eigenschaften der luxemburgischen Sprache und kann in der vorliegenden Arbeit zusätzlich helfen, die aufgeführten Beispielsätze besser darstellen zu können.
VF | LK | FM | MF | RK | NF |
wann | s | de | wëlls |
1171Anhand von gezielten Beispielen aus dem Korpus werden nun Argumente aufgeführt, warum dieser Flexionsmarker im Grunde genommen weder ein Flexiv der NS-Einleitung noch ein Teil des klitischen Pronomens de ist. Zunächst soll – basierend auf den theoretischen Überlegungen von Zwicky & Pullum (1983), Nübling (1992; 1998) und Rinas (2005) – gezeigt werden, warum dieser Flexionsmarker kein Flexiv des Komplementierers sein kann.162
1172„Komplementiererflexion“ zeigt kein einheitliches Paradigma und unterliegt keiner einheitlichen Obligatorik, schließlich gibt es bloß einen obligatorischen und zwei fakultative Flexionsmarker. Handelte es sich um echte Flexion, so müssten auch andere Personen und Numeri entsprechend am Komplementierer markiert werden. Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht der Flexionsmarker im Zusammenhang mit einem datt-Nebensatz und dem Verb laachen ‚lachen’ für alle Personen und Numeri. Die Inversionsstellung soll dabei den zuvor erwähnten Wechsel des Stützwortes (von Verb zu NS-Einleitung) verdeutlichen.
Inversionsstellung | NS-Struktur | Flexionsmarker | |
ech | laach-en ech | datt Ø ech laachen | Ø |
du | laach-s du | datt s du laachs | s (obligatorisch) |
hien/hatt/si | laach-t hien | datt Ø hie laacht | Ø |
mir | laach-e mir | datt (e) mir laachen | e (fakultativ) |
dir | laach-t dir | datt Ø dir laacht | Ø |
si | laach-en si | datt (en) si laachen | en (fakultativ) |
1173Das Paradigma der Flexionsmarker ist somit defektiv, was sich auch in anderen Varietäten manifestiert und zu den Grundeigenschaften dieses Phänomens gehört (vgl. Kapitel 9.1.4). Darüber hinaus wird deutlich, dass der Flexionsmarker nicht als reines Epenthese-Phänomen gewertet werden kann, da innerhalb dieses Paradigmas häufig zwei Konsonanten aufeinandertreffen, jedoch nur bei bestimmten Pronomen (du,mir,si) ein Flexionsmarker gesetzt wird (obligatorisch oder fakultativ).
1174Flexive sind außerdem sehr selektiv in Bezug auf ihre Basis, d.h. sie können nicht an beliebige Wortarten angehängt werden (vgl. Zwicky & Pullum 1983: 503; Nübling 1998: 271). Der Flexionsmarker s flektiert allerdings nicht bestimmte Wortarten, sondern positioniert sich hinter das nebensatzeinleitende Element (den Komplementierer), das wie im folgenden Beispiel auch eine Phrase sein kann (eine systematische Beschreibung findet sich unter (B)). Etwas anders verhält es sich mit dem en-Marker, denn dieser findet sich meistens nach einfachen (und meist einsilbigen) Subjunktionen und nicht nach Phrasen (vgl. Kapitel 9.1.3).
1175(322)Wéieng Foto s de solls eroplueden (Internet)
Welches Foto #s# du sollst hochladen
1176Dass Subjunktionen nicht als Wortart flektieren, zeigt auch der folgende Beleg. In Beispiel (323) finden sich zwei durch die Konjunktion an ‚und’ verbundene Subjunktionen: mat wiem a wat ‚mit wem und was’. Da der Flexionsmarker unmittelbar nach der linken Klammer stehen muss, steht das s hinter wat. Würden Subjunktionen flektieren, so müssten beide Subjunktionen einen entsprechendes Flexiv erhalten, was sie in den nicht koordinierten Kontexten in (a) und (b) auch tun. Somit löst nicht die Subjunktion das s aus, sondern die syntaktische Position sowie die Nähe zum Pronomen de ‚du’.
1177(323)dass de net méi weess [mat wiem a wat’]s de kanns schwätzen (Online-Kommentar)
dass du nicht mehr weißt mit wem und was'#s# du kannst sprechen
a) [mat wiem] s de kanns schwätzen
b) [wat] s de kanns schwätzen
VF | LK | FM | MF | RK | NF |
mat wiem a wat | s | de | kanns schwätzen |
1178Ein weiteres Argument, das gegen s als Flexiv spricht, zeigt sich bei einem Satz wie (324), denn hier findet sich ein
s-Marker, der nicht mit dem Subjekt kongruiert (das Subjekt lautet hier du an ech ‚du und ich’ und das bezügliche Verb steht im Plural). In diesem Fall handelt es
sich nicht um eine „lexikalische Kopie
“ der Flexionsendung des Verbs ({s}≠{en}). Was dieses s auslöst, ist die Adjazenz zum Pronomen du.
1179(324)Awer wat's du an ech mengen ass net wichteg fir si (Online-Kommentar)
Aber was#s# du und ich meinen ist nicht wichtig für sie
1180In einem Nebensatz mit Flexionsmarker gelten für das Luxemburgische (wie auch für
andere Sprachen, die dieses Phänomen teilen) „quite strict adjacency requirements
“ (vgl. Brandner 2011: o.S.), was ich im Folgenden als „Adjazenzbedingung“ bezeichnen möchte. Zentral bei der
FM-Position ist demnach, dass die du/de-Form unmittelbar auf den Flexionsmarker folgt (hierzu existieren vereinzelte Ausnahmen,
auf die ich im weiteren Verlauf eingehen werde). Für den en-Marker gelten zum Teil andere Kriterien, die in Kapitel 9.1.3 näher beschrieben werden,
sodass die folgenden Überlegungen primär auf den Eigenschaften des obligatorischen
s-Markers beruhen.163 Die FM-Position ist dabei auch für einen entsprechenden Pluralmarker verfügbar.
1181Eine Zuordnung als Flexiv wirkt aufgrund der hier aufgeführten Erklärungen wenig plausibel. Der Flexionsmarker s erfüllt kaum eine der „typischen“ Eigenschaften von Flexiven, bis auf die Tatsache, dass es sich ursprünglich um ein reanalysiertes Verbalflexiv handelt:
- geringe Obligatorik, defektives Paradigma
- starke Selektivität, keine einheitliche flektierende Wortklasse (u.a. kann s auch an ganze Phrasen angehängt werden, vgl. Punkt (B)).
- Kongruenz wird nicht immer eingehalten, Adjazenz wirkt mitunter stärker als Kongruenz (wat s du an ech mengen),
1183Doch auch die Einordnung von s (bzw. sde/ste) als Klitikon ist nicht unproblematisch. Genau genommen gibt es zwei Argumente gegen eine solche Kategorisierung: Zum einen kann das auf s folgende Pronomen voll oder klitisch sein (du/de) und zum anderen können sich einzelne Partikeln zwischen s und du/de schieben, wodurch die vermeintlich klitische Einheit aufgebrochen wird (hier kommt es mitunter zu Schwankungsfällen).
1184Der s-Marker kann nicht nur mit der klitischen Variante de, sondern auch mit der vollen Form du verwendet werden.
1185(325)do, wou s [du/de] méi verdéngs
dort, wo #s# duVOLL/deKLIT mehr verdienst
1186Um dies quantitativ zu untermauern, wurden 3414 Nebensätze mit dem s-Marker (2.Pers.Sg.) ausgewertet: In 61,8 % (n= 2109) steht eine klitische Form (s de) und in 38,2 % (n=1305) eine volle (s du). Wäre s Teil eines klitischen Pronomens, wäre eine starke Form an dieser Stelle ausgeschlossen. Strukturell scheint sich der s-Marker demnach vom Personalpronomen zu lösen. Beim en-Marker zeigt sich eine noch drastischere Entwicklung, da er auch in Nebensätzen mit nominalen Subjekten (im Plural) verwendet werden kann.
1187(326)kuckt, dassen d’Loyeren erofgin (Online-Kommentar)
schaut, dass#en# die Mieten runtergehen
1188Auch der mögliche Einschub von Partikeln stellt die Klitisierung von s-Marker und Pronomen infrage und relativiert zugleich die zuvor formulierte Adjazenzbedingung (es finden sich keine entsprechenden Belege für den en-Marker). Satz (327) zeigt, dass der s-Marker trotz eingeschobener Partikel (och ‚auch’) hinter der NS-Einleitung steht, wodurch keine Adjazenz mehr besteht.
1189(327)dann wëssen mir, daats och Du no éis verlaangers. (Online-Kommentar)
dann wissen wir, dass#s# auch du nach uns verlangst
‚dann wissen wir, dass auch du dich nach uns sehnst’
1190Eigentlich wäre in einem Nebensatz ohne adjazentes du-Pronomen ein nicht realisierter Marker zu erwarten, wie bei Satz (328) und (329).
1191(328)meng fréier Aarbechtskollegen, zu deenen Ø och du geheiers. (Online-Kommentar)
meine früheren Arbeitskollegen, zu denen auch du gehörst
1192(329)eng konscht [...] dei Ø wei et schengt och du net beherrschs (Chat)
eine Kunst [..] die wie es scheint auch du nicht beherrschst
1193Dass ein Satz wie (327) dennoch möglich ist, zeigt, dass der s-Marker trotz Distanzstellung zum du-Pronomen realisiert werden kann, was das Prinzip der syntaktischen Fixierung auf die FM-Position unterstützt. Außerdem wird deutlich, dass die Adjazenz von Marker und Pronomen teilweise aufgehoben werden kann. Inwiefern Sätze wie (327) als Ausnahme oder Regelfall gelten, kann hier nicht überprüft werden, da sich im Korpus zu wenige vergleichbare Kontexte finden und auch negative Evidenz getestet werden müsste.
1194Eine eindeutige Zuordnung als Klitikon ist demnach nicht möglich, da der Flexionsmarker ebenso wenig die „typischen“ Eigenschaften von Klitika erfüllt:
- keine phonologische Reduktion bei der klitischen Einheit, mögliches Stützwort kann auch ein volles Pronomen (du) oder ein nominales Subjekt sein
- geringe Abhängigkeit zum Stützwort, Adjazenz zum Stützwort kann durch Partikeln (Bsp. och ‚auch’) unterbrochen werden
1196Der Ursprung dieses Flexionsmarkers liegt also bei einem Verbalflexiv, das zu einem Klitikon reanalysiert und sich schließlich als Flexionsmarker an der syntaktischen Position zwischen linker Klammer und Mittelfeld verfestigt hat. Beim s-Marker handelt es sich nicht um eine morphologische Eigenschaft der NS-Einleitung, sondern um eine syntaktische Eigenschaft bestimmter Nebensätze. Neben den drei Hauptentwicklungsstufen (I-III), die zuvor beschrieben wurden, ergibt sich nun eine feinere Differenzierung von Stufe III sowie eine zusätzliche Stufe IV, die den Flexionsmarker an die Position bindet und ihn für sämtliche Nebensatzeinleitungen verfügbar macht.
1197(330)Entwicklung des Flexionsmarkers s (Stufe I-IV)
I) Verbbasis+Verbalflexiv+Pronomen kann-s|de
II) reanalysiert zu Verb+Klitikon (de>sde) kann|sde
III) Verwendung hinter einfacher Subjunktion wann|sde
IV) Verfestigung des Flexionsmarkers auf syntaktische Position mit Adjazenzbedingung
(verschiedene NS-Einleitungen möglich)
ëm wéivill Auer s du/de
um wieviel Uhr #s# du
1198Dieser Marker kongruiert in Person und Numerus obligatorisch mit der 2. Person Singular und fakultativ mit der 1. und 3. Person Plural (Kapitel 9.1.3 wird zeigen, dass bei diesem Marker Stufe IV nicht durchgeführt wurde). Alle anderen Personen und Numeri zeigen keine Kongruenz. Dieses defektive Paradigma gilt allgemein als Grundeigenschaft dieses Phänomens (vgl. u.a. Hoekstra & Smits 1998; Brandner 2011).
1199Die Frage, ob es sich bei den „flektierenden“ Komplementierern um Flexion handelt, kann somit verneint werden, doch auch der Status als Klitikon konnte nicht eindeutig festgelegt werden. Sowohl Flexive als auch Klitika brauchen ein Stützwort. Der Flexionsmarker erfüllt jedoch weder die strukturellen Bedingungen eines Flexivs noch diejenigen eines Klitikons. Durch die in diesem Kontext beschriebene Adjazenzbedingung (das jeweilige Subjekt steht in den meisten Fällen unmittelbar hinter dem Flexionsmarker) liegt eine Einordnung als Klitikon allerdings näher als eine Beschreibung als Flexiv. Insgesamt handelt es sich um einen syntaktisch gebundenen Flexionsmarker, der mit dem adjazenten Subjekt in Person und Numerus kongruiert und dabei die Form eines Verbalsuffixes annimmt. Auch Nübling (1992: 118-125) geht davon aus, dass dieser Marker einen Zwischenstatus zwischen einem Flexiv und einem Klitikon darstellt (vgl. auch Nübling 2008: 262f.). Aufgrund dieser syntaktischen Bindung und dem Status zwischen Flexiv und Klitikon macht es auf der linearen Satzebene durchaus Sinn, im topologischen Feldermodell von einer isolierten Flexionsmarker-Position auszugehen. Dieser Zwischenstatus spiegelt sich auch in der orthografischen Handhabung wider, bei der <s> als isoliertes Graphem geschrieben wird, zwischen NS-Einleitung und Pronomen.
1200Da zu diesem Phänomen bereits eine international etablierte Terminologie besteht, ist eine Beschreibung als „flektierende Nebensatzeinleitung“ (inflecting complementizer) oder als „Komplementiererkongruenz“ (complementizer agreement) prinzipiell nicht falsch, trifft aber in meinen Augen nicht den Kern des Phänomens.
9.1.2 Welche Nebensatzeinleitungen können einen s-Flexionsmarker erhalten?
1201Insgesamt kann der obligatorische s-Marker nach jedem Element stehen, das einen Nebensatz einleitet: Hierzu zählen Adverbien (331), Relativpronomen (332) oder Präpositionalphrasen (mit Nomen (333) oder Pronomen (334)).
1202(331)ech weess dach, wéi gär s de d’drauwen hues (Prosa)
ich weiß doch, wie gerne #s# du die Trauben hast
1203(332)dat si Saachen, déi s de dono ni méi brauchs (Interview)
das sind Sachen, die #s# du danach nie mehr brauchst
1204(333)ech war just net sëcher vu wéienger Regel s de schwätze giffs (Internet)
ich war mir bloß nicht sicher von welcher Regel #s# du sprechen würdest
1205(334)Dat Buch, op dat’s de referéiers (Online-Kommentar)
das Buch, auf das’#s# du referierst
1206Hier wird erneut deutlich, dass nicht eine bestimmte Wortart flektiert, sondern der Flexionsmarker eine feste syntaktische Position hat. Die Wortart, die sich linear vor dem Flexionsmarker befindet, muss demnach nicht immer eine Subjunktion sein.
VF | LK | FM | MF | RK | NF |
wéi gär | s | de d’Drauwen | hues | ||
déi | s | de dono ni méi | brauchs | ||
vu wéienger Regel | s | de | schwätze giffs | ||
op dat | s | de | referéiers |
1207Da der s-Marker an die syntaktische Position gebunden ist, kann er auch an entlehnte Nebensatzeinleitungen angehängt werden, wie Satz (335) zeigt. Hier wird das Fragepronomen why ‚warum’ aus dem Englischen entlehnt (in einem Chatgespräch, das häufig jugendsprachlich geprägt ist, sind solche Entlehnungen nicht ungewöhnlich) und der Flexionsmarker positioniert sich unmittelbar zwischen why und dem klitischen Subjektpronomen de.
1208(335)why s de midd bass (Chat)
warum/why #s# du müde bist
1209Neben dieser allgemeinen Regel sollen in diesem Kapitel weitere strukturelle Besonderheiten des s-Markers mit Beispielen erläutert werden: Komparativellipsen (mit einem und zwei Pronomen), Koordinationsellipsen (mit getilgter NS-Einleitung) sowie das Auslassen des s-Markers bei lautlicher Überschneidung.
1210Elliptische Vergleichssätze (Typ: wie du) erhalten einen obligatorischen s-Marker, wie der folgende Satz zeigt. In diesen Fällen muss immer das volle Pronomen du verwendet werden (vgl. Kapitel 6 zur Verteilung der Pronomen).
1211(336)Deen huet déiselwecht Zëmmerplanze wéi s du. (Prosa)
der hat dieselben Zimmerpflanzen wie #s# du
1212Komparativellipsen dienen im Allgemeinen dazu, Wiederholungen wie die folgende zu vermeiden: ‚der hat dieselben Zimmerpflanzen wie du (sie hast)’. Im Luxemburgischen sorgt die Adjazenz zum du-Pronomen allerdings dafür, dass der s-Marker gesetzt werden muss, selbst wenn das Verb und andere Satzteile im Nebensatz getilgt wurden. Auch wenn Brandner (2011) davon ausgeht, dass Komplementiererflexion nicht in elliptischen Vergleichssätzen vorkommen kann, so zeigen doch zahlreiche luxemburgische Belege, dass ein Flexionsmarker in diesen Fällen obligatorisch ist (*wéi du).
1213Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch elliptische Vergleichssätze mit den beiden koordinierten Pronomen du (2.Pers.Sg.) und ech (1.Pers.Sg.), da es bei komparativen Teilsätzen wie wéi (s) du an ech ‚wie du und ich’ zu Schwankungsfällen kommen kann. In den 25 Belegen im Korpus weisen 5 Belege einen s-Marker auf (wéi s du an ech), 20 hingegen bleiben unflektiert (wéi du an ech). Hier kollidiert offenbar die Adjazenzbedingung von s und du/de mit der Kongruenz des Flexionsmarkers, schließlich lautet das grammatische Subjekt in dieser Konstruktion nicht du, sondern du an ech ‚du und ich’, wodurch das Subjekt die 1. Person Plural bildet und demnach kein s auslöst. Diese Kollision spiegelt sich in der Unsicherheit der Sprecher wider, was in diesem Fall zu einer optionalen Verwendung des Flexionsmarkers führt.
1214(337)mee leider sin sou Leit (wéis du an ech) hei am Land zimlech rar geséint. (Online-Kommentar)
aber leider sind so Leute (wie#s# du und ich) hier im Land ziemlich rar gesät
1215Der s-Marker wird auch bei Koordinationsellipsen verwendet, d.h. bei koordinierten Nebensätzen bleibt das s stehen, selbst wenn die Subjunktion nicht realisiert wird.
1216(338)wellsde alles 2 mol geschriwwen hues ansde 2 mol gewarnt gin bass (Chat)
weil#s#du alles 2 mal geschrieben hast und#s#du 2 mal gewarnt worden bist
1217An der Satzoberfläche könnte hier der Eindruck entstehen, dass die Konjunktion an ‚und’ flektiert. In der Tiefenstruktur handelt es sich allerdings um die durch Koordinationsellipse ausgelassene Subjunktion well ‚weil’. Im topologischen Feldermodell wird deutlich, dass die FM-Position auch bei elliptischer Subjunktion mit dem s-Marker belegt werden muss (ein Auslassen wäre hier ungrammatisch).
VF | LK | FM | MF | RK | NF |
well | s | de alles 2 mol | geschriwwen hues | ||
an | Ø | s | de 2 mol | gewarnt gin bass |
1218Allein aus orthografischer Perspektive liegt für den s-Flexionsmarker eine Einschränkung vor. Endet die Nebensatzeinleitung auf <s>, <x> oder <z>, so wird kein zusätzliches s eingesetzt. Die folgenden Beispiele illustrieren zwei entsprechende Kontexte: In (339) findet sich das Nomen Holz und bei (340) die Subjunktion dass. Durch den Auslaut [ts] bei Holz sowie [s] bei dass wird der s-Marker nicht realisiert.164
1219(339)wéi vill Holz(=s) de verbrenns (wiss.Arbeit)
wie viel Holz du verbrennst
1220(340)merci dass(=s) de dat lo gesot hues (Chat)
danke dass du das jetzt gesagt hast
VF | LK | FM | MF | RK | NF |
wéivill Holz | (=s) | de | verbrenns | ||
dass | (=s) | de dat elo | gesot hues |
1221Interessant ist auch die Tatsache, dass dieses s nicht der im Luxemburgischen fest etablierten n-Regel unterliegt. Diese phonologische Regel besagt, dass [n] im Silbenauslaut vor [s] ausfällt.
1222(341)wa siwe Leit matkéimen (*wann siwen)
wenn sieben Leute mitkämen
1223Diese Regel greift allerdings nicht beim s-Marker, was bedeutet, dass beim s-Marker dieselben phonologischen Regeln wie bei einem Flexionssuffix angewendet werden, wie der Vergleich in (342) zeigt. Diese Beobachtung ändert jedoch nichts an der terminologischen Diskussion und soll nur als weiteres strukturelles Merkmal dienen.
1224(342)kanns de // wann s de (*wa s de)
kannst du // wenn #s# du
1225In der folgenden Tabelle werden die Belege nun systematisch nach Wortgruppen eingeteilt, um ein Gesamtbild des obligatorischen s-Flexionsmarkers bei der Nebensatzeinleitung zu erhalten. Subjunktionen, Relativpronomen, Relativpartikeln, Vergleichspartikeln sowie Fragepronomen können dabei Nebensätze einleiten. Andere Wortarten wie Adverbien, Adjektive, Präpositional- und Nominalphrasen müssen mit einem w-Wort (wéi, wéi eng ‚wie’, ‚welche’) kombiniert werden, um in der linken Klammer eines Nebensatzes stehen zu können.
NS-einleitendes Element | Beispiel | ||
Subjunktion | [ob] [wéini] | s de wëlls oder net165 s de kënns | |
Relativpronomen Relativpartikel | [déi] [deenen] [wou] | s de geléint hues s du wichteg bass s de ëmmer nees ee kenns | |
Vergleichspartikel (auch elliptisch) | [wéi] [wéi] | s du agestallt bass s du | |
Fragepronomen | [wien] [wien och ëmmer] | s de politesch bass s de domat mengs | |
w-Wort + | Adverb | [wéi gär] | s de d’Drauwen hues |
Adjektiv | [wéi schnell] | s de ënnerwee bass | |
Präp.-Phrase | [mat wéi engem Programm] [a wéi enger Regioun] | s de d’Foto gespäichert has s de dech beweegs | |
Nominal-Phrase | [wat fir eng Bicher] | s de lies |
9.1.3 Der fakultative en-Marker der 1. und 3. Person Plural
1226Im Luxemburgischen gibt es nicht nur den Flexionsmarker s in Nebensätzen, bei denen die 2. Person Singular das Subjekt bildet, sondern auch en, wenn das Subjekt in der 1. oder 3. Person Plural steht. (343) zeigt ein Beispiel mit dem Subjektpronomen mer ‚wir’ (1.Pers.Pl.) und in Satz (344) lautet das Subjekt se ‚sie’ (3.Pers.Pl.). In beiden Fällen steht der Flexionsmarker en bzw. e nach der Nebensatzeinleitung.
1227(343)alderem eppes méi wat e mer net brauchen (Online-Kommentar)
wieder=einmal etwas mehr was #e# wir nicht brauchen
1228(344)se kinnten maachen, wat en se wëllen (Online-Kommentar)
sie könnten machen, was #en# sie wollen
1229Dieses Kapitel soll vier zentrale Eigenschaften des en-Markers beschreiben:
- die Form des Markers (en vs.e)
- die verfügbaren Nebensatzeinleitungen, an die er angehängt werden kann
- die Verwendung mit nicht pronominalen Subjekten und
- der fakultative Gebrauch und mögliche Homonymien des en-Markers.
1231Das bewegliche n des en-Markers
1232Der Flexionsmarker für die 1. und 3. Person Plural äußert sich je nach phonologischem Kontext als en oder bei applizierter n-Regel166 als e. Bei der 1. Person Plural (mir/mer) lautet das Flexiv aufgrund der n-Regel e, da [n] vor [m] entfällt (vgl. (343)).167 Ein Flexionsmarker, der nur aus einem Schwa besteht, hat eine stark reduzierte phonologische Substanz, was eine mögliche Erklärung dafür sein könnte, warum sich in den Daten keine e-Flexionsmarker hinter NS-Einleitungen findet, die einen Vokal oder Diphthong im Auslaut tragen wie das temporale w-Pronomen wou ‚wo’.168
1233(345)an der vakanz wou Ø mer op metz waren (Chat)
in dem urlaub wo Ø wir nach metz waren
?an der Vakanz wou e mer op Metz waren
1234Bei der 3. Person Plural (si/se) lautet der Flexionsmarker en. Die n-Regel sieht vor, dass [n] im Auslaut vor [s] ausfällt. Als Ausnahme gelten jedoch Personal- und Reflexivpronomen mit [s] im Anlaut: si, se und sech, d.h. vor einem Pronomen mit initialem s kann ein n im Auslaut optional realisiert werden. Obwohl das [n] des Flexionsmarkers en vor dem Pronomen si/se (3.Pers.Pl.) optional ist, finden sich im Korpus keine Belege mit angewandter n-Regel, sodass der Marker vor si/se immer als en realisiert wird.
1235(346)dassen se Geld ausgin fir eng Hochzeit (Online-Kommentar)
dass#en# sie Geld ausgeben für eine Hochzeit
1236Verfügbare Nebensatzeinleitungen für den en-Flexionsmarker
1237Im Gegensatz zum s-Marker, der eine feste syntaktische Position inne hat und an sämtliche nebensatzeinleitende Elemente angehängt werden kann, ist der en-Marker deutlich selektiver in Bezug auf die NS-Einleitungen. Diese stärkere Selektivität könnte ein Indiz dafür sein, dass er sich im Gegensatz zum s-Marker eher wie ein Flexiv verhält (vgl. Zwicky & Pullum 1983: 503; Nübling 1998: 271). Aus den vorläufigen Beobachtungen der extrahierten Korpusbelege geht hervor, dass vor allem kurze, meist einsilbige Nebensatzeinleitungen in Kombination mit dem Flexionsmarker en auftreten (durch die Fakultativität ergeben sich deutlich weniger Belege als für den s-Marker). Dabei handelt es sich meistens um kurze w-Wörter und Subjunktionen. Die Beispiele (347) und (348) zeigen den Flexionsmarker im Zusammenhang mit der 1. Person Plural. Hier steht das e-Flexiv nach den Subjunktionen well ‚weil’ und dass ‚dass’. Dass (und die Variante datt) stellen dabei den häufigsten Typ dar.
1238(347)well e mer an enger 'Utopie' liewen (Online-Kommentar)
weil #e# wir in einer Utopie leben
1239(348)dass e mer alleguer Pflichten an Rechter vis-à-vis vum Staat hun (Online-Kommentar)
dass #e# wir alle Pflichten und Rechte gegenüber vom Staat haben
1240Daneben finden sich auch mit dass/datt zusammengesetzte Subjunktionen, wie zum Beispiel fir dass/fir datt ‚für dass’ (=damit).
1241(349)fir dasse mer och sulues weider kommen (Internet)
für dass#e# wir auch so=langsam weiter kommen
1242Der en-Marker der 3. Person Plural steht ebenfalls in den meisten Fällen nach einsilbigen Nebensatzeinleitungen, wie etwa hinter dem w-Pronomen wat ‚was’ (in (350) in der Rolle als Relativpronomen).
1243(350)wat en se jo gewinnt sin (Online-Kommentar)
was #en# sie ja gewohnt sind
1244In diesem Fall finden sich auch NS-Einleitungen, die auf einen Vokal bzw. Diphthong auslauten (wie etwa wou ‚wo’).
1245(351)wou'en se sollen sin (Online-Kommentar)
wou'#en# sie sollen sein
1246Ein Beispiel für den Gebrauch des Markers in einer Vergleichsellipse liegt nicht vor und wird auch von den sechs informell befragten Sprecherinnen abgelehnt (*besser wéi en si ‚besser als sie’). Auch der Einschub von Partikeln vor dem Subjekt (Typ: datt en och si ‚dass #en# auch sie’) konnte nicht im Korpus nachgewiesen werden. Der Einsatz des en-Markers vor och si ‚auch sie’ wird allerdings von allen befragten Sprecherinnen als akzeptabel bewertet.
1247Kongruenz mit nicht pronominalen Satzgliedern
1248Eine weitere Besonderheit des Flexionsmarkers der 3. Person Plural ist die Tatsache, dass das Subjekt auch ein nominales Satzglied sein kann und dennoch ein en-Marker verwendet wird. In den Daten finden sich zahlreiche Beispiele mit indefiniten und definiten nicht pronominalen Subjekten in Kombination mit dem Flexionsmarker.
1249(352)fir dassen eis Politiker gutt do stinn (Online-Kommentar)
für dass#en# unsere Politiker gut da stehen
1250(353)Datten di Jongen emmer Beweiser brauchen (Chat)
dass#en# die Jungs immer Beweise brauchen
1251Dies macht deutlich, dass der Pluralmarker en im Gegensatz zum Singularmarker s keiner Adjazenzbedingung des jeweiligen Pronomens unterliegt. Dazu sollte allerdings erwähnt werden, dass allein Pronomen der 3. Person über die Möglichkeit verfügen, einen nominalen Referenten zu haben (da diese Pronomen referentiell sind, die Pronomen der 1. und 2. Person hingegen deiktisch, vgl. Kapitel 6.2). Demnach können überhaupt keine nominalen Subjekte für den s-Marker zur Verfügung stehen. Dennoch zeigt der Gebrauch des en-Markers mit Substantiven, dass sich die ehemalige klitische Einheit (ense) auflösen und der en-Marker isoliert werden kann.
1252Die Entwicklung des Flexionsmarkers en verläuft demzufolge ähnlich wie bei der 2. Person Singular (vgl. (330)), wobei sich hier zunächst nur drei Stufen abzeichnen.
1253(354)Entwicklung des Flexionsmarkers en
I) Verbbasis+Verbalflexiv+Pronomen kënn-en|se
II) reanalysiert zu Verb+Klitikon (se>ense) kënn|ense
III) Verwendung hinter einfacher Subjunktion datt|ense
1254Der Flexionsmarker der 1. und 3. Person Plural verhält sich in drei Punkten anders als bei der 2. Person Singular: Erstens ist der en-Marker fakultativ. Zweitens ist der Pluralmarker sehr selektiv in Bezug auf den Komplementierer: Er kann sich nur hinter einfache Subjunktionen und nicht hinter Phrasen positionieren. Drittens können auch nicht pronominale Subjekte kongruieren, d.h., dass es bei der 3. Person Plural kein adjazentes Personalpronomen geben muss.
1255Fakultative Verwendung und mögliche Homonymien
1256Eine große methodische Hürde stellen in dieser Analyse die Optionalität und mögliche Homonymien des en-Markers dar. Die Beschaffenheit des Korpus und die Fakultativität des Markers ermöglichen es leider nicht, den restriktiven Gebrauch systematisch zu untersuchen. Das Hauptproblem ist sind zudem Homonymien mit anderen Pronomen. Einerseits ist die Form des Flexionsmarkers en gleichlautend mit dem schwachen Personalpronomen en (3.Pers.Sg.Mask.), zumal beide in Nebensätzen an der gleichen Position auftreten (vgl. (355)), nämlich unmittelbar nach der NS-Einleitung (das Pronomen als Subjekt und der Marker an der FM-Position). Andererseits sind die Personalpronomen mir/mer (1.Pers.Pl.Nom./Akk.) und si/se homonym zu Dativ- oder Akkusativobjekten im Pronominalparadigma. Demnach entspricht mir/mer auch einem Dativpronomen der 1.Person Singular und si/se könnte auch ein Akkusativpronomen darstellen. Die folgenden beiden Beispiele sollen dies verdeutlichen. Satz (a) zeigt jeweils einen Satz mit einfachen Personalpronomen, Satz (b) hingegen einen gleichlautenden Satzanfang mit einem Flexionsmarker. Allein die Verbflexion (Singular oder Plural) gibt Auskunft über die Lesart des Satzes.169
1257(355)a) dass e mer hëlleft
dass er mir hilft
b) dass e mer hëllefen
dass #e# wir helfen
1258(356)a) dass en se siche geet
dass er sie suchen geht
b) dass en se siche ginn
dass #en# sie suchen gehen
1259Für die Analyse bedeutet dies, dass eine Korpussuchanfrage des Typs dass e mer eine Vielzahl an unpassenden Kontexten liefert, die ohne technische Hilfsmittel (wie zum Beispiel ein Annotationsprogramm) kaum händelbar sind (vgl. dazu Kapitel 3.2). Durch die Optionalität des Markers und die allgemein geringe Anzahl an Belegen mit Flexionsmarkern im Plural können somit keine gezielten Analysen durchgeführt werden.
1260Die einzige Aussage, die in Bezug auf die Variation des en-Markers getroffen werden kann, ist die Intra-Sprecher-Variation des Phänomens. Der folgende Beleg zeigt, dass derselbe Sprecher innerhalb eines Satzes den en-Marker im ersten Teilsatz setzt und im anschließenden Nebensatz auslässt (bei einer identischen Subjunktion dass).
1261(357)dassen verschieden leit faerten dass Ø se keinten verletzt gin (Online-Kommentar)
dass#en# verschiedene Leute fürchten dass Ø die könnten verletzt werden
1262Das vorliegende Kapitel sollte einen ersten Einblick in den fakultativen Gebrauch der Flexionsmarker der 1. und 3. Person Plural liefern. Aufgrund methodischer Hürden konnten keine umfassenden Daten wie beim obligatorischen s-Marker präsentiert werden. Auf diesen ersten Erkenntnissen basierend könnten jedoch weitere Tests (Bewertungs- oder Produktionstests) ausgearbeitet werden, um mehr über die Systematik und die Optionalität des en-Markers zu erfahren.
9.1.4 Komplementiererkongruenz in westgermanischen Varietäten
1263Abschließend soll noch kurz ein Blick über das Luxemburgische hinaus geworfen werden, denn auch deutsche und niederländische Varietäten verfügen über kongruierende Komplementierer. Die Terminologie (Flexiv, Klitikon) ist für die deutschen Dialekte kontrovers diskutiert worden (zur Diskussion vgl. Rinas 2005), schließlich richtet sich der Terminus auch nach den strukturellen Ausprägungen des Phänomens in den jeweiligen Varietäten. Ich möchte bei dieser kurzen vergleichenden Darstellung bei der hier verwendeten Terminologie der Flexionsmarker bleiben, auch wenn dies unter Umständen den Einzelsprachen nicht gerecht wird.
1264Flexionsmarker stellen im Allgemeinen eine typologische Rarität dar. Zudem sind sie weder für das Standarddeutsche noch für das Standardniederländische belegt, d.h. es handelt sich um ein dialektales Strukturmerkmal (vgl. Barbiers et al. 2008a: 12). Für das deutsche Sprachgebiet liegt leider keine Studie vor, welche die areale Verteilung des Phänomens genauer untersucht. Bedauerlicherweise findet sich auch kein Wenkersatz mit passendem syntaktischen Kontext für einen Flexionsmarker.
1265Weiß (2005) zeigt anhand von Einzelbeschreibungen aus der Forschung und Dialektgrammatiken,
in welchen Dialektgebieten Flexionsmarker belegt sind. In seiner stichprobenhaften
Untersuchung findet er für das deutsche Sprachgebiet Belege aus dem Westfälischen,
Niederfränkischen, Obersächsischen, Thüringischen, Ostfränkischen sowie aus dem Nord-
und Mittelbairischen (vgl. Weiß 2005), sodass sich nur ansatzweise Isoglossen erstellen lassen (vornehmlich im mittleren
Teil Deutschlands mit westlichen Ausläufern Richtung Österreich und Niederlande).
Für den niederländischen Sprachraum zeigen Barbiers et al. (2005a) in ihrem umfangreichen syntaktischen Atlas (SAND), dass complementizer agreement in vielen Dialektgebieten vorkommt, wobei die Ausprägungen jeweils variieren können
in Bezug auf Person-Numerus-Kongruenz und in Bezug auf die Obligatorik. Bei der so
genannten „Synthese-Karte
“ (Barbiers et al. 2005a: 19) sowie in der Darstellung von De Vogelaer et al. (2006) zeigt sich, dass der südliche Kern des Sprachgebiets (ein breiter Streifen von Utrecht
bis Vlaams-Brabant) sowie die Region Drenthe keine Flexionsmarker im Nebensatz aufweisen.
Die direkt angrenzenden Gebiete zeigen optionale Marker und die obligatorischen Marker
zeigen sich vor allem am „Rand“ des Gebiets, genauer in Flandern, Belgisch Limburg
sowie in Groningen, einem Teil von Friesland und im östlichen Teil von Overijssel.
Wie man auf der Karte von de Vogelaer et al. (2006: 215) erkennen kann, liegen für manche Gebiete auch komplette Paradigmen für den Flexionsmarker
vor (volledig paradigma). Viele Gebiete zeigen allerdings nur den Flexionsmarker für die 2. Person Singular
(2enk.st(e)) und sind somit paradigmatisch defektiv.170
1266Nachdem die areale Verteilung beschrieben wurde, gilt die Aufmerksamkeit nun den strukturellen Eigenschaften der Flexionsmarker in den jeweiligen Dialekten. Viele der zuvor für das Luxemburgische gezeigten Einzelausprägungen der Flexionsmarker finden sich auch in anderen Varietäten. Vor allem aus der Perspektive der generativen Grammatik wurde in den vergangenen Jahrzehnten viel Forschungsarbeit zu den Flexionsmarkern im Bairischen geleistet (vgl. u.a. Bayer 1984; Weiß 1998; Fuß 2014). Das Bairische zeigt Kongruenz bei der NS-Einleitung für die 2. Person Singular (vgl. (358)) und für alle Pluralformen (vgl. 2.Pers.Pl. in (359)) (vgl. Bayer 1984: 237).
1267(358)ob-st no Minga kumm-st (Bayer 1984: 240)
ob#st# nach München kommst
1268Da Bairisch pro-drop aufweist und Subjektpronomen demnach ausgelassen werden können, sind auch kurze Konstruktionen wie wennsd mogsd möglich, was im Luxemburgischen nicht zulässig ist.171 Im Bairischen kann der Flexionsmarker auch an nebensatzeinleitende Phrasen angehängt werden, wie der folgende Beleg zeigt.
1269(359)wia schnäi-ts ihr fahr-ts (Bayer 1984: 235)
wie schnell-#ts# ihr fahr-t
1270Ein weiterer Unterschied zwischen den luxemburgischen und den deutschen Markern ist allerdings, dass der luxemburgische s-Marker auch in elliptischen Vergleichssätzen verwendet werden kann. Belege aus dem Bairischen liefert in diesem Fall Bayer (1984; 2013). Demnach werden diese Ellipsen ungrammatisch, sobald ein entsprechender Flexionsmarker eingefügt wird.
1271(360)a) D’Resl is gresser [als wia-Ø du Ø] (Bayer 1984: 269)
b) *D’Resl is gresser [als wia-st du Ø] (ebd.)
*Die Resl ist größer als wie-#st# du Ø
1272Ist das finite Verb allerdings realisiert, muss der s-Marker erneut eingesetzt werden.
1273(361)D’Resl is gresser [als wia-st du bist] (ebd.)
1274Im Luxemburgischen hingegen ist der Flexionsmarker in einer Komparativellipse bei der 2. Person Singular obligatorisch: wéi s du (*wéi du).
1275Neben dem Bairischen finden sich auch Beispiele aus dem Nieder- (362) und Ostfränkischen (363) (Mühlheim an der Ruhr und Coburg) (vgl. Weiß 2005: 150f.).
1276(362)datste (Maurmann 1898: 68, zit. nach Weiß 2005: 150)
dass#s#du
1277(363)wailn-me / wailn-sa (Rowley 1994, zit. nach Weiß 2005: 151)
weil#n#-wir / weil#n#-sie
1278In der Belegsammlung bei Weiß (2005: 151) wird die allgemeine paradigmatische Defektivität dieser „Flexion“ deutlich: der
s(t)-Marker der 2. Person Singular in den betroffenen Dialekten stets zum Grundinventar
der Komplementiererflexion gehört, was Weiß (2005: 149) als „minimal form of the phenomenon
“ bezeichnet. Auch Pluralformen kongruieren häufig mit dem Subjekt. Dabei fällt auf,
dass der niederfränkische Dialekt von Mühlheim nur einen Flexionsmarker für die 2.
Person Singular aufweist. Als moselfränkische Varietät zeigt das Luxemburgische zusätzlich
einen Marker für die 1. und 3. Person Plural und im Ostfränkischen ist zudem ein t-Marker für die 2. Person Plural belegt (vgl. Weiß 2005: 151). Es gibt allerdings eine phonologische Erklärung, weshalb das Luxemburgische keinen
t-Marker für die 2. Person Plural kennt: Ein solcher t-Marker ist im Luxemburgischen nicht zu erwarten, da das entsprechende Pronomen hier
dir/der lautet und bereits durch den reanalysierten Plosiv in Inversionsstellung (laacht|er > laacht|der ‚lacht ihr’) keine zusätzliche Markierung durch einen Plosiv benötigt, da der Plosiv
bereits zum Pronomen gehört (well der ‚weil ihr’). Im Ostfränkischen hingegen lautet das klitische Pronomen ë, eine Form ohne Plosiv im Anlaut, sodass hier die Verbalendung als Flexionsmarker
zwischen Subjunktion und Pronomen gestellt werden kann: wailt-ë ‚weil#t#-ihr’ (Beleg nach Rowley 1994, zit. nach Weiß 2005: 151).
1279Eine ausführliche Beschreibung der Flexionsmarker der niederländischen Dialekte liefern Zwart (1993) sowie Hoekstra & Smits (1998). An dieser Stelle werden allerdings nur einzelne exemplarische Belege gezeigt. Wie bereits in der Karte von De Vogelaer et al. (2006) ersichtlich wurde, dominieren im Niederländischen die Flexionsmarker der 2. Person Singular (Beleg aus Groningen).
1280(364)of-s toe koms (Zwart 1993: 153)
ob-#s# du kommst
1281Darüber hinaus ist der Pluralmarker für die 3. Person Plural (n) wie im Luxemburgischen auch mit nicht pronominalen Subjekten möglich (vgl. Barbiers et al. 2008a: 12).
1282(365)Hij gelooft dan Bart en Peter sterker zijn as Geert en Jan.
Er glaubt dass#n# Bart und Peter stärker sind als Gert und Jan.
1283Interessant ist auch ein Beleg von van Koppen (2005: 63) aus der Provinz Limburg (Waubach), der zeigt, dass auch im Niederländischen die Adjazenzbedingung zum Pronomen der 2. Person Singular zum Flexionsmarker einen größeren Einfluss ausübt als die tatsächliche Kongruenz mit dem grammatischen Subjekt. Im folgenden Beleg gibt es demnach keine „Kongruenz“ zwischen NS-Einleitung und Verb, sodass der s-Marker allein durch die Nähe zum doe-Pronomen ausgelöst wird. Dies wurde auch in den luxemburgischen Belegen mit der Konstruktion mit koordinierten Pronomen (wéi s du an ech) gezeigt.
1284(366)de-s doe en Marie uch ken-t (Van Koppen 2005: 63)
dass-#s# du und Marie euch kenn-t
1285Ziel dieses Übersichtskapitels war es, das Phänomen der Flexionsmarker in seiner arealen Verteilung sowie in seinen strukturellen Ausprägungen etwas besser verstehen zu können. Aus arealer Perspektive wurde deutlich, dass sich das Gebiet etwa von den Niederlanden in einem breiten Streifen über Luxemburg bis nach Bayern zieht. Leider fehlen für viele deutsche Dialekte umfassende Beschreibungen, um die Arealität hier noch deutlicher herausarbeiten zu können. Aus struktureller Sicht konnte gezeigt werden, dass viele Eigenschaften des luxemburgischen Flexionsmarkers auch in anderen westgermanischen Varietäten zu finden sind. Hierzu gehören beispielsweise die Defektivität des Paradigmas sowie die Adjazenzbedingung zum Subjekt.
9.2 Erweiterung der Nebensatzeinleitung mit dass/datt (doubly filled complementizer)
1286Im Luxemburgischen finden sich häufig Nebensätze, in denen die Nebensatzeinleitung wie in (367) durch dass/datt erweitert wird.
1287(367)ech froe mech effektiv, wéini datt dat soll sinn (Politik)
ich frage mich tatsächlich, wann dass das soll sein
1288Der temporale Nebensatz wird an dieser Stelle nicht nur durch das Interrogativpronomen wéini ‚wann’, sondern zusätzlich durch die Subjunktion datt eingeleitet, sodass die linke Klammer bzw. die Komplementiererposition im Nebensatz doppelt belegt ist. Aus diesem Grund wird dieses Phänomen in der Forschung als doubly filled complementizer (DFC) bezeichnet. Veranschaulicht wird die Position von dass/datt durch ein DFC-Sonderfeld zwischen der eigentlichen linken Klammer und dem Mittelfeld. Auch hier wird das grundlegende Modell der topologischen Felder auf die strukturellen Bedürfnisse des luxemburgischen Nebensatzes angepasst. Auf die Vereinbarkeit mit der zuvor begründeten Flexionsmarker-Position (vgl. Kapitel 9.1) sowie auf die allgemeinen Anforderungen an dieses Modell möchte ich am Ende dieses Kapitels noch einmal zurückkommen.
VF | LK | DFC | MF | RK | NF |
wéini | datt | dat | soll sinn |
1289Diesem doubly filled complementizer (DFC) wurde vor allem innerhalb der generativen Grammatik in den letzten Jahren Aufmerksamkeit gewidmet, wobei in erster Linie oberdeutsche Dialekte beschrieben wurden (vgl. u.a. Bayer & Brandner 2008a; 2008b; Weiß 1998). In luxemburgischen Grammatiken wird dieses Phänomen allein bei Schanen & Zimmer (2012: 188f.) als ergänzender subjoncteur ‚Subjunktor’ bei bestimmten Wortarten172 erwähnt.
1290(368)Mir waarden, bis [datt] e waakreg gëtt. (Schanen & Zimmer 2012: 189)
Wir warten, bis dass e wach wird.
1291In Bruchs (1955: 91) Grammatik findet sich nur ein Beispielsatz, in dem es eigentlich nicht um die dass/datt-Erweiterung, sondern um die Verwendung von zusammengesetzten Verbformen geht. Die Klammersetzung bei Bruch (1955) zeigt allerdings, dass es sich bei der dass/datt-Ergänzung um ein optionales Phänomen handelt.
1292(369)Ech wéisst gär, wéini (dass) d’Sonn haut ënnergeet. (Bruch 1955: 91)
Ich wüsste gerne, wann (dass) die Sonne heute untergeht.
1293Aus Bruch (1955) und Schanen & Zimmer (2012) geht demnach nur hervor, dass es sich bei datt/dass um eine optionale, erweiternde Nebensatzeinleitung handelt.
1294Dieses Kapitel soll mehr Informationen zu Vorkommen und Variation der doppelten Nebensatzeinleitungen im Luxemburgischen liefern. Auch hier dient das Gesamtkorpus als empirische Grundlage, um einen ersten Überblick zu den zentralen Eigenschaften dieses Phänomens zu erhalten. Dabei werden drei Aspekte des DFC näher betrachtet: die Distribution von dass/datt bei interrogativen Nebensätzen (Kapitel 9.2.1), die Eigenschaften der angehängten Subjunktion dass/datt (Kapitel 9.2.2) sowie andere Typen der Doppelbesetzung in der linken Klammer im Nebensatz, genauer die doppelte Relativsatzeinleitung mit Pronomen und wou ‚wo’ (Kapitel 9.2.3). Das letzte Kapitel (9.2.4) wird die luxemburgischen Ergebnisse mit anderen westgermanischen Varietäten vergleichen, für die solche Doppelbesetzungen ebenfalls belegt sind.
9.2.1 Distribution von dass/datt bei eingebetteten Interrogativsätzen
1295Insgesamt finden sich drei Grundtypen von Interrogativa, die für eine Erweiterung mit dass/datt im Nebensatz infrage kommen: einfache, präpositionale und phrasale Interrogativa. Zu den verfügbaren Interrogativa gehören erstens die ‚einfachen’ Interrogativpronomen wie wien ‚wer/wen’, wat ‚was’ oder wéisou ‚wieso’. Eine Erweiterung durch dass/datt ist in all diesen syntaktischen Kontexten stets fakultativ.
1296(370)egal wien datt et ass (Politik)
egal wer dass es ist
1297(371)Dann könnt dir ausrechnen waat dass na fir den Bauer an Molkerei iwwreg bleift (Online-Kommentar)
dann könnt ihr ausrechnen was dass noch für den Bauern und Molkerei übrig bleibt
1298(372)Hien huet och hei erkläert, wéisou datt dat ensteet (Politik)
Er hat auch hier erklärt, wieso dass das entsteht
1299Zweitens können diese w-Pronomen von einer Präposition begleitet werden. In den vorliegenden Daten treten Kombinationen von Präposition+w-Pronomen (Typ: op wat datt ‚auf was dass’) häufiger auf als interrogative Präpositionaladverbien, also wou(r)+Präposition (Typ: wourobber dass ‚worauf dass’).
1300(373)ëm wat datt et geet (Politik)
um was dass es geht
1301(374)Dir wësst dach guer net vu wat datt der schwätzt (Online-Kommentar)
ihr wisst doch gar nicht von was dass ihr sprecht
1302(375)wourëm datt et geet (Politik)
wourum dass es geht
1303(376)Mir wëssen och net, wouriwwer datt do diskutéiert gëtt (interview)
wir wissen auch nicht, worüber dass da diskutiert wird
1304Zum dritten und letzten Typ der interrogativen Nebensatzeinleitung gehören einerseits Kombinationen mit der Vergleichspartikel wéi ‚wie’ und einem Adjektiv (vgl. (377)) sowie nebensatzeinleitende Phrasen mit interrogativen Artikeln, die ich an dieser Stelle als „interrogative Phrasen“ bzw. „phrasale Interrogativa“ zusammenfassen möchte. Zu den interrogativen Artikeln zählen unter anderem wat fir ‚was für’, wéi eng/wéi een ‚welche’, wéi vill ‚wie viel(e)’ und welch/wellech ‚welche’. Auch diese Phrasen können optional durch dass/datt erweitert werden.
1305(377)wéi al dass de Bam ass (Politik)
wie alt dass der Baum ist
1306(378)wat fir Leit, dass dat sinn, déi dat maachen (Politik)
was für Leute, dass das sind, die das machen
1307(379)Wéi vill Affer dass et ginn, ass nach net gewosst. (Online-News)
Wie viele Opfer dass es werden, ist noch nicht gewusst.
1308Manche dieser interrogativen Phrasen können zusätzlich von einer Präposition regiert werden wie in den folgenden Sätzen.
1309(380)Ëm wéi eng Drogen dass et sech gehandelt huet (Online-News)
um welche Drogen dass es sich gehandelt hat
1310(381)ënner wat fir Conditiounen datt d’Leit do musse liewen (Interview)
unter was für Bedingungen dass die Leute dort müssen leben
1311(382)wëssen a welch Richtung dass et geet (Politik)
wissen in welche Richtung dass es geht
1312Die einfachen, präpositionalen und phrasalen Interrogativa belegen jeweils die linke Klammer im Nebensatz. Auf linearer Ebene kann nun ein zweiter Komplementierer (dass/datt) eingefügt werden, der in der zuvor beschriebenen DFC-Position steht.
VF | LK | DFC | MF | RK | NF |
wéisou | dass/datt | dat | entsteet | ||
vu wat | dass/datt | der | schwätzt | ||
a welch Richtung | dass/datt | et | geet |
1313Die folgende Tabelle zeigt eine Liste der drei Typen von Interrogativa, die durch dass/datt verstärkt werden können. Aus Gründen der Übersichtlichkeit befindet sich in der Kolonne mit der Überschrift Syntagma nur die Einleitung dass, da diese häufiger vorkommt (ein Anschluss mit datt ist generell möglich).
Interrogativ-typ | Komplementierer | Syntagma (beruhend auf Belegen, nicht erschöpfend) | Beispielsatz |
einfach | Interrogativpronomen | wat dass wou dass wéini dass wien dass firwat dass wéisou dass | wien datt et ass |
präpositional | Interrogativpronomen mit Präposition interrogatives Präpositionaladverb | [Präp] wat dass [Präp] wou dass [Präp] wiem dass wouduerch dass wouriwwer dass wouvun/wouvunner dass woumat/woumadder dass | ëm wat datt et geet |
phrasal | Interrogative Phrasen | wéi [+Adj] dass ([Präp]) wéi vill ([+N]) dass ([Präp]) wéi eng dass ([Präp]) wat fir [+N] dass | wat fir Leit datt dat sinn |
1314Darüber hinaus können durch Interrogativphrasen eingeleitete Sätze auch exklamativ und ohne Matrixsatz verwendet werden. Auch in diesen Fällen steht eine Erweiterung durch dass/datt optional zur Verfügung.
1315(383)wat fir eng Zäitverschwendung dass dat awer ass
was für eine Zeitverschwendung dass das aber ist
1316Neben diesen drei Typen von Interrogativa scheinen auch bestimmte Subjunktionen eine dass/datt-Erweiterung zuzulassen, die jedoch nicht den Hauptaspekt dieser Studie ausmachen und nur kurz erwähnt werden sollen.
1317(384)säit dass et eise Planéit gëtt (Online-Kommentar)
seit dass es unseren Planeten gibt
1318(385)obwuel datt fir all Kategorië Steiersuen agesat ginn (Politik)
obwohl dass für alle Kategorien Steuergelder eingesetzt werden
1319Die Doppelbesetzung während dass findet sich neunmal in den Daten, jedoch jedes Mal vom selben Autor. Einige Genus- und Verbfehler lassen vermuten, dass es sich hier um einen L2-Sprecher des Luxemburgischen handelt. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei während dass um eine Lehnprägung des französischen pendant que handelt. Satz (386) ist für die informell befragten luxemburgischen Muttersprachlerinnen jedoch nicht ungrammatisch.
1320(386)Ganz viel sportler brengen doweinst immens résultater während dass sie problémer hunn, weil [...] (Online-Kommentar)
ganz viele Sportler bringen deshalb immer Resultate während dass sie Probleme haben,
weil [..]
1321Solche doppelten Subjunktionen (ohne interrogatives Element) zeigen sich zudem auch im Deutschen des 18. und 19. Jahrhunderts.
1322(387)Während daß wir uns in diesem Hause allerseits ausruhten173
1323(388)Seit daß Verden und Minden verloren waren174
1324Nachdem gezeigt wurde, welche interrogativen Elemente eine Erweiterung durch dass/datt zulassen, soll nun überprüft werden, in welcher quantitativen Verteilung nebensatzeinleitende Interrogativa mit oder ohne dass/datt in der linken Klammer stehen und ob der Einsatz von dass/datt aus strukturellen Gründen ausgelöst wird oder ob es sich um freie Variation handelt (zu den verschiedenen Typen syntaktischer Variation vgl. Seiler 2004).
1325Um die Verteilung zu überprüfen, wurden systematisch die beiden kausalen w-Wörter firwat (dass/datt) sowiewéisou (dass/datt) jeweils mit und ohne DFC ausgewertet. Um die Menge an Sätzen ohne DFC überschaubar zu halten, wurden nur Nebensätze ausgezählt, die nach dem COMP mit einem nominalen Satzglied beginnen (Aufbau der getesteten Nebensätze: COMP (firwat/wéisou) + DFC (dass/datt) + NP (ohne Pro-Form) + Satz).
kausale Subjunktionen | ohne DFC | mit DFC (dass/datt) |
firwat-NS | 78,7 % (n=1439) | 21,3 % (n=389) |
wéisou-NS | 84,1 % (n=259) | 15,9 % (n=49) |
1326Diese kurze Korpusanalyse zeigt, dass die meisten Nebensätze, die durch firwat oder wéisou eingeleitet werden (und mit einem nominalen Subjekt beginnen), in 78,7 % bzw. in 84,1 % der Fälle ohne die Verstärkung durch dass/datt verwendet werden.
1327Die qualitative Auswertung der Sätze mit DFC macht deutlich, dass die Doppelbesetzung der linken Satzklammer mit dass/datt für viele Satztypen verfügbar ist – unabhängig von der Satzlänge, der Einbettungstiefe, der syntaktischen Funktion oder der Position des Nebensatzes. Demnach finden sich sowohl kurze als auch lange Nebensätze mit DFC.
1328(389)wéini datt der fortgitt (Politik)
wann dass ihr weggeht
1329(390)weini dass Ponts et Chaussée endlech eppes änneren op der Areler Strooss. (Online-Kommentar)
wann dass Ponts et Chaussée (=Straßenbauamt) endlich etwas ändern auf der Areler Straße
1330Auch die Position des Nebensatzes innerhalb des Matrixsatzes scheint kein restriktiver Faktor für DFC zu sein. Somit können Sätze mit DFC auch satzinitial stehen.
1331(391)Firwaat dass eisen Server net [...] dran steet, wees ech och net. (Internet)
warum dass unser Server nicht [..] drin steht, weiß ich auch nicht
1332Anhand der Daten lässt sich die Beobachtung machen, dass eine Erweiterung durch dass/datt besonders häufig auftritt, wenn das Subjekt ein starkes Pronomen ist oder in der Subjekt-NP ein starker Artikel steht. Die folgende Tabelle zeigt die Auswertungen der nebensatzeinleitenden Phrase wéi schwiereg/schwéier et ass ‚wie schwierig/schwer es ist’ mit zwei Variablen: Einerseits wurden Sätze mit und ohne DFC ausgezählt und andererseits Sätze mit Demonstrativpronomen im Neutrum (dat) oder reduziertem Personalpronomen (et) (3.Pers.Sg.Neutr.). Um mehr Ergebnisse zu erhalten, wurden die beiden Adjektive schwiereg ‚schwierig’ undschwéier ‚schwer’ gemeinsam analysiert. Bei dem Syntagma mit Demonstrativpronomen (dat) zeigt sich ein recht ausgewogenes Verhältnis zwischen den Sätzen mit und ohne DFC (16:20). Vergleicht man nun die Sätze mit reduziertem Personalpronomen, fällt auf, dass die Sätze mit DFC deutlich seltener vorkommen, nämlich nur in etwa 13 % der Sätze.
Syntagma | ohne DFC | mit DFC | Gesamt |
wéi schwiereg/schwéier ____ dat ass | 55,6 % (n=20) | 44,4 % (n=16) | 36 |
wéi schwiereg/schwéier ____ et ass | 86,9 % (n=126) | 13,1 % (n=19) | 145 |
1333Diese Verteilung könnte ein Anzeichen dafür sein, dass die zusätzliche Subjunktion dass/datt in Kontexten auftritt, in denen das Subjekt aus struktureller Sicht hervorgehoben ist.175
1334(392)ech weess wéi schwiereg datt dat ass (Politik)
ich weiß wie schwierig dass das ist
1335Auch andere Belege mit nominalen Subjekten verdeutlichen diese Tendenz. In den beiden folgenden Sätzen findet sich jeweils das Subjekt Accident ‚Unfall’. In Satz (393) beinhaltet das Subjekt den starken Definitartikel deen und die NS-Einleitung firwat ‚warum’ ist durch datt erweitert. Satz (394) hingegen zeigt den schwachen Artikel den und steht ohne DFC.
1336(393)En ënnerléisst allerdéngs ze mentionnéieren, firwat datt deen Accident eis hei geschitt ass. (Politik)
er unterlässt allerdings zu erwähnen, warum dass dieser Unfall uns hier passiert ist
1337(394)Firwat Ø den Accident geschitt ass, weess een net (Online-News)
warum der Unfall passiert ist, weiß man nicht
1338In anderen Kontexten hingegen lassen sich keine direkten syntaktischen Gründe ausmachen, warum dass/datt verwendet bzw. nicht verwendet wird.
1339(395)firwat Ø d’Leit sech versammelen (Online-Kommentar)
wofür Ø die Leute sich versammeln
1340(396)firwat dass d’Leit sech bei hiren Doktere beschwéiert hunn (Politik)
wofür dass die Leut sich bei ihren Ärzten beschwert haben
1341Des Weiteren besteht in Bezug auf die DFCs Intra-Sprecher-Variation. Mitunter finden sich Belege, in denen innerhalb eines Satzes Variation besteht. Obwohl die beiden Nebensätze im folgenden Beispiel die Verstärkung mit dass/datt erlauben, hat der Autor nur einmal die dass/datt-Ergänzung umgesetzt.
1342(397)[...] ze froen, wei wäit Ø sech d'Fritzbox ungemellt kritt, an wisou dass den Unruff selwer refuseiert get (Internet)
zu fragen, wie weit sich die Fritzbox angemeldet kriegt, und wieso dass der Anruf
selber abgelehnt wird
9.2.2 Eigenschaften von dass/datt beim DFC
1343Dieses Kapitel widmet sich einerseits der Variation der Subjunktion (dass vs. datt) sowie andererseits Kombinationen von DFC und einem Flexionsmarker. Aus den Daten geht hervor, dass die Erweiterung mit dass mit 61,2 % häufiger vorkommt als datt (38,8 %).176 Bei den Verbclustern aus Kapitel 8 ist die Verteilung leicht abweichend: Hier war datt mit 53,5 % etwas stärker vertreten als dass mit 46,5 %. Die Verteilung dient in diesem Fall nur als Übersicht und hat keine direkte grammatische Auswirkung auf die Sätze und das hier dargestellte Phänomen.
Syntagma | dass | datt | Gesamt |
w-Wort + dass/datt + NS | 61,2 % (n=785) | 38,8 % (n=498) | 1283 |
1344Wie im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, steht nach dem Komplementierer immer der Flexionsmarker s, wenn das Subjekt des Nebensatzes die 2.Pers.Sg. ist. Ist das Subjekt in der 1. oder 3. Person Plural, lautet der Marker en und kann optional gesetzt werden. Bei einem doppelt besetzten Komplementierer heftet sich der Flexionsmarker hinter den DFC, demnach hinter dass/datt. Bei einem Subjekt in der 2.Pers.Sg. wird der Marker allerdings nur bei datt angehängt, da dass sich lautlich mit dem Marker überschneidet und dadurch kein weiteres s hinzugefügt werden kann.
1345(398)dann froen ech mech firwat datts Du net Léierin gi bass. (Online-Kommentar)
dann frage ich mich warum dass#s# du nicht Lehrerin geworden bist
1346Da dass/datt eine einsilbige Subjunktion ist, kann der en-Marker (1./3.Pers.Pl.) hier optional verwendet werden.
1347(399)Ech hun awer nach emmer net rausfond ,firwaat dassen verschidde Leit séch sou réirend em déi puer Beem suegen ?! (Online-Kommentar)
ich habe aber nich immer nicht herausgefunden, warum dass#en# verschiedene Leute sich
so rührend um die paar Bäume sorgen
1348(400)wéini dassen d’Amerikaner d’Poulet’en zillen mat siwen Hämercher (Interview)
wann dass#en# die Amerikaner die Hähnchen züchten mit sieben Schenkelchen
1349Die Kombination von dass/datt und einem Flexionsmarker führt dazu, dass sich im topologischen Feldermodell für das Luxemburgische zwei Positionen zwischen linker Klammer und Mittelfeld ergeben: die DFC-Position für die Komplementierer-Erweiterung durch dass/datt sowie eine anschließende Position für den Flexionsmarker (FM) der 2.Pers.Sg. (s) sowie der 1. und 3. Person Plural (en) (zur FM-Position vgl. Kapitel 9.1.1).
VF | LK | DFC | FM | MF | RK | NF |
firwat | datt | s | du net Léierin | gi bass | ||
firwaat | dass | en | verschidde Leit [...] | suergen | ||
wéini | dass | en | d’Amerikaner d’Poulet’en | zillen | mat siwen Hämercher |
9.2.3 DFC bei Relativsätzen
1350Doppelt besetzte Nebensatzeinleitungen (DFC) sind ein Phänomen, das nicht nur die Kombination von interrogativen Elementen mit dass/datt betrifft, sondern auch doppelt eingeleitete Relativsätze. In diesem Fall wird ein Relativpronomen (deen, déi, dat) mit der Relativpartikel wou ‚wo’ in der Nebensatzeinleitung kombiniert. Diese Art der Doppelbesetzung ist im Luxemburgischen jedoch äußerst selten und wird von den befragten Sprecherinnen als ungrammatisch eingestuft. Im Gesamtkorpus lassen sich demnach nur wenige Einzelsätze extrahieren.
1351Beispiel (401) zeigt einen Relativsatz, der sowohl durch ein Relativpronomen (déi ‚die’) als auch zusätzlich durch die Relativpartikel wou eingeleitet wird.
1352(401)Déi Leit déi wou d'Been no der Schicht héich leeën, [...] (Online-Kommentar)
die Leute die wo die Beine nach der Schicht hoch legen
1353Im Grunde genommen werden Relativsätze, die sich im Luxemburgischen auf Personen beziehen, mit einem Relativpronomen (deen, déi, dat) eingeleitet (vgl. Kapitel 4). Die einfach verwendete Relativpartikel wou findet sich nur in Einzelfällen und wird nicht von allen Sprechern gleichermaßen akzeptiert. Umso interessanter ist der Umstand, dass wou in manchen Sätzen als Verstärkung zu einem Relativpronomen verwendet werden kann wie in (401).
1354In den Belegen findet sich noch eine weitere Relativsatzeinleitung mit DFC, in denen eine Präposition (op ‚auf’), ein Relativpronomen (déi ‚die’) und eine Relativpartikel wou ‚wo’ in der Nebensatzeinleitung aufeinandertreffen, wie das folgende Beispiel zeigt.
1355(402)déi Terraine bezuelen op déi wou do gebaut gëtt (Politik)
die Flächen bezahlen auf die wo dort gebaut wird
VF | LK | DFC | MF | RK | NF |
op déi | wou | do | gebaut gëtt |
1356Solche Kombinationen von Relativpronomen und -partikel sind jedoch nur bedingt grammatisch. Hier zeigt ein passendes Beispiel aus dem Chatkorpus, dass solche Formen auch von anderen Sprechern teilweise sanktioniert werden können. In dem folgenden Chatgespräch sucht der Nutzer <lil_snoopy> eine Partnerin zum Chatten und verwendet dafür einen Relativsatz mit DFC (Maus dat wou chatten well ‚Maus, das wo chatten will’).177 Da dies im öffentlichen Fenster des Chatraums erscheint, wiederholt ein anderer Teilnehmer namens <Red_Ruby> den Satz und stellt die grammatikalische Legitimierung dieses Nebensatzes mit DFC infrage. Er kopiert gezielt nur den Nebensatz mit der Einleitung dat wou und kommentiert diesen mit einem hinterfragenden onomatopoetischen öhm.
1357(403)<lil_snoopy> moien ass eng leif maus do dat wou chatten well
<lil_snoopy> hallo ist eine liebe maus da das wo chatten will
<Red_Ruby> dat wou chatten well?öhm (Chat)
<Red_Ruby> das wo chatten will?öhm
1358Bei der Relativsatzeinleitung in (403) sind gleich zwei Dinge problematisch: Zum einen die Einleitung mit wou bei einem menschlichen Bezugsnominal und zum anderen die Doppelbesetzung der Relativsatzeinleitung (déi wou). Die Relativpartikel wou bei menschlichen Bezugsnomen ist im Luxemburgischen weniger üblich. Sie tritt dennoch gelegentlich und vor allem im hier verwendeten Chatkorpus auf. Allein die Konstruktion e Meedchen, wou... ‚ein Mädchen, wo...’ findet sich etwa 50mal in dieser Korpusdatei. Die Kombination von Relativpronomen und -partikel ist im Luxemburgischen jedoch äußerst selten und für den Nutzer <Red_Ruby> nicht akzeptabel. Eine solche Reaktion wäre bei einem einfachen wou-Relativsatz eher nicht zu erwarten, zumal dieser im Chat häufiger vorkommt.
1359Insgesamt sind Nebensätze, die durch ein interrogatives Element und ein zusätzliches dass/datt eingeleitet werden, im Luxemburgischen durchaus geläufig. Sie zeigen sich in etwa einem Viertel der getesteten Kontexte. Relativsätze mit DFC (Typ: op dat wou mer bauen ‚auf das wo wir bauen’) sind nur selten anzutreffen und werden nicht immer von allen Sprechern akzeptiert.
9.2.4 Erweiterungen durch dass/datt in anderen westgermanischen Varietäten
1360Aus der Forschungsliteratur geht hervor, dass dieses Phänomen in einigen oberdeutschen Dialekte sowie im Flämischen, Niederländischen und im Englischen auftritt (vgl. Bayer & Brandner 2008b).178 Eine umfassende Beschreibung für die Verwendung von dass bei interrogativen Nebensätzen im Bairischen und im Schweizerdeutschen liefern Bayer & Brandner (2008b). Bayer & Brandner (2008b) beziehen sich u.a. auf die Analysen von Schönenberger (2006a,b), die das Phänomen in den Schweizer Dialekten von Luzern und St. Gallen untersucht hat. Dabei scheint sich eine strukturelle Tendenz abzuzeichnen, dass vor allem mehrsilbige NS-Einleitungen mit dass kombinierbar sind. Einsilbige w-Wörter akzeptieren nur selten eine dass/datt-Ergänzung. Dabei gilt: Je länger die Nebensatzeinleitung, desto obligatorischer ist die Ergänzung durch dass (vgl. Schönenberger 2006a,b, zit. nach Bayer & Brandner 2008b: 3). Tatsächlich kann Schönenberger (2015: 125) belegen, dass mehrsilbige Interrogativa deutlich häufiger ein zusätzliches dass erhalten: 91,4 % der DFCs verfügen über ein polysyllabisches Interrogativum. Zudem scheinen vor allem Sprecher im „mittleren“ Alter (45-55) am häufigsten DFCs zu verwenden.
1361(404)worum dass sii dää schöö findet (Schönenberger 2015: 125)
warum dass sie den schön findet
1362Im Luxemburgischen gibt es keine Restriktionen in Bezug auf die Silbenlänge des interrogativen Elements. Demnach finden sich auch einsilbige w-Wörter mit dass/datt, wie das folgende Beispiel zeigt.
1363(405)Mir mussen also wëssen, wou dass mir dee richtegen Equiliber fannen (Politik)
wir müssen also wissen, wo dass wir den richtigen Ausgleich finden
1364Obwohl die DFC im Standarddeutschen nicht zulässig sind (vgl. Bayer & Brandner 2008b), findet sich auch in konzeptionell mündlichen Texten die Verstärkung der Nebensatzeinleitung mit dass:
1365(406)kann man ausrechnen wie gross dass man wird? (dt. Internetbeleg)179
1366Auch im Niederländischen sind Doppelbesetzungen mit dat ein Phänomen der gesprochenen Sprache mit uneindeutiger regionaler Verteilung. Barbiers
et al. (2008a: 11f.) bezeichnen dies als „curious phenomenon
“ mit „superfluous complementisers
“, bei dem nicht nur eine Doppel-, sondern auch eine Dreifachbesetzung der linken
Klammer möglich ist, wie der folgende Beleg zeigt.
1367(407)Ik weet niet hoe of dat hij die taal geleerd heeft (Barbiers et al. 2008a: 11)
ich weiß nicht wie ob das er die Sprache gelernt hat
1368Diese Besetzung der linken Klammer im Nebensatz hat demnach vier Optionen (in absteigender Häufigkeit): einfache NS-Einleitung (hoe), doppelte NS-Einleitung (hoe dat oder hoe of) oder eine dreifache (hoe of dat).
1369Doch nicht nur in Varietäten des Deutschen und im Niederländischen, auch im Englischen (British English und American English) gibt es Nebensätze, in denen die Einleitung durch that verstärkt wird. In einer ausführlichen Analyse von Zwicky (2002) heißt es, dass das Phänomen in verschiedenen Kontexten (mündlich und schriftlich) in interrogativen Nebensätzen auftritt.
1370(408)Unless you know how much water that you want do drink (Zwicky 2002: 222)
1371Im Englischen treten die fakultativen Erweiterungen mit that vor allem hinter Interrogativphrasen auf (vgl. Zwicky 2002: 230f., 244). Die Kombination eines einfachen Interrogativums und that ist im Englischen nicht zulässig: *I don’t know who that did it (vgl. Zwicky 2002: 247). Mitunter finden sich that-Erweiterungen auch bei exklamativen Phrasen mit WH-Element (Typ: what a chaos that I am!) (vgl. Zwicky 2002).
1372Diese Doppelbesetzungen können im Englischen laut Zwicky (2002: 247) einen regionalen oder auch idiolektalen Charakter haben. Etwas unklar ist Zwickys
(2002) Aussage, dass manche Sätze mit DFC einen „production error
“ repräsentieren, da nicht beschrieben wird, inwiefern dies eine fehlerhafte Konstruktion
sein soll. Darüber hinaus erklärt der Autor, dass sich dieses Phänomen häufig dem
Bewusstsein der Sprecher entzieht und „überhört“ wird. Zwicky (2002: 220) schreibt dazu: „WH+that clauses are comprehensible, listeners and readers might easily fail to notice
the (to them) intrusive that [...] such clauses are ‘hard to detect’
”.
1373Insgesamt handelt es sich jedoch um ein Feld, das weiterer Forschung bedarf, sowohl
aus einzelsprachlicher als auch aus typologischer Sicht. In den meisten Fällen wird
die Doppelbesetzung der NS-Einleitung mit dass als strukturelle Redundanz aufgefasst, die sich vor allem in mündlichen und standardfernen
Kontexten äußert. Schönenberger (2015: 120) geht davon aus, dass prosodische Eigenschaften des Satzes die „driving force behind the phenomenon of DFCs
“ sind, kann dies jedoch nur anhand von stichprobenhaften Belegen zeigen, sodass dies
noch weiter erforscht werden müsste.
1374Die Hypothese einer Subjekthervorhebung durch die Erweiterung mit dass/datt, wie sie für das Luxemburgische aufgeworfen wurde, findet keine Erwähnung in der Forschung, könnte jedoch im Zusammenhang mit Schönenbergers (2015) Prosodie-Hypothese stehen, welche in Zukunft noch zu überprüfen sein wird.
9.3 Zusammenfassung und Bemerkungen zum topologischen Feldermodell
1375Die in diesem Kapitel vorgestellten Phänomene sollen anhand des folgenden Belegs noch einmal zusammengefasst werden. Im Detail geht es um zwei Eigenschaften von Nebensatzeinleitern im Luxemburgischen: die „flektierenden“ Komplementierer (wéi s de ‚wie du’) und die doppelt besetzten Komplementierer (vu wou dass ‚von wo dass’).
1376(409)Da stells de dech eng Kéier vir, wéi s de heeschs a vu wou dass de bass (Politik)
dann stells du dich ein Mal vor, wie #s# du heißt und von wo dass du bist
1377Bei den so genannten „flektierenden“ Komplementierern hat sich herausgestellt, dass es sich nur aus historischer Perspektive um Flexion handelt. Da sie einen Zwischenstatus zwischen Flexion und Klitisierung einnehmen, wurden sie hier als „Flexionsmarker“ beschrieben. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Nebensatz eine feste syntaktische Position zwischen linker Klammer und Mittelfeld einnehmen und dort mit dem Subjekt in Person und Numerus kongruieren. Dabei variieren die Auftretensbedingungen bei den verschiedenen Personen und Numeri. Grundsätzlich sind sie nur für die 2. Person Singular sowie für die 1. und 3. Person Plural verfügbar. Bei der 2. Person Singular führt ein Auslassen des s-Markers zu Ungrammatikalität (*wann de wëlls). Der Flexionsmarker bei der 1. und 3. Person Plural (en) ist hingegen fakultativ. Darüber hinaus erscheint er nicht nur mit einem pronominalen Subjekt, sondern bei der 3. Person Plural auch mit nominalen Satzgliedern (datt en d’Leit och kommen ‚dass #en# die Leute auch kommen’). Im Gegensatz zum obligatorischen s-Marker, der nach sämtlichen nebensatzeinleitenden Elementen stehen kann (unter anderem auch nach interrogativen Phrasen), findet sich der optionale en-Marker meistens nach einsilbigen Subjunktion wie dass/datt oder well.
1378Der zweite Teil dieses Kapitels beschäftigte sich mit der Erweiterung der Nebensatzeinleitung durch dass/datt, wodurch es zu einem doubly filled complementizer (DFC) kommt. Es hat sich gezeigt, dass DFCs des Typs firwat dass/datt ‚warum dass’ an alle Interrogativa angehängt werden kann, die einen Nebensatz einleiten. Im Gegensatz zu bestimmten oberdeutschen Dialekten gibt es im Luxemburgischen keine Restriktionen in Bezug auf die Länge des w-Elements.
1379Bei einer quantitativen Auswertung der beiden kausalen Subjunktionen wéisou und firwat zeigte sich, dass die Erweiterung mit dass/datt in etwa 19 % Prozent der Fälle eingesetzt wird. Obwohl es zahlreiche Belege gibt, die dem Anschein nach keine direkten strukturellen Gründe für die Verstärkung mit dass/datt aufweisen, scheint es dennoch einen Hinweis für eine Korrelation zu geben zwischen dem DFC und starken Subjektpronomen bzw. Nomen mit starkem Artikel, was in diesem Kapitel vorerst als Prinzip der „Subjekthervorhebung“ gekennzeichnet wurde. Daneben könnten auch phonologische Begründungen eine Rolle spielen, da eine zusätzliche Silbe den Satzrhythmus beeinflussen kann.
1380Eine doppelt besetzte Nebensatzeinleitung kann sich auch auf Sätze mit Relativpronomen und Relativpartikel wou ‚wo’ beziehen. Sätze des Typs eng Fra, déi wou mer gehollef huet ‚eine Frau, die wo mir geholfen hat’ sind im Luxemburgischen jedoch äußerst selten und werden nicht von allen Sprechern als grammatisch eingestuft.
1381Im Laufe dieses Kapitels wurde das topologische Feldermodell, wie es für das Standarddeutsche verwendet wird, dahingehend verändert, dass für die hier beschriebenen Phänomene der Nebensatzeinleitung zwei eigene Felder angesetzt wurden: Zwischen Vorfeld und Mittelfeld wurde ein DFC-Feld (doubly filled complementizer) für die dass/datt-Erweiterung und ein weiteres FM-Feld für den Flexionsmarker eingefügt. Diese Manipulationen am Grundmodell sollte die Abbildungen der Beispielsätze vereinfachen und die Felderstruktur an das Luxemburgische angleichen. Die Felder wurden dabei jeweils auf das Einzelphänomen zugeschnitten. Es existieren jedoch auch Ansätze, in denen beispielsweise ein „Vormittelfeld“ angesetzt wird, um besondere syntaktische Bewegungen zu kennzeichnen. Bei Zifonun et al. (1997: 2343f.) wird beispielsweise ein spezielles „Vormittelfeld“ für Pronomen aufgestellt, da pronominale Konstituenten im Standarddeutschen in der Abfolge Akk>Dat stehen (Vormittelfeld) und nominale in der Abfolge Dat>Akk (Mittelfeld). Das Aufstellen neuer Felder ermöglicht es demnach, syntaktische Variation in einem einfachen Modell darzustellen. Die Idee des Vormittelfelds lässt sich für das Luxemburgische aber nur bedingt umsetzen, da in Kapitel 7 gezeigt wurde, dass das luxemburgische Mittelfeld im pronominalen Bereich die Abfolge Dat>Akk aufweist und klitische Pronomen nicht zwangsläufig näher an die linke Klammer rücken. Zusätzlich müsste dieses Vormittelfeld unterteilt werden, denn dass/datt stellt sich als Erweiterung im Nebensatz immer vor den Flexionsmarker.
1382Eine andere Überlegung wäre ein neues Feld für Wackernagelelemente, die sich in der Regel hinter die linke Klammer im Satz heften (d.h. hinter finite Verben im HS oder Komplementierer im NS). Dieser Wackernagelkomplex umfasst laut Weiß (2016: 127ff.) allerdings nicht nur die Position klitischer Pronomen, sondern u.a. auch Flexionsmarker und partielles pro-drop, d.h. die mögliche Auslassung von Subjektpronomen. Bis auf den Flexionsmarker sind dies insgesamt keine Kerneigenschaften der luxemburgischen Syntax (klitische Pronomen rücken nicht automatisch nach vorne und Subjekte dürfen nicht ausgelassen werden), sodass dieser Wackernagelkomplex nur aus der Makro-Perspektive sinnvoll ist – wie Weiß (2016) ihn im Übrigen auch versteht – und nicht aus der Mikro-Perspektive des Luxemburgischen.
1383Die Idee des Vormittelfelds sowie die eines Wackernagelfelds sind in ihrer Anwendung nicht unproblematisch, da sie ebenfalls differenziert werden müssten. Letztlich wären auch hier die genauen Phänomene zu definieren, die diesen neuen Positionen und Feldern entsprechen, was im Endeffekt zu der Einteilung führt, die in dieser Arbeit vorgenommen wurde. Dies bedeutet, dass die Felder einfach nach dem benannt werden, was sie repräsentieren: den DFC und den Flexionsmarker.
Fußnoten
1142Zur besseren Kennzeichnung werden die Flexionsmarker in der lexikalischen Glosse zwischen Rautenzeichen (#) angeführt.
1144Ich verwende an dieser Stelle gezielt die neutrale Beschreibung „Marker“. Zur Problematisierung der Begriffe Flexiv und Klitikon vgl. Kapitel 9.1.1.
1144Zur Problematisierung des Begriffs „Komplementierer“ vgl. Frajzyngier 1995.
1157Ähnliche morphologische „Shifts“ sind auch bei der Entstehung der luxemburgischen Personalpronomen mir (1.Pers.Pl.) und dir (2.Pers.Pl.) zu beobachten.
1159Eine ähnliche Form der (synchronen) Reanalyse beobachten Scupin & Scupin (1907; 1910, zit. nach Rinas 2005) bei einem Spracherwerbsvorgang: Das beobachtete drei-, zu einem späteren Zeitpunkt
der Studie vierjährige Kind scheint auch sde als klitisches Pronomen zu verwenden (ohne dialektale Sprechweise): „die Kiste, diestu auf den Tisch gestellt hast
“.
1162Eine detaillierte Beschreibung der vorrangig germanistischen „Forschungstradition“ zu diesem Thema sowie eine fundierte Auseinandersetzung mit der Terminologie finden sich bei Rinas (2005).
1163Aufmerksam geworden bin ich auf diese Quelle durch Humbert (2015), die über das Thema der flektierenden NS-Einleitungen im Luxemburgischen einen Travail de candidature (eine Art Abschlussarbeit für das Lehramt in Luxemburg) verfasst hat.
1164In seltenen Fällen wird zwischen zwei schwachen Pronomen, die jeweils auf ein Schwa aus- und anlauten ein [n] eingefügt. Diese n-Epenthese ist jedoch im Schriftlichen kaum vorzufinden (acht Belege im Korpus, sechs davon aus grammatisch oder orthografisch orientierten Hausarbeiten): an eng Villa, wou se n e mat Alkohol voll maachen (Internet) ‚in eine Villa wo sie #n# ihn mit Alkohol betrunken machen’ (vgl. auch Braun et al. 2005: 22).
1171Nübling (1998: 270f.) präsentiert eine Reihe von Einzelpunkten, die Flexive charakterisieren, um sie von der Derivation abgrenzen (u.a. auch Produktivität und keine Movierbarkeit). Da hier Flexive von Klitika abgegrenzt werden sollen, werden nur diejenigen Aspekte übernommen, die für die vorliegende Fragestellung relevant und ausreichend sind.
1180Da der s-Marker obligatorisch ist, finden sich auch deutlich mehr Belege im Korpus, die für eine Systematisierung zur Verfügung stehen.
1218Aus lautlicher Perspektive ist unklar, ob der [s]-Laut in diesen Fällen verlängert wird. Hierzu müssten zusätzliche Studien mit phonetischen Messungen durchgeführt werden.
1225Übersetzungen: ob du willst oder nicht; wann du kommst; die du geliehen hast; denen du wichtig bist; wo du immer wieder jemanden kennst; wie du eingestellt bist; wie du; wer du politisch bist; wen auch immer du damit meinst; wie gerne du die Trauben hast; wie schnell du unterwegs bist; mit welchem Programm du das Foto gespeichert hast; in welcher Region du dich bewegst; was für Bücher du liest.
1232Beginnt das folgende Wort mit einem Konsonanten (mit Ausnahme von d, h, n, t, z), entfällt das n und es bleibt in diesem Fall nur noch ein Schwa übrig.
1232Diese Regel wird in der gesprochenen Sprache konsequent umgesetzt. Im Schriftlichen wird diese Regel nicht immer durchweg berücksichtigt, sodass nicht alle – schriftlichen – Beispiele die n-Regel darstellen.
1232Auch wenn der e-Flexionsmarker nicht als Graphem dargestellt wird, könnte man in einer weiteren Studie überprüfen, ob dieses Schwa lautlich realisiert wird.
1256Es bleibt eine offene Frage, ob diese Homonymien auch ein Grund dafür sind, dass en-Marker nicht sehr häufig verwendet werden.
1265Eine für das Niederländische konzipierte Erklärung für diese Defektivität liefern Hoekstra & Smits (1998).
1268Inwiefern das du-Pronomen mit dem Flexionsmarker st/sd verschmilzt und in welchen Fällen auch andere Subjektpronomen getilgt werden können, wird u.a. bei Bayer (1984) und Weiß (2005) erklärt und problematisiert.
1289Schanen & Zimmer (2012: 188) nennen hier Pronomen, Interrogativa und auch Präpositionen. Es ist allerdings nicht klar, wie sie zu dieser Zusammenstellung kommen. Ich gehe davon aus, dass sie nebensatzeinleitende Elemente umschreiben wollten.
1322Aus: Johann Reinhold Forster's Reise um die Welt während den Jahren 1772-1775 (Forster 1784: 325).
1323Aus: Geschichte des Fürstenthums Hannover. Zweiter Theil (von Spittler 1835: 119).
1333Dabei kann auch eine prosodische Hervorhebung des Subjekts möglich sein. Die Korpusdaten liefern jedoch keinen Aufschluss über diesen Aspekt.
1343Für diese Quantitätsangabe wurde das Korpus durchsucht nach zusammengeschriebenen w-Wörtern in der Kombination mit dass oder datt. Durch die Anfragesyntax wurden auch Adjektivkonstruktionen mitgezählt, insofern das Adjektiv mit einem <w> beginnt (wéi wäit dass ‚wie weit dass’).
1356Dass hier ein neutrales Pronomen (dat) für ein feminines Bezugsnominal (Maus) gewählt wird, liegt an der Genus-Sexus-Asymmetrie im Luxemburgischen bei weiblichen Personen (vgl. Kapitel 6.3).
1360Der Fokus des Aufsatzes von Bayer & Brandner (2008b) liegt in der generativ theoretischen Beschreibung dieses Phänomens. Nichtsdestotrotz liefert dieser Aufsatz einen guten Ausgangspunkt für eine Übersicht der arealen Verbreitung dieses Phänomens. Ohne die generativen Konzepte hier darstellen zu wollen, können die dortigen Belege und Überlegungen mit dem Luxemburgischen abgeglichen werden.
1365URL: www.gutefrage.net/frage/kann-man-ausrechnen-wie-gross-dass-man-wird [letzter Zugriff 15.06.2016].