Lokalgeschichtlicher „heritage“ und seine Interpretation
269Museen von lokaler oder regionaler Bedeutung können unterschiedliche Formen und Größen
haben, vom kleinen vereinsgetragenen „Musée du Sabot“ (Les amis du sabot) in Porcheresse
in den Ardennen bis zum etablierten „Musée de la Vie wallonne“ in Lüttich. Entsprechend
ihrer personellen Kapazitäten und ihrer Ambitionen nehmen die Museen die unterschiedlichen,
in der ICOM-Definition vorgesehenen Aufgaben des Sammelns, des Bewahrens, des Erforschens,
des Ausstellens und des Vermittelns wahr. Sämtliche in dieser Arbeit untersuchte Museen
haben eine Sammlung, die entweder geschlossen ist oder noch ausgebaut wird, sowie
eine Ausstellungsfläche. Im staatlich finanzierten Musée de la Vie wallonne arbeiten
Ethnologen, Sprachforscher, Kunsthistoriker, Historiker und andere Experten an den
Sammlungen. In kleinen Museen ist die Palette der Formen des wissenschaftlichen Engagements
ihrer Betreiber breit. Die Träger des Musée de Wanne sind weniger an der Erforschung
ihrer Exponate interessiert als etwa die Geschichtsfreunde des Roeserbanns, die punktuell
Synergien mit etablierten Forschungsinstitutionen eingehen. Die Sammlungen von lokal
ausgerichteten Museen sind dennoch reich und werden von der Museumsfachwelt und von
der akademischen Forschung oft unterschätzt. In einem Aufsatz, der im zweiten Jahrgang
der „Annales d’histoire économique et sociale“ unter dem Titel „Musées ruraux, musées
techniques“ erschien, hielt Marc Bloch bereits 1930 fest, die betroffenen Museen seien
„riches en enseignements de toute sorte“
, ob es sich nun um die technische Entwicklung, um „vie religieuse, bagage mental“
, Folklore oder Sozialgeschichte handele. Er wies aber auch auf die Schwierigkeiten
hin,
d’assigner une date, qui ici, pour être utile, devra être assez précise, à un soc, une herse, un métier à tisser. C’est tout le problème de l’histoire technologique que soulèvent de pareils musées; car bien entendu, comme ailleurs, la disposition des objets dans les salles d’exposition, et leur étude livresque doivent aller de pair. (Bloch 1930: 249-250)
270Die Größe und Beschaffenheit der Ausstellungsfläche hängen von den Mitteln und Ambitionen ihrer Betreiber ab. Das Vorgehen mancher (professioneller) Museumskonservatoren bei der Gestaltung dieser Fläche beschrieb Bloch, der von der Ausstellungsgewissenhaftigkeit skandinavischer Freilichtmuseen begeistert war, 1930 folgendermaßen:
A son aise devant un tableau, le conservateur de musée, devant une charrue ou un rouet, souvent ne sait trop que faire. Très naturellement, il tend à considérer, sans discrimination, tout ce bric-à-brac comme une sorte de toile de fond de tableau, destiné à recréer l’“athmosphère“ ou la „couleur locale“. (Bloch 1930: 250)
271Bloch befand die „musées de civilisations provinciales“
seiner Zeit wie das „Musée Alsacien“
und das „Musée Arlaten“
als „fort beaux“
, aber er kritisierte ihre fehlende Authentizität.
Ces musées restent, au fond, tout urbains. C’est dans des chambres de maison bourgeoises ou des palais [que les conservateurs] disposent ces rustiques reliques, dépaysées comme, dans un salon, un manouvrier en sabot […] Ce qu’on nous donne, c’est un peu de pittoresque, où manque d’ailleurs le paysage; ce n’est guère un instrument d’étude. (Bloch 1930: 250-251)
272Dem von Bloch gebrauchten Begriff „civilisation“
entspricht in der deutschen Geschichtsschreibung am ehesten der auf Karl Lamprecht
zurückgehende Begriff „Kultur“
, so Franz irsigler. (Irsigler 1990: 74-75) Das von Bloch angeführte Nachbilden könnte
auch auf eine Reihe von Amateurmuseen übertragen werden. Im Gegensatz zu den großen,
professionell geführten Museen gehört es zum Charakteristikum der meisten Amateur-Museen,
dass alle Sammlungsgegenstände ausgestellt werden. Dies hängt sowohl mit der Raumknappheit
zusammen als auch mit dem Wunsch der Betreiber, die Gesamtheit der „Schätze“ zu präsentieren.
(Jannelli 2012: 23) Für die „Bricoleur“-Kuratoren ist die Ausstellung dabei weit mehr
als nur eine Präsentationsfläche für das Publikum. Sie liefert gleichzeitig die Formen
für die Strukturierung der Sammlung, so Jannelli.
[Bricoleure] befragen ihre Schätze in der Annahme, dass die Gegenstände verraten, wozu sie gut sind und wozu man sie brauchen kann. Die wilden Museumsmacher organisierten ihre Sammlung also im Hinblick auf ein für ihr „Projekt“ adäquates Ergebnis, d.h. sie arrangieren die vorhandenen Objekte in der Ausstellung so, dass sich ein aussagekräftiges, schlüssiges und sinnvolles Bild ergibt. (Jannelli 2012: 27)
273Anhand von konkreten Fallbeispielen werden in der Folge einige von lokalgeschichtlichen Museen häufig aufgegriffene Themen untersucht. Mit diesem Zugriff soll ergründet werden, wie sich Lokalgeschichte heute in Museen präsentiert, an was die Betreiber der betroffenen Museen erinnern, welche Erinnerungen sie ausschließen und warum sie das tun, wie sie bei der Inszenierung vorgehen und welche Wirkung sie sich davon versprechen. Es ist mir dabei durchaus bewusst, dass ich mit der subjektiven Auswahl der Themen nur einen Ausschnitt der Konstruktion von „Heimat“ erfassen kann.
Alltag
27487 von 353 der in die Untersuchung einbezogenen Museen widmen sich Themen, die in Zusammenhang mit dem gleichförmigen Ablauf des Lebens stehen und gemeinhin dem Oberbegriff Alltag zugeordnet werden können.5 (Duden online-Wörterbuch)
275Alltag ist vor allem ein Museumsthema in ländlichen Gegenden. Damit ist die Feststellung Gottfried Korffs, der Begriff „Alltag“ in den 1970er Jahren den „abgenutzten“ Begriff der „Heimat“ in den bundesdeutschen Museen ersetzt hat, auch für lokalgeschichtliche Museen in Luxemburg und Wallonien bestätigt. Über die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alltag und der Alltagsgeschichte liefert Anja Schöne einen prägnanten Überblick. (Schöne 1998: 17-78) Interessant für den Zugriff der vorliegenden Arbeit ist der Begriff der Lebens- oder Alltagswelt, den Edmund Husserl entwarf.
Vorgegeben ist sie [= die Lebenswelt] uns allen natürlich, als Personen im Horizont unserer Mitmenschheit, also in jedem aktuellen Konnex mit Anderen, als ‚die’ Welt, die allgemeinsame. So ist sie [ ...] der ständige Geltungsboden, eine stets bereite Quelle von Selbstverständlichkeiten, die wir, ob als praktische Menschen oder als Wissenschaftler, ohne weiteres in Anspruch nehmen. (Husserl 1954: 124)
276Im Anschluss an Husserls Gedanken charakterisiert sich die Lebenswelt für Alfred Schütz
und Thomas Luckmann als Welt, die für das Individuum „fraglos und selbstverständlich ‚wirklich’ ist. [Sie ist] von Anfang an nicht [eine]
Privatwelt, sondern intersubjektiv; die Grundstruktur ihrer Wirklichkeit ist [den
Menschen] gemeinsam.“
Sie ist eine „Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann“
, die ihn aber auch im Gegenzug verändern kann. (Schütz/Luckmann 1975: 23-24) Für
Rudolf Vierhaus bezeichnet die Lebenswelt „ die – mehr oder weniger deutlich – wahrgenommene Wirklichkeit […], in der soziale
Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum Wirklichkeit
produzieren.“
Dazu gehört „alles, was Sinnzusammenhänge herstellt und Kontinuität stiftet.“
(Vierhaus 1995: 9 u. 13) Die Lebenswelt überschneidet sich teilweise mit dem Alltag,
wie ihn Norbert Elias versteht. Für diesen sind sich wiederholende Handlungen, die
im Gegensatz zum Einzigartigen stehen, kennzeichnend. Allerdings schließen die skizzierten
Lebenswelt-Konzepte auch Festtage ein, die Elias in seiner Alltagsdefinition nicht
berücksichtigt. (Elias 1978) Auch Alf Lüdke fasst die zwei grundlegenden Herangehensweisen,
um den Alltag zu erfassen, prägnant zusammen. Ein Ansatz erfasst ihn als ewig gleichbleibende
statische Struktur mit repetitiven Routinen. In einer anderen Betrachtungsweise beinhaltet
die Geschichte des Alltagslebens mehr als nur Situationen, die im täglichen Überlebenskampf
(und der momentanen Erfahrung von Alltagsereignissen) immer wieder auftreten. Diese
Rekonstruktion des Alltags arbeitet heraus, wie die Teilnehmer gleichzeitig zu Objekten
der Geschichte wurden und sie umgekehrt auch beeinflussten. (Lüdke 1995: 5-6) In der
französischen historischen Anthropologie im Gefolge der Annales-Schule spielte ab
dem Ende der 1960er Jahre der Alltag, das Epochentypische und das Wiederkehrende eine
wichtige Rolle. Als Beispiel sei die von Georges Duby herausgegebene fünfbändige Geschichte
des privaten Lebens erwähnt, die zwischen 1985 und 1987 erschien.
277Die Liste der Themen von Museen, die sich mit geographischen Heimaten befassen, liest sich wie ein Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis der von Heinz Gerhard Haupt herausgegebenen Aufsatzsammlung ‚Orte des Alltags’: der Acker, das Bergwerk, die Mühle, der Laden, die Werkstatt, die Fabrik, das Wohnzimmer, die Küche, das Kinderzimmer, das Fest, die Schule. (Haupt 1994: 5) Sie drehen sich um das vertraute Heim als dem Kern der „Heimat“ und um die damit verbundenen wirtschaftlichen Tägigkeiten. 107 der 353 Museen präsentieren Handwerksberufe entweder im Themenbereich des ländlichen oder städtischen Alltags oder im Rahmen von monothematischen Handwerkmuseen.
278Instrumente zur Herstellung von Fässern, wie sie z. B. im Museums „A Possen“ gezeigt werden, Utensilien zur Milchverarbeitung, die im Musée rural in Binsfeld ausgestellt werden oder Getreidedreschinstrumente, die sich in vielen ländlichen Museen befinden, stehen für ein Know-How, das von ihren Sammlern als wichtiger immaterieller lokaler „heritage“-Bestandteil angesehen wird. Von der UNESCO werden die damit verbundenen Fertigkeiten nicht als immaterielles Kulturerbe angesehen, da die Fähigkeiten nicht mehr aktiv entwickelt und gepflegt werden. Dies berührt die berechtigte Frage, ob sich der „heritage“-Wert von materiellen Museumsobjekten nicht vor allem aus ihrem immateriellen Potenzial erschließt, wie es Pomians Semiophoren-Begriff implizit zum Ausdruck bringt. Die durchaus spannende Problematik, wo die Grenze zwischen materiellem und immateriellem „heritage“ anzusiedeln ist, überschreitet den Rahmen dieser Untersuchung.
279Die in der durch ein Seil abgetrennten, originalen Milchküche des Possen-Hauses präsentierte Verarbeitung von Milch kann trotz des am Eingang befestigten Informationsblattes über die Herstellung von Butter und Käse als kognitiv-ästhetisch betrachtet werden. Manche Utensilien sind in mehrfacher Ausführung ausgestellt, und es erschließt sich unkundigen Besuchern nicht, was die Museumsverantwortlichen mit dem Raum genau bewirken wollen. Die ebenfalls ohne Beschriftung ausgestellten Objekte zur Milchverarbeitung des Musée rural in Binsfeld sind im vormaligen Stall des Bauernhauses ausgestellt. Sie werden von einer illustrierten, „Von der Milch zur Butter“ betitelten Texttafel begleitet, deren erster Teil davon erzählt, wie der Pfarrer von Holler die Bauern 1902 davon überzeugte, eine Molkerei zu gründen, die es sogar schaffte, die lokale Butter in der Hauptstadt zu verkaufen. Der zweite Teil informiert die Besucher über die Entstehung der Molkerei „Luxlait“ aus den lokalen Molkereigenossenschaften und über den Einfluss der europäischen Agrarpolitik auf die lokale Landwirtschaft seit 1962. Auf den Gebrauch der ausgestellten Objekte geht sie nicht ein.
280In beiden Museen wird nicht klar, ob die Objektensembles die historische Entwicklung der Milchverarbeitung oder soziale Unterschiede illustrieren sollen, oder ob es sich um eine „bricoleur“artige ästhetische Präsentation handelt, die sich aus der Fülle der Sammlungen erklärt.
281Der für die Moselgegend wichtige Bereich des Weinanbaus wird im Museum „A Possen“ durch die kommunikative Darstellung des Küferhandwerks, die analogische Rekonstruktion einer Weinstube sowie eine ästhetisch-kognitive Ausstellung von Weingläsern, Weinetiketten, Korkenziehern u. Ä. mit einem didaktischen Erklärungsvideo zur Glasherstellung angeschnitten. Für den heutigen Weinanbau relevante Themen wie die Umstellung auf Biowein, Pestizide, die Stellung von Wanderarbeitern während der Weinlese oder Absatzmärkte werden nicht angeschnitten. Die Ausstellungseinheit verharrt in einer kritiklosen anachronistischen Darstellung einer wirtschaftlichen Lebenswelt, die so nie existierte.
282In dem „Das Unheimliche“ betitelten Essay beschäftigte sich der Psychoanalytiker Sigmund
Freud nicht nur mit dem „Schreckhaften“
, sondern auch mit seinem Gegenteil, das für ihn das „Altbekannte, Längstvertraute“
war:
„
Das deutsche Wort
‚
unheimlich’ ist offenbar der Gegensatz zu heimisch, vertraut und der Schluß liegt
nahe, es sei eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt und vertraut ist.“
(Freud 1919: 4) Über das „Zustandekommen des unheimlichen Gefühls
“ schrieb Freud weiter unter Bezugnahme auf die Schrift des Psychiaters Ernst Jentsch
„Zur Psychologie des Unheimlichen“ (Jentsch 1906) und führte auch sprachhistorische
Argumente für die Begründung seiner These an, indem er die Angaben aus Daniel Sanders’
Wörterbuch der Deutschen Sprache aus dem Jahr 1860 ungekürzt wiedergab:
Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt. Je besser ein Mensch in der Umwelt orientiert ist, destoweniger [Originalorthographie] leicht wird er von den Dingen oder Vorfällen in ihr den Eindruck der Unheimlichkeit empfangen.[…] Heimlich, a. (–keit, f. –en): 1. Auch Heimelich, heimelig, zum Hause gehörig, nicht fremd, vertraut, zahm, traut und traulich, anheimelnd etc. a) (veralt.) zum Haus, zur Familie gehörig oder: wie dazu gehörig betrachtet, vgl. lat. familiaris, vertraut: Die Heimlichen, die Hausgenossen. […] Die H--keit der Heimath zerstören. Gervinus Lit. 5, 375. So vertraulich und heimlich habe ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden. G.14, 14; Wir dachten es uns so bequem, so artig, so gemütlich und h. 15, 9; In stiller H—keit, umzielt von engen Schranken. Haller; Einer sorglichen Hausfrau, die mit dem wenigsten eine vergnügliche H--keit (Häuslichkeit) zu schaffen versteht. […] In dem Haus ist mir’s so heimelig gewesen [Auerbach, D.] 4, 307; Die warme Stube, der heimelige Nachmittag.
(Freud 1919: 5)
283In seiner sprachlichen Analyse bezog Freud auch die französische Bedeutung des Wortes
unheimlich ein, das er nach dem deutsch-französischen Wörterbuch Sachs-Villate mit
„inquiétant, sinistre, lugubre, mal à son aise“
übersetzte. Aus englischen Wörterbüchern übernahm er die Übersetzungen „uncomfortable, uneasy, gloomy, dismal, uncanny, ghastly, von einem Hause: haunted,
von einem Menschen: a repulsive fellow.“
(Freud 1919: 5) Leider beschäftigte er sich nicht mit der französischen und englischen
Bedeutung des mit dem Begriff „heimlich“ verknüpften Wortes „Heim“. Diesem entspricht
im englischen das Wort „home“ und im französischen das Wort „foyer“, das wörtlich
mit „Herdfeuer“ übersetzt werden kann. Der Ort, an dem das Herdfeuer brennt, ist der
Ort, an dem sich der Mensch „heimlich“, geborgen und angstfrei fühlt, wie auch Freud
unter Zugriff auf die Ausgabe des grimmschen Wörterbuchs von 1877 feststellte. Das
Wörterbuch notierte zu „heimlich“ „in etwas anderem sinne: es ist mir heimlich, wohl, frei von furcht … […] heimlich
ist auch der von gespensterhaften freie ort …
.
“
(Freud 1919: 9) Klischeehaft ausgedrückt war es an diesem „heimeligen“ Ort, wo zu
unbestimmter früherer Zeit die oben erwähnte „sorgliche Hausfrau, die […] eine vergnügliche Heimlichkeit […] zu schaffen“
verstand, während das Herdfeuer die Küche und in besser situierten Haushalten über
eine Kaminplatte das Wohnzimmer oder die bereits im Zusammenhang mit dem Musée gaumais
erwähnten „pèle“ oder „belle chambre“ erhitzte. In Fernsehfilm „Heimat“, tritt der
Kriegsheimkehrer Paul, nachdem er auf dem Misthaufen seine Notdurft verrichtet hat
und seinem Vater kurz bei der Schmiedearbeit zur Hand ging, in die Küche ein, in der
seine Mutter mit alltäglichen Verrichtungen beschäftigt ist, während im Herd ein Feuer
brennt. Im Luxemburger „Segenstrom der Heimat“ hob der Biologielehrer Edmund Josef
Klein (1866-1942) 1938 das Bedürfnis nach dem „eigenen Dach“
hervor:
Das Dach über dem Kopfe ist uraltes Bedürfnis der frierenden Menschheit, der Begriff der eigenen Behausung steht hinter allen Kulturanläufen. Solange der Mensch das Obdach nicht im Besitze hat, das er über sich spannt, fühlt er sich nicht als Ganzer auf dem Boden seiner Väter, und bei Erbstreitigkeiten gehen meist die höchsten Wogen um den Besitz der bislang gemeinsam innegehabten Elternwohnung. (Klein 1938: 19)
284„Heimelige“ Alltagseinrichtungen verschiedener Art illustrieren vor allem das ländliche
Leben, aber auch in den Bergbaumuseen Musée de la Mine et du Développement Durable
in Bois-du-Luc und im Bois du Cazier stehen Arbeitermusterhäuser. Den Betreibern scheint
es also darum zu gehen, den Besucher ihre Vorstellung von „früherer“ Heimlichkeit
zu vermitteln. Gottfried Korff warf ihnen vor, mit „Dreschflegel- und Arbeiterküchen“
den Besuchern „kulturelle Trivialkonstrukte“
zu präsentieren. (Korff 1993: 160)
285Das Wein- und Folkloremuseum „A Possen“ in Bech-Kleinmacher an der Luxemburger Mosel ist ein treffliches Beispiel für den Umgang eines ländlichen Museums mit dem „heimlichen“ Alltag. Offiziell eröffnet wurde das Haus 1973 vom Arzt Prosper Kayser und seiner Ehefrau Gaby Gales, die damals beide in der Hauptstadt Luxemburg lebten, aber ursprünglich aus der Moselgegend stammten. Es befand sich in dem auf das Jahr 1617 zurückreichenden Winzerhaus „Possen“, das der Arzt 1965 als Lager für seine Privatsammlung gekauft und 1971 durch den Kauf eines Nebengebäudes erweitert hatte. 1973 kaufte die Gemeinde eine weitere Scheune, um Kayser mehr Platz für seine Sammlung zu schaffen. 1977 und 1984 wurden die Häuser „A Muedels“ und „An Uedem“ angekauft. Seit 1993 wird das Haus von der Fondation Possenhaus getragen, in der auch das Luxemburger Tourismus-, das Wirtschafts- und das Kulturministerium sowie die Gemeinde vertreten sind. Den Unterhalt der Gebäude bestreitet der Luxemburger Staat, der 1998 zwei weitere Häuser hinzukaufte und renovieren ließ. Seit 1994 ergänzt eine Weinstube das Museumsangebot. Bis 2010 wurden umfangreiche Modernisierungsarbeiten durchgeführt. (Schartz 2010) Mittlerweile beschäftigt das Haus fünf Personen (A Possen) und empfängt zwischen 3.000 und 5.000 Besucher pro Jahr. (Trapp 2017) Obwohl es mittlerweile unter professioneller Leitung steht, erfüllt das Museum, dessen Sammlungen aus Schenkungen und Ankäufen durch den Gründer bestehen, weiterhin viele Merkmale eines „wilden“ Museums.
286Zwei (mit Plastik überzogene) Textseiten, die den Besucher am Eingang überreicht werden, dienen zur Orientierung in den verschachtelten Räumen. Piktogramme liefern Hinweise auf die thematische Ausrichtung.
287Das Museum besteht aus reinen Sammlungsabteilungen sowie aus lebensweltlichen und gemischten Bereichen. In den Sammlungsräumen werden Spielzeug aller Art, Blechspielzeug, Puppen, Teddys und Textilien zwischen 1830 und 1930 (Information aus dem Orientierungsblatt), aber auch religiöse Sammlungen und Utensilien zur Milchverarbeitung ausgestellt. Die fabelartige Inszenierung eines historisch nicht datierten Schulklassenraums mit Teddybären, ein den katholischen Übergangsritualen gewidmeter Bereich und eine Abteilung, die sich mit dem Küferhandwerk befasst, sind „Mischräume“, die sowohl analogische wie ästhetisch-kognitive Elemente aufweisen.
288In dem durch ein Holzkreuz, einen gusseisernen Ofen und einen altertümlichen „roten Löwen“ vage in die Zwischenkriegszeit datierten Schulraum hat der am Pult stehende Stoffbär die Rolle Lehrers übernommen. In den Holzbänken sitzen die Schüler. Die Interpretation der textlosen Inszenierung bleibt den Besuchern überlassen. Eine Beschreibung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses aus den 1930er Jahren lieferte der Deutschlehrer und spätere Vorsitzende der Volksdeutschen Bewegung Damian Kratzenberg (1878-1946) 1938 im „Segenstrom der Heimat“, wenn er fragt:
Steht dir der Sinn danach, später Menschen heranzubilden, unwissende, schwache, bösartige Kinder zu aufgeklärten, starkmütigen, guten Menschen zu machen, verspürst du den Drang, gerade den Törichten und Übelwollenden mit immer sich erneuernder, nie versiegender Liebe zu empfangen, trotz aller Enttäuschungen und Bitternisse, dann werde Lehrer. (Kratzenberg 1938: 138)
289Für die menschlichen Konflikte, auf die Kratzenbergs Darstellung des Lehrerberufs hinweist, gibt es in der Museumspräsentation keine Hinweise.
290In den reinen Sammlungsräumen zeigen die Museumsakteure die Fülle der Bestände. Die Räume sind thematisch gegliedert und durchgängig in „kognitiv-ästhetischer“ Manier inszeniert. Die Ausstellungsmacher gehen davon aus, dass die Besucher den Gebrauchskontext der Gegenstände kennen und deuten können. Es gibt kaum Raumtexte und auch die Objektbeschriftungen sind – wenn vorhanden – sehr knapp formuliert. Den Exponaten der zwei Räume umfassenden Puppensammlung sind kurze, technische Beschriftungen zugeordnet, die sich an den Informationsbedürfnissen von Puppensammler orientieren. Andere Objektbeschriftungen stellen die Schenker in den Vordergrund, ohne den Besuchern Informationen über Sinn und Zweck der Exponate zu liefern. Aus diesem Grund bietet sich hier der Begriff „Schenkerbeschriftung“ an. Eine dritte Art der Kennzeichnung fasst Objektgruppen (öfter auch mit Hinweis auf ihren Verwendungszweck) zusammen. Diese Beschreibungen könnten als „Überblicksbeschriftungen“ bezeichnet werden.
291Der dem religiösen Alltag gewidmete Sammlungsraum weist auf die sich aus der ästhetisch-kognitiven Vorgehensweise ergebenden Probleme hin. Dort präsentieren die Museumsverantwortlichen unkommentierte, in Kategorien gegliederte, „wild“-ästhetisch arrangierte religiöse Utensilien. Weihwassergefäße reihen sich an Weihwassergefäße, Holz- und Metallkreuze befinden sich neben Kreuz- und Jesusdarstellungen, Muttergottesbilder aller Art und ein Rosenkranz hängen bei kreisförmig geordneten Muttergottesanhängern. Wertvollere dreidimensionale Objekte werden durch Vitrinen geschützt. Der Raum vermittelt eine undatierte, aber durch das leicht altertümliche Aussehen der Exponate in der Vergangenheit liegende Allgegenwart des Katholischen im Leben der Menschen.
292In einer Vitrine befinden sich auf einem Glastablett über einer Gruppe von Krippenfiguren drei sogenannte Nickneger (lux. „Méiercher“). Es handelt sich dabei um Missionsspardosen, die bis in die 1970er Jahren in den Kirchen – zuletzt nur noch in der Weihnachtszeit neben Krippen – aufgestellt wurden. Über einen speziellen Mechanismus nickten die dargestellten schwarzen Jungen bei Geldeinwurf. Die Objekte sind materielle Zeugnisse eines schwierigen kolonialen Welt-„heritage“, das durch die fehlende Kontextualisierung im Museum „A Possen“ nicht nur in den harmlosen Folklorebereich verfrachtet wird, sondern auch das heute politisch nicht korrekte Bild des für Almosen dankbaren Schwarzen weitertransportiert.
293Zu den lebensweltlichen Räumen, die als lebensgroße Dioramen dargestellt werden, gehören zwei Küchen (eine im „Possen“-Haus und eine im „Muedel“-Haus), eine „gute Stube“, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, eine Schusterwerkstatt, eine Nähstube, eine Kneipe und ein Klassenzimmer. Diese „heimlichen“ Räume befinden sich bis auf die „Muedel“-Küche im „Possen“-Haus, das im Orientierungsmerkblatt folgendermaßen eingeführt wird:
Die Reise in die Vergangenheit kann beginnen. Wir gehen ins Possenhaus. Das Haus wurde 1617 erbaut und ist so gut wie im Originalzustand. Abgeleitet wurde der Name „A Possen“ von den Bewohnern des Hauses, der Familie Post. Hier kann man sehen, wie sich der Alltag einer 8-köpfigen Familie gestaltete. Das Schlafzimmer, die gute Stube, die schwarze Küche und die Milchkammer zeigen, dass es im Alltag nicht immer einfach war und man häufig improvisieren musste, um das Leben etwas einfacher zu gestalten. In der oberen Etage befinden sich das Kinderschlafzimmer mit Wiege, Krippe und zahlreichen Accessoires.
294Die in den lebensweltlichen Räumen ausgestellten Exponate haben keine Objektbeschriftungen. Ihr Gebrauchszusammenhang soll sich den Besuchern durch die lebensgroßen Dioramen, in die sie eingefügt wurden, erklären. Der wegen des dunklen Feuerrußes als schwarze Küche bezeichnete Raum befindet sich ebenso am originalen Standort im Winzerhaus wie das daneben liegende Wohnzimmer. Das Feuer der Küche heizte über eine in der Zwischenwand eingelassene Kaminplatte (lux. „Tak“), das Wohnzimmer, wo sie mit einem Schrank (lux. „Takeschaf“) umgeben war. Das Museum „A Possen“ präsentiert seine häuslichen Sammlungen demnach in einer originalen Umgebung, wie sie schon von Marc Bloch in den 1930er Jahren für Volkskundemuseen gefordert wurde. Die Exponate, die die Ausstellungsmacher in den beiden Räumen angeordnet haben, stammen allerdings nicht aus der gleichen Zeit. Wenn es auch noch glaubhaft ist, dass der „Takenschrank“ sich noch im Wohnzimmer befand, als dieses bereits mit einem gusseisernen Ofen beheizt wurde, so ist es doch unwahrscheinlich, dass zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme eines Ofens die offene Feuerstelle mit Rauchfang in der nebenanliegenden Küche noch in Betrieb war. Es ist eher anzunehmen, dass sich an dieser Stelle ein ebenfalls mit Holz befeuerter Metallherd befand. Im Gegensatz zur Küche der Familie Deuffic in Goulien im Finistère, die Georges Henri Rivière nach einem genauen Protokoll rekonstruierte, (Rolland-Villemot 2016: 27) haben die beiden Ausstellungsräume weitgehend Phantasiecharakter und suggerieren ein Bild des vergangenen „Heimlichen“, das so nie existiert hat, ein Kennzeichen, das auf viele Amateur-Museen zutrifft. Auf der rechten Seite der schwarzen Küche befindet sich die an der Rückseite des Herdfeuers angebrachte Kaminplatte, über die das angrenzende Wohnzimmer beheizt wurde.
295Wie Amateur-„Bricoleure“ bei Rekonstruktionen vorgehen, wird deutlich im Maison tournaisienne in Tournai, wo sich neben einigen Dioramen „Belegphotographien“ befinden. Diese Bilder sollen nachweisen, dass die Dioramen wie Periodenräume naturgetreu rekonstruiert wurden. Dies ist in den meisten „Bricoleur“-Museen allerdings nicht der Fall.
296In den „wilden“ Museen folgt die Rekonstruktion von Lebenswelten in der Regel den Prinzipien von Amateur-„Living-History“-Gruppen. Im Gegensatz zu den Ethnographen in der Tradition von Rivière, die sich exzessiv um naturgetreue Nachbildungen bemühten, inspirieren sich „wilde“ Ausstellungsmacher durch Photographien, Gemälde, Filme u. Ä., um zu konstruieren, wie es in einer unbestimmten früheren Zeit hätte aussehen können. Sie beachten nicht, dass es sich bei ihren Inspirationsquellen häufig um stereotypische Interpretationen von Lebenswelten handelt. Mangelnde Kenntnisse über die Gleich- oder Nichtgleichzeitigkeit von Objekten, gekoppelt an einen verlockenden Sammlungsreichtum, führen so zur Konstruktion von anachronistischen Bildern des „Heimlichen“.
297Die schwarze Küche im Museum „A Possen“ vermittelt die statische Vorstellung einer
wohlgeordneten, materiell abgesicherten, zeitlich verschwommenen Früher-Vergangenheit.
In keinem Fall entnehmen die Besucher der Küchenszene, dass der „Alltag nicht immer einfach war und man häufig improvisieren musste, um das Leben
etwas einfacher zu gestalten“
, wie im Orientierungsblatt vermerkt ist. Die einzelnen Objekte, in diesem Fall der
original rußgeschwärzte Raum an sich, die Kupfer- und Gusseisentöpfe, die Keramikgefäße
u. Ä., die jedes einzelne ein „heritage“-Zeugnis sind, werden zu Dekorationsobjekten
eines fiktionalen lebensweltlichen Tableaus, Ausdruck des Vergangenheitswunschbilds
seiner Schöpfer.
298Das „gute Stube“-Diorama im Possen-Museum macht deutlich, wie über die analogische Darstellungsweise – mit und ohne Mannequins – dem Publikum auch stereotype gesellschaftliche Rollenbilder vermittelt werden. Die Ausstellungsmacher präsentieren einen einfach gedeckten Tisch, auf dem ein Gericht in einer Terrine, Kartoffeln und Spiegeleier stehen. Wasser- und Weingläser deuten an, dass beide Getränke zur Auswahl standen. Es bleibt den Besuchern überlassen zu deuten, ob die Szene sich auf einen Wochen- oder einen Feiertag bezieht und ob eine Familie, die über genügend finanzielle Ressourcen verfügte, um sich eine repräsentative Stube leisten zu können, den Tisch mit solch einfachem Geschirr eindeckte.
299Auf dem Wohnzimmerschrank steht eine Weinflasche mit Glas. Die Kappe, die Brille,
die Zeitung, der Stock auf dem Sessel sowie die Männerschuhe vor dem Sessel deuten
einen älteren Mann an (lux. „Pätter“), zu dem Weinglas und Flasche gehören. Suggeriert
wird das stereotype Bild des zeitunglesenden alten Winzers, der jahraus, jahrein (oder
nur an Sonntagen?) am Ofen saß, Wein trank und seinen Ruhestand genoss. Im Museum
Thillenvogtei in Rindschleiden im Luxemburger Ösling steht ein ähnlicher Sessel vor
einem gusseisernen Ofen neben einem mit Holzscheiten gefüllten Korb. Beide Museumsinszenierungen
erinnern an Johann Peter Erpeldings 1938 beschriebenen alten Mann am Ofen, der „von Zeit zu Zeit in dem wurmstichigen, quietschenden Holzkorb [wühlte …], nach dem
rechten Stück [suchte] und […] es auf die glimmenden Kohle
n
“
legte (Erpelding 1938: 137) und Nikolaus Heins Raucher, der, wenn seine Zunge „vom langen Erzählen müde geworden [war …] aus der Kitteltasche die schwarze, gewundene
Tabakrolle [herauszog] und davon behaglich Lage um Lage in die hohle Hand [schnitt].
Nachdem dann Tabakrolle und Messer wieder verstaut waren, wurde der Vorrat in der
Hand in langsamem, gleichmäßigem Schleifen verrieben und in die Pfeife gestopft.“
(Hein 1938: 27)
300Wo aber sind die anderen sieben Mitglieder der im Orientierungsblatt erwähnten achtköpfigen Familie des Museums „A Possen“ ? Wie ist das Essen auf den Tisch gekommen? Mit dem (links) neben dem Sessel im „Possen“-Haus stehenden Spinnrad wird das Bild der Faden spinnenden Mutter aktiviert. Im „Segenstrom der Heimat“ beschrieb der liberale Schriftsteller Batty Weber (1860-1940) die unsichtbare Spinnerin:
Ich kann mich von dem Bild der Stube nicht trennen, ohne meiner Mutter am Spinnrad mit derselben Versonnenheit zu gedenken, mit der ich als kleiner Junge zu ihren Füßen saß. Ich sehe die rundliche Hand, die aus dem blonden Rocken das Strähnchen zupft, die Spindel mit den häkchenbewehrten Flügeln schnurrt und wickelt den Zwirn auf die Spule und sieht im Herumschnurren aus wie eine Glocke aus mattem Glas. Und in den Faden hinein läßt die Spinnerin ihre Träume und Gedanken gleiten, denen sie sich in diesen Stunden der einförmig mechanischen Arbeit versunken hingeben darf. An und zu ruht der Fuß auf dem Trittbrett, sie greift zu irgend einer regelnder Handhabung in das Spiel des Fadens ein, und ein verträumtes Lächeln, mit dem sie den kleinen Zuschauer ansieht, unterbricht die Reihe der Bilder, in denen mit Erinnerung und Hoffnung, mit Beglückung und Sorge ihr Frauenleben im Schnurren des Spinnrades an ihr vorüberzieht. (Weber 1938: 20-21)
301Die Wohnzimmerszene des Museums „A Possen“ bestätigt die Aussage Smilla Ebelings,
dass die Museen durch ihre Darstellungsweise auf Text-, Bild- und Figurenebene bestimmtes
Geschlechterwissen reproduzieren und sogar konstruieren. (Ebelings 2016: 30) In diesem
Fall geht es um ein tradiertes Geschlechterbild und -verhältnis: der alte Mann ruhend
und lesend im Sessel, die Frau, tätig am Spinnrad. Mit der analogischen Darstellungsweise
fixieren die Museumsakteure die Interpretation des „Heimlichen“. In der mit „heimlichen“
Utensilien bestückten ehemaligen Küche des Lehrers und Museumsgründers Armand Pellegrin
(1884-1971) im gleichnamigen Museum in Hélécine in der wallonischen Provinz Brabant,
das sich in erster Linie an Schüler richtet, wird dem jungen Publikum das traditionelle
Geschlechterverständnis unkommentiert durch originale, allerdings undatierte Textbänder
vermittelt: „Frau, gestalte Dein Heim fröhlich und das Wirtshaus wird schließen“ oder „Nüchterner
Vater, saubere Mutter, brave Kinder: ein glücklicher Haushalt.“
[deutsche Übersetzungen der Autorin]
302Die als glaubwürdige idyllische Oase präsentierte „gute Stube“ in Bech-Kleinmacher und die Küche in Hélécine haben eine immersive Kraft, die Besucher verleitet, das dargestellte Geschlechterverhältnis als Wahrheit und sogar als Vorbild anzunehmen. Verstärkt wird diese Wirkung durch den authentischen Charakter der Museumsgebäude. Im Museum „A Possen“ trägt die oben erwähnte Erzählung des Orientierungsmerkblattes ein weiteres dazu bei, dass Besucher die Grenzen zwischen der dargestellten Realität und der Museumsrealität vergessen. Dieses Vorgehen ist allerdings nicht nur ein Kennzeichen von Amateur-Museen wie dem Museum „A Possen“. Im Musée de la Mine et du Développement Durable im Bois-du-Luc wurde die originale Telefonzentrale mit einem eine junge Frau darstellenden gesichtslosen Mannequin ausstaffiert. Das Museum vermittelt damit anschaulich (textlos) die Information, dass Telefonistin ein weiblicher Beruf war. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zentrale des Unternehmens wirklich mit Frauen besetzt war. Dieses Beispiel zeigt einerseits, dass die Rekonstruktion von historischen Situationen ein anschauliches Mittel für die Schaffung eines Bewusstseins der Vergangenheit in der Art des „so war es“ ist. Sie ist aber nicht dafür geeignet, den Besucher anzuregen, sich kritisch mit der dargestellten Situation auseinanderzusetzen und sich z. B. zu fragen, welche anderen Möglichkeiten die fiktionalen Akteure in einer bestimmten Situation hatten.
303Das zu Beginn der 1980er von einem Verein gegründete und 2015 renovierte Musée rural in der Luxemburger Ösling-Gemeinde Binsfeld (Musée rural Binsfeld) verstärkt den normativen Charakter der von den Ausstellungsinszenierungen vermittelten Rollenbilder mit Ausstellungstexten. In einem „Moral und Unmoral“ betitelten luxemburgischen Raumtext heißt es:
Die christliche Familie sollte ein Heim von Frömmigkeit, Moral und Ordnung sein, in dem die Kinder zu Fleiß und Ordnung erzogen wurden. Die große Familie war eine Solidargemeinschaft, die in der Not häufig an der Grenze zum Existenzminimum lebte und sich um die Alten und Kranken kümmerte. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen haben diesen Zusammenhalt sichtbar gelockert und die großen Familien mit mehreren Generationen unter einem Dach sind heute verschwunden. […] Bis vor ein paar Jahren war die Bevölkerung im Ösling zu 100% katholisch. Der Pfarrer war die oberste moralische Instanz und sorgte in seinen Predigten und in der Schule für Anstand. Der Modernismus, das Zusammenleben ohne Trauschein, der Alkohol, die Bälle und unsittlichen Bücher wurden verteufelt. Um 1900 begann ein Wandel, der sich auch in den Dörfern durchsetzte: Pastoraltheologische Schriften aus den 50er und 60er Jahren beweisen, wie die Kirche für Sitten und Moral kämpfte. In den letzten Jahren wurde der Riss auch in Luxemburg immer größer. Im Jahr 2015 unterschrieb der Staat mit 5 Glaubensgemeinschaften ein Abkommen, das die Trennung von Kirche und Staat besiegelt.
304Illustriert wird der Text einerseits mit der abstrakten Zeichnung von zwei tanzenden
Menschen, die dem Kleidungsstil nach in die 1960/70er Jahre gehören und mit einem
Bild, das fünf junge Frauen mit knielangen Röcke an einem Kneipentisch zeigt. Die
Bildzeile lautet in deutscher Übersetzung: „Vor ein paar Jahren noch undenkbar. Mitte der 60er Jahre sitzen diese jungen Damen
im Restaurant mit Alkohol und ohne männliche Begleitung.“
Am unteren Rand der Texttafel befindet sich eine Reproduktion vom Titelblatt der
1854 vom luxemburgischen Geistlichen Joseph Kalbersch publizierten Streitschrift „Gebrauch
und Mißbrauch geistiger Getränke: oder Wein und Branntwein im Mittelalter und in unserer
Zeit”.
305In einem angrenzenden Raum zeigt eine lebensgroße, durch den Kleidungstil der abgebildeten Mutter und Tochter in die 1930er Jahre zu datierende Photographie, wie moralisch integre Frauen in der „guten alten Zeit“ aussahen. Die auf dem Tisch präsentierte Schrift von Heinrich Festing „Wege zum Heil“ stammt aus dem Jahr 1982. Das Buch „Mädchen auf grosser Fahrt 52 Weggefährtinnen durch das Mädchenjahr mit Erzählungen des Schweizer Kapuzinermönchs P. Ezechiel Britschgi (1917-2006)“ wurde 1957 erstmals aufgelegt. Die Inszenierung erinnert an die 1938 vom damaligen Schulinspektor Albert Nothumb im „Segenstrom der Heimat“ beschriebene:
Leider blieb der Frau zum Lesen wie zum Genießen wenig Zeit. […] Sie wäre wohl kaum zum Lesen gekommen, hätte sie sich nicht die Zeit an der Arbeit erlistet. So geschickt waren ihre fleißigen Hände, daß sie beim Strumpfstricken fast keine Aufmerksamkeit mehr verlangten und dem Kopf erlaubten, sich seinerseits nutzbringend in Zeitungen und Büchern umzutun. (Nothumb 1938: 138)
306Ergänzt wird die Präsentation in Binsfeld durch einen „alten“ Katechismus, ein Kreuz, ein undatiertes Marienbild, einen undatierten Holzkinderstuhl und ein weißes (Messdiener?)-Gewand mit Spitze. Die Objektzusammenstellung kann als anachronistisches Tableau interpretiert werden, das dem Besucher bildhaft ein katholisches weibliches Rollenmodell vermittelt. Der Text zu „Moral und Unmoral“ lässt die Vermutung zu, dass die Museumsbetreiber dem katholischen Frauenbild unkritisch gegenüberstehen.
307Das lokale Musée de Wanne ist thematisch breit gefächert. Die häusliche Lebenswelt ist in der ersten Etage angesiedelt. Auch in diesem Museum steht die Küche im Mittelpunkt. Die Ausstellungsmacherin Noémie Drouguet verzichtete allerdings auf eine detaillierte Rekonstruktion, sondern symbolisierte sie durch einen alten Küchenschrank, der gleichzeitig als Präsentationsfläche dient. In diesem Museumsbereich sind sowohl die ursprüngliche gesellschaftskritische Zielsetzung der ersten Dauerausstellung von 2001 als auch ihre Brüche erkennbar. Ein Wandzitat mit der Frage „Gab es ein Leben vor dem Kühlschrank, der Waschmaschine, der Zentralheizung, dem Fernseher, den Supermärkten?“ aus dem Jahr 2001 fordert die Gäste auf, wie von De Varine-Bohan 1978 gefordert, die Selbstverständlichkeit ihrer häuslichen Gewohnheiten zu hinterfragen und die Zeugnisse des lokalen „heritage“ in einen breiteren geographischen und zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Die serielle Präsentation von Exponaten – etwa von Objekten zum Rösten von Brot – soll über die Zeit gleichbleibende Prozesse mit veränderten Utensilien illustrieren. Sie erinnert konzeptuell an die „séquence“-Präsentationen von Rivière. Ein nachträglich hinzugefügter metallener Flaschenhalter und ein Spielherd passen nicht in das ursprüngliche Objektensemble und degradieren die „séquence“ zum Objektsammelsurium. Sie belegen, dass die jetzigen Museumsbetreiber das der Präsentation zugrundeliegende Konzept nicht (mehr?) vor Augen haben.
308Neueren Datums ist die Abteilung des „Speichers“, der die Idee zugrunde liegt, dass die Dinge, die auf privaten Speichern gelagert werden, Geschichten erzählen. Auf Texttafeln wird die Bedeutung des Speichers in der alltäglichen Lebenswelt erklärt. Sonst gibt es keine Erklärungstexte zu den Exponaten. Viele der Exponate des Wanner Museums stammen von den Speichern der Einheimischen. De facto ist die Speicherabteilung ein als Speicher inszeniertes Schaudepot, das die Museumsangestellten für Workshops nutzen, die bei den teilnehmenden Kindern sehr beliebt sind. (Drouget 2018)
309Die Abteilung zur häuslichen Lebenswelt und der Speicher greifen auf die gleichen Exponate zurück und könnten komplementär sein. Während die Präsentation der häuslichen Lebenswelt durch die Kombination von Exponat-Ensembles und Raumzitaten eine Reflexion über das Verhältnis zwischen „früher“ und „heute“ herbeiführen will, erzählt der Speicher einer „Kunst“-Installation ähnlich die Geschichte des Speichers als externes museales Exponat-Reservoir. Die Abteilung hat das Potenzial für eine Auseinandersetzung über die Umstände, unter denen Alltagsgegenstände zum Kulturgut werden, und könnte für die von De Varine-Bohan in den Mittelpunkt der musealen Bemühungen gesetzte pädagogische Blickschulung genutzt werden. Da die Museumsbetreiber diese Möglichkeit nicht nutzen, bleibt diese Ausstellungseinheit nostalgisch-anekdotisch.
310Stellvertretend für viele lokale Museen kann am Beispiel des Alltagsmuseums „A Possen“
festgehalten werden, dass es reich an lokalen „heritage“-Zeugnissen aller Art ist,
von denen die historischen Museumsgebäude sicher die ursprünglichsten sind. Bei den
Alltagsgegenständen ist die regionale Provenienz nicht klar, aber sie werden als Vektoren
für die Darstellung verschwundener, lokal verankerter, manueller Fertigkeiten wie
der Küferei oder der Milchverarbeitung oder auch für Vermittlung regionaler religiöser
Bräuche eingesetzt. Fehlendes historisches Wissen und ein daraus resultierender unkritischer
Umgang mit den Objekten seitens der Betreiber verhindern einerseits die volle Ausschöpfung
des Sammlungspotenzials, andererseits führen sie, wie sowohl das Beispiel der Nickneger
als auch die Dioramen „schwarze Küche“ und „gute Stube“ zeigen, zur Reproduktion von
gesellschaftlichen Stereotypen und zur Konstruktion von anachronistischen Vorstellungen
der Vergangenheit, in denen historische und gesellschaftliche Brüche keinen Platz
finden. Am Beispiel der Ausstellungseinheit „Moral und Unmoral“ im Musée rural in
Binsfeld wird klar, dass Museen die Grenze zwischen Interpretation des lokalen „heritage“
und Manipulation der Besucher überschreiten können. In Binsfeld beeinflusst die Botschaft,
die das Museum vermitteln will, die Auswahl und die Präsentation der lokalen „heritage“-Zeugnisse
wesentlich. Dort, ebenso wie im Museum „A Possen“ beeinflussen die entworfenen Bilder
des „Heimlichen“ das kulturelle Gedächtnis der engeren (und im Luxemburger Fall der
nationalen) Heimat, wie Jan Assmann „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten,
-Bildern und Riten[…], in deren ‚Pflege’ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt“
, definiert. Beide Museen reproduzieren und schaffen „ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die
Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“
(Assmann 1988: 15)
311Die Küche des Museums „A Possen“ und vieler anderer Museen, die ihre Inhalte über Fiktionsdioramen vermitteln, steht im Gegensatz zur abstrakteren Darstellung „heimlicher“ Tätigkeiten im Wanner Museum, wo die Reduktion der Küche auf einen Schrank, die serielle Präsentation der Exponate und das Wandzitat „Gab es ein Leben vor dem Kühlschrank, der Waschmaschine, der Zentralheizung, dem Fernseher, den Supermärkten?“ die Illusion der Wahrheit des Dargestellten brechen.
Natur
312Die Vertreter der frühen deutschen Heimatbewegung stilisierten die Natur zum positiven Gegenpol zur industrialisierten Welt, in deren Produktionsstätten der Mensch sich von sich selbst entfremdete, hoch. Ein pädagogisches Ziel der Heimat-Ausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand darin, den Besuchern ein Bewusstsein für und Stolz auf die sie umgebende Natur zu vermitteln. Dieses Gefühl der Verbundenheit zum engen Kreis sollte die Integration in das anonyme große Vaterland beflügeln. Aus ähnlichen pädagogischen Beweggründen heraus entwickelte sich auch das naturhistorische Museum in Luxemburg. Für die französischen Humangeographen des frühen 20. Jahrhunderts waren Natur und Kultur einer Landschaft eng miteinander verbunden. Die Ökomuseen der 1960er und 1970er Jahre entstanden als Interpretationszentren in Naturparks und auch das in Schiefermuseum in Obermartelingen geht auf den Zusammenhang zwischen den (natürlichen) Ressourcen der Gegend und der wirtschaftlichen Aktivität ein.
31349 der 353 untersuchten Museen beschäftigen sich mit der natürlichen Umgebung des Menschen.
314Die zwei ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts wurden zunehmend von der Kritik an
der Zerstörung der Natur durch den Eingriff des Menschen geprägt. Die Auseinandersetzung
mit der menschlichen Kultur-Verantwortung für die Natur reicht auch in die Geschichtswissenschaft
hinein. Stellvertretend sei hier auf Jörn Rüsens Ansatz zur anthropologischen Sinnbildung
hingewiesen. Für Rüsen ist die „Sinnbestimmtheit der Kultur mit der anderen ontologischen Qualität der Natur“
verbunden. (Rüsen 2003: 53)
315Das bereits mehrfach erwähnte Musée de Wanne widmet einen Teil seiner Dauerausstellung der wechselseitigen Beziehung zwischen Natur und Kultur. Im Zentrum des ersten Raums befindet sich ein für die Eröffnung 2001 angefertigtes Modell der Gegend von Wanne, auf dem sogenannte „lieux-dits“ hervorgehoben wurden. Das Modell führt Besuchern die Ausdehnung des Wanner „pays“ vor Augen. Im Zentrum befindet sich der Ort Wanne. Das auf dem Modell dargestellte Gebiet endet allerdings nicht an den heutigen kommunalen Grenzen, sondern erstreckt sich bis nach Stavelot. Bis zur französischen Revolution war Wanne ein Bann, der zur Abtei Stavelot gehörte. Ein Kennzeichen der „Natur“ von Wanne ist das ausgeprägte geographische Relief, das auf dem Modell durch das Verhältnis 2:1 zwischen dem vertikalen und dem horizontalen Maßstab hervorgehoben wurde.
316Um das regionale Modell herum wurden Exponate angeordnet, die sich auf die Nutzung der natürlichen Ressourcen beziehen. Die Ausstellung wurde didaktisch angelegt. Raumtexte und Objektbeschriftungen ermöglichen einen Besuch ohne Führung. Die Objektbeschriftungen verzichten auf die Datierung der ausgestellten Objekte, informieren die Besucher aber bei manchen Exponaten über ihre wallonische Bezeichnung. Mit diesem Kunstgriff ist es den Museumsbetreibern gelungen, den lokalen und auswärtigen Publika auch das für die Region charakteristische sprachliche Kulturerbe vor Augen zu führen. An beiden Seiten des regionalen Modells befinden sich Informationen zu „Natur“ und „Geologie“, die durch Beispiele der Nutzung der für das „pays“ typischen Holzarten illustriert werden. Landwirtschaftliches Gerät dokumentiert die Bearbeitung des Bodens. Zu den Bodenschätzen der Ardennen gehören der belgische Brocken (frz. „coticule“), ein Stein, der in nassem Zustand zum Schleifen von Messern gebraucht wird, und der Schiefer, deren Verarbeitung über Exponate vermittelt wird.
317Ein Museum, das den Aufruf, Verantwortung für die Natur zu übernehmen in der pädagogischen Tradition der frühen Heimatausstellungen mit einer Mischung von traditionellen und neuartigen Themen und Mitteln umsetzt, ist das kommunal betriebene Museum Voyage au Coeur de l’Attert. Es handelt sich dabei um das im Ort Attert gelegene Interpretationszentrum zum 1994 offiziell geschaffenen ersten Naturpark der belgischen Provinz Luxemburg, das in einem historischen Gebäudekomplex untergebracht ist, den die Gemeindeverwaltung 1982 Schulschwestern abkaufte. Die Umwandlung in ein Museum erfolgte zwischen 2000 und 2002 und wurde durch die Gemeinde finanziert mit der Unterstützung des europäischen Regionalfonds sowie den wallonischen Generaldirektionen für Tourismus, für Landesplanung, Wohnungsbau und Kulturerbe und für natürliche Ressourcen und Umwelt. Bei der Wissensvermittlung schließt sich das Haus der Tradition der ökomusealen Interpretationszentren an. Die neun Themen der didaktisch aufgebauten Ausstellung sind wichtiger als die Authentizität der Exponate und sie spiegeln die Ressorts der Geldgeber wider: Das Haus liefert Erklärungen zu Geologie, Wasserwirtschaft, Landwirtschaft, Geschichte und Traditionen, Wohnen, erneuerbaren Energien, Natur und Geschichte. Sein historisches und folkloristisches Einzugsgebiet ist die Kulturlandschaft der Attert, die über die Grenze mit dem Großherzogtum hinausreicht. Im Segenstrom der Heimat“ hob Johann Peter Erpelding bereits 1938 den ländlichen Charakter der Gegend um das luxemburgisch-belgische Grenzdorf Stockem hervor:
Goldrauschende Haferfelder rieselten an sonnigen Hängen hinunter; dunkle Kartoffeläcker überzogen sich mit dem zarten Violett blauschimmernder Blüten; helle Heidekornflächen wogten in üppiger Blattfülle wie uferloses Meer in weiten Buchten. Blaue Kornblumen und roter Mohn tupften die Felder mit hellen Farben. Würzig stieg der Duft der wuchernden Kamomillen aus brachen Rainfurchen. (Erpelding 1938-2: 14)
318Die der Landwirtschaft, dem Wohnen und Bauen und der Energiegewinnung gewidmeten Teile blicken aber nicht nur auf die Vergangenheit zurück, sondern zeigen mit Modellen aus der Sicht der Betreiber auch zeitgemäße nachhaltige Baustandards. Ebenfalls ausgestellt werden Materialien, die für ein nach Auffassung der Verantwortlichen nachhaltiges Bauen gebraucht werden können. Eine kritische Bewertung der Konsequenzen des energiebewussten Bauens findet allerdings nicht statt, ganz im Gegensatz zu der Präsentation der Landwirtschaftsmethoden. In diesem Bereich haben sich die Betreiber für einen erzieherisch-kritischen Blick auf die Vergangenheit entschieden, indem sie sowohl die negativen Folgen der Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung auf die Umwelt als auch die mit der Überproduktion einhergehenden existenzbedrohenden Folgen für die betroffenen landwirtschaftlichen Betriebe und ihre Betreiberfamilien zeigen.
319Das Interpretationszentrum bietet nicht nur statische Naturbilder, sondern präsentiert die Landwirte als Akteure, die die Möglichkeit hatten und haben, auf die Natur einzuwirken.
Folklore und Sprache
320Die UNESCO versteht unter dem immateriellen Kulturerbe „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu
gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – [...], die Gemeinschaften,
Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen.“
Ein wichtiger Bestandteil der Definition ist, dass die betroffenen „Gemeinschaften
und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur
und mit ihrer Geschichte“ das immaterielle Kulturerbe fortwährend neugestalten. (Deutsche
UNESCO-Kommission 2003) Aus diesem Grund wird im französischsprachigen Raum auch der
Begriff „mémoire vivante“ gebraucht. Die Musées gaumais bezeichnen sich als Hüter
der „mémoire vivante“ der Gaume-Gegend. In den „Veillées de Montquintin“ pflegte ihr
Gründer Edmond Pierre Fouss die mündliche Tradition des Sagen-Erzählens, derer der
Sagen-Keller des Haupthauses in Virton gedenkt. Im Atterter Museum haben Besucher
in immersiv gestalteten Kabinen über Knopfdruck Zugang zu einer dreisprachigen mündlichen
Vermittlung von regionalen Sitten und Gebräuchen.
32157 der 353 Museen befassen sich mit regionalem Folklore und Brauchtum.
322In Wallonien beschäftigen sich vier Museen monothematisch mit traditionellen Folklore-Umzügen. Das bescheidenste der Häuser ist das von einem Verein getragene Musée des Marches Folkloriques de l’Entre-Sambre-et-Meuse, das die Geschichte der Umzüge zwischen Sambre und Maas. (Musée des Marches folkloriques de l'Entre-Sambre-et-Meuse) in einem historischen, von der Gemeinde Gerpinnes (Provinz Namur) zur Verfügung gestellten Gebäude präsentiert. Das Musée international du Carnaval et du Masque in Binche, das Musée des Géants in Ath und das Musée du Doudou in Mons sind für ein Publikum konzipiert wurden, das sich mit dem Thema nicht auskennt: Kinder, Jugendliche, aber vor allem auch Touristen. Diese drei Museen liefern zum einen Erklärungen, wie die zur Ausübung der Tradition gebrauchten Accessoires hergestellt werden, wo der Ursprung der Traditionen liegt und wie sie sich entwickelt haben, zum anderen bemühen sie sich aber auch darum, unkundigen Besuchern ein Gefühl für die gelebte Tradition zu vermitteln. Die Gestaltungsmittel sind den Aufgabenbereichen angepasst. Im didaktischen Teil greifen die Häuser auf kommunikationelle Gestaltungsmethoden zurück, während im Erlebnisbereich immersive Techniken zum Einsatz kommen.
323Das Maison des Géants ist in einer 1995 von der Stadt Ath gekauften und renovierten Stadtvilla im Stil Ludwigs XV. untergebracht und wird vom lokalen Tourismusbüro betrieben. Das Gebäude ist damit selbst ein Zeugnis eines örtlichen „heritage“, der aber keinen Bezug zur ausgestellten Thematik hat. Bei der Ducasse d'Ath, wie das jährliche Fest zwischen dem vierten Sonntag im August und dem 8. September genannt wird, tanzen von Menschen getragene Prozessionsriesen. Ursprung und Entwicklung der Tradition werden über dreisprachige Filme (FR, NL, EN) vermittelt, in denen auch Akteure über die Bedeutung der Tradition für sie persönlich reden. Modelle, die unterschiedliche Phasen der Stadtentwicklung zeigen, und Reproduktionen von historischen Prozessionsdarstellungen weisen auf den Zusammenhang zwischen Stadt und Umzug hin. Das Museum stellt einige Original-Riesen aus und in einem betretbaren Modell erfahren Besucher, wie das Innenleben der Prozessionsriesen aussieht und hergestellt wird. Kindgerecht verfasste Objektbeschriftungen zeugen ebenso vom Bemühen des Museumsteams um ein (lokales) junges Publikum wie die Programmpunkte „Les animations pédagogiques“ und „Pour les familles“ auf der Webseite. (La maison des Géants) Ein in einem separaten Raum projizierter Film soll Einzelbesuchern immersiv das Umzugserlebnis vermitteln, er kann aber auch vom Museumspersonal im Rahmen von Führungen didaktisch eingesetzt werden.
324Das in einem historischen Gebäude eingerichtete Musée du Doudou in Mons ist der Ducasse de Mons, einem traditionellen Volksfest, das jeweils am ersten Sonntag nach Pfingsten (Dreifaltigkeitsfest) stattfindet, gewidmet. Der lokale Name Doudou leitet sich von einer während des Fests gespielten musikalischen Weise ab. Das Fest besteht aus zwei Teilen: In der bis ins Mittelalter zurückreichenden Dreifaltigkeitsprozession wird der Schrein mit den Reliquien der Heiligen Waltraud von Mons aus der Stiftskirche Sainte Waudru durch die Stadt getragen. Zum Schluss der Prozession muss der von Pferden gezogene Wagen mit dem Schrein wieder eine steile Kopfsteinpflasterstraße (Rampe Ste-Waudru) hinaufgezogen werden, ein Unterfangen, an dem sich die Zuschauer beteiligen. Der zweite Teil des Festes besteht in einem als „Lumeçon“ bezeichneten nachgestellten Kampf des Heiligen Georg mit einem Drachen auf dem Marktplatz, der ursprünglich von der Sankt-Georg-Bruderschaft gefochten wurde. Der Name des Kampfes leitet sich vom altfranzösischen Wort „Limaçon“ her, das sich auf ein Spektakel bezieht, bei dem sich Pferde im Kreis bewegen.
325Das Doudou gehört seit 2005 zum immateriellen Weltkulturerbe, was im didaktischen Teil der Ausstellung über eingespielte Audiodokumente zur Bedeutung des Doudous mannigfach hervorgehoben wird. Das Haus wurde im Rahmen von Mons – europäische Kulturhauptstadt Europas 2015 – mit Geldern der Europäischen Union, des wallonischen Generalkommissariats für Tourismus und des Ministeriums der wallonischen Gemeinschaft finanziert. Die aufwendige audiovisuelle Ausstattung, mit der die Museumsverantwortlichen die Besucher in das Doudou-Erlebnis eintauchen, zeugt von bedeutenden finanziellen Mitteln, die zur Verfügung standen.
3261975 eröffnete die Stadt Binche zusammen mit dem aus Binche gebürtigen Folkloristen Samuël Glotz das Musée international du Carnaval et du Masque in Binche. Grundlage war Glotz' Sammlung zur Gilles-Karneval-Tradition. Der regionale Karneval beginnt 49 Tage vor Ostern. Im Zentrum der Bincher Tradition steht ein Umzug am Karnevalsdienstag, bei dem als Gilles verkleidete, notwendigerweise aus Binche stammende Männer zu traditionellen Weisen in den Straßen von Binche tanzen und Orangen verteilen. Begleitet werden sie von den Gesellschaften des Arlequin, des Bauern, des Pierrot und des Matrosen. Von 1980 bis 2006 wurde das von der Gemeinde Binche in einem historischen Augustinerkolleg untergebrachte Haus von dem Folkloristen Michel Revelard (1941-2011) geleitet, der zusammen mit seiner Ehefrau eine bedeutende internationale Maskensammlung aufbaute und die Bincher Sammlung mit Masken und Kostümen aus anderen Regionen der Welt ergänzte. Dieses Vorgehen zum Ausbau der Sammlung ist in privaten Sammlerkreisen nicht unüblich. Erwähnt seien das Musée du Cycle in Weyler oder das Musée du Scoutisme international in Bonnert bei Arlon, dessen privater Betreiber Pfadfinder-Material aus aller Welt sammelt. Die Tatsache, dass nicht alle in Binche gesammelten Masken im Zusammenhang mit Karneval-Traditionen stehen, findet ihren Ausdruck im Namen des Museums. 2003 wurde die Bincher Karnevaltradition zum immateriellen UNESCO-„heritage“ erklärt. Nach Revelards Ausscheiden aus dem Museum drei Jahre später, beschloss die Stadtverwaltung, die lokale und regionale Tradition wieder stärker in den Mittelpunkt zu stellen und den internationalen Ausstellungsteil zurückzubauen. In der in diesem Sinn erneuerten Dauerausstellung werden die Geschichte und die gelebte Gilles-Praxis didaktisch-kommunikativ erläutert. So wird z.B. erklärt, wie die Gilles-Kopfbedeckung hergestellt wird. Wie in Mons und in Ath simuliert ein im Museumsauditorium gezeigter Film das heutige Karnevalserlebnis. Während eines Vierteljahrhunderts setzten Revelard und seine Ehefrau auf die Internationalisierung der Thematik, um die lokale Tradition in der Weltgeschichte und Gegenwart zu verorten und ihr ethnographisches Eigeninteresse mit der touristischen Attraktivität des Museums zu verbinden. Die Zertifizierung des lokalen Kulturerbes durch die UNESCO bewog die Träger des Museums hingegen, das lokale Erbe als Tourismusmagnet zu stärken.
327Exponate, die sich auf die oben beschriebenen Traditionen beziehen, befinden sich ebenfalls in lokalen Museen, so auch im Maison Tournaisienne, wo ein historischer lokaler Riese und Riesen-Modelle in kognitiv-ästhetischer Manier ausgestellt sind.
328Die Exponate sind Zeugnisse des lokalen „heritage“. Ohne Kontextualisierung aktivieren sie den immateriellen „heritage“, dessen Träger sie sind, allerdings nur bei Betrachtern, denen die Riesen-Tradition ein Begriff ist. Das Erlebnis der Tradition, um das die monothematischen Museen in Ath, Mons und Binche bemüht sind, vermitteln sie nicht. Gleiches gilt für die Karneval-Accessoires, die im Musée de la Vie wallonne ausgestellt sind. Mit der gleichwertigen Präsentation des Bincher Gilles-Huts und der Eupener Prinz-Karneval-Kappe stellen die Kuratoren die Traditionen symbolisch auf die gleiche Ebene und kommen damit der politischen Aufgabenstellung des von der Region Wallonien finanzierten Museums nach, das um die Gleichwertigkeit der Karnevalstraditionen der wallonischen und der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe bemüht ist.
329Die Beispiele aus Tournai und Lüttich bestätigen Gottfried Korffs Aussage, dass objektzentrierte Präsentationen ein reduziertes Erzählpotenzial haben. (Korff 1984: 115) Ästhetisch-kognitiv ausgestellt entfalten die Objekte ihre volle Wirkung nur bei Besuchern, die ein gleiches kommunikatives Gedächtnis teilen, wie es Jan Assmann definiert.
Das kommunikative Gedächtnis umfasst Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. (Assmann 1992: 50)
330Die Aufnahme in die Museumssammlungen erhebt Traditionsvektoren wohl zu Zeugnissen eines lokalen bzw. regionalen „heritage“, aber ihre kontextfreie Präsentation schafft es nicht, bei Besuchern, in deren kommunikativem Gedächtnis die Tradition nicht verankert ist, ein Bewusstsein für ihre Lebendigkeit zu wecken. Die beschriebenen monothematischen Museen setzen sich zur Aufgabe, den Traditionen auch einen Platz im Assmannschen kulturellen Gedächtnis zu sichern. Ähnliches gilt auch für Objekte, die in ihrer vormusealen Existenz einer Tätigkeit zugeordnet waren, die heutigen Betrachtern kein Begriff mehr ist. Ohne Kontextualisierung vermittelt ein historisches Butterfass nicht, dass der Stampfer dazu diente, Rahm zu Butter zu schlagen. In beschriftungslosen Sammlermuseen ordnet der Sammler die Exponate während der Führung ein. Andere Museen greifen auf die sinnliche Bedeutungszuweisung der Exponate durch Dioramen oder andere analogische Methoden wie „Living History“ zurück. Die beschriebenen monothematischen Ausstellungen zum immateriellen Kulturerbe belegen, wie gewinnbringend eine gemischt analogisch-sinnliche und kommunikationell-analytische Vermittlung für die Schaffung eines historischen Bewusstseins für den immateriellen „heritage“ ist.
331Immaterieller „heritage“ einer Gemeinschaft, der von der UNESCO-Charakterisierung nicht erfasst wird, ist die Sprache. Dabei ist sie ein zentraler Bestandteil des Gefühls, zu einer Gemeinschaft zu gehören oder nicht. Die detaillierte Aufarbeitung des Stellenwerts von Sprache in heimatgeschichtlichen Museen muss in soziolinguistischen Kategorien erfolgen und wäre sicherlich aufschlussreich für das Anliegen dieser Arbeit. Im Rahmen der vorliegenden überblicksartig angelegten Untersuchung kann das Thema aber lediglich gestreift werden.
332Lokale Eigenheiten finden ihren Ausdruck häufig in der Bezeichnung von Gegenständen des täglichen Lebens. Die Sammlungen des Musée de la Vie wallonne sind aus den Bemühungen von Dialektologen entstanden, Gegenstände zu bewahren, mit denen sie die regionale Sprache in ihren verschiedenen Ausprägungen dokumentieren konnten. Dies kann am Beispiel des Begriffs „Botteresse“ und dem mit ihr verbundenen „heritage“ veranschaulicht werden. Eine „Botteresse“ ist eine Frau, die Waren in einem Korb auf dem Rücken transportiert. Trägerinnen von Waren gab es im 19. und angehenden 20. Jahrhundert wohl überall, aber als „Botteresses“ gehören sie zum charakteristischen „heritage“ der Provinzen Lüttich und Hennegau. Die bewog die Akteure des Musée de la Vie wallonne, der „Botteresse“ im „Revival“-Teil der Dauerausstellung einen wichtigen Platz einzuräumen.
333Der Klang von wallonischen Regiolekten tönt im einleitenden Ausstellungsraum des Musée de la Vie wallonne aus Sprachtrichtern. Für Hörer, die die Sprache aus ihrer Praxis kennen, mag diese Installation zusammen mit den visuellen Landschaftsdarstellungen nostalgischen Erinnerungscharakter haben. Es darf aber bezweifelt werden, ob Besucher, denen der inhaltliche Bezug zu den Dingen, auf die sich die Worte aus den Trichtern beziehen, fehlt, etwas damit anfangen können.
334Das Musée de Wanne schlägt einen konkreteren Weg ein. Dort wird Besuchern die lokale Eigenart der Sprache über die Objektbeschriftungen bestimmter Exponate nähergebracht.
335Das Musée rural in Binsfeld hat den Luxemburger Dialekt des Öslings und Englisch für die Raumtexte gewählt.
336Bei dieser Art der Vermittlung geht allerdings das klangliche Element verloren. Klang und Inhalt von Sprache können am einfachsten performativ übermittelt werden, entweder in Führungen oder auch in „Living History“-Darbietungen. Das Museum „A Possen“ lässt Sammler und andere Experten über Filme, die in Rundschleifen auf Bildschirmen laufen, auf Luxemburgisch mit französischen Untertiteln zur Sprache kommen. Im Museum Au Coeur de l’Attert werden die sprachlich unterschiedlichen Bezeichnungen von grenzübergreifenden Bräuchen erklärt.
337In Wanne, Binsfeld, Blech-Kleinmacher und Attert wird die Sprache sowohl zum Vermittler von Inhalt als auch zum Zeugnis dieses lebendigen „heritage“.
Bergbau und Industrie
338Es wurde bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass die deutsche Heimatbewegung einen Dualismus zwischen dem „heimlichen“ ländlichen Umfeld mit seinen Gebräuchen und der krankmachenden Industriewelt konstruierte. Die frühe ökomuseale Bewegung des französischsprachigen Raums bemühte sich darum, die Erinnerung an die ländliche Lebenswelt, die durch die Landflucht in die Industriegebiete bedroht war und sich durch die Mechanisierung der Landwirtschaft veränderte, mit materiellen Zeugnissen derselben zu bewahren. Aufgrund der regionalen Bodenschätze, auf die schon Vidal de la Blache hinwies, hatten sich Bergbau und Eisenindustrie im Zuge der Industrialisierung zu wichtigen Erwerbsquellen im untersuchten belgischen und luxemburgischen Gebiet entwickelt. Sie wurden über Jahrzehnte zur neuen Heimat vieler Arbeitsuchender.
339Paul Staar widmete im „Segenstrom der Heimat“ dem „Land der Roten Erde“ ein ganzes Kapitel, das mit einem „Erwachendes Esch“ betitelten Text des geistlichen Schriftstellers Wilhelm Weis (1894-1964) die wirtschaftlichen Möglichkeiten in den Vordergrund stellt:
In der Kolonie gehen Türen. Schwere Männertritte hallen längs der langgestreckten Häuserzeile. Schatten tauchen in den weißen Morgennebel, der sich in den Vorgärten niederschlägt, und in dem die Lampenköpfe der Laternen in dunstigen Kreisen blassen: Schichtarbeiter, die in den hornschlägigen Werkmannshemden das graukupferne Karbidlicht halten, dessen steiles Flämmchen knatternd in die Morgenluft sticht, und die breitbeinig mit gekrümmtem Rückenwirbel über den Schlotterweg stampfen. Neben mir, über mir, unter mir flackt das Leben – das große werktätige Leben, das in taktgeschwungenen Erzschlegeln klopft wie ein starkes Männerherz und in den Schmiedehämmern schwingt wie starker Männerwille, das in den kupfernen Leistungsdrähten wie in roten Adern kreist und mich und alle in den Rotbergen umwebert, einspinnt, durchschüttert und mit magnetischer Gewalt in den Königsdienst der Arbeit zwingt. (Weis 1938: 40)
340Der durch die Globalisierung der Wirtschaft bedingte und durch die Erdölkrise der 1970er Jahre beschleunigte Niedergang der Kohle- und Eisenindustrie veränderte die Lebensbedingungen der betroffenen Arbeitnehmer sowie aller Einwohner der Industriereviere tiefgreifend. Das Gedenken der in wirtschaftlicher Hinsicht positiv bewerteten Vergangenheit und die Trauer um ihren Verlust wurden in lokale und regionale Museen verlagert.
341In Luxemburg beschäftigen sich das bereits erwähnte Schiefermuseum in Obermartelingen
im Naturpark Obersauer, das Kupfermine-Museum in Stolzemburg, der Minettpark mit seinen
kleinen Museen, das Musée national des Mines in Rümelingen und das Musée de la Mine
Cockerill mit dem Thema Bergbau. Ein Museum zur lokalen Eisenverarbeitung fehlt. Seine
Erinnerung soll durch musealisierte, teilweise erhaltene Hochöfen auf dem neu entstandenen
Wohn- und Dienstleistungsareal Belval wachgehalten werden. (Drouguet/Bodeux 2017:
186-190) Im wallonischen Belgien beschäftigen sich 32 Museen mit Industrie, Bergbau
und Steingewinnung. Die Kohlegruben im Hennegau gehören seit 2012 zum materiellen
UNESCO-Weltkulturerbe. (Drouguet/Bodeux 2017: 263) Kohleabbau und Eisenindustrie waren
in Belgien eng verbunden. Im 20. Jahrhundert wurde die Kohleindustrie von einem primär
rentablen Wirtschaftszweig zu einem Zubringer der Stahlindustrie. Die Borinage genannte
Gegend um Mons war eines der bedeutendsten Steinkohlereviere Europas, aber die steigenden
Abbaukosten der nur etwa 40 cm hohen Kohleadern, für deren Abbau in den 1950er Jahren
Stollen bis auf 1.000 m unter der Erde angelegt werden mussten, führten ab 1958/59
zur progressiven Schließung der Gruben. Der Wegfall dieses Erwerbzweigs trug maßgeblich
zum wirtschaftlichen Niedergang der Region um Mons bei. Kohle- und Eisenindustrie
können deshalb im Hennegau durchaus als schwieriger „heritage“ angesehen werden. In
der Provinz befassen sich das Musée de la Mine et du Développement durable du Bois-du-Luc
und das Musée Le Bois du Cazier in Marcinelle mit dem Steinkohleabbau. Der Erinnerung
an den Erzabbau wurde mehr überlokales Interesse entgegengebracht als der ebenso gefährlichen
Eisenverarbeitung, was Jean-Louis Delaet, Direktor des Museumskomplexes Bois du Cazier
und Präsident des Vereins Patrimoine industriel Wallonie-Bruxelles, u.a. darauf zurückführt,
dass spektakuläre Grubenkatastrophen wie die von Marcinelle den Grubenarbeitern als
„héros bien malgré eux“
Zugang ins kulturelle Gedächtnis verschafft haben. (Drouguet/Bodeux 2017: 265)
342Das Bois du Cazier ist von besonderem Interesse für die vorliegende Untersuchung, da auf dem Gelände der ehemaligen Kohlegrube ein Industriemuseum, ein Glasmuseum und eine mit einem Dokumentationszentrum kombinierte Gedenkstätte für das Grubenunglück vom 8. August 1956 vereint sind. 1987, zwanzig Jahre nach der Schließung der Grube in Marcinelle, wurde der Verein Mémoire du Bois du Cazier gegründet. Ziel seiner Mitglieder war es zunächst, das ehemalige Kohlebergbauareal vor dem Abriss zu bewahren. 1990 wurde der Bois du Cazier als historisches Denkmal eingestuft.
343Die Umwandlung des historischen Denkmals in ein Museumsareal geht, so Jean-Louis Dalaet, auf zwei Entscheidungen der wallonischen Regierung zurück. 1993 bezog sie den Standort in das Ziel 1 des europäischen Programms für wirtschaftlich rückständige Regionen, zu denen die Provinz Hennegau gehörte, ein. 1995 kaufte sie das Gelände. Eine Gläubigeranfechtungsklage verzögerte den Anfang der Umwidmung des Grubenarsenals bis 1998. Zeitgleich kam die Idee auf, die Sammlungen des Musée de l’Industrie des Forges de la Providence, die von einem Trägerverein in Räumen des 1980 geschlossenen gleichnamigen Stahlwerks betreut wurden, nach Marcinelle zu verlagern, um dort ein großes Tourismus-Projekt zur Unterstützung der wirtschaftlichen Umstellung der Gegend um Charleroi entstehen zu lassen. 2007 wurden die Sammlungen des Glasmuseums von Charleroi im Lampenraum der früheren Grube öffentlich zugänglich gemacht. Es war von Anfang an klar, dass das Areal des Bois du Cazier zwei unterschiedliche Funktionen kombinieren sollte. Das Gelände sollte einen Gedenkort für die größte Grubenkatastrophe in der Geschichte Belgiens, die 262 Todesopfer aus zwölf Nationalitäten gefordert hatte, beherbergen. 136 der Toten waren italienischer Abstammung, weshalb die italienische Regierung im Jahre 2001 den 8. August zum Tag der Erinnerung an die Opfer italienischer Arbeiter im Ausland erhob. Daneben sollte ein Museum für den „heritage“ des Industriegebiets zwischen Sambre und Maas entstehen. (Delaet 2003: 18-20) Seit 2003 informiert eine kommunikationell gestaltete Ausstellung über die Geschichte der Hauptindustriesektoren der Gegend um Charleroi in den früheren Umkleide- und Duschräumen der Grube.
344Die Maschinenhämmer der Schmiede des Werks La Providence in Marchienne-au-Pont sind in den ehemaligen Werkstätten der Mine untergebracht. Mit der Unterstützung des wallonischen Tourismus-Kommissariats wurden die Räume auch mit modernen Maschinen ausgestattet, die Handwerker bei Schmiedevorführungen für die Besucher bedienen. Der Gedenkstättenteil umfasst drei unterschiedliche Erinnerungsorte. Zum 60. Jahrestag der Katastrophe wurde die Rekonstruktion einer Arbeiterwohnungsbaracke aus den 1960er Jahre eingeweiht. Sie ist in der Art eines Period-Room mit originalem historischem Mobiliar ausgestattet und dokumentiert die prekären Wohnverhältnisse der etwa 50.000 italienischen Arbeiter, die im Rahmen des im Juni 1946 mit Italien unterzeichneten Protokolls in Belgien einwanderten und häufig mit ihren Familien in den von deutschen Kriegsgefangenen verlassenen Lagern in der Nähe der Kohleabbaugebiete untergebracht wurden.
345Ein als Memorial gekennzeichneter Raum gedenkt der Opfer der Katastrophe von 1956 mit ihren Porträts und einer Klanginstallation, während der „Espace 8 août 1956“ die Ereignisse kommunikationell erklärt. Seit 2016 dokumentieren zusätzlich ein Rettungswagen und -material, die beim Grubenunglück verwendet wurden, zusammen mit Photographien den Einsatz der Rettungskräfte in einem öffentlich zugänglichen Depotabschnitt.
346Das Haus bietet den Besuchern einen Audioguide an, in dem zwei fiktive Personae zu Wort kommen. Es handelt sich dabei um die Nachkommin einer Grubenarbeiterfamilie, die sich ehrenamtlich um das Museum kümmert, und ihren ebenfalls erdichteten älteren Bruder, einen ehemaligen Grubenarbeiter, der die Katastrophe miterlebt hat, danach in die Stahlindustrie wechselte und das Museum zum ersten Mal besichtigt. Die Museumsbetreuerin erklärt ihrem pensionierten Bruder, dass man sich entschlossen hat, auf dem Areal des Bois du Cazier ein Industriemuseum einzurichten, um an die industrielle Vergangenheit der Gegend und die technischen und sozialen Errungenschaften, die daraus hervorgingen, zu erinnern. Der Zeitzeuge erzählt der Frau von der Arbeit in der Mine und dem Unglück. Der fiktionale Audioguide-Dialog ist aber mehr als ein didaktisches Hilfsmittel, mit dem zwei sehr unterschiedliche Ausstellungen verbunden werden. Zum einen liefert er zwei zeitlich verschiedene Perspektiven sowohl auf das Industriemuseum als auch auf den Ort der Katastrophe von 1956. Zum anderen versucht der Dialog der beiden Personen, den Besuchern die mit dem industriellen Niedergang der Region verbundenen Gefühle der Betroffenen auf eine immersive Art und Weise zu vermitteln und ihnen begreiflich zu machen. Sie sollen erfahren, dass die „Patrimonialisierung“ der Vergangenheitszeugnisse für das kommunikative Gedächtnis der ehemaligen Bergbau- und Industriebeschäftigten und ihre Nachkommen bedeutsam ist und es wichtig ist, dieser Erinnerung einen Platz im kulturellen Gedächtnis zuzuweisen.
347Der Kohlemine-Museumsteil hat eine größere Wirkung auf die externen Besucher als das Industriemuseum, was sicher auf die Authentizität des Standortes zurückgeführt werden kann. Im Bois du Cazier lebten reale Arbeiterfamilien in Baracken des rekonstruierten Typs. Wenn Besucher vor dem Anlagentor stehen, befinden sie sich am originalen Standort, wo die Angehörigen 1956 um das Leben der verunglückten Bergleute bangten.
348Der Tourguide steigert das immersive Katastrophenerlebnis, das seinen Höhepunkt in der Gedenkstätte findet, die jedem einzelnen der Verstorbenen ein Gesicht verleiht und das Bewusstsein für den „heritage“ über den Weg der Empathie herstellt. Dennoch ist auch die abstrakt-allgemein gehaltene Ausstellung des Industriemuseums wichtig. Externen Besuchern erklärt sie den Stellenwert der Grube in der Industrielandschaft des Hennegaus. Den ehemaligen Industriebeschäftigten des Hennegaus und ihren Nachkommen bezeugt sie Wertschätzung für ihren Einsatz. Ausstellung und Audioguide vermitteln die Botschaft, dass in den Unternehmen innovative und hochwertige Produkte hergestellt wurden, dass es aber den lokalen Verantwortlichen auf Dauer nicht gelungen war, diese international zu vermarkten. Durch die Tatsache, dass die italienische Regierung den Tag, an dem das Grubenunglück passierte, zu einem Gedenktag erklärte, bekommt der dem Unglück gewidmete Teil zusätzlich die Bedeutung einer internationalen Gedenkstätte.
349Das 1973 auf die Initiative von ehemaligen Bergleuten und der Stadt Rümelingen (L) hin entstandene Bergschauwerk in den Minette-Gruben Kirchberg und Walert hatte von Anfang an zum Ziel, die Erinnerung an die zu Ende gehende Ära des Bergbaus wachzuhalten und den Tourismus in der bereits damals kriselnden Region anzukurbeln. Die Grube Walert war 1963 geschlossen worden, Kirchberg wurde von 1880 bis 1930 ausgebeutet. Zwischen 1982 und 1984 trugen Arbeiter, die im Krisenprogramm des Luxemburger Stahlkonzerns ARBED beschäftigt waren, zur Vergrößerung des Schaubergwerks bei. Ein Zug für die Beförderung der Besucher wurde angeschafft. Mit Geldern der Gemeinde Rümelingen, des Luxemburger Staates und des FEDER-Programms der Europäischen Union hat man das Museum zwischen 1997 und 2001 um ein Dokumentationszentrum erweitert, die Tagesanlagen und der Stollenrundgang konnten erneuert, die Grubenbahnstrecke bis zur Konzession Langengrund verlängert und zwei neue Züge erworben werden. Heute wird das Museum mit der finanziellen Unterstützung der Kommune und des Luxemburger Tourismusministeriums von einem gemeinnützigen Verein getragen. Um den Betrieb kümmern sich drei Angestellte und eine Gruppe von Ehrenamtlichen. (Nationales Bergbaumuseum) Das Herzstück des Museums sind die Minette-Stollen, die mit Photographien, Arbeitsgeräten aus verschiedenen Gruben und Mannequins bespielt werden und die Entwicklung des Eisenerzabbaus in Luxemburg zwischen 1870 und 1980 dokumentieren. Besichtigt werden dürfen sie nur im Rahmen von Führungen, an die eine Grubenbahnfahrt angeschlossen werden kann. Durch die Erzählungen der ehrenamtlichen Vereinsmitglieder werden die zweieinhalbstündigen „Living History“- Touren in der kalten und feuchten authentischen Umgebung zu einem immersiven Erlebnis der historischen Arbeitswelt.
350Das angeschlossene Dokumentationszentrum, das zusätzlich zu einer Bibliothek und einem Archiv eine Lehrschau mit einer Mischung aus Originalexponaten und Texten präsentiert und auch außerhalb von Führungen aufgesucht werden kann, bietet eine didaktische Ergänzung zum sinnlichen Grubenerlebnis. Der Minenarbeiter, Gewerkschaftler, Bürgermeister von Rümelingen und sozialistische Abgeordnete Jean-Pierre Bausch (1891-1935), der bei einem Unglück in der Mine Walert ums Leben kam, gibt den Bergleuten mit einer Kopie der lebensgroßen Skulptur von Albert Hames aus dem Jahr 1957 ein Gesicht und inszeniert sie in heroischer Pose. Das Original befindet sich an der Totengedenkstätte vor dem Museum.
351Ein mit sehr geringen finanziellen Mitteln ausstaffiertes Museum zur Stahlindustriekultur befindet sich im belgischen Aubange, nahe der luxemburgischen Grenze. Es handelt sich um das Museum Athus et l’Acier, das auf eine Entstehungsgeschichte zurückblickt, die mit der des bereits erwähnten Musée de l’Industrie des Forges de la Providence vor dessen Eingliederung in das Musée de l’Industrie vergleichbar ist. Am 5. September 1977 schloss das Stahlwerk Métallurgique et Minière de Rodange-Athus. Der Entlassung der letzten 1.200 Beschäftigten waren Demonstrationen vorausgegangen, mit denen die Betroffenen vergeblich versucht hatten, das mit der Stilllegung der Firma einhergehende wirtschaftliche Aus der belgischen Gegend um Athus aufzuhalten. Im Gegensatz zu Luxemburg gab es in der benachbarten belgischen Provinz gleichen Namens kein Stahlkrisenprogramm. Zehn Jahre danach organisierte die Geographielehrerin Anne-Marie Biren, deren Vater im Stahlwerk gearbeitet hatte und die 1978 nach Athus gezogen war, mit Objekten und Geschichten, die sie mit ihren Schülern gesammelt hatte, in der Grundschule von Athus eine Ausstellung zur Geschichte des Unternehmens und legte damit den Grundstein für die Sammlungen des späteren Museums. Jeder ihrer Schüler hatte biographische Verbindungen mit dem Werk. 2017 erinnerte sie sich an die Ausstellung mit den Worten:
Les grands-parents venaient avec leurs petits-enfants pour leur expliquer ... Mon Dieu! J’en suis encore retournée! Quand je voyais ces gens ... pleurer devant les photos! Il y a eu de la colère à la fermeture, et aussi longtemps qu’ils vivront, ils auront cette colère. Mais quand ils parlent de leur métier, ils sont passionnés. (Drouguet/Bodeux 2017: 201)
3521998 gründete Anne-Marie Biren mit 27 an der Geschichte des Unternehmens interessierten
Bürgern, von denen 18 ehemalige Mitarbeiter waren, den gemeinnützigen Verein Athus
et l’Acier. Die Vereinigung setzte sich zum Ziel, die Erinnerung an die Stahlindustrie
im Süden der belgischen Provinz Luxemburg durch die Erforschung ihrer Geschichte und
das Sammeln von Zeugnissen zu bewahren. Ihr Projekt sollte es den jüngeren Generationen
ermöglichen, die Entwicklung ihrer Lebensumwelt auf wirtschaftlicher, sozialer, kultureller
und demographischer Ebene zu entdecken. Über die Beweggründe, die zur Gründung der
Vereinigung führten, heißt es 2019 auf der Webseite des Museums: „La fermeture a laissé des plaies vives dont les conséquences sont encore perceptibles
actuellement.“
353Der Trägerverein des Museums bezeichnet sich als der der einzige Verein im Süden der Provinz Luxemburg, der von früheren Stahlarbeitern gegründet wurde und betrieben wird. Seine Mitglieder beteiligten sich an der Entwicklung der Ausstellung, die sich seit 1998 in einem von der privaten Firma Idélux zur Verfügung gestellten Gebäude auf einem Industriegelände in Aubange befindet. 2019 war der Fortbestand des Museums bedroht, da die Firma das Gebäude abreißen möchte und die Gemeinde kein Geld für das Museum aufbringen kann oder will. Wie in anderen ähnlichen Museen betreuen die Vereinsmitglieder die Sammlungen und das Archiv des Vereins. (Athus et l’Acier) Mit einem 7m x 2,50 m großen, von den Betreibern und Schülern des Athénée Royal d’Athus aufwendig gestalteten, elektrisch betriebenen und als „Fresko“ bezeichneten Modell können die ehrenamtlichen Museumsverantwortlichen während der Führungen von Schulklassen die Produktionsprozesse der Fabrik von der Umwandlung des Eisenerzes bis hin zu Betonstangen und anderen Fertigprodukten erklären.
354Lebensgroße Dioramen bebildern ihre Erzählungen über die verschiedenen Arbeitsprozesse und die damit verbundenen Anstrengungen und Gefahren im Stahlwerk. Der originale Schauplatz, der ein zentrales „heritage“-Zeugnis ist, fehlt dem Museum in Aubange allerdings ebenso wie dem Musée de l’Industrie in La Marcinelle.
355Ein mit bebilderten Texttafeln gestalteter Abriss greift auch politisch heikle Episoden der Firmengeschichte auf. Thematisiert werden sowohl die Beschäftigung von Kriegsgefangenen während des ersten Weltkriegs als auch die Periode der Übernahme durch Beamte aus Nazi-Deutschland von 1940 bis 1944. Dieser aus heutiger Perspektive schwierige „heritage“ stellt keine Bedrohung für das Selbstbild der Museumsträger dar, da er nicht in den Verantwortungsbereich derjenigen fällt, als deren Vertreter sie sich betrachten. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter werden in ihren Kreis eingeschlossen. Die didaktische Rolle des auf Anfrage und jeweils am ersten Samstag des Monats von 14 bis 17 Uhr geöffneten Museum erscheint zweitrangig. Wichtiger ist seine symbolische Funktion als Gedenkort, an dem sich die Vereinsmitglieder zusammenfinden, um in der Suche nach „neuen“ Exponaten und in der Betreuung des Archivs das kommunikative Gedächtnis der Vergangenheit des ehemaligen Industriestandorts zu pflegen. Der mit einem Getränketresen ausgestattete Archivraum mit zahlreichen Photographien von Betriebsfeiern ist ein zentraler Museumsraum, vergleichbar auch mit dem Ort, an dem Jules Hurdebise seine Gäste nach der Führung durch den Stâve dès Boûs in Logbiermé bewirtete.
Ein- und Auswanderung
356Ihre identitätsstiftende symbolische Funktion erfüllen lokale Museen in erster Linie für diejenigen, die zusammengehören. Die Industriestandorte in Belgien und Luxemburg zogen über viele Jahre Verdienst Suchende aus anderen Landesteilen oder aus dem Ausland an. Die Migranten und ihre Familien, die sich in verschiedenen Sprachen ausdrückten, unterschiedliche Essgewohnheiten hatten und sicher auch nicht immer die gleiche Weltanschauung teilten, wurden durch die Firmen, in denen die Erwerbstätigen arbeiteten, zu einer Gruppe. Es ist also nicht verwunderlich, dass das Thema der Einwanderung in den Bergbau- und Industriemuseen angerissen wird, ob es sich nun um große Institutionen wie das Bois du Cazier handelt, das sogar den Stellenwert eines Gedenkorts der internationalen Arbeitsmigration aus Italien hat, oder um das unscheinbare Athus et l’Acier-Museum, das in seiner Ausstellung auf die Fremdenfeindlichkeit gegenüber eingewanderten Stahlkochern im Zuge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hinweist.
357Ländliche Museen erzählen selten etwas über die Geschichte derer, die das Dorf verlassen haben, um sich in den Industriegebieten des eigenen Landes oder im Ausland eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen und berichten auch nicht über die Migrationserfahrungen von „Heimkehrern“ oder Zugewanderten. Eine Ausnahme stellt das Musée rural in Binsfeld dar, das die Auswanderung in die USA erwähnt.
358Beispiele wie der Geographielehrer Edmond Fouss, der die Musées gaumais mitbegründete, der Geschichtslehrer Raymond Linden, der die Initiative zur Etablierung des Schiefermuseums in Obermartelingen ergriff, oder die Geographielehrerin Anne-Marie Biren, die sich für Athus et l’Acier engagiert, liefern Hinweise darauf, dass das Interesse an der Geschichte der „neuen“ Heimat, ein Mittel ist, mit dem Neuzugezogene Aufnahme in den Kreis der Alteingesessenen finden können.
359In Luxemburg wurde das Thema der Aus- und Einwanderung 1993 in das in einem italienischen Einwandererviertel in Düdelingen gelegene Centre de Documentation sur les migrations humaines ausgelagert. Das Haus verfügt über eine Bibliothek und ein Archiv sowie eine Ausstellungsfläche, hat aber weder eine eigene Museumssammlung noch eine Dauerausstellung. In Belgien wurde die Kongo-Auswanderung und Heimkehr, die auch viele Luxemburger betraf, bis auf eine Ausnahme in das frühere Musée du Congo Belge in Tervuren verlagert, das seit seiner Erneuerung 2018 Africamuseum heißt. (Jungblut 2020: 12-13)
360Das Großherzogtum Luxemburg schaffte es, seine Wirtschaft nach der Stahlkrise der 1970er Jahre auf den Dienstleistungssektor umzustellen. Wie die früheren Industriereviere entwickelte sich insbesondere die Hauptstadt zu einem Magnet für Arbeitsuchende. 2018 machten Ausländer aus 167 Nationalitäten 70% der Stadtbevölkerung aus. 2019 überquerten täglich etwa 185.000 Pendler aus dem nahen Ausland die Landesgrenzen, um zu einem großen Teil in der Hauptstadt zu arbeiten. Das Lëtzebuerg City Museum nimmt die viele Migranten verbindende Erwerbstätigkeit zum Anlass, die Einwanderung im 20. und 21. Jahrhundert in einem Raum zu behandeln, der die Entwicklung des Dienstleistungsgewerbes in den Mittelpunkt stellt. Die Kuratoren belassen es bei der Darstellung des Themas mittels Statistiken. Herkunft und Lebensbedingungen der Migranten sowie das Mit- bzw. Nebeneinander der ursprünglichen und der „neuen“ Bevölkerung werden nicht thematisiert. Das von einer Stadt, die sich mit „multiplicity“ brandet, finanzierte Museum verleiht den ausländischen Einwohnern und Pendlern den Charakter von statistischem Dekor für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg.
361Auch historisch geht das Haus kaum auf das Thema Migration ein, obwohl über mehrere Jahrhunderte unterschiedliche Militärgarnisonen in der Festung Luxemburg stationiert waren. Bis in das 17. Jahrhundert waren die Soldaten und ihre Familien vorwiegend bei den Einwohnern der Stadt einquartiert, danach wurden sie zunehmend in Kasernen untergebracht. Diese temporäre Migration deutet das Museum durch in den 1990er Jahren angefertigte Miniaturmannequins an, die mit für die unterschiedlichen Militärgarnisonen typischen Uniformen bekleidet sind. Die ohne Beschriftung vor dem Hintergrund einer Phototapete mit Festungsmotiv präsentierten Figuren reduzieren ein Thema, dem viel Konfliktpotenzial innewohnt, zur idyllischen Anekdote.
362Ein Museum, das auf Rückwanderer eingeht, ist das bereits 1912 auf die Initiative
der Société d’Etudes et d’Intérêts Coloniaux hin gegründete Musée Africain in Namur.
Es blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück, die die Zusammensetzung seiner
heutigen Sammlungen erklärt. Nach der Zerstörung der Bourse aux Grains, wo das ursprüngliche
Museum untergebracht war, durch deutsche Fliegerangriffe 1914 mutierte es 1925 zum
Musée Colonial Scolaire im Dachgeschoss des Athénée Royal. 1934 wurde das Museum Musée
National d’Art Africain umgetauft und zog in ein Gebäude in der Rue Grognon um, das
1944 zerstört und ausgeraubt wurde. 1951 eröffnete das Haus als Musée Colonial Scolaire
in Jambes erneut, um nach einem Brand 1985 in das hundert Jahre zuvor errichtete Wachhaus
der Leopold-Kasernen in Namur umzuziehen. Eigenen Angaben auf seiner Webseite zufolge
nahm das Museum 2004 Abstand von dem damaligen Trägerverein, dem Cercle Royal Namurois
des Anciens d’Afrique, um die Bestimmungen des Dekrets vom 17. Juli 2002 für seine
staatliche Anerkennung zu erfüllen und öffentlich bezuschusst werden zu können. (Musée
Africain de Namur) Getragen wird das Museum heute vom gemeinnützigen Verein Musée
Africain de Namur. In dem auf der Webseite des Museums veröffentlichen Mission Statement
beschrieb es sich 2019 als „lieu de mémoire, de débats, de création, de formation, de recherche, de sensibilisation
et de lien social,
[qui]
entend valoriser les liens qui ont rapproché et rapprochent les Belges et les Africains.“
(Musée Africain de Namur) Dieses Statement steht im Gegensatz zu der im Oktober 2019
zur Erneuerung geschlossenen Dauerausstellung des Museums. An der Außenmauer des Gebäudes
wurden Besucher mit einer Gedenktafel der Stadt Namur zu Ehren der zwischen 1876 und
1908 im Kongo gestorbenen „Kinder“ der Stadt und einer Plakette des Cercle Royal Namurois
des Anciens d’Afrique empfangen. Zusammen mit der musealen Zurschaustellung von Vereinsfahnen,
altarhaft arrangierten laizistischen Devotionalien, Uniformen und Büsten von Würdenträgern
der früheren belgischen Kolonie vermittelte das Museum den Eindruck einer von den
Nachkommen der Betroffenen eingerichteten Gedenkstätte für weiße Kolonialhelden und
-kriegsopfer aus Namur.
363Wie bereits erwähnt, erklärt sich die Zusammensetzung der Sammlungen durch die verschiedenen Missionen, die dem Haus seit seiner Entstehung aufgetragen wurden. Einige Räume beinhalteten bis Oktober 2019 ästhetisch-kognitiv arrangierte naturkundliche Sammlungen zur Geologie sowie zur Fauna und Flora der ehemaligen Kolonie, die zu Kolonialzeiten für den Schulunterricht im „Mutterland“ gebraucht wurden und als Zeugnisse des zentralafrikanischen Natur-„heritage“ nichts mit dem Standort Namur zu tun haben.
364Erst die Kombination der Exponate mit ihren ursprünglichen Sammlern oder die Nebeneinanderstellung von Rohstoffproben mit Photographien, auf denen die Förderung durch schwarze Angestellte dargestellt wird, machen sie zum „heritage“ der weißen Siedler. Die ausgestellte Schmetterlingssammlung dokumentierte im Museum die Sammeltätigkeit eines weißen belgischen Ehepaars. Das gerahmte Kautschukbaum-Rindenstück mit den Photographien einer Plantage und eines schwarzen Arbeiters verwies auf das Unternehmertum der weißen Rückkehrer, verschwieg aber die als „Kongogräuel“ bezeichneten brutalen Methoden, mit denen die einheimische Bevölkerung zum Kautschuksammeln gezwungen wurde.
365Verschiedene Räume des Museums erinnerten an seine Vergangenheit als Musée national d’Art Africain. Dort wurden zentralafrikanische Kunstgegenstände ausgestellt, die von den weißen Siedlern gesammelt und nach Belgien gebracht wurden. Die Ausstellung sprach die aus heutiger Sicht problematische Provenienz dieses „heritage“ nicht an, sondern präsentierte die Objekte entweder in der Art einer europäischen Kunstausstellung oder kontextualisierte sie wie ein nicht um Reflexion bemühtes europäisches Volkskundemuseum.
366Etliche Objekte wurden als Souvenirs in Vitrinen ausgestellt. Sie muteten sich an als zeitlose Illustrationen der Beschreibung des Kongostrom-Erlebnisses von Nikolaus Berger im „Unter fernen Sonnen“ betitelten Kapitel der „Segenstrom der Heimat“-Publikation von 1938:
Seit Mittag sind wir im Kongostrom. Der Dampfer von Banana hat uns einen flußkundigen Piloten an Bord gebracht. Vorsichtig gleitet der Elisabethville durch die schmutziggelben Fluten. Die schönsten Landschaften ziehen an unseren rotbebrillten Augen vorbei. Ein reiches Blumenmeer leuchtet in unglaublichem Farbenreichtum zu uns herüber. Hie und da schimmert ein Negerdorf durch das Gebüsch, und gewöhnlich stehen die Bewohner freundlich winkend am Ufer. Langsam steigt der Abend herab. Wir werden Boma heute nicht erreichen; gegen sechs Uhr gehen wir mitten im Strom vor Anker. Bleiern legt sich unmittelbar die bis jetzt schon immer zunehmende Hitze übers Schiff. Kongoluft! Die Kabinenfenster werden gegen Stechmücken mit grünem Drahtgeflecht überzogen. Alle Ventilatoren sind in Betrieb. Wir machen unsere übliche Partie Halma, aber es will heute nicht recht, man ist zu schlaff. Bis elf Uhr stehe ich auf dem obern Deck und schaue träumend in die Nacht hinaus. Alles ist ruhig. In der Ferne flammt ein Steppenfeuer durch das Dunkel und färbt den Himmel glutrot. (Berger 1938: 156)
367Die bewusst harmlose Inszenierung der Objekte drückte den kolonialen europäischen Blick auf die einheimische Bevölkerung Zentralafrikas aus. Die Zurschaustellung von kolonialen Kopfbedeckungen auf einem Vitrinen-Tablett unterhalb dessen ein Eisenhalsring lag, den die Objektsbeschriftung als „Sklavenring“ identifizierte, spiegelte (ungewollt?) wider, dass die die Museumsträger keinen Abstand von den kolonialen Hierarchien und der kolonialen Meistererzählung Belgiens genommen hatten. Diese besagt, dass Belgien dem Kongo Sicherheit brachte, die Region von der Sklaverei befreite und „zivilisierte“. (Jungblut 2020: 13)
368Durch die Aufnahme in Museumssammlungen verwandeln Museumsverantwortliche Gegenstände aller Art in „heritage”-Zeugnisse. Dabei stellt sich stets die Frage, für wen dieser „heritage“ Relevanz hat. Der „heritage“ des Musée Africain in Namur ist für die Träger des Museums wie für die Menschen, aus deren Herkunftsland er stammt, relevant. Der Sinnzusammenhang, den die Ausstellung konstruierte, spiegelt die Wunschvorstellung ihrer Träger von ihrer Auswanderung wider. Sie bemühten sich als Migranten zu erscheinen, die das Mutterland verließen, sich in der Kolonie eine Existenz aufbauten und Fortschritt in die zentralafrikanische Region brachten. Ihre Täterrolle als Ausbeuter gegenüber der lokalen Bevölkerung wurde nicht thematisiert. Durch eine rein objektzentrierte Präsentation der Exponate versuchten die Museumsverantwortlichen der Stellungnahme zum schwierigen belgischen Kolonialerbe zu entgehen, wie am Beispiel von drei neben einem ausgestopften Löwen in einer Vitrine präsentierten Peitschen deutlich wird. Die Objektbeschriftung wies auf das Material der Griffe hin. Zu ihrem Verwendungszweck hieß es lakonisch, Peitschen seien Instrumente zur Ausführung von körperlichen Strafen.
369Die Sicht der ausgebeuteten lokalen Bevölkerung auf die „zivilisatorischen Errungenschaften“ der weißen Einwanderer fand keinen Platz in der Ausstellungserzählung. Die Einheimischen erschienen weder als Akteure noch als Opfer, sondern lediglich als Dekor auf der gleichen Ebene wie die ausgestopften Fische, Vögel und Wildtiere. Die Opferrolle blieb den in den Kolonialkämpfen ums Leben gekommenen ausgewanderten männlichen Einwohnern der Stadt Namur vorbehalten. Damit wies die Dauerausstellung des Rückkehrer-Museums in Namur in pointierter Weise auf die Blickeinschränkung vieler von Interessengruppen betriebenen Museen hin.
370Im Musée Armand Pellegrin in Hélécine (B) ist der koloniale „heritage“ indirekt vorhanden. Die vom Volksschullehrer und Museumsgründer Pellegrin gezeichnete Erklärungstafel zu seinem heimatkundlichen Anschauungsunterricht, die als zentrales Exponat des Museums im Eingangsbereich ausgestellt ist, erwähnt die Kongo-Kolonie mehrmals. Die dazugehörigen kolonialen Sammlungen, die Pellegrins Schwester dem Museumsgründer aus der Kolonie mitbrachte und die er in seinem Unterricht gebrauchte, wurden bei der Renovierung 2012 ins Depot gebracht. Die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der lokalen Geschichte wurde durch seine Auslagerung geführt.
371Das Musée rural in Binsfeld thematisiert die Auswanderung mit einem Ausstellungsensemble,
das aus einer informativ gehaltenen bebilderten Texttafel, einigen Koffern, landwirtschaftlichem
Gerät und einer amerikanischen Flagge, besteht. Aufgrund der fünfzig abgebildeten
Sterne kann die Fahne in die Zeit nach 1960 datiert werden, was ihr in diesem Kontext
den Stellenwert eines Dekorationsobjekts verleiht. Der „Migration“ betitelte Ausstellungstext
bezieht sich allerdings nur auf das 19. Jahrhundert: „Im 19. Jahrhundert konnte die
rückständige Landwirtschaft die stark gewachsene Bevölkerung nicht mehr ernähren.
70.000, vor allem junge Leute, sind ausgewandert, ungefähr ein Drittel der Bevölkerung.“
[deutsche Übersetzung der Autorin] An diesem Beispiel wird deutlich, dass es dem Musée
rural in Binsfeld – wie vielen anderen Sammlermuseen auch – mehr darum geht, „aussagekräftige, sinnvolle Bilder“
(Jannelli 2012: 27) als historisch korrekte Rekonstruktionen entstehen zu lassen.
372Ein Museum, das den Blick von Migranten auf das verlassene Herkunftsland und die neue Heimat zeigt, ist das Roots and Leaves-Museum, das seit 2009 von Nachkommen Luxemburger Auswanderern in der Ortschaft Belgium im US-Staat Wisconsin, die sich in einer Vereinigung mit dem Namen Luxembourg American Cultural Society and Center zusammengeschlossen haben, betrieben wird. Auf der Webseite ist zu erfahren, dass es sich in der 1872 vom luxemburgischen Einwanderer Jacob Mamer errichteten und wiederaufgebauten Steinscheune befindet. In dem als „roots“ bezeichneten Teil erzählt das Museum die Geschichte des Großherzogtums Luxemburg bis heute und legt in der Ausstellungseinheit, die sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt, besonderen Wert darauf, die Gründe für die Auswanderung aus der Sicht der Ausgewanderten darzulegen. Der „leaves“-Teil beschäftigt sich mit dem Leben der Eingewanderten und ihrer Nachkommen. (Jung 2020) Das Museum wurde mit der finanziellen Unterstützung des Luxemburger Kulturministeriums über den vom ehemaligen Direktor der Denkmalschutzbehörde Georges Calteux initiierten Luxemburger Trägerverein Roots and Leaves realisiert. (Heniqui 2007) Auf seiner Webseite bedankt sich das Museum für die Unterstützung mit den Worten:
The exhibit panels, display cases, furnishings, and artwork featured in the Roots and Leaves Museum were all gifts from the people of Luxembourg through the country’s Ministry of Culture and were crafted by Luxembourgish artisans. The Luxembourg American Cultural Society is forever indebted to the Grand Duchy for its generosity, which helped to make the Luxembourg American Cultural Center and its Roots and Leaves Museum a reality.
373Primäres Ziel des Museums und des amerikanischen Vereins ist es, „die Wurzeln des luxemburgischen Erbes zu bewahren“
, so der Direktor der amerikanischen Kulturinstitution Kevin Wester 2010 in einem
Interview mit einer Luxemburger Tageszeitung. Neben der Ausstellung beherbergt das
Zentrum auch die „Forschungszentrale ‚Dooley Wagner Research Center‘, [die als] das Herzstück der Kulturinstitution
[bezeichnet wird und] die größte Bibliothek für Luxemburger Literatur, Geschichte
und Genealogie in den Vereinigten Staaten“
beherbergt. (Hengen 2010) Die auf der Webseite des Museums veröffentlichten Bilder
belegen zum einen, dass das rekonstruierte Gebäude Ähnlichkeiten mit dem Stil der
Bauernhäuser im „Mutterland“ aufweist, was das (persönliche?) Interesse des Denkmalschützers
Calteux an diesem Zeugnis des amerikanisch-luxemburgischen Bau-„heritage“ erklärt.
Die Bilder des vom Luxemburger Kulturministerium mit 400.000.- Euro finanzierten Ausstellungsmobiliars
zeigen zum andern, dass es sich um eine kommunikationell aufgebaute Ausstellung handelt,
die, was den der Geschichte des Großherzogtums gewidmeten Teil anbelangt, sehr traditionell
auch die Geschichte der Luxemburger Herrscherdynastie erzählt. Für den Zusammenhang
dieser Untersuchung ist u.a. interessant, dass dieses Museum den Ausgewanderten ihre
Verdienste in der neuen lokalen Heimat vor Augen führt und ihnen gleichzeitig die
„große“ Heimat zeigt, die ihre Vorfahren verlassen haben.
Krieg
374Das Thema Krieg wird in erster Linie in Museen aufgegriffen, die sich an Orten befinden, die mit diesbezüglichen Ereignissen konfrontiert waren. Das gilt für das Memorial 1815 in Waterloo wie für Häuser, die sich mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts beschäftigen.
37552/353 Museen beschäftigen sich mit dem Zweiten Weltkrieg, während der Erste Weltkrieg nur in 17/353 Museen thematisiert wird. Von einer kleinen Vitrine abgesehen, die anlässlich des 100. Jahrestags des Ersten Weltkriegs im Bauernmuseum in Peppingen angebracht wurde, gehen die Dauerausstellungen von Luxemburger Museen nicht auf den Ersten Weltkrieg ein. In Luxemburg fanden keine Schlachten statt. Der Kanonendonner, von dem im gleichnamigen, im „Segenstrom der Heimat“ veröffentlichten Text des bereits 1925 verstorbenen Schulinspektors Arthur Hary (1892-1925) die Rede geht, bezieht sich auf die Grenzschlachten an der belgisch-französisch-(luxemburgischen) Grenze:
Durch unsere friedlichen Dörfer rollt der Donner der Kanonen, er zittert an unsern Fenstern, er gellt in unsern Ohren. Die Schüsse fallen in furchtbarer Folge. Spürt ihr es, wie die Erde bebt? Seht ihr nicht die Flammen leuchten? Noch flammt es jenseits der Grenze, noch sind wir geborgen. Wie lange? Wer weiß, ob nicht auch wir unsere Habseligkeiten zusammenraffen werden und das Haus unserer Väter der Verwüstung überlassen! Wir sind hilflos wie die Singvögel, der geringste Hauch erschüttert uns. (Hary 1938-1: 147)
376Dieser und andere unter der Kapitelüberschrift „Heimat in Not“ zusammengefasste Texte über den Ersten Weltkrieg im „Segenstrom der Heimat“ belegen, dass der Erste Weltkrieg in den 1930er Jahren noch in der kollektiven Erinnerung der Luxemburger präsent war. Der ebenfalls von Hary verfasste Text über „Bettelkinder“ (Hary 1938: 149) oder der „Hunger“ betitelte Text des Lehrers Heinrich Traufler (1890-1971) (Traufler 1938: 150) u. a. zeigen, dass das Kriegserlebnis der Zivilbevölkerung das kommunikative Luxemburger Gedächtnis der Zwischenkriegszeit prägte. Auch in den Ausstellungen, die Armand Pellegrin seit 1930 im Rahmen seines heimatkundlich ausgerichteten Unterrichts [im frz. Originaltext „exploitation du milieu“] während der Schulferien im seinem Schulklassenzimmer ausrichtete, war der Erste Weltkrieg vertreten.
377In der heutigen Fassung des 2012 zuletzt renovierten kleinen Museums in Hélécine findet der Erste Weltkrieg sowohl Erwähnung in einer Vitrine als auch mit dem enigmatischen Exponat des „zerbrochenen Gewehrs“. Der in der Ausstellung präsentierten Erzählung nach habe ein deutscher Offizier bei einer Begegnung im August 1914 mit einem belgischen Soldaten diesem das Gewehr abgenommen, es zerbrochen, in den Straßengraben geworfen und das Leben des Belgiers verschont. Pellegrin habe von der Geschichte erfahren, das Gewehr an sich genommen und es in seinen Ausstellungen präsentiert.
378Die Exponate des Armand Pellegrin Museums sind allerdings nicht repräsentativ für die meisten Kriegsausstellungen, die auf Militaria-Sammlungen zurückgehen, die entweder von privaten Sammlern oder im Auftrag von militärischen Einrichtungen zusammengetragen wurden. Exponate, die sich auf Kriegserlebnisse von Zivilisten beziehen, sind unterrepräsentiert. Ein Beispiel für ein institutionalisiertes Regionalmuseum, das eine private Militaria-Sammlung aufgenommen hat, ist das Musée gaumais in der Stadt Virton, deren Umgebung im August 1914 Schauplatz einer der blutigen, von Hary erwähnten Grenzschlachten des Ersten Weltkriegs war. Waffen, militärische Kopfbedeckungen, aber auch Erinnerungsgegenstände, die mit diesem Ereignis in Verbindung stehen, werden in Virton in kognitiv-ästhetischer Art präsentiert. Sie vermitteln unkundigen Besuchern keine Erklärungen über die Ereignisse, sondern stellen das Gedenken an die Schlacht und die Soldaten, die im Ersten Weltkrieg kämpften, in den Mittelpunkt. Der Objektbeschriftung einer deutschen Pickelhaube, die zu einem, in einem antiken Schrank inszenierten Objektensemble gehört, ist zu entnehmen, dass sie aus einer lokalen Militaria-Sammlung stammt, die dem Museum 2014 übertragen wurde. Die gleichwertige Inszenierung von deutschen und belgischen Militäraccessoires zusammen mit der kolorierten Zeichnung des bewaffneten Aufeinandertreffens und einem Gewehr kann als Hommage an die „feindliche“ Seite und als pazifistisches Gedenken an das Sterben auf beiden Seiten hundert Jahre nach Kriegsbeginn interpretiert werden.
379Weit mehr als vom Ersten Weltkrieg sind Militaria-Sammler vom Zweiten Weltkrieg fasziniert. Die Ardennengegend in Belgien und in Luxemburg war im Winter 1944/1945 Schauplatz der Ardennen-Schlacht, während der die deutsche Wehrmacht amerikanische Truppen in der Stadt Bastogne und ihrer unmittelbaren Umgebung einkesselte. Vom Sammlerhype um dieses Ereignis zeugt eine private Einrichtung in Bastogne, die sich Au Pays d'Ardenne Original Museum (1940-1945) nennt, aber in erster Linie ein Militaria-Geschäft ist.
380Die 38 Museen in Wallonien und die 14 Museen in Luxemburg, die sich mit dem Zweiten
Weltkrieg befassen, können heute trotz der Erneuerung ihrer Ausstellung die ursprüngliche
Militaria-Sammlungsidentität nicht verleugnen. Ein Beispiel ist das December 44 Historical
Museum La Gleize. Über seinen Standort heißt es auf der dreisprachigen (FR, NL, EN)
Webseite, dass es sich in der Gemeinde La Gleize befindet „où les Allemands ont perdu la Bataille des Ardennes“ und dass es sich „entièrement
à cette histoire locale“
widmet. (December 44 Historical Museum La Gleize) Schlacht-Veteranen und Einwohnern
der Gemeinde gewährt das Museum freien Eintritt. Das Museum wurde 1989 von Gérard
Grégoire und Philippe Gillain in einem 500 m² umfassenden, speziell zu diesem Zweck
errichteten Gebäude eröffnet. Finanziert wurde der Neubau, der sich neben dem ehemaligen
Pfarrhaus befindet, in dem die deutsche Armee während der Ardennen-Schlacht eine Erste-Hilfe-Station
unterhielt, durch die Gemeinde Stoumont und die Provinz Lüttich. Einer der Gründer
(Gérard Grégoire) hatte den Krieg als Kind erlebt, Geschichten gesammelt und Bücher
veröffentlicht. Der andere (Philippe Gillain) war ein leidenschaftlicher Sammler von
US und deutschen Militaria, der in den 1960er Jahren auf viele, von den deutschen
Truppen im Zuge ihrer Flucht aus La Gleize zurückgelassene Uniformen gestoßen war.
2012 waren die Gründer des Museums, das nach Angaben Gillains damals etwa 12.000 Besucher
jährlich anzog, auf der Suche nach Nachfolgern, die ihr Lebenswerk weiterführen konnten.
Die Sammlungen wurden durch Partnerschaften mit zwei ähnlich gearteten, von jungen
Sammlern geführten Museen ergänzt. Michel de Trez ist Betreiber des D-Day Museum Experience,
Dead Mans's Corner-Museum in der Normandie sowie des paratrooper.fr-online-Shops.
Mathieu Steffens steht hinter dem Baugnez 44 Historical Center, das sich mit der Geschichte
eines Kriegsschauplatzes in der Nähe von Malmedy im deutschsprachigen Teil der Provinz
Lüttich befasst. Die Akteure unterschrieben eine Konvention mit der Gemeinde Stoumont
auf dreißig Jahre, und 2013 wurde das Museum mit doppelter Ausstellungsfläche neu
eröffnet. (Historische Gesellschaft der deutschen Militärgeschichte; Vedia 2019) In
seiner heutigen Form richtet sich das Haus an ein internationales Schlachten-„heritage“-Publikum,
wie auch seine Präsenz auf einschlägigen Webseiten zeigt. Als Alleinstellungsmerkmal
wird der Original-Tiger 213-Kommando-Panzer des SS-Obersturmführers Helmut Dollinger
während der letzten Kampftage in La Gleize angeführt.
381Der Fokus auf Schlachten-Touristen erklärt, warum das Museum seinen Blick auf die militärischen Ereignisse von Dezember 1944 beschränkt. Die Museumsakteure bedienen sich größtenteils kommunikationeller und analogischer Darstellungsweisen, um die Kampfhandlungen und den militärischen Schlachten-Alltag auf beiden Seiten darzustellen. Die didaktischen Texte sind nur in Französisch und Englisch verfasst, was sich eher mit raumökonomischen Gründen als mit einem bewussten Ausschluss der Kriegsverlierer erklären lässt. Ähnlich wie die Präsentation in Virton zollt das December 44-Museum den deutschen Schlachtakteuren in ihrer Menschlichkeit Respekt. Der Mantel eines 22jährigen deutschen SS-Schützen, in dessen Taschen sich drei Taschentücher befanden, wird zusammen mit einer Desillusionierung ausdrückenden Photographie des jungen Mannes und der Beschriftung „Die Tränen trocknen“ ausgestellt. In Kombination mit der Photographie eines Partisanen erschießenden SS-Schützen, hätte der Mantel ein anderes Bild konstruiert.
382Die kognitiv-ästhetische Zurschaustellung von Schlachten-Archäologie-Material mit zum Teil persönlich-intimen Exponaten wie Stiefel oder Gebissprothesen erinnert an ähnliche Präsentationen im Holocaust Memorial in Washington oder in KZ-Gedenkstätten und erhebt das Haus zu einer Gedenkstätte für die in und um La Gleize auf beiden Seiten ums Leben gekommenen Soldaten.
383Den zivilen lokalen Opfern schenkt das Museum weder in den Objektvitrinen noch in den lebensgroßen Dioramen Beachtung. Die Innenräume der Häuser bleiben Kulissen. Dies hatte die Erneuerer des nur einige Kilometer entfernten Wanner Museums dazu bewogen, mit Leihgaben des December 44-Museums auf das Leben der Zivilbevölkerung einzugehen. Die Dioramen, mit denen die Museumsakteure im December 44 – wie in vielen anderen Museen zur Ardennen-Schlacht – heutigen Betrachtern ein immersives Erlebnis dessen bieten wollen, was die Soldaten auf beiden Seiten durchmachten, wurden mit großer Sorgfalt konstruiert. Das Mannequin-Gesicht des verletzten amerikanischen GIs Benjamin Hayes Vandervoort hat mit dem des ebenfalls auf einer Photographie Dargestellten sehr große Ähnlichkeit.
384Ein weiteres Beispiel für Museen, die das internationale Interesse am Zweiten Weltkrieg touristisch nutzen, ist das Bastogne War Museum (BWM), das sich neben dem Mardasson-Memorial befindet und ebenfalls auf einer privaten Militaria-Sammlung fußt. 1976 eröffnete die Stadt Bastogne mit Militaria-Exponaten des Privatsammlers Guy Franz Arend am gleichen Standort das Bastogne Historical Center. Über die Jahre nahm das Museum weitere Privatsammlungen auf und entwickelte sich u.a. durch seine unmittelbare Nähe zur Mardasson-Gedenkstätte zu einem Tourismus-Magnet. Als das Haus zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs erneuert werden sollte, war es für die Kommunalpolitiker in Bastogne einerseits selbstverständlich, dass nicht auf die historischen Militaria-Sammlungen verzichtet werden sollte.
385Andererseits wollten die politisch Verantwortlichen ein Ausstellungskonzept, das den mehr als fünfzig Jahren internationaler wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit mit dem Verlierer des Zweiten Weltkrieges Rechnung trägt. Die Lösung fanden die Museumsakteure im Erfinden von vier fiktiven archetypischen Personae, die die Besucher über einen Audioguide durch die Ausstellung begleiten und die in Episoden unterteilte Geschichte des Kessels von Bastogne aus vier unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Es handelt sich dabei um Emile Mostade, einen 13jährigen Jungen aus Bastogne, um die 25jährige Lehrerin Mathilde Devillers, die auch im Widerstand tätig war, um den 21jährigen Leutnant der Wehrmacht Hans Wegmüller und den 20jährigen amerikanischen Fallschirmspringer aus der 101. Airborne Division Robert Keane. Ihren visuellen Ausdruck finden die Charaktere in lebensgroßen, vom Zeichner der Comic Serie Airborne 44 Philippe Jarbinet entworfenen Figuren, die ihre Erzählung im eigenständigen narrativen Genre der graphic novel verorten, einer historisch-literarischen Gattung, die insbesondere in Bezug zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs sehr beliebt ist. (Ribbens 2009: 123)
386Die Angst, Schmerz und Hoffnung der Protagonisten ausdrückenden, erfundenen Erzählungen
der vier Ausstellungshelden gründen auf lokalen Erinnerungen und wurden von einem
internationalen wissenschaftlichen Beirat validiert. Der Blick des lokalen Kollaborateurs
auf die Ereignisse fehlt allerdings in dem mit Geldern von der Stadt, vom wallonischen
Tourismus-Kommissariat und aus dem europäischen FEDER-Programm für 7,8 Millionen Euro
realisierten, touristischen Großprojekt. Die Träger setzten sich zum Ziel, „de promouvoir la citoyenneté européenne“
und wollen das Museum zum bedeutendsten Interpretationszentrum zur Geschichte des
Zweiten Weltkriegs in Belgien, wenn nicht in ganz Europa entwickeln.
387Die Rechnung scheint aufzugehen, denn zwischen der Eröffnung im Frühjahr 2014 und April 2019 empfing das Haus etwa 700.000 Besucher aus aller Welt. (Herman 2019) Aus dem globalen Ansatz und den finanziellen Ressourcen heraus erklärt sich auch, warum das BWM – im Gegensatz zum Museum in La Gleize – die Ardennen-Schlacht in den Kontext des gesamten Krieges stellt, dessen Geschichte mit den Sammlungen des Museums durch kommunikationelle, ästhetisch-kognitive und analogische, als Szeno-Visionen bezeichnete Ausstellungseinheiten strukturiert wird. In den kommunikationellen und in den ästhetisch-kognitiven Teilen bieten die in mehreren Sprachen verfügbaren Erzählungen der fiktiven Zeitzeugen den Besuchern eine emotionale, narrativ-plastische Interpretationsschiene, die parallel zu den nüchternen Erklärungen der wissenschaftlichen Raumtexte und Objektbeschriftungen verläuft.
388In den auf Dezember 44 bezogenen, rekonstruierten und filmisch animierten Szeno-Visionen sind die Kommentare der vier fiktiven Zeitzeugen der zentrale Bestandteil des emotional-immersiven Erlebnisses. Ohne ihre Kommentare erfahren Besucher nicht, dass der verletzte Wehrmachtsoldat Hans in einem von den Ideen der Aufklärung geprägten bürgerlichen Elternhaus aufgewachsen ist, dass er und sein amerikanischer Bewacher Robert im Keller der Kneipe in Bastogne von den dort verschanzten Zivilisten einen Teller Kartoffelsuppe bekommen, dass die Lehrerin Mathilde Angst hat und dass Emiles Eltern ums Leben kommen.
389Die dem Kessel von Bastogne und der Ardennen-Schlacht gewidmeten Dioramen in La Gleize
und die Szeno-Visionen des Bastogne War Museums greifen stereotype Bilder auf, die
vielen Besuchern aus Büchern, Spielfilmen und Videospielen bekannt sind. Sie übertragen
diese im kulturellen Gedächtnis vorhandenen allgemeinen Phantasien von Kriegsszenen
auf die Ardennen-Situation im Dezember 1944. Ihre Materialisierung in Verbindung mit
einem authentischen Schauplatz verstärkt wiederum ihre Kraft. Gleichzeitig formen
sie die Vorstellungen der Ardennen-Schlacht nach einem kanonisierten Modell. Dieses
Vorgehen, das auf der Wiederkehr von Bildformeln beruht (Seegers 2003: 360) und auch
bei der Darstellung von Alltagsszenen in lokalen Museen festgestellt werden kann,
wurde vom Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866-1929) durch
das Modell der Mnemosyne erklärt. Seinen Ausdruck fand es in Warburgs unvollendetem
Atlas zur Mnemosyne, der, so die Absicht des Autors „durch seine Bildmaterialien diesen Prozeß illustrieren [sollte], den man als Versuch
der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens
bezeichnen könnte.“
(Warburg 2003: 3)
390Das Mons Memorial Museum (MMM) geht einen anderen Weg als die Museen in Bastogne und La Gleize. Es gehört zu den fünf Museen, die 2015 im Rahmen des Events „Mons Kulturhauptstadt Europas“ eröffnet bzw. nach einer umfangreichen Renovierung und Neugestaltung wiedereröffnet wurden. Das Nachfolgemuseum des etwa 5.000 Objekte zählenden Musée d’histoire militaire, das sich sich in einem unter Denkmalschutz stehenden stillgelegten Pumpwerk aus dem Jahr 1871 befindet, an das ein Neubau angegliedert wurde, wird von der Stadt Mons finanziert. Die 1.200 m² umfassende, chronologisch aufgebaute Dauerausstellung dreht sich um die militärische Vergangenheit der Stadt. Im Zentrum steht das Thema Krieg. Allerdings war es das Ziel der Verantwortlichen,
[de ne pas] s’intéresser uniquement aux singularités de la ville de Mons mais, au contraire, de permettre aux visiteurs, à travers l’histoire de la cité et de sa région, de se questionner sur des réalités vécues dans un grand nombre d’autres régions en Belgique. (Duplat 2014)
391Für Großbritannien gilt der Standort Mons als „mère des batailles“ des Ersten Weltkriegs, weshalb er als einziger belgischer Erinnerungsort in die britischen Gedenkfeierlichkeiten von 2014 einbezogen wurde. Auf dem Friedhof Saint Symphorien befinden sich zwischen den vielen alliierten und deutschen Kriegsgräbern auch die letzten Ruhestätten von John Parr, dem ersten britischen Soldaten, der am 21. August 1914 in Belgien fiel, und von George Price, einem kanadischen Soldaten, der zwei Minuten vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November 1918 getötet wurde. Mit einer Investition von 10 Millionen Euro wollten die politisch Verantwortlichen der Stadt Mons und der Region Wallonien die Bedeutung der Stadt als Reiseziel für den – insbesondere britischen – Gedenk-Tourismus zum Ersten Weltkrieg fördern. (Duplat 2014)
392Im Gegensatz zu den bislang beschriebenen monothematischen Kriegsmuseen beschränkt sich das MMM allerdings nicht auf einen spezifischen Krieg, sondern präsentiert die militärische Geschichte der Stadt komprimiert zurück bis in Zeit der österreichischen Niederlande, um dann ausführlich auf die beiden Weltkriege einzugehen.
393Es tut dies in einer „approche sociétaire“, auf die hier punktuell am Beispiel der Schlacht um Mons vom 23.-24. August 1914, der ein Raum gewidmet ist, eingegangen werden soll. Ein kurzer, von Emmanuel Debruyne, einem Historiker und Spezialisten für die Besatzungsgeschichte im Ersten Weltkrieg, unterschriebener Text führt die Besucher an das Konzept der Museumsverantwortlichen heran. In der deutschen Raumtextfassung ist zu lesen:
Zur Illustration dieser Jahre von 1914 bis 1918 haben wir uns für die Darstellung der Situation entschieden, in der sich die Bewohner der Region Mons als auch [die] Soldaten der britischen Armee befanden. Die Katastrophe nahm genau am 23. August ihren Lauf. In Mons stehen sich dann zum ersten Mal die britische und die deutsche Armee gegenüber und hier ist auch der erste Gefallene zu beklagen.
394Der Aufbau des Schlacht-Raums spiegelt die Intention der Ausstellungsmacher wider. An den rechts und links an eine wandfüllende Frontvitrine, die den militärischen Aspekten der Schlacht gewidmet ist, stoßenden Wänden befinden sich Exponate, die von den Konzeptern als Zeugnisse des zivilen Erlebens der Schlacht interpretiert werden.
395Der Verlauf der Schlacht erschließt sich den Besuchern durch einen Schleifenfilm, der auf einem Bildschirm über der zentralen Militär-Vitrine gezeigt wird. Der monumentale Schaukasten besteht aus zwei gleichwertigen, durch ein Soldatengrabkreuz verbundenen Teilen, die sich aus der Sicht der Besucher links mit den britischen und rechts mit den deutschen Soldaten befassen. Originale Uniformen und Kopfbedeckungen sind in Lebensgröße „kopflos“ aneinandergereiht. Rechts und links vom Soldatengrabkreuz richten schräg arrangierte Originalwaffen ihren Lauf auf die Betrachter der Vitrine. Nummerierte Objektbeschriftungen beschreiben die ebenfalls mit Nummern versehenen Exponate didaktisch.
396Auf vor den Objekten angebrachten Tafeln ergänzen Texte in vier Sprachen (F, NL, EN, D) mit persönlichen Erinnerungen von Soldaten und Zivilisten die Ausstellungsobjekte und geben diesem immateriellen Erinnerungs-„heritage“ Exponat-Charakter. Durch die uniforme Präsentation drücken die Museumsakteure aus, dass sie die Erinnerungen nicht gegeneinander bewerten wollen.
397Die Monser Kuratoren verzichten auf immersive Mittel wie Dioramen (December 44 in
La Gleize) oder fiktive Personae (BWM in Bastogne), um das Bewusstsein der Besucher
für die Grausamkeit der Kriegserfahrung zu wecken. Ihre Darstellungsweise kann als
kommunikationell beschrieben werden. Mit der geschickten Inbezugsetzung von authentischen,
materiellen und immateriellen Exponaten, die das gleiche Ereignis aus militärischer
und ziviler, aus Offiziers- und aus Soldatenperspektive beleuchten, sowie der distanzierten
Stellungnahme eines Historikers wollen sie die Besucher am Beispiel der Schlacht um
Mons an das Unfassbare des Krieges heranführen, wohlwissend, dass die museale Präsentation
keine Realität abbilden kann. Die Analyse des Raums zur Schlacht von Mons belegt,
dass das MMM im Gegensatz zum December 44 Museum und zum BWM keine vorverdaute, politisch
korrekte Interpretation des Krieges liefert, die auf einem vertrauten Satz von Bildformeln
aufbaut, sondern seitens der Besucher die Bereitschaft fordert, sich intellektuell
auf die Auseinandersetzung mit dem Thema einzulassen. Der ungewohnte Ansatz stieß
auf Widerstand bei den Museumsträgern. Ende Juni 2018 verließ der 2012 für die Überführung
der ehemaligen städtischen Militaria-Sammlung in das MMM eingestellte Historiker Guillaume
Blondeau das Museum, an dessen Spitze er sechs Jahre stand. Für die Stadt war sein
Ansatz „trop scientifique“
und „pas assez grand public“
. (Zinque 2018)
398Ein inhaltlicher Vorwurf, der an das der globalen militärischen Geschichte der Stadt Mons gewidmete Museum gerichtet werden kann, betrifft die Tatsache, dass die Dauerausstellung die Zeit nach 1945 nicht berücksichtigt. Im 10 km von Mons entfernten Erbisoeul befand sich nach 1945 das größte Kriegsgefangenenlager Belgiens. Seit 1967 beherbergt der Ort Casteau, der sich ebenfalls in 10 km Entfernung von Mons befindet, einen wichtigen NATO-Stützpunkt, das Supreme Headquarters Allied Powers in Europe (SHAPE). Für die britische Ethnologin und Museumswissenschaftlerin Sharon Macdonald gelten
histories and pasts that do not easily fit with positive self-identities of the groups of whose pasts or histories they are part of. Instead of affirming positive self-images, they potentially disrupt them or may threaten to open up social differences and conflicts [als] difficult heritage. (Macdonald 2008:9)
399Gemäß dieser Definition gehört die Geschichte des Lagers von Erbisoeul, in dem 52.000 deutsche Kriegsgefangene interniert waren, sicher zum lokalen „difficult heritage”, das zur Diskussion gestellt werden sollte. Mit einer Sonderausstellung zu diesem Thema vom 10. Mai bis 18. August 2019 erfüllte das Museum – zumindest dem Buchstaben nach – seinen Anspruch als „musée sociétaire“, das den Besuchern hilft, ihre gesellschaftliche Gegenwart durch die Reflexion der Vergangenheit zu gestalten.
400In seiner dritten, 2017 unter dem Titel „The Luxembourg Story“ eröffneten Dauerausstellung
greift das Lëtzebuerg City Museum die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht
der Zivilbevölkerung auf. Bereits für die erste Dauerausstellung (1996-2007) hatten
zwei anerkannte Luxemburger Weltkriegsspezialisten ihre Kommentare zu den Exponaten,
mit denen die Sozialgeschichte der Stadt während des Zweiten Weltkriegs dargestellt
wurde, signiert. In der lokalen und nationalen öffentlichen Meinung der 1990er Jahren
wurden Kollaboration, Judenverfolgung und Enteignung noch weitgehend als Randphänomene
betrachtet, was sich auch in den Texten der Historiker, die leider nicht mehr existieren,
widerspiegelte. Durch die Zusammenarbeit mit ihnen wurde den Ausstellungsverantwortlichen
klar, dass insbesondere das Verhalten der Einheimischen zwischen Gehorsam gegenüber
dem nationalsozialistischen Besatzer und zivilem Ungehorsam der Aufarbeitung bedurfte.
Dies geschah im Rahmen von zwei Sonderausstellungen 2002 und 2005: „Et wor alles net
esou einfach... Zehn Fragen an die Geschichte Luxemburgs während des Zweiten Weltkriegs“
(Lëtzebuerg City Museum 2002; Jungblut 2017: 388-396) und „Ausgeraubt! Neue Fragen
an die Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg“ (Lëtzebuerg City Museum 2005).
Beide Ausstellungen griffen sowohl das bis dahin weitgehend tabuisierte Thema der
alltäglichen Mitläuferschaft der Luxemburger als auch seine nicht erfolgte Aufarbeitung
nach dem Krieg auf. Mit der Schau wollten die Verantwortlichen den von Gottfried Korff
treffend formulierten Anspruch an historische Ausstellungen, „vorherrschende Betrachtungsmaßstäbe und Wertvorstellungen […] ins Schwanken zu bringen“
erfüllen. (Korff 1993-1) Wiederum von ihrem Autor unterzeichnete Texte unterstützten
das Anliegen der Verantwortlichen, in der Ausstellung Bezüge zwischen Geschichte und
Gegenwart herzustellen und den Besuchern Anregungen zu liefern, die traditionelle
einseitige Deutung der Luxemburger Geschichte als Konstruktion zu entlarven. Eine
der zehn Abteilungen der Ausstellung von 2002 stellte die Frage, ob das Kriegserlebnis
als einigendes Band der Nation gedeutet werden könnte. In dem von der Autorin verfassten
Raumtext hieß es dazu:
Schon in den 1930er Jahren wird das nationale Bewusstsein der Luxemburger in Abgrenzung gegen die Nachbarstaaten betont, deren kultureller Diffusion das kleine Land wenig Authentisches entgegenzusetzen hat und deren annexionistischen Bestrebungen es sich ausgeliefert sieht. In der Retrospektive wurde das sehr unterschiedliche Kriegserlebnis eines jeden Einzelnen auf das extreme Erleben einiger Weniger projiziert. Es findet eine kollektive Identifikation mit den Helden der Resistenz und den Opfern des NS-Staates statt. Gleichzeitig werden die Verräter ausgegrenzt und zu Ausnahmen gestempelt. Dieses Bewusstsein gibt der Gemeinschaft der Luxemburger Staatsbürger das Konstitutivum einer Eigenheit. Da es weitgehend versäumt wurde, die befleckten Erinnerungen aufzuarbeiten, kaschiert das einigende Band unbehandelte und unverheilte Wunden.
401Die 2017 eröffnete Dauerausstellung räumt Kollaboration und Judenverfolgung mit stichwortartig in Luxemburgisch beschrifteten Ausstellungsbänken visuell einen gleichberechtigten Platz neben Widerstand, KZ-Erfahrung und Umsiedlung ein. In der zentralen Vitrine sind Exponate, die symbolisch für die verschiedenen Themen stehen, ästhetisch-kognitiv aneinandergereiht.
402Der – nicht signierte – Raumtext gibt die traditionelle Sicht auf die Luxemburger Geschichte wieder. Kollaborateure werden als „verführte“ und damit beinahe entschuldigte Ausnahmen dargestellt, das Mitläufertum wird nicht erwähnt, und die Shoah wird zur Verfolgung der Juden durch Fremde, mit der die Einheimischen nichts zu tun haben:
Im Zuge des deutschen Angriffs im Westen wird Luxemburg am 10. Mai 1940 erneut besetzt. Großherzogin Charlotte und die Luxemburger Regierung gehen ins Exil nach London und Kanada. Im August 1940 wird Luxemburg unmittelbarer deutscher Verwaltung unterstellt. Ab 1942 erfolgt die Zwangsrekrutierung junger Luxemburger in die Wehrmacht. Die Maßnahmen der Besatzungsmacht zielen auf die Annexion Luxemburgs durch das Deutsche Reich und die Germanisierung der Bevölkerung ab. Die Verwendung der französischen Sprache wird verboten. Mit großem Propagandaaufwand wird versucht, die Luxemburger für das Naziregime zu gewinnen. Einige Luxemburger erliegen der Verführung und lassen sich als Kollaborateure anwerben, andere hingegen leisten Widerstand, worauf der Besatzer mit Terror und Deportation antwortet. Die jüdischen Einwohner leiden besonders unter der nationalsozialistischen Verfolgung. Am 10. September 1944 ziehen die Amerikaner als Befreier in die Stadt Luxemburg ein.
403Ein Vergleich mit dem Mons Memorial Museum bietet sich an. Auch dort führt ein Raumtext die Besucher in die nationalsozialistische Besatzungszeit ein. Allerdings ist dieser Kommentar, der die Besatzung von 1940-1945 mit der Zeit zwischen 1914 und 1918 vergleicht, von dem belgischen Historiker José Gotovitch signiert. Gotovitsch hält in dem im Original auf Französisch redigierten (und nicht immer treffend ins Deutsche übersetzten) Text fest:
Es ist schwierig, es genau zu fassen, aber die stärksten Eindrücke, die dieser Krieg hinterließ, sind wohl die Dauer, die Angst, der Hunger… aber in Mons beginnt das alles mit den massiven […] Bombardements am 10. Mai 1940. Es folgt die Nacht der Besatzung mit all ihren Verboten, Polizei allerorten, um deren Einhaltung zu gewährleisten und hart durchzugreifen, der Zwang, die neue Ordnung anzuerkennen, welche die Demokratie wegdrängt – trotz des Prinzips des kleineren Übels, welches die herrschende Obrigkeit ansetzt. Und seine Bediensteten, die vorwiegend aus der rechtsextremen Minderheit [stammen], die der Bevölkerung aufgezwungen werden. Mit ihren schwarzen Uniformen, die sich von der Kleidung der Besatzer in Feldgrau abheben, mit den Aushängen, die mit grausamen Misshandlungen drohen oder „gerichtlich angeordnete“ Morde ankündigen, wird das Gesicht der Stadt von Grund auf verändert. Die Tradition von 1914-1918, das Vorhandensein einer deutlichen antifaschistischen Neigung, die Praxis der Klassenkämpfe – oder auch der Einsatz von Dynamit in den Schützengräben [frz. „la maîtrise de l’usage dans les fosses“; Schützengräben ist die falsche Übersetzung von (Kohle)gruben] führen zum Auftreten einer Widerstandsbewegung, die innerhalb kürzester Zeit im Untergrund auflagenstarke Publikationen veröffentlicht, Anschläge auf Fabriken und Verkehrswege sowie „Liquidationen“ von Bürgermeistern oder anderen Kollaborateuren aus der Verwaltung verübt. Aber dies wird sich rächen. Die Opfer aus der Region Mons und dem Borinage häufen sich: Hunderte, sogar Tausende in allen Bevölkerungsschichten, vom Richter Libiez, der bereits 1915 verurteilt wurde, bis hin zum kommunistischen Abgeordneten Cordier oder dem Pfarrer Charensol. Die Besatzungszeit von 1940 bis 1944 tritt in den Vordergrund des ersten weltweiten Konflikts und stellt eine unumgängliche Markierung all der Erzählungen über das Leben in der Zeit dar [frz. L’occupation de 1940 à 1944 se surimpose au premier conflit mondial comme balise incontournable de tous les récits de vie.].
404Auch der Text des heutigen Mitglieds der Académie royale de Belgique und früheren Militanten der kommunistischen Studentenvereinigung an der Université Libre de Bruxelles Gotovitch rückt die Kollaboration in die Ecke einer rechter Minderheit, verschweigt das Mitläufertum und erwähnt mit keinem Wort die Judenverfolgungen, doch durch seine Signatur ist er im Unterschied zum anonymen Luxemburger Text klar als eine von mehreren Sichtweisen auf dieses Kapitel der Vergangenheit zu erkennen. Gotovitchs Text steht teilweise im Widerspruch zu den ausgestellten Anheuerungsplakaten für die SS-Freiwilligen-Legion Wallonien und zu einer mit Asche aus einem Krematorium eines Vernichtungslager gefüllten Flasche, die ein Monser Bürger dem Museum überlassen hat.
405Der facettenreiche Umgang mit den Auswirkungen der Annexion durch Nazi-Deutschland hat seine Spuren im kollektiven Gedächtnis der einheimischen Einwohner der Stadt Luxemburg hinterlassen. Das Lëtzebuerg City Museum musste ihn thematisieren. Dass die Verantwortlichen nur oberflächlich auf die Brüche, die diese Zeit im Selbstbild der Luxemburger hinterlassen hat, lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass sich die ausschließlich in Englisch betitelte Dauerausstellung in erster Linie an ein touristisches Publikum richtet, wie auch eine Plakatkampagne von 2018 belegt. Für seine Vermarktung setzt das Stadtmuseum auf das Interesse von Touristen an der 1994 in den Rang des UNESCO-Weltkulturerbes erhobenen Festung und Altstadt Luxemburg. Im Dezember 2019 wurde in zwei unmittelbar an den Eingangsbereich angeschlossenen Räumen des Museums ein Interpretationszentrum des Weltkulturerbes eröffnet. Die Museumsverantwortlichen privilegieren den international anerkannten, historisch weit zurückliegenden lokalen „heritage“ gegenüber der für die Selbstreflexion der Einheimischen relevanten nahen Vergangenheit.
4062017 kann „die“ Geschichtserzählung des Lëtzebuerg City Museum Kollaboration und Judenverfolgung nicht mehr negieren, aber durch die sich rein informativ gebende, textliche Kontextualisierung rückt sie wieder an die Stelle, an der sie sich in der maßgeblich vom Historiker Gilbert Trausch geprägten Meisterzählung des 20. Jahrhunderts befand, ohne diese als solche erkennbar zu machen. Diese Sichtweise besagt, das Land habe seinen Willen zur Unabhängigkeit im Zweiten Weltkrieg mit einem hohen Blutzoll bezahlt. (Trausch 1975)
407Die neue englische Bezeichnung als City Museum kann als Versuch der Museumsverantwortlichen gedeutet werden, dem Haus ein Image zu verleihen, das dem „multiplicity“-Branding des kommunalen Trägers Rechnung trägt, während der Zusatz „Lëtzebuerg“ sich an die traditionelle Luxemburger Klientel richtet und, angesichts der rezenten identitären Auseinandersetzungen über den Stellenwert der Luxemburger Sprache, ebenfalls eine Reaktion auf die Wünsche der lokalen Politik darstellt.
408Ein lokales Museum, das sich mit der Zeit von 1940 bis 1945 beschäftigt und keine
touristischen Ziele verfolgt, ist das nur donnerstags zwischen 9 und 12 Uhr öffentlich
zugängliche Musée régional des Enrôlés de Force in Düdelingen (L). (Jungblut 2017:
390-393) Die in von der Stadt Düdelingen zur Verfügung gestellten Räumen gezeigten
Sammlungen gehen auf die 1945 gegründete Sektion Düdelingen der Zwangsrekrutierten
aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Die Düdelinger Gruppe zählte zu den wenigen, die
die Krise der Ligue Ons Jongen nach der Einführung des Gesetzes zur materiellen Entschädigung
der Zwangsrekrutierten von 1950 überlebten. (Trausch 1988: 189 u. 191-192) Dies war
dem Engagement eines der prominentesten Mitglieder, des späteren Präsidenten der Association
des enrôlés de force victimes du nazisme, Jos Weirich (1922-2010), zu verdanken, auf
den auch die Initiative zur Gründung des Museums zurückgeht. Von 1979 bis 1984 vertrat
Weirich die Gruppierung Enrôlés de Force im Parlament und war maßgeblich an der parlamentarischen
Debatte um die Anerkennung der Zwangsrekrutierten im Mai 1981 beteiligt. (Klos 2019)
1984 wechselte er in die Christlich Soziale Volkspartei. 1985 wurde die Exposition
historique et patriotique pour les 40 ans d’existence de la Section de Dudelange der
Zwangsrekrutierten eröffnet. Auf der Grundlage dieser Schau entstand 2004 eine erneuerte
Dauerausstellung. Sie bettet die Geschichte der Düdelinger Zwangsrekrutierten und
den Kampf um die Anerkennung als patriotische Opfer durch die Vereinigung in die Geschichte
der Stadt Düdelingen zwischen 1939 und 2004 ein. In ihrer Gestaltung ist die Ausstellung
ein typisches Beispiel für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gängige
Form der „textlich-diskursiven“
„Lehrschau“. (Korff 1998: 380) Den Kern solcher kommunikationellen Ausstellungen
bilden illustrierte Texttafeln, die mit gerahmten, „vitrinierten“ oder freigestellten
zwei- und dreidimensionalen originalen Objekten, aber auch mit Reproduktionen ergänzt
werden.
409Auch die Düdelinger Ausstellung folgt der gängigen nationalen Erzählung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesen durch die damals übliche Luxemburger Lehrmeinung legitimierten Erzählstrang werden die für den Verein relevanten Ereignisse eingeflochten, wobei lokalgeschichtlichen Ereignissen viel Raum gegeben wird.
410Dem auf die Einführung des obligatorischen Militärdiensts für fünf Altersklassen durch
Gauleiter Simon am 30. August 1942 reagierenden sogenannten Generalstreik mit den
anschließenden Standgerichten kommt in der Ausstellung eine besondere Bedeutung zu,
da diese Begebenheiten für die Zwangsrekrutierten eine konstitutive Bedeutung haben.
Texte und Objekte der Ausstellung werden als Beweisführung für die Berechtigung der
erreichten Anerkennung der Zwangsrekrutierten als patriotische Opfer Luxemburgs eingesetzt,
(Klos 2019) wie u. a. an einer mit einer deutschen Wehrmachtsuniform bekleideten und
mit einem Maschinengewehr ausstaffierten Schaufensterpuppe deutlich wird. Die Installation
wurde ursprünglich mit dem deutschen Kommentar versehen: „In der verhassten Uniform sind 3190 Luxemburger gefallen. Jahrgänge 1920-1927 Zwangsrekrutiert
in die Nazie-Wehrmacht.“
[Im Originaltext stand „Nazie“.] In der luxemburgischen Fassung hieß es noch pointierter:
„Wéinst der Wehrmacht-Uniform ass vill Ongléck a Leed iwwer eist Land komm. 3190 Lëtzebuerger
sin an där verhasster Uniform gefall. D’Jorgänk 1920-1927 Zwangsrekrutéiert an d’Nazistesch-Wehrmacht.“
Der Kommentar wurde mittlerweile entfernt.
411Der Opfer-Diskurs wird auch in privaten Objekt-Textensembles geführt. Gebetsbücher
der Rodinger Familie Tibor sind mit der Beschriftung versehen, die ins Deutsche übersetzt
lautet: „Gebetsbücher, die für die Familie Tibor, insbesondere für die gefallenen Brüdern
J. und C. Tibor im Krieg eine große moralische Hilfe darstellten.“
412Eine unscheinbare Metallplatte wird durch die Erklärung „Platte, die der schwerverletzte Kamerad Jean Urbany im Kopf hatte“
[deutsche Übersetzung] zur laizistischen Märtyrerreliquie.
413Gedenkstättencharakter erhält das Museum nicht zuletzt durch in Bilderrahmen gefasste
Totenbilder gefallener Luxemburger Zwangsrekrutierten, die mit den Kommentaren „Die Heimat weint um ihre Kinder“ oder „Ihr seid nicht vergessen!“
[deutsche Übersetzung durch die Autorin] versehen sind.
414Das Museum, dessen mit authentischen Objekten untermauerte Opfer-Legitimationserzählung sich nahtlos in die seit der Nachkriegszeit lange vorherrschende – und in der Dauerausstellung des Lëtzebuerg City Museums auch 2017 wieder vertretene – Sicht auf die Geschichte Luxemburgs während des Zweiten Weltkriegs eingliedert, bestätigt diese. Die Zwangsrekrutierten werden auf ihre Opferrolle reduziert. Andere Kriegserlebnisse werden ausgeklammert. Die Toten werden zu Märtyrern, die – obwohl sie auf der „falschen“ Seite standen – für die Freiheit des Landes gestorben sind. Sie finden damit einen würdigen Platz in dem traditionellen Geschichtsbild Luxemburgs, Seite an Seite mit den im Anschluss an den sogenannten Generalstreik Hingerichteten. Den Weg in dieses Pantheon ebnete die Luxemburger Großherzogin Charlotte bereits 1942, als sie sich am 30. August 1942 quasi als Mutter der Nation aus dem Londoner Exil über BBC direkt an die Zwangsrekrutierten richtete.
Letzeburger Jongen! Wann se i’ch ewech schléfen, fir gent är Frönn ze kämpfen, da vergi’sst ni dat der Letzeburger sit a wât är Hémecht fun i’ch erwârt. Deitschland huet ké Recht fun i’ch en Treiéd ze verlângen. Wann se i’ch zwengen, en Ed ze schwiren, dât ass kén Ed. Ärt Härz muss sech frei hâlen vun dém, wât se är Löpsen schwieren dun. Mat Zaldoten, déi nëmmen op deen Dag laueren, wou d’Tyrannei vum Hitler gebrach gët, gewannen d’Preisen kee Krich. (Linden 2002: 227)
415Die Wirkung als Opfergedenkstätte entfaltet das Düdelinger Haus durch das Zusammenspiel von persönlichen Erinnerungsgegenständen und Texten sowie durch die vielen Photographien. Besucher, deren Biographien mit denen der Dargestellten verstrickt sind, können mit Hilfe der Textnotizen ein gemeinsames kommunikatives Gedächtnis pflegen, das sich auf die vom Museum angebotene kanonisierte Erzählung, in der Gut und Böse klar getrennt sind und die Betroffenen auf der Seite der Guten stehen, stützt. Kritik an eventuellem moralisch unklarem Verhalten des Einzelnen lässt die Erzählung nicht zu.
416Zusätzlich zur Kriegserzählung bietet das Düdelinger Museum eine didaktische Lehrschau, die das Bemühen seiner Gründer um die Anerkennung der Zwangsrekrutierten nachzeichnet, und den Betroffenen und ihren Familien in Erinnerung ruft, dass die Zwangsrekrutierten ohne den Einsatz von Jos Weirich und anderen Aktivisten keine Anerkennung erreicht hätten. Das 2004 eröffnete Museum wird so gleichfalls zu einem selbstgesetzten Kämpfer-Monument seiner Gründer. Auch dieses Bild verträgt keine Kritik, denn diese würde zu einer Infragestellung des mühsam gegen die Lobby der Luxemburger „Resistenz“ konstruierten Bilds des Zwangsrekrutierten als gleichberechtigtes patriotisches Opfer führen. Die heftigen Reaktionen der Zwangsrekrutierten, die von der erwähnten temporären Ausstellung „et wor alles net esou einfach...“ des historischen Museums der Stadt Luxemburg ausgelöst wurden, die Reaktionen auf die deutsche Wehrmachtsausstellung sowie das Verhalten des Trägervereins des Wanner Museums, als seine einseitige Sicht auf die Dorfgeschichte ergänzt wurde, liefern Indizien für die Proteste, die eine Neubewertung der Zwangsrekrutierung bei den Nachkommen der Soldaten in „ihrem“ (Heimat)-Museum auslösen könnte.
Fußnoten
274Eine detaillierte Auflistung der Themen und Aufschlüsselung der Inventarnummern der folgenden Karten befindet sich im Anhang der Arbeit.