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Heimatfabrik Lokalmuseum: Zwischenfazit

Heimatfabrik Lokalmuseum

Zwischenfazit

Zwischenfazit

118Bis heute decken die Heimatbewegung des deutschsprachigen Raums und die regionalistische französische Bewegung inhaltlich ähnliche Gebiete ab. Sie beschäftigen sich mit landschaftlich geprägten, regional begrenzten Lebenswelten und ihrem jeweiligen Natur- und Kulturerbe.

Heimat und Heimaterfahrung

119Im deutschen Heimatbegriff schwingt seit seinen Ursprüngen die Sehnsucht nach einer verlorenen Welt mit, welche die weniger emotionsgeladenen französischen Bezeichnungen „pays“ und „terroir“ nicht verkörpern. Folgenreich für die divergierende Entwicklung der Beschäftigung mit regional begrenzten Lebenswelten ist die unterschiedliche ursprüngliche Motivation der jeweils treibenden Kräfte gewesen.

120Die französische regionalistische Bewegung konnte für ihr Bemühen um die Inwertsetzung einer Region ein gefestigtes nationalstaatliches Bewusstsein voraussetzen. Die Beschäftigung mit der Region entstand als Reaktion auf die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die ihren stärksten Ausdruck in Jules Michelets „Histoire de France“ fand. Sie wurde von Geographen ins Leben gesetzt und von Historikern und Volkskundlern weiterentwickelt. Nach der Abtretung von deutschsprachigen Gebieten an das neu gegründete deutsche Kaiserreich verteidigten die französischen Historiker und Geographen die Konzeption des Staates als Gruppe von „Wahlverwandten“ gegen die deutsche Auffassung der Nation als ethnische Gemeinschaft von „Blutsverwandten“.

121Für die deutsche Heimatbewegung bot das „kleine Vaterland“ die Möglichkeit, die Eigenarten der nach der Reichsgründung zusammengeschlossenen Staaten als lokale Varianten einer großen verbindenden vaterländischen Idee zu sehen. In Deutschland wurde die „Heimatbildung“ in erster Linie vom Provinzbildungsbürgertum getragen. Einen negativen Beigeschmack erhielten Heimat und „terroir“ aufgrund ihrer Instrumentalisierung durch das Dritte Reich und das Vichy-Regime. In der Bundesrepublik Deutschland lebte Heimat als Chiffre für eine süßliche Kitschoase und konservatives, rückwärtsgewandtes Denken weiter. Die „verlorene Heimat“ wurde zum Inbegriff für die Forderungen der deutschen Staatsbürger, die als Folge des Zweiten Weltkriegs ihre außerhalb des bundesdeutschen Staatsgebiets liegenden Wohnorte hatten verlassen müssen. Die Amateurbeschäftigung mit lokalen Lebensräumen wurde oft vereinsgetragen als „freie“ Lokalgeschichte fortgeführt und fand ihren materiellen Ausdruck auch in lokalen Amateur-Museen. Als Alltagsgeschichte wurde sie seit den 1980er Jahren von politisch links orientierten Kreisen in Geschichtswerkstätten aufgegriffen.

122In Frankreich gewann das „terroir“ nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung im Agrarbereich, wo es vor allem für regionaltypische kulinarische Produkte, insbesondere Weine gebraucht wird. In den 1960er und 1970er Jahren beriefen sich französische Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen auf regionale Eigenheiten. Die Dezentralisierungsgesetze von 1982 erkannten die Regionalsprachen an und erlaubten in begrenztem Umfang ihren Unterricht an den Schulen. Historiographisch lebte die Beschäftigung mit landschaftlich geprägten Lebenswelten teilweise in den 1970er Jahren in der Mentalitätsgeschichte und der historischen Anthropologie der dritten Generation der „Ecole des Annales“, der „Nouvelle Histoire“ fort. Die Beschäftigung vor Ort mit dem „terroir“ und seinen Bewohnern wurde spätestens ab den 1970er Jahren vermehrt auch von Ökomuseen geleistet. Ihre Macher und Theoretiker lieferten dabei wichtige Impulse für die Erneuerung der gesellschaftlichen Rolle der Institution Museum weltweit. André Desvallées nannte die Bewegung „un peu par jeu parodique, par provocation – de la mode qui abusait alors des ‚nouvelles’ doctrines: on avait la ‚nouvelle philosophie’, la ‚nouvelle économie’, la ‚nouvelle histoire’, etc.“„muséologie (nouvelle).“ (Desvallées 1985: 66)

123Sprachhistorisch gesehen kann das Luxemburgische als ein deutscher Dialekt angesehen werden, und der luxemburgische Begriff „Heemecht“ ist sicher vom hochdeutschen „Heimat“ abgeleitet. Aus dieser Tatsache heraus wäre es ein Einfaches zu schließen, die Luxemburger Heimaterfahrung stünde ganz in der deutschen Tradition. Wie die deutsche Heimatverbundenheit deckt sie das Verhältnis zu einem individuell festgelegten geographisch oder anders definierten Kreis ab. Die in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in den Primärschulen gelehrte Heimatkunde ähnelte der deutschen ländlichen Heimatbildung. Stärker aber als der deutsche Begriff bezeichnet die Luxemburger „Heemecht“ auch und vor allem das Luxemburger Staatsganze, was sicher dazu beitrug, dass der Luxemburger Heimatbegriff nicht in die ethnische Schollenbezogenheit abglitt und den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überlebte. Auch in ihrer engeren Bedeutung war und ist die geographische Luxemburger Heimat offener als ihr deutsches Pendant, was sie in die Nähe des französischen „pays“ rückt. In jüngster Zeit erheben verschiedene politische Kreise die Luxemburger Sprache zu einer Eigenart, über die sie sich definieren, und verleihen der „Heemecht“-Sprache damit einen ausgrenzenden Beigeschmack.

124In den Anfangsjahren des Königreichs der Belgier deckte sich die politische Heimaterfahrung der französischsprachigen Wallonier wie der Flamen mit der staatlichen Zugehörigkeit zu Belgien. Wallonen und Flamen konnten sich neben ihren kulturellen Eigenarten über universelle Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit definieren. Durch den Sprach- und Kulturkampf zwischen den Flamen und den Wallonen gewannen vermeintliche kulturelle Unterschiede an Gewicht, die – in Wallonien – mit humangeographisch inspirierten Thesen erklärt wurden. Mit der Eingliederung von Gebieten, die auf dem Wiener Kongress Preußen zugeschlagen worden waren, erweiterte sich das Gebiet der Region Wallonien um eine weitere, ebenfalls auf eine gemeinsame Sprache gestützte Heimaterfahrung. Die Ostbelgier waren im 19. Jahrhundert in der deutschen Heimatbildung-Tradition geprägt worden. Die kulturelle Minderheit stand vor der Herausforderung, sich in einem ihr fremden Umfeld zurechtzufinden und sich mit dem Verlust der früheren vaterländisch geprägten Heimat auseinanderzusetzen.

„Heritage“ und Geschichtsbewusstsein

125„Heritage“ entsteht, wenn eine Gemeinschaft kulturellen oder natürlichen Gütern und Phänomenen interne identitätsstiftende Eigenschaften zuschreibt und ihnen damit einen besonderen symbolischen Wert verleiht. „Heritage“, zu dem der Betrachter einen persönlichen Bezug aufbauen kann, wird für ihn zu einem Heimat-Stellvertreter. Die Anerkennung von „Heritage“, zu dem der Betrachter direkt keine Beziehung hat, setzt bei ihm ein mehr oder weniger klares Geschichtsbewusstsein voraus. Museen sind Bestandteil der Geschichtskultur und können wiederum einen maßgeblichen Beitrag zur Geschichtsbewusstseinsbildung leisten, indem sie den Besuchenden die übergeordnete kulturhistorische Bedeutung des „heritage“ vor Augen führen. Zu „heritage“, der keinen Bezug zum Besucher hat, kann dieser allerdings keine emotionale Beziehung aufbauen. Er wirkt auf ihn allenfalls „unterhaltend“ im Sinne von Bella Dicks.

126Durch ihre symbolische Bedeutung spielen Museen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von „heritage“. Sie haben die Kraft, in den Augen der Besuchenden, Alltagsgegenstände zum materiellen und Alltagsfertigkeiten zum immateriellen Kulturerbe zu erheben.

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