Geschichtskultur, Geschichtsbewusstsein, „heritage“, „mémoire“, Geschichte
99Die Heimatkonzeption Schillings in fünf Punkten (Schilling 2010: 591-596) geht „von
den Bedürfnissen der Individuen“ aus. Für den Kulturanthropologen ist das, was als
Heimat verstanden wird, ein „dynamischer Aushandlungsprozess zwischen den Generationen; zwischen sozialen Gruppen,
Alt- und Neubürgern, Museumsleitern, Vereinsmenschen und Politikern, die jeweils auch
ihre individuellen Postulate repräsentieren.
“ (Schilling 2010: 596) Zu diesen Repräsentationen gehören sicher die Dinge und Gebräuche,
die gemeinhin als Natur- und Kulturerbe angesehen werden und die Teil der Geschichtskultur
sind. Über den Begriff Geschichtskultur gibt es seit seiner Einführung durch Jörn
Rüsen (Rüsen 1994: 4) viele Untersuchungen, auf die diese Arbeit nicht einzugehen
vermag. Zurückbehalten wird die griffige Bestimmung von Rosmarie Beier-de Haan. Die
Historikerin und Museumsfachfrau definiert Geschichtskultur als „die Fülle der Vergegenwärtigungen des Vergangenen durch Erinnerung und Erzählung,
durch Aufbewahrung, Darstellung et cetera [...] Dazu gehören Museen und Ausstellungen
ebenso wie historische Orte und Stätten, Präsentationen (auch medialer Art) oder die
dinglichen und sonstigen materiellen Spuren.
“ (Beier-de Haan 2000: 12) Die Vergegenwärtigungen haben als Ziel, ein Bewusstsein
für die Vergangenheit zu schaffen und, so Rüsen, den Menschen bei der Bewältigung
der Gegenwart zu helfen. (Beier-de Haan 2005: 13) Relevant für diese Untersuchung,
die u.a. zu klären versucht, ob und wie Museen, die sich dem Lokalen und Regionalen
zuwenden, eine identitätsstiftende Funktion ausüben, ist der Zweck der Vergegenwärtigungen,
der so Rüsen, von „Belehrung, Legitimation und Kritik über Unterhaltung und Ablenkung bis hin zur Aufklärung
reichen
“ kann. (Beier-de Haan 2000: 12) Gibt es Lokalmuseen, die es sich zum Ziel setzen,
ein historisches Bewusstsein zu schulen, das dem Einzelnen ermöglicht, andere Identitäten
und Lebenskonzepte neben den eigenen gelten zu lassen? In diesem Kapitel soll geklärt
werden, was unter Kultur- und Naturerbe zu verstehen ist, und wie es generiert wird.
Kultur- und Naturerbe, „patrimoine“, „heritage“
100Das deutsche Wörterbuch Duden definiert Kulturerbe als „überliefertes Kulturgut einer Gemeinschaft, eines Volkes.
” (Duden online-Wörterbuch 2017-2) Unter Kulturgut versteht der Duden 2017 „etwas, was als kultureller Wert Bestand hat und bewahrt wird.
”(Duden online-Wörterbuch 2017-3) Damit hat das Erbe eine stärkere identitätsstiftende
Funktion als das Gut. Mit dem Verweis auf das „patrimoine culturel d’un pays
“ definiert die online Version des Larousse „patrimoine
“ als „ce qui est considéré comme l'héritage commun d'un groupe.
“ (Dictionnaire Larousse en ligne 2017) Und unter „héritage
“ versteht das Wörterbuch „ce qu'on tient de prédécesseurs, de générations antérieures, sur le plan du caractère,
de l'idéologie, etc.
“ (Dictionnaire Larousse en ligne 2017-1) Das Collins-Wörterbuch definiert „heritage“
ebenfalls in Bezug auf einen Staat (engl. „country“). „A country's heritage is all the qualities, traditions, or features of life there that
have continued over many years and have been passed on from one generation to another.
” (Collins Dictionary 2017) Bei näherem Betrachten decken das französische „patrimoine“
und das englische „heritage“ im allgemeinen Sprachgebrauch ein breiteres inhaltliches
Feld ab als der deutsche Begriff Kulturerbe. Die unterschiedlichen Semantiken der
Begriffe Kulturerbe, „heritage“ und „patrimoine“ sind in ihrer historischen Dimension
von Astrid Swenson untersucht worden. Durch die Analyse ihres Gebrauchs im 19. Jahrhundert
kommt sie zum Schluss,
dass es trotz unterschiedlicher Wörter mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in der Konzeptualisierung des„nationalen Erbes“in Frankreich, England und Deutschland gab. [...] Was als gesetzlich schützenswert festgelegt wurde, hing oft mehr von Machtkonstellationen und Interessenkonflikten ab als von unterschiedlichen Ideen.(Swenson2007: 71)
101In der Folge werden deshalb Kultur- und Naturerbe, „patrimoine“ und „heritage“ als unterschiedliche sprachliche Formen eines gleichen Inhalts gebraucht. In der Folge wird der englische Begriff „heritage“4 eingesetzt werden.
102Diese Arbeit kann nicht auf den ganzen internationalen Kulturerbe-Fachdiskurs eingehen.
Der 2009 von Karl C. Berger, Margot Schindler und Ingo Schneider herausgegebene Tagungsband
der 25. österreichischen Volkskundetagung 2007 in Innsbruck liefert unter dem Titel
“Erb.gut. Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft” einen aufschlussreichen
Überblick darüber. (Berger/Schindler/Schneider 2009) 2010 beschrieb der Kulturanthropologe
Helmut Groschwitz Kulturerbe als „etwas Neues, das entsteht, wenn eine vorhandene kulturelle Objektivation als Kulturerbe
identifiziert, untersucht, beschrieben und attribuiert wird.
“ Wie Swenson unterstreicht er, dass „das jeweilige ‚Kulturerbe’ von einer deklarierenden Gemeinschaft abhängig ist, [die]
diese Deutung teilt und anerkennt, selbst wenn sie diese nicht als für sich relevant
annimmt.
“ (Groschwitz 2014:76) Hugues de Varine-Bohan, einer der Gründer der „écomusées-Bewegung“,
definierte „heritage“ 1978 als etwas „qui reproduit, en deux ou trois dimensions lorsqu’il s’agit de choses et, pour les
biens non tangibles, par tous les moyens d’expression et de représentation, la communauté
sous tous ses aspects.
“ (De Varine 1978: 33) Für das Anliegen dieser Arbeit interessant ist ebenfalls, wie
der „heritage“-Fachmann Daniel Lowenthal „heritage“ von Historik abgrenzt. Für Lowenthal
ist Historik „das wissenschaftliche Bemühen, und sei es noch so unzulänglich und fehlerbehaftet,
eine nach allgemeiner Übereinkunft wahre Vergangenheit aus ihren eigenen Bedingungen
heraus zu verstehen.
,Heritage’ dagegen [ist] der wie auch immer mit der historischen Wahrheit bemäntelte
aktivistische Kreuzzug, die Vergangenheit im Interesse der Gegenwart zu manipulieren.
“ (Lowenthal 2000: 71) Damit begeben sich „heritage“ und „Historik“ in ihrer fachwissenschaftlichen
Bedeutung in die Nähe des Begriffspaares „mémoire – histoire“ von Pierre Nora.
Parce qu’elle est affective et magique, la mémoire ne s’accommode que de détails qui la confortent; elle se nourrit de souvenirs flous, téléscopants, globaux ou flottants, particuliers ou symboliques, sensibles à tous les transferts, écrans, censure ou projections. L’histoire parce qu’opération intellectuelle et laïcisante, appelle analyse et discours critique. La mémoire installe le souvenir dans le sacré, l’histoire l’en débusque, elle prosaïse toujours. La mémoire sourd d’un groupe qu’elle soude, ce qui revient à dire, comme Halbwachs l’a fait, qu’il y a autant de mémoires que de groupes; qu’elle est par nature, multiple et démultipliée, collective, plurielle et individualisée. L’histoire, au contraire, appartient à tous et à personne, ce qui lui donne vocation à l’universel. La mémoire s’enracine dans le concret, dans l’espace, le geste, l’image et l’objet. L’histoire ne s’attache qu’aux continuités temporelles, aux évolutions et aux rapports de choses.(Nora 1984: XIX)
103Es wird zu sehen sein, ob Lokalmuseen sich mehr mit Erinnerung oder mit Geschichte befassen.
104Zur Beantwortung der Frage nach den Beweggründen für Transformation von Gütern und Traditionen in „heritage“-Zeugnisse lohnt sich auch ein Blick auf das „heritage“-Konzept von Bella Dicks, das dem Erbe eine gemeinschaftsstiftende „interne“ und eine „unterhaltende“ externe Funktion zuschreibt. Dicks zufolge ist der Generierungsprozess von „heritage“ nur dann erfolgreich, wenn die betroffene Gemeinschaft aktiv in den Prozess miteinbezogen wird. „Heritage“ entsteht und verändert sich demnach in Analogie zur Heimat im Sinne von Schilling in einem dynamischen sozialen Aushandlungsprozess. (Schilling 2010: 596) Dabei stellt sich natürlich die Frage, was mit historischen Zeugnissen geschieht, zu denen die Bevölkerung keine direkte Verbindung (mehr) hat.
Heritage appears to offer a shared agenda: local people want to link their past and visitors want living history and popular memories, so the solution is to ask interpreters to construct their displays around memories and experiences of local people. In this way, heritage seems neatly to offer the means of regenerating depressed areas, both economically, through outside tourism, and culturally, through inside memorialism. That things can go wrong in this seemingly happy coincidence of objectives should come as no surprise, given the top-down, spend-oriented practices of professional planning and interpretation. Too often, people’s pasts are harnessed as a commodified spectacle for tourists. However, if those whose history is considered marketable were also invited to participate in its display, even to direct it, rather than being asked just to hand over stories, things could turn out rather differently. (Dicks 2003: 142-143)
105Eine besondere Kategorie des „heritage“ betrifft „histories and pasts that do not easily fit with positive self-identities of the groups of whose pasts or histories they are part of. Instead of affirming positive self-images, they potentially disrupt them or may threaten to open up social differences and conflicts“, so die britische Ethnologin und Museumswissenschaftlerin Sharon Macdonald. (Macdonald 2008: 9) Etliche Museen im untersuchten Gebiet befinden sich an Orten, die Schauplatz von durch Menschen herbeigeführte Katastrophen waren. Zu diesen gehören in der jüngeren Geschichte Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg stehen, aber auch zeitlich weiter entfernt die Schlacht bei Waterloo. Am Standort des Kohlebergwerks Bois du Cazier nahe Marcinelle im Hennegau erinnert ein Museum an das größte Grubenunglück der belgischen Geschichte. Andere Museen befinden sich an abgehängten Industriestandorten, wo die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Entindustrialisierung noch heute spürbar sind. Die dort lebenden Menschen sind mit einem „heritage“ konfrontiert, der ihr positives Selbstbildnis potenziell in Frage stellt.
106Es kann festgehalten werden, dass Fachleute zwischen materiellem und immateriellem „heritage“ unterscheiden und dass sich Ersterer aus immobilen und mobilen Zeugnissen zusammensetzt. Neben „heritage“, der für die betroffene Gemeinschaft positiv besetzt ist, gibt es auch Zeugnisse, die schmerzhafte Erinnerungen hervorrufen. Dinge und Phänomene können über mehrere Wege zu „heritage“-Zeugnissen werden. In der Folge dieses Kapitel werden die staatliche Kennzeichnung über entsprechende Gesetze und die Auszeichnung durch die von 193 Staaten anerkannte UNESCO als Weltkulturerbe besprochen werden. Dem „heritage“-Generierungsprozess durch die Aufnahme von mobilen materiellen und „immateriellen“ Zeugnissen in Museumssammlungen, die für das Anliegen dieser Arbeit wichtig ist, wird ein gesondertes Kapitel gewidmet werden.
Staatlich anerkannter „heritage“
107In Wallonien regelt ein Dekret der „Fédération Wallonie-Bruxelles“ vom 11. Juli 2002,
was als „bien culturel mobilier und als patrimoine immatériel de la Communauté française
“ (Fédération Wallonie-Bruxelles) gelten kann. Eine Kommission, die aus fachlichen,
universitären und juristischen Experten sowie aus Vertretern von „tendances idéologiques et philosophiques
“ besteht, ist auf Antrag für die Aufnahme in den Korpus zuständig. Die aktualisierte
Liste des in achtzehn Kategorien aufgeteilten „heritage“ wird auf einer Webseite der
„Fédération Wallonie Bruxelles“ veröffentlicht. (Fédération Wallonie-Bruxelles) Wichtig
für die Zuweisung des Prädikats „culturel“ ist die Einzigartigkeit des Zeugnisses.
Das Flachrelief mit der einzig bekannten Darstellung einer Treverer-Mähmaschine, das
sich zur Hälfte in der Sammlung der Musées gaumais in Virton und zur Hälfte in den
Beständen des Musée archéologique in Arlon befindet, wurde im März 2010 zu einem außergewöhnlichen
wallonischen „heritage“-Zeugnis erhoben. Ob die ebenfalls im Haupthaus der Musées
gaumais in Virton ausgestellten Pickelhauben aus dem Ersten Weltkrieg, die dem Museum
von einem lokalen Sammler überlassen wurden, mehr als einen lokalen, sentimentalen
Wert besitzen, kann angezweifelt werden. Ähnliche Militaria befinden sich auch in
anderen Museen, so z.B. im Bauernmuseum in Peppingen (L).
108In Luxemburg sollen die Bestimmungen des Gesetzes zur „conservation et […] protection des sites et monuments nationaux
“ vom 18. Juli 1983 und des Gesetzes „concernant a) les fouilles historique, préhistorique, paléontologique ou autrement
scientifique; b) la sauvegarde du patrimoine culturel mobilier
“, das auf den 21. März 1966 zurückreicht, durch eine neues, die Anerkennung von Gütern
und Gewohnheiten als nationaler „heritage“ regelndes Gesetz ersetzt werden. (Gouvernement
luxembourgeois) Es wird zu sehen sein, ob der Begriff des „patrimoine“ dann auch in
anderen Bereichen als denen des archäologischen und des baulichen „heritage“ gebraucht
werden wird.
109Ein Dekret aus dem Jahr 2010 ermöglicht es der Region Wallonien-Brüssel, die Pflege
von Zeugnissen des sogenannten „petit patrimoine populaire
“ auf Antrag finanziell zu unterstützen und diese damit offiziell anzuerkennen. (Petit
Patrimoine populaire wallon) Die damit betraute Agence Wallonne du Patrimoine (AWaP)
beschreibt diesen kleinen „heritage“ als „petits éléments historiques, qui agrémentent notre cadre de vie et constituent des
points d’intérêt et repères dans notre environnement.
“ (Agence wallonne du Patrimoine) Die Liste der Gegenstände und Gebäude, die in Frage
kommen, ist lang. Eine von der Agentur betriebene Webseite ermöglicht die Recherche
von „kleinen“ „heritage“-Zeugnissen nach Orten. Zahlreiche Museen befinden sich im
belgischen und luxemburgischen Untersuchungsgebiet in Gebäuden, die den von der Region
Wallonien-Brüssel für das „petit patrimoine“ festgelegten Kriterien entsprechen. Es
handelt sich in der Regel um ausgediente Schulgebäude, um Mühlen und Bauernhäuser,
aber auch um Wehrtürme und schlossartige Bauten. Die Gebäude stellen schon an sich
gewichtige lokale „heritage“-Zeugnisse dar, da sie bei den aus dem Ort stammenden
Menschen Erinnerungen wecken.
110Die wallonische Aufzählung des „petit patrimoine“ enthält eine Kategorie „alte Werkzeuge“ und eine Kategorie „Werkstätten“. (Petit Patrimoine populaire wallon: 9-10) Besitzer oder Verwalter derartiger Objekte können sich darauf beziehen, um bei ihrer Restaurierung finanziell bezuschusst zu werden. Für den Zugriff auf den lokalgeschichtlichen mobilen „heritage“ ist das Inventar nur begrenzt nützlich. Einerseits stellen längst nicht alle Betreiber von lokalen Museen in Wallonien Anträge für die Restaurierung von Objekten. Sieht man von den Wasserpumpen und den öffentlichen Waschbrunnen, die wiederum in den Bereich der immobilen Gegenstände gehören, ab, enthält die Liste keine Kategorie, mit der Gebrauchsgegenstände des alltäglichen Lebens erfasst werden können.
111Eine Broschüre der Luxemburger Denkmalschutzbehörde definiert das „petit patrimoine
“ quasi inoffiziell als „objets qui ne constituent pas des maisons mais qui témoignent de la vie et du travail
des hommes. Ils doivent être typiques tant de leur période de construction que de
leur région.
“ Obwohl diese Definition „Objekte“ erwähnt, bezieht sie sich wiederum nur auf immobilen
„heritage“, wie auch die Bebilderung des Hefts mit einem Wegkreuz in Steinheim und
einer Kapelle in Lullingen unterstreicht. (Service des Sites et Monuments nationaux:
12) 2013 stellte der Autor der vom Luxemburger Kulturministerium in Auftrag gegebenen
Studie ‚Le droit du patrimoine culturel au Grand-Duché de Luxembourg’ François Desseilles
fest, dass in Luxemburg staatliche Richtlinien und ein nationales „heritage“-Inventar
fehlen. (Desseilles 2013: 30 u. 32) Das war aber nicht immer so: Im Umfeld des Sammlungsaufbaus
des Landesmuseums hatten die nationalsozialistischen Besatzer auch dem beweglichen
„heritage“ Beachtung geschenkt. Eine Verordnung vom 17. November 1940 bestimmte, dass
jede Person, die bewegliche oder unbewegliche Gegenstände historischer Natur verändern
oder verkaufen wollte, im Vorfeld der Erlaubnis des Chefs der Zivilverwaltung bedurfte.
Im gleichen Zug führte die Besatzungsverwaltung die Registrierung von Kulturgütern
mit Landesbedeutung ein. (Jungblut 2007: 207)
Weltkulturerbe
1121972 bestimmte die UNESCO, was als „Weltkulturerbe“ in Frage kommt. Die Aufzählung liest sich wie ein Auszug aus der Liste der Betätigungsfelder des deutschen Heimatschutzvereins von 1904:
Denkmäler: Werke der Architektur, Großplastik und Monumentalmalerei, Objekte oder Überreste archäologischer Art, Inschriften, Höhlen und Verbindungen solcher Erscheinungsformen, die aus geschichtlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Gründen von außergewöhnlichem universellem Wert sind; Ensembles: Gruppen einzelner oder miteinander verbundener Gebäude, die wegen ihrer Architektur, ihrer Geschlossenheit oder ihrer Stellung in der Landschaft aus geschichtlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Gründen von außergewöhnlichem universellem Wert sind; Stätten: Werke von Menschenhand oder gemeinsame Werke von Natur und Mensch sowie Gebiete einschließlich archäologischer Stätten, die aus geschichtlichen, ästhetischen, ethnologischen oder anthropologischen Gründen von außergewöhnlichem universellem Wert sind.
113Die UNESCO beließ es nicht bei der Festlegung des Kulturerbes, sondern ergänzte das schützenswerte Erbe mit dem Naturerbe. Als „Naturerbe“ gelten:
Naturgebilde, die aus physikalischen und biologischen Erscheinungsformen oder -gruppen bestehen, welche aus ästhetischen oder wissenschaftlichen Gründen von außergewöhnlichem universellem Wert sind; geologische und physiographische Erscheinungsformen und genau abgegrenzte Gebiete, die den Lebensraum für bedrohte Pflanzen- und Tierarten bilden, welche aus wissenschaftlichen Gründen oder ihrer Erhaltung wegen von außergewöhnlichem universellem Wert sind; Naturstätten oder genau abgegrenzte Naturgebiete, die aus wissenschaftlichen Gründen oder ihrer Erhaltung oder natürlichen Schönheit wegen von außergewöhnlichem universellem Wert sind. (Deutsche UNESCO-Kommission 1972)
114Die Festlegung dessen, was 1972 als Welt-„heritage“ zu betrachten sei, war der Ausdruck eines eurozentrischen Kulturverständnisses, das sich auf die Bewahrung von materiellen Überresten stützt. Es marginalisierte Traditionen mündlicher Überlieferung und andere Kulturtraditionen. (Dzudzek 2012) Unter dem Einfluss des japanischen UNESCO-Generaldirektors Koichiro Matsuura erweiterte die UNESCO deshalb den „heritage“-Begriff mit dem immateriellen „heritage“. Darunter zu verstehen sind:
Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – [...], die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen. Dieses immaterielle Kulturerbe, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, wird von den Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte fortwährend neu gestaltet und vermittelt ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität, wodurch die Achtung vor der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität gefördert wird. Im Sinne [des] Übereinkommens [der UNESCO] findet nur das immaterielle Kulturerbe Berücksichtigung, das mit den bestehenden internationalen Menschenrechtsübereinkünften sowie mit dem Anspruch gegenseitiger Achtung von Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen sowie der nachhaltigen Entwicklung in Einklang steht. [..] Das„immaterielle Kulturerbe“[…] wird unter anderem in folgenden Bereichen zum Ausdruck gebracht: a) mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Träger des immateriellen Kulturerbes; b) darstellende Künste; c) gesellschaftliche Bräuche, Rituale und Feste; d) Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum; e) traditionelle Handwerkstechniken.(Deutsche UNESCO-Kommission 2003)
115Groschwitz, der 2014 über das Kulturerbe als Metaerzählung promovierte, stellte fest,
dass in Texten zur Begründung dessen, was als „heritage“ angesehen wird, häufig auf
die Begriffe „Identität, Gemeinschaft, Tradition, Bedeutung
“ zurückgegriffen wird. (Groschwitz 2014: 78) Das trifft auch auf den Welt-„heritage“
zu. „Identität“, „Tradition“ und „Gemeinschaft“ waren auch für die Träger der Beschäftigung
mit Lokalgeschichte von Bedeutung. Natur- und Denkmalschutz sind aus diesen Bemühungen
ebenso entstanden wie die Beschäftigung mit beweglichen authentischen Relikten, die
von der UNESCO-Definition des materiellen Weltkulturerbes ausgespart werden. Die UNESCO-Definition
ist rein operationell und schließt die von Lowenthal hervorgehobene „aktivistische“
Komponente des „heritage“ nicht ein.
116In Wallonien sind als materielles Weltkulturerbe anerkannt: die Schiffshebewerke des „Canal du Centre“ bei La Louvière und Le Roeulx (seit 1998) (UNESCO 2019-9), die „Beffrois“ in Binche, Charleroi, Mons, Tournai, Thuin, Namur und Gembloux (2005), (UNESCO 2019) die Kathedrale Notre-Dame von Tournai (2000) (UNESCO 2019-1), die neolithischen Silex-Abbau-Stätten in Spiennes (2000), (UNESCO 2019-10) die Kohlegruben Grand-Hornu, Bois-du-Luc, Bois du Cazier und Blegny-Mine (2012), (UNESCO 2019-11) die alten Buchenwälder und Buchenurwälder im wallonischen Brabant (2017). (UNESCO 2019-2) Es handelt sich dabei um unbewegliches „heritage“, nicht um Museumsobjekte. Auf der Liste des immateriellen „heritage“ stehen die Bierkultur, die ganz Belgien betrifft, (UNESCO 2019-4) die Falknerei im wallonischen Brabant (Brabant wallon) (2016), (UNESCO 2019-5) das Glockenspiel (2014), (UNESCO 2019-7) die Umzüge zwischen Sambre und Maas (2012), (UNESCO 2019-8), die Prozessionsriesen aus Ath sowie das „Doudou“ genannte jährliche Volksfest in Mons (2008). (UNESCO 2019-3)
117In Luxemburg gelten die Altstadt und die Befestigungsanlagen seiner Hauptstadt als Weltkulturerbe-Zeugnis. (UNESCO 2019-12) 2008 schuf die Luxemburger UNESCO-Kommission im Hinblick auf Kandidaturen für das Welt-„heritage“-Prädikat auch ein Inventar für nationales immaterielles Kulturerbe. Auf dieser Liste befanden sich 2019 die Echternacher Springprozession, die bereits 2010 zum Weltkulturerbe-Zeugnis erklärt wurde, (UNESCO 2019-6) der als Schobermesse bekannte Jahrmarkt der Hauptstadt mit dem dazugehörigen „Hämmelsmarsch“ (dt. Umzug der Schafe) genannten, musikalischen Umzug, der am Ostermontag stattfindende „Eimaischen“-Markt und die Muttergottes-Oktave mit ihren Prozessionen und dem daran gekoppelten Festmarkt. 2018 benannte das Luxemburger Kulturministerium einen Verantwortlichen für das immaterielle Kulturerbe und richtete eine Webseite ein, die interessierten Gemeinden, Vereinen und Einzelpersonen die Möglichkeit bietet, über ein digitales Formular dem Kulturministerium Vorschläge für die Aufnahme in das Inventar des immateriellen Luxemburger Kulturerbes zu unterbreiten. Hervorzuheben ist, dass die Webseite nur eine luxemburgische Fassung anbietet. (Ministère de la Culture)
Fußnoten
101Dem englischen Begriff “heritage” wird in der Folge das männliche grammatische Geschlecht zugeordnet werden.