Heimaterfahrung in Luxemburg und in Wallonien seit 1830
58Sowohl die Gebiete des heutigen Großherzogtums Luxemburg als auch die der heutigen
Provinzen Walloniens haben in ihrer Geschichte ihre staatliche Zugehörigkeit gewechselt.
Für die Betrachtung des Begriffsensembles „Nation, Heimat, Volk und ‚pays’“ im Raum
des heutigen Großherzogtums Luxemburg und im Raum der belgischen Region Wallonien
bietet sich deshalb der metanationale Zugriff des Senior Professors für Landesgeschichte
am Historischen Institut der Universität Luxemburg Michel Pauly an. Pauly schlägt
vor, „die Geschichte eines sozialen, je nach Gegenstand jeweils neu zu definierenden oder
konstruierenden Raums zu untersuchen und dies auch in vornationalen Epochen
“, (Pauly 2016: 73) ein Vorgehen, das sich der Humangeograph Vidal de la Blache bereits
mehr als hundert Jahre vorher zu Eigen gemacht hatte.
Heimat- und Nationalgefühl im Großherzogtum Luxemburg
59Wie Pauly im Aufsatz „Mir wëlle bleiwe wat mir waren...“ überblicksartig darstellt,
wurde die Geschichte des Raums Luxemburg seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aus
zeitgeschichtlich geprägten Perspektiven neu erzählt. (Pauly 2016) Für den Kontext
dieser Arbeit sind einige Fakten relevant, über die sich die einzelnen Erzählungen
einig sind. 1815 wurde das Großherzogtum mit der Stadt Luxemburg als Hauptstadt auf
dem Wiener Kongress gegründet. Der König der Niederlande regierte es in Personalunion
mit den Niederlanden. Während das klassische Luxemburger Narrativ des 20. Jahrhunderts
in dieser Gründung den ersten Schritt in die moderne Eigenstaatlichkeit des Landes
sah, (Trausch 2002: 209; Calmes/Bossaert 1994: 14; Kayser 1990: 30-31) befand der
Historiker Guy Thewes 2019 nach Einsicht der Kongressakten, dass „die Großmächte die Gründung eines separaten souveränen Staates neben dem Königreich
der Niederlande [zu keiner Zeit] in Erwägung gezogen
“ hatten. (Thewes 2019: 97) Das Großherzogtum wurde Mitglied des Deutschen Bundes,
und eine preußische Garnison wurde in der Festungs- und Hauptstadt stationiert. Zwischen
1831 und 1839 gehörte das Gebiet mit Ausnahme der Festungsstadt zu Belgien. Auf dem
Londoner Kongress 1839 wurde das größtenteils frankophone Gebiet der „Province du
Luxembourg“ dem Königreich Belgien zugeteilt. Seither blieb das Staatsgebiet unverändert.
Internationale politische Ereignisse, auf die weder die Staatsführung noch die Einwohner
des Landes Einfluss nehmen konnten, bedrohten die Eigenständigkeit des Luxemburger
Staates bis 1945 immer wieder. Dazu gehörte das Auseinanderbrechen des Deutschen Bundes
1866 ebenso wie die Gründung des Deutschen Kaiserreichs in der Folge des französisch-preußischen
Krieges 1870-1871. Nach dem Ersten Weltkrieg stellten Frankreich und Belgien die Souveränität
des Landes in Frage. Von 1940 bis zu seiner Befreiung durch die Alliierten 1944/45
war das Land de facto Teil des nationalsozialistischen Deutschland. In der Folge wird
am Beispiel der Luxemburger Geschichte seit 1815 kurz gezeigt werden, wie die Zugehörigkeit
zu unterschiedlichen politischen, weltanschaulichen und kulturellen Räumen das „heimatliche“
Bewusstsein der Bewohner beeinflusst hat.
Nation und Staatsbürgerschaft
60Am 2. September 1845 gründeten dreizehn Luxemburger Honoratioren offiziell einen gelehrten
„Verein zur Nachforschung nach den historischen Denkmälern und zur Bewahrung derselben
im Großherzogthum Luxemburg“
. Sein Ziel war es, „nach den das Großherzogthum und das Gebiet des ehemaligen Herzogthums Luxemburg betreffenden
historischen und archäologischen Denkmälern und Urkunden
“ (Memorial 1845: 458) zu forschen und sie zu bewahren. Der Begriff „Denkmal“, in
der französischsprachigen Fassung des Gesetzes als „monument“ bezeichnet, bezieht
sich, so schrieb der von Astrid Swenson zitierte preußische Verwaltungsjurist Alexander
von Wussow (1820-1889) 1885, auf
alle unbeweglichen und beweglichen Gegenstände, welche aus einer abgelaufenen Kulturperiode herstammen, und als charakteristische Wahrzeichen ihrer Entstehungszeit für das Verständnis der Kunst und Kunstindustrie und ihrer geschichtlichen Forschung überhaupt, sowie für die Erhaltung der Erinnerung an Vorgänge von hervorragendem historischen Interesse eine besondere Bedeutung haben.(Swenson 2007: 64-65)
61Das grimmsche Wörterbuch versteht unter Denkmälern sowohl „erhaltene schriftliche werke der vorzeit
”, wie „ganz oder zum theil erhaltene bauwerke, bildhauerarbeiten aus der vorzeit.
“ (Grimm/Grimm 2019-1)
62Artikel 8 der Gründungsstatuten erlaubte dem Verein, „über Fragen aus dem Bereich der National=Geschichte
“ Wettbewerbe zu organisieren. (Pauly 2016: 55) Ob die Gesellschaft ihre Forschung
als Mittel gebrauchte, um den „jungen
“ Staat zu legitimieren oder nicht, ist in jüngerer Zeit mehrmals untersucht worden
(Schock 2015: 433-435; Pauly 2016:63), aber im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung
irrelevant.
63Interessanter ist der geographische Raum, auf den die Gründer des Vereins, zu denen
der Gouverneur Ignace de la Fontaine (1787-1871) gehörte, ihre Forschungen bezogen.
Sie waren in der sogenannten französischen Zeit aufgewachsen und/oder mit ihren Werten
sozialisiert worden. (Margue 2006) De la Fontaine hatte von 1807 bis 1810 sogar seine
Rechtsstudien in Paris absolviert. In Frankreich war die Nation zum „politischen Integrationsbegriff der französischen Gesellschaft geworden
“, so der Historiker und Erforscher der europäischen Nationalbewegungen Otto Dann.
(Dann 1993: 47)
Die Französische Revolution hatte das Modell der modernen Nation in einen zentralistisch-unitaristischen Nationalstaat umgesetzt. […] Der Politiker Napoleon [hatte] es als erster verstanden, die nationale Ideologie [sowohl in Frankreich wie auch in den eroberten Gebieten] lediglich funktional und propagandistisch zu gebrauchen.(Dann 1993: 49)
64Das Untersuchungsgebiet der frühen historischen Forschung aber ging über das Territorium
der Luxemburger Nation in der französischen staatsrechtlichen Tradition hinaus. Unter
Nation verstanden die damaligen Zeitgenossen „die Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen
und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind.
“ (Schieder 1985: 122) Lokale Partikularismen galten als Relikte des Ancien Régime
und hatten keinen eigenständigen Platz. Von 1815 bis 1839 hatte der niederländische
König dem Großherzogtum keine eigene legislative Körperschaft zugebilligt. Seine Forderung
nach der Umwandlung des ehemaligen Herzogtums in ein Großherzogtum auf dem Wiener
Kongress lässt sich, so Thewes, nicht allein aus Prestigegründen erklären, sondern
sollte bewusst das Ende der Eigenständigkeit des ehemaligen Herzogtums unterstreichen.
(Thewes 2019: 97) Am 12. Oktober 1841 hatte der König Großherzog dem Land seine erste
eigene Verfassung zugebilligt. Vier Jahre später knüpften die Vereinsmitglieder aber
räumlich an die Zeit vor dem Wiener Kongress an. Auch Pauly führt an, dass die Gesellschaft
durch den geographischen Rahmen, den sie für ihre Forschungen setzte,
„
ab initio“eine Kontinuität zwischen dem 1815 in Wien geschaffenen Großherzogtum und dem 1795 von den französischen Revolutionstruppen eroberten, vom Directoire annektierten und im Vertrag von Campo Formio von den Habsburgern aufgegebenen Herzogtum Luxemburg, dessen Grenzen nur teilweise mit dem Wiener Großherzogtum übereinstimmten, konstruierte.(Pauly 2016: 55)
65Der Professor am Athenäum Joseph Paquet, ein weiterer Mitbegründer der Gesellschaft
für die Erforschung der Denkmäler, hatte, laut Schock, in seiner „Geschichte des Luxemburger
Landes“ für die Primärschulen den Grenzverschiebungen eine unwesentliche Rolle für
die Bedeutung des historischen Erbes Luxemburgs zugeschrieben. (Schock, Imagining
Luxembourg 2 2016, 64-65) Die Denkmäler des Vereins sollten „in dem mit der Special-Bibliothek des Athenäums zu Luxemburg verbundenen Museum ausgestellt
werden.
“ (Memorial 1845: 458)
„Hémecht“ und Vaterland
66In Anlehnung an den belgischen Historiker Jean Stengers stellte der Luxemburger Historiker
Gilbert Trausch die These auf, dass die Nation als „Sprach- oder Kulturgemeinschaft
“ (Schieder 1985: 122) „ein Kind der Staatswerdung war und nicht umgekehrt
“. (Pauly 2016: 70) Die Mitglieder der historisch-archäologischen Gesellschaft verstanden
die Luxemburger „Nation“, mit deren Vergangenheit sie sich befassten, in der Mitte
der 1840er Jahre aber eher als Kultur – wenn auch nicht Sprachgemeinschaft von Bewohnern
eines Territoriums (das ehemalige Herzogtum Luxemburg, das ebenfalls eine eigene verbindende
Gesetzgebung hatte) denn als die Gruppe von Staatsbürgern, die seit 1841 von einer
gemeinsamen Verfassung umfasst wurden. Dieses Nationsverständnis änderte sich allerdings
rasch. Der Text des anlässlich der Einweihung des ersten Luxemburger Bahnhofs 1859
geschriebenen Liedes „Feierwon“ bezog sich auf das Gebiet des damaligen Staates, der
Teil des Völkerbundes geworden war. Aus welchen Landschaften dieses als Heimat bezeichnete
Luxemburger Land, das laut „Feierwon“ den Nachbarn aus Belgien, Frankreich und Preußen
gezeigt werden sollte, bestand, beschrieb die Nationalhymne „Hémecht“ aus dem Jahr
1864.
67In den 1890er Jahren wurde ein weiterer Verein zur Erforschung der Luxemburger Geschichte
gegründet, der sich explizit als „Ons Hémecht“, mit dem programmatischen Zusatz „Verein
für Geschichte, Litteratur und Kunst, bezeichnete.“ (Péporté et al. 2010: 55-58) Interessant
ist, dass das Betätigungsfeld, das sich der junge Verein gesteckt hatte, von dem der
frühen Gesellschaft abwich und sich auf das Staatsgebiet beschränkte. Sein Ziel war
es, „die Liebe und Begeisterung zu unserer vaterländischen Litteratur, Geschichte und Kunst
zu wecken und zu fördern
“. Die Denkmäler und Urkunden waren durch Literatur, Geschichte und Kunst ersetzt
worden. Die Gleichstellung von Vaterland und Heimat erscheint explizit. Publizistisches
Organ des Vereins wurde die bis heute existierende Zeitschrift „Hémecht“. Luxemburger
Historiker weisen immer wieder daraufhin, dass „Ons Hémecht“ von klerikalen Kreisen
getragen wurde und sozial offener war als die 1845 gegründete gelehrte Gesellschaft.
(Pauly, Mir wëlle bleiwe 2016, 64) In „Ons Hémecht“ kam der Volksbildungsgedanke der
katholischen Kirche zum Tragen, der auch in der programmatischen Aussage, man wolle
die Liebe zu den beschriebenen Gegenständen wecken und fördern, ausgedrückt wurde.
Vaterländische Heimatmuseen
68Fünf Jahre nach der Gründung der historisch-archäologischen Gesellschaft entstand
1850 der naturwissenschaftliche Verein im Großherzogtum Luxemburg (frz. „Société des
Sciences Naturelles“) unter der Schirmherrschaft des Prinzen Heinrich, Statthalter
des niederländischen König-Großherzogs in Luxemburg. Diese gelehrte Gesellschaft setzte
sich zum Ziel, „für die Fortschritte und die Verbreitung der Naturwissenschaften
“ zu wirken. „Der vorzügliche Gegenstand ihrer Arbeiten
“ sollte das „Studium der Naturgeschichte des Großherzogthums Luxemburg, sowohl an sich, als auch
in ihren Beziehungen zum Betriebe des Ackerbaus und der Manufacturen
“ sein. (Memorial 1850: 1106-1107) Das Ziel der Gesellschaft überschnitt sich teilweise
mit den volksbildenden Anliegen der deutschen Heimatvereine der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. Die Forschungen der naturwissenschaftlichen Gesellschaft sollten
praxisorientiert sein und im Dienst der auf dem Raum des Großherzogtums von 1850 lebenden
Bevölkerung stehen. Der Luxemburger Staat erkannte den Wert der Gesellschaftsaktivitäten
auch für das höhere Schulwesen. Das königlich-großherzogliche Gründungsreglement gebot
dem Verein „im Locale des Athenäums ein naturwissenschaftliches Cabinet einzurichten, welches
mit dem Cabinet dieser Anstalt gänzlich
“ zu verbinden war. (Memorial 1850: 1107) Auch die archäologisch-historische Gesellschaft
hatte Räume im Athenäum zugewiesen bekommen. Ihre Exponate häuften sich in hinter
der Schulbibliothek gelegenen Räumen und in Vitrinen in den Schulfluren. Der in den
Vereinsstatuten festgehaltene öffentliche Zugang gestaltete sich deshalb zunehmend
schwierig. (Goedert 1987: 109-110) Ab 1854 konnte auch der naturwissenschaftliche
Verein seine Sammlungen im Athenäum präsentieren. Es handelte sich um acht mit Vögeln,
Säugetieren, Reptilien und anatomischen Objekten bestückte Vitrinen, drei Schaukästen
mit Insekten und Schmetterlingen und um drei Räume, die Mineralien und Fossilien gewidmet
waren. 1892 wurden die naturwissenschaftlichen Museumsräume in Klassenzimmer umgewandelt.
(Musée national d'histoire naturelle s.d.) Die naturhistorischen sowie die archäologisch-historischen
Sammlungen wurden in die im Hauptstadtviertel Pfaffental gelegene frühere Vauban-Kaserne
verlegt. 1922 kaufte der Luxemburger Staat mehrere Gebäude, die sich am Fischmarkt
in der Oberstadt Luxemburg befanden, mit dem Ziel, dort ein Museum für die historisch-archäologischen
und die naturwissenschaftlichen Sammlungen einzurichten. Auch eine Kunstsammlung sollte
angeschafft werden. (Jungblut 2007: 212-213) Die Instandsetzungs- und Umbauarbeiten
zogen sich bis 1939 hin und die Sammlungen blieben während dieser Zeit unzugänglich.
(Reinert 2002: 64) Kurz nach der Eröffnung des Museumsgebäudes am Fischmarkt brach
der Zweite Weltkrieg aus, und die Institution wurde während vier Jahren als Landesmuseum
dem Rheinischen Landesmuseum in Trier unterstellt. Aus dem nationalstaatlichen Heimat-Anspruch
des Museums war ein erzwungener regionaler Heimat-Anspruch geworden. Wegen der Kriegshandlungen
wurden die Sammlungen ausgelagert. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Chef
der Zivilverwaltung und ehemalige Gewerbelehrer Gustav Simon (1900-1945) sich der
propagandistischen Kraft von heimatbezogenen Museen bewusst war und deshalb den massiven
Ausbau der kunsthandwerklichen Sammlungen ab 1941 mit Geldern aus der Deutschen Umsiedlungs-Treuhand-Gesellschaft
(DUT), über die er frei verfügen konnte, förderte. Zwischen 1941 und 1943 kamen etwa
5.000 Objekte über Händler und durch Versteigerungen in die Bestände des Landesmuseums.
Sie stammten zu einem nicht unerheblichen Teil ursprünglich aus dem Besitz von Juden
und Emigranten. (Jungblut 2007) Ab 1946 wurden die archäologisch-historischen, die
kunst- und kunstgewerblichen, die numismatischen und die naturhistorischen Räume nach
und nach für das Publikum geöffnet. Den heimat-nationalen Anspruch unterstrich das
Haus durch das 1935 entdeckte, 8.000 Jahre alte Skelett des sogenannten Loschbour-Mannes,
der als ältester Luxemburger ausgestellt wurde. (Hentschel 2015) Ein Gesetz vom 28.
Dezember 1988 führte eine administrative Trennung der staatlichen Museen in ein nationales
Museum für Geschichte und Kunst und ein nationales Museum für Naturkunde ein. Die
neue Namensgebung unterstrich den nationalstaatlichen Anspruch der Häuser. Bis Juni
1996 teilten sich die beiden Museen die Räumlichkeiten auf dem Fischmarkt. Dann zog
das naturhistorische Museum in die restaurierten und umgebauten Räume des Sankt-Johann-Hospizes
in der Unterstadt Grund, während das nationale Museum für Kunst und Geschichte auf
dem Fischmarkt verblieb. Ein Umbau passte bis 2002 einen Teil der Räumlichkeiten an
heutige Museums- und Publikumsbedürfnisse an. Volksglauben, landwirtschaftliche Arbeit
und altes Handwerk sowie Industrialisierung wurden seit den 1970er Jahren zusammen
mit der außergewöhnlich gut erhaltenen Innenarchitektur der historischen Häuser der
Wiltheimstraße 8-10 in einer „Vie luxembourgeoise“ bezeichneten Ausstellung zur vergangenen
Wohnkultur präsentiert.
69Von 2012-2014 wurde auch dieser Museumssteil in Zusammenarbeit mit dem „Fonds de rénovation de la vieille ville“ erneuert. Beraten wurden die Museumsverantwortlichen durch die damals an der Universität Lüttich tätigen Museologen André Gob und Noémie Drouguet. Die lebensweltlich ausgerichtete kunsthandwerkliche Präsentation ist einer typologischen gewichen, die den Besuchern bei der Erfassung der historischen Entwicklung von Zeugnissen des mobilen Luxemburger Kulturerbes helfen soll.
Heimatkunde und patriotische Gefühle
70Bildungsziele, wie sie für die deutsche Heimatbewegung des 19. Jahrhunderts charakteristisch
waren, sind auch im Schulbuch „Skizzen und Bilder aus der Heimaths- und Erdkunde,
und Charakterbilder aus der Vaterländischen Geschichte“ des Lehrers an der neugegründeten
Staatsackerbauschule Jean-Philippe Wagner (1851-1931) aus dem Jahr 1883 zu erkennen.
Das Schulbuch machte einen Unterschied zwischen der Kunde der Heimat und der Kunde
des Vaterlandes. (Péporté et al. 2010: 160) Heimat wurde im Sinne der deutschen Heimatbewegung
als Raum definiert, der sich in unmittelbarer Nähe um den Geburts- und Wohnort ausbreitet.
Die Modernitätskritik, die für die deutsche Heimatbewegung vor dem Zweiten Weltkrieg
charakteristisch war und z. B. in der thüringischen Zeitung „Der Pflüger“ zum Ausdruck
kam, trat auch in den Zielen des 1923 gegründeten Vereins „Landwûol. Luxemburger Verein
für ländliche Wohlfahrt- und Heimatpflege“ zu Tage. Ziel des Vereins war es, die „Rettung der Luxemburger Heimat vor der Verblutung in der Landflucht
“ zu fördern. (Péporté et al. 2010: 163 FN 76)
71In den 1930er Jahren bemühte sich der Lehrer Marius Wagner (1894-1976) um eine Reform
des Heimatkundeunterrichts. Für Wagner war der heimatkundliche Unterricht ein probates
Mittel, um bei der Jugend patriotische Gefühle zu wecken. Der Luxemburger Historiker
Pit Péporté und seine damaligen Kollegen aus dem historischen Institut der Universität
Luxemburg hielten 2010 fest, dass Wagner von den geodeterministischen Ideen der deutschen
Raumforschung der 1930er Jahre beeinflusst wurde. Wagner war sowohl Mitglied in der
Luxemburger Gesellschaft für Deutsche Literatur und Kunst (Gedelit) als auch in der
„Alliance française“ (Péporté et al. 2010: 162). Es ist also anzunehmen, dass ihm
auch die Vorstellungen der französischen Humangeographen nicht fremd waren. Die Emotionen,
die er wecken wollte, könnten auch mit dem „je ne sais quoi qui flotte au-dessus des différences régionales
“ umschrieben werden, das Vidal de la Blache bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beschworen
hatte. (Vidal de la Blache 1908: 83) Es gab erhebliche inhaltliche Überschneidungen
zwischen beiden Strömungen. Die französische Bewegung setzte das „je ne sais quoi“
bei der Betrachtung des „pays“ voraus, während ihr deutsches Pendant dieses gemeinschaftliche
Gefühl durch die Beschäftigung mit der unmittelbaren Lebenswelt wecken wollte. Die
frankophone Humangeographie glitt im Gegensatz zur deutschen nicht in die „Blut und
Boden“ –Ideologie ab. Der Luxemburger Schulinspektor Paul Staar (1890-1950), der das
Vorwort zu Wagners Reformplänen schrieb, empfahl den Lehrern, den Geschichtsunterricht
im Freien abzuhalten, um das Erleben der Geschichte zu fördern. (Péporté et al. 2010:
165) 1939 schrieb er: „Das Kind muss den Heimatraum in seiner Bedeutung für das Heimatvolk erblicken und
das Heimatvolk in seiner Schicksalsverbundenheit mit dem Heimatraum verstehen.
“ (Péporté et al. 2010: 166 FN 93) Hier erkennt man klar eine Verbindung zwischen
der „engeren“ und der staatsräumlichen Heimat. Einzelne „enge“ Heimaträume hatte Staar
bereits ein Jahr zuvor in einer Anthologie für die Primärschulen unter dem bezeichnenden
Titel „Im Segenstrom der Heimat. Ein Buch Heimatbilder in Worten zur Belebung des
Unterrichts“ vorgestellt. (Staar 1938) Das Ziel des Pädagogen war definitiv Heimatbildung,
heißt es doch im Vorwort: „Der Geist dieser Menschen nährt sich eben unablässig aus den besten Wurzelkräften
der Heimat
.
“ (Staar 1938: 3) Allerdings gebrauchten die Autoren der Anthologie – zu denen konservative,
klerikale, liberale und antiklerikale Autoren zählten, den Begriff Heimat in doppelter
Bedeutung. Das „Heimatart und Heimatwesen“ benannte Kapitel des vom Schulinspektor
Paul Staar herausgegebenen Primarschulbuches leitete der katholische, aber parteiisch
nicht gebundene Luxemburger Politiker, Sekundarschullehrer und Schriftsteller Nikolaus
Welter (1871-1951) 1938 mit einer Beschreibung des Luxemburger Vaterlandes ein:
Luxemburg ist unser Vaterland. Dieses Vaterland ist allerdings klein. Sein Volk ist und war es niemals mehr als heute, der Schwächste der Schwachen. Aber dieses Vaterland wird uns dadurch umso teurer, weil sich gerade den Kleinen und Schwachen die Zärtlichkeit unserer ganzen schützenden Liebe zuwendet.(Welter 1938-3: 50)
72Welter ergänzte diese Kapiteleinführung, die allerdings im Inhaltsverzeichnis des Buches den Titel „Ackerland“ trägt, (Staar 1938: 164) durch einen Abschnitt über die „Selbständigkeit“ des (Heimat)-Landes:
Es lebte in dem Lande der Wunsch auf, seinen kleinen staatlichen Haushalt endlich einmal mit eigenen Kräften auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens auszubauen. Jetzt besann es sich auf sich selbst. Das Gefühl der Selbstständigkeit gab ihm die Freude an seiner Geschichte zurück. Es beugte sich über diesen Spiegel der Vergangenheit, wollte vordringen bis an die Quellen seines Ursprungs, um sich besser auszukennen im Hause der Gegenwart und die Nachkommen mit Banden heiligster Erinnerung festzuknüpfen an den Grund der Heimaterde. In diesem Grunde ruhen ja unsere Toten, wurzelt der Stammbaum unserer Eigenart, liegen vergraben die Pergamente unserer Freiheiten.(Welter 1938-2:52)
73Für die „Rettung des Vaterlandes“ bedurfte es für Welter des göttlichen Beistands:
„In der entscheidenden Stunde rettet, und vor allem das kleine Land, nur die Kraft
der in einem Gefühl gläubig und gern verschlungenen Hände.
“ (Welter 1938-1: 53): Im „Heimatliebe“ betitelten Beitrag des liberalen Journalisten
und Schriftstellers Frantz Clément (1882-1942) hatte Heimat ebenfalls die Bedeutung
von Vaterland. Allerdings vertraute der 1912 exkommunizierte Clément bei ihrer Verteidigung
nicht auf Gott, sondern auf wehrtüchtige junge Männer. Er appellierte an die Grundschüler:
Ihr müsst zuerst daran denken, dass ihr in unserm gesegneten Luxemburg nicht Soldat zu werden braucht, daß diejenigen, welche ein paar Jahre älter sind als ihr und in Frankreich oder Deutschland, Italien oder Belgien wohnen, ihrem Land die Blutsteuer bringen müssen. Ich weiß nicht, ob es im Grunde ein großes Glück für euch ist, daß ihr nicht euer Leben für euer Vaterland einzusetzen braucht, aber es ist klar, daß das von den meisten Menschen als Glück empfunden wird. Mir will es scheinen, als ob man sein Land niemals lieben lernt, wenn man es nicht vielleicht eines Tages mit der Waffe in der Hand gegen lauernde Feinde verteidigen muss.“ (Clément 1938: 53)
74Für den konservativen Politiker, Journalist und Schriftsteller Gregor Stein (1907-1991) ging Heimat über das Vaterland hinaus. Er schrieb:
Heimat ist mehr als die Wärme des Landes und die heimeligen Breiten zwischen engen Grenzen. Heimat ist mehr als Schutzglück und Liebe, mehr auch als Wohlsein und Erinnerung: Heimat ist das große Herz, das allen schlägt, weil es alle umschließt! Sieh, wenn es deines ist, geht es allen gut.(Stein 1938: 53)
75In den Einträgen über die „Moselaner“ (Klein 1938-3: 50) (Klein, Moselaner 1938, 50), den „Ardenner Mensch“ (Klein 1938-1: 51), „Viander Mundart“, (Heß 1938-2: 51) „Dörfer“ (Heß 1938, 52), „Bach- und Flußnamen“ (Heß 1938: 52) und „Bauernart“ (Cariers 1938: 53) findet sich ein eher regionaler Heimatbegriff.
Heimatbilder und Erinnerungsorte
76Wagners Heimatbegriff der 1930er Jahre nahm Bezug auf die ländliche Lebenswelt. Sie
wurde dargestellt als „die Kraft, [...] der Nährboden und das Mittel, das uns in die Zukunft führt.
“ (Péporté et al. 2010: 162 FN 71) Die Historiker der Forschungseinheit „Identités,
politiques, sociétés, espaces“ (IPSE) an der Universität Luxemburg haben sich einem
de-konstruktivistischen Ansatz folgend (Pauly 2016: 65) mit der Frage auseinandergesetzt,
ob die Heimatüberhöhung der Zwischenkriegszeit „a patriotic reaction against the notion of a pan-Germanic Volkstum
“ war oder „whether it was a parallel development, based on similar grounds to the National Socialist
connection of blood and soil.“
Sie gelangten zu einer„tentative – conclusion
“, dass „it emerged not as a patriotic reaction against the German construction of ‚Volkstum’,
but parallel to it.
“ (Péporté et al. 2010: 169) Dieser Schlussfolgerung kann grundsätzlich zugestimmt
werden. Die Argumentation der Identitätsforscher hätte allerdings an Überzeugungskraft
gewonnen, wenn diese auch die Entwicklung der französischen Humangeographie einbezogen
hätten.
77Der französische Begriff „terroir“ und der deutsche Terminus Heimat wurden nach dem Zweiten Weltkrieg mit kritischer Distanz betrachtet. In Luxemburg überlebte die Heimat die nationalsozialistische Besatzungszeit trotz der nationalsozialistischen Luxemburger „Heim ins Reich“-Bewegung unbeschadet. Dies hat sicher mit seiner für Luxemburg charakteristischen doppelten Bedeutung des Wortes als Bezeichnung für die überschaubare Umgebung und als Synonym für das Vaterland zu tun. Von den 1960er Jahren bis in die 1970er Jahre war Heimatkunde ein fächerübergreifendendes Unterrichtsfach im 3. und 4. Primärschuljahr, das sowohl Geographie als auch Geschichte umfasste. 1966 gab die katholische Lehrergewerkschaft das Buch „Luxemburg, dein Heimatland“ heraus. (Instituteurs réunis 1965) 1975 wurde es wieder aufgelegt. Im gleichen Jahr erschien auch „Wat d’Hemecht as, dat froën s’oft“ der laizistischen Lehrergewerkschaft. (Fédération générale des Instituteurs Luxembourgeois 1966) Auch dieses Buch erhielt 1975 eine zweite Auflage. Das Buch „Luxemburg, deine Heimatstadt“ von Edouard Feitler wurde immer wieder nachgedruckt.
78In jüngster Zeit haben die bereits erwähnten Forscher zur kulturellen Identität Luxemburgs Heimatbilder als Erinnerungsorte aufgearbeitet. Die drei geographisch verankerten Erinnerungsorte beziehen sich auf Landschaften des Großherzogtums Luxemburgs: „d’Musel“ (Sunnen 2007: 235-240), „d’Eislek“ (Sunnen 2007-2: 241-246) und „de Minett“. (Sunnen 2007-1: 253-258) Diese Gegenden wurden bereits 1938 im Segensstrom der Heimat vorgestellt. (Staar 1938: 76-84) Es stellt sich die Frage, inwieweit die Heimatkonstrukte, die in heimatkundlichen Publikationen entworfen wurden, auch heute noch identitär wirken.
Nation, Heimat und Sprache
79Eine detaillierte historische Analyse des Stellenwerts der Luxemburger Sprache für das nationale und das heimatliche Bewusstsein der Luxemburger würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Einen prägnanten Überblick liefert Benoît Majerus im Erinnerungsort „Eis Sprooch“. (Majerus 2007: 17-21) Ausführlicher behandelt wird das Thema im Kapitel „Constructing the Language“ des Buches „Inventing Luxembourg“. (Péporté et al. 2010: 233-265) Nach der Zuweisung der weitgehend frankophonen Gebiete an Belgien durch den Londoner Vertrag von 1839 wurde die Luxemburger Sprache von allen Einwohnern des Großherzogtums Luxemburg gesprochen. Ihre wachsende Bedeutung als ein im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts alle gesellschaftlichen Schichten verbindendes Element wird anhand der Tatsache deutlich, dass sowohl der Text des „Feierwon“ von 1859 als auch die „Hémecht“ von 1864 in Luxemburgisch verfasst wurden. Nachdem das Singen dieser beiden Lieder während des Zweiten Weltkriegs vom deutschen Besatzer verboten worden war, gaben religiöse und weniger religiöse Luxemburger ihren patriotischen Gefühlen durch zwei luxemburgischsprachige Muttergotteslieder Ausdruck. 2019 hat sich die Luxemburger Heimat-Sprache zu einem Politikum entwickelt. Politische Aktivisten wollen sich selbst und ihre gleichsprachigen Mitbürger damit von den des Luxemburgischen nicht mächtigen Einwohnern des Landes und den ausländischen Pendlern abgrenzen. Unter ihrem Druck hat die Luxemburger Regierung beschlossen, Fördermaßen für die luxemburgische Sprache zu ergreifen, darunter auch ein 2018 verabschiedetes Gesetz. Der auf zwanzig Jahre angelegte Aktionsplan der Regierung sieht vor, die Bedeutung der luxemburgischen Sprache zu fördern, die Normung, die Benutzung und das Studium der luxemburgischen Sprache weiterzuentwickeln, das Erlernen der luxemburgischen Sprache und Kultur sowie die Kultur in luxemburgischer Sprache zu unterstützen. (Ministerium für Bildung, Kinder und Jugend 2019) Zu nennen wäre die rein luxemburgischsprachige, vom „Service de Coordination de la Recherche et de l’Innovation pédagiques et technologiques“ (SCRIPT) des Erziehungsministeriums ins Leben gerufene Webseite zur Luxemburger Kulturgeschichte in transnationaler Perspektive www.kulturgeschicht.lu. 2019 sind die Texte der meisten etablierten Luxemburger Museen in Französisch, Deutsch und bisweilen auch in Englisch verfasst. Das 1996 eröffnete historische Museum der Stadt Luxemburg hat seinem Namen 2017 einen Luxemburger Zusatz verpasst. Aus dem Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg ist das Lëtzebuerg City Museum geworden. Neben dem Luxemburgischen als verbindendem Element auf der nationalstaatlichen Ebene weist das Land aber auch Mundarten auf, die sich auf die Luxemburger Heimat im „engeren“ Sinn beziehen. Es wird zu sehen sein, welchen Stellenwert die verschiedenen Varianten der Luxemburger Sprache in lokalgeschichtlichen Museen einnehmen.
Heimat-, National- und Regionalgefühle in der belgischen Region Wallonien
Patrie, chère et douce terre du Père [...] Ne parlions-nous pas la même langue? Pour quelques différences superficielles, que de ressemblances profondes! N’étions-nous pas tous de la même race, du même pays, de la même famille humaine? Comme je voudrais entendre l’accent du terroir; quelques mots de wallon me seraient plus rafraichissants qu’un peu d’eau pure à un voyageur altéré!(Destrée 1912: 2)
80Mit diesen Worten beschreibt der Schriftsteller, Sozialist und frühe Wallonien-Militant
Jules Destrée (1863-1936) in seinem „Lettre au Roi sur la séparation de la Wallonie
et de la Flandre“ 1912 Wallonien. Er bezieht sich auf Erinnerungen an sein Elternhaus,
„où j’ai aimé, où j’ai pleuré, où sont morts les miens
.
“ Dazu gesellen sich Gedanken an die Kindheit, die gefüllt war mit „batailles d’écoliers
“ und „escapades de gamins
“ sowie an die Ferien, die er im „maison de campagne
“ verbracht hat, umgeben von einem Garten, einem See, einem Wald. (Destrée 1912: 2)
Destrées Schilderung Walloniens erinnert an die deutschen Heimatbeschreibungen des
frühen 20. Jahrhunderts. Allerdings fehlt ihnen die modernismuskritische Note. Zu
Destrées Wallonien gehört auch der
Borinage, tragique et si pitoyable avec ses petites maisons tapies au pied des triandulairesterries.[Es ist ein]pays noir, si étrangement, si magnifiquement tourmenté par un formidable labeur humain: bruit des usines, grondements des marteaux, ronflement des machines, longues plaintes de locomotives, et, dans les nuits, les embrasements superbes des fumées et des feux.(Destrée 1912: 2)
81Destrée wandte sich an den König, nachdem die Katholiken am 2. Juni 1912 die Parlamentswahlen gewonnen hatten. Die katholische Partei unterstützte die Forderungen der flämischen Gemeinschaft nach kultureller Gleichberechtigung. Ihr politischer Sieg bedrohte in den Augen Destrées sowohl die Identität der französischsprachigen Belgier als auch die in der Verfassung festgehaltenen Werte Belgiens. (Raxhon 2004: 271) 1912 gehört zu den Daten, an denen, so Philippe Destatte, Historiker an der Spitze des 1938 gegründeten „Institut Destrée“, ein Aufflammen des wallonischen Partikularbewusstseins beobachtet werden kann. (Destatte 2012: 373) Die regionale Identität Walloniens scheint allerdings nicht den militanten Charakter ihres flämischen Gegenparts gewonnen zu haben. In einem Artikel, der im Dezember 2010 im französischen „Monde diplomatique“, erschien, zitierte der Soziologe an der Universität Lüttich Marc Jacquemain eine Umfrage der belgischen Tageszeitung „Le Soir“ vom 20. Oktober 2010, die besagte, dass 4% der Belgier sich „zuerst wallonisch“, 25% „zuerst flämisch“ und 44% „zuerst belgisch“ fühlten. Auf die in Belgien vertretenen Sprachgruppen übertragen, bedeutet dies, dass 40% der flämischsprachigen Belgier sich zunächst als Flamen empfinden, während lediglich 10 % der französischsprachigen Belgier sich zuerst als Wallonen definieren. (Jacquemain 2010)
82Nun verhält es sich allerdings so, dass die heutige belgische Verwaltungsregion Wallonien
sich nicht mit der von Jacquemain beschriebenen Sprachregion deckt. Erstere enthält
ebenfalls die deutschsprachigen Kantone Eupen und Sankt-Vith sowie den ursprünglich
französischsprachigen, unter preußischer Herrschaft zunehmend eingedeutschten Kanton
Malmedy, (Decoster 2004, bei [44]) die nach dem Ersten Weltkrieg zu Belgien kamen.
Letztere bezieht sich auf die frankophonen Territorien mit der ursprünglich luxemburgischprachigen
Gegend um Arlon herum. Die 1984 gegründete deutschsprachige Gemeinschaft schloss die
Gemeinden Malmedy und Weismes nicht ein. Eine Betrachtung der regionalen Identität
und der Heimaterfahrung in der heutigen Region Wallonien muss sich auf beide Territorien
beziehen. Hundert Jahre nach Destrées offenem Brief an den König definierte Philippe
Destatte die regionale Identität als „un processus d’identification des habitants à une région concernée
.
“ Eine regionale Identität, so Destatte, „se construit de visions d’avenir
.
“ Der Historiker räumt gleichzeitig ein, dass auch das „héritage
“ und der „patrimoine
“ einer Region eine Rolle spielen. (Destatte 2012: 368)
Nationalstaatsbürgerschaft und Regionalbewusstsein
83Um zu verstehen, warum Destrée so heftig auf den Wahlsieg der Katholiken reagierte, lohnt sich ein Blick in das 19. Jahrhundert. Der deutsche Historiker Dieter Langewiesche hielt fest:
Die Gründung des belgischen Nationalstaats vollzog sich zwar unter dem Schutz Großbritanniens und Frankreichs, doch sie ging aus einer sozial breiten Revolutionsbewegung hervor, in der die unterschiedlichen Ziele von Teilen des Brüsseler Proletariats, der Bourgeoisie und der Nationalstaatsforderung ein Einigungsband fanden, das alle Differenzen umspannte. Ermöglicht wurde diese breite nationale Allianz, die Liberalismus und Kirche in einer Weise zusammenführte, für die es in Europa keine Parallele gab, durch die ‚Union’ belgischer Katholiken und Liberaler von 1828, die die Verfassung von 1831 und die weitere politische Entwicklung prägte. [...] Belgien wurde auch zum kontinentalen Musterland einer Laissez-faire-Politik, die den Einfluss des Staates auf die Gesellschaft weitestgehend begrenzte[, was dazu beitrug, dass]der belgische Nationalstaat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die sprachlich-kulturelle Zweiteilung des Landes noch nicht ernsthaft belastet wurde, obwohl die Flamen etwa 57% der Gesamtbevölkerung stellten und viele von ihnen die französische Sprache der politisch und sozial dominierenden Oberschicht nicht verstanden.(Langewiesche 1989: 41-42)
84Von Antwerpen bis nach Lüttich und von Brügge bis nach Namur über Gent sprach diese
Elite Französisch, war größtenteils liberal-antiklerikal eingestellt und identifizierte
sich eindeutig mit dem belgischen Staatsprojekt. Das ländliche und katholische Flandern
war im 19. Jahrhundert die arme Region des jungen Königreichs. Ihm gegenüber stand
ein Wallonien, das an der Spitze der industriellen Revolution, direkt hinter England
lag. Flämische Bauern zogen in die wallonischen Industriebecken und bildeten dort
die erste Immigranten-Generation. Die Tatsache, dass Französisch ebenfalls die belgische
Amtssprache war, öffnete kleinbürgerlichen wallonischen Kreisen die Tür der Ministerien
in Brüssel und schloss die gleichen sozialen Schichten aus Flandern von staatlichen
Posten aus. Der regionalistische Kampf der Flamen im späten 19. und beginnenden 20.
Jahrhundert war deshalb weitgehend kulturell. Es ging darum, sich von einer gesellschaftlichen
Schicht zu emanzipieren, die wegen ihrer Sprache als fremd empfunden wurde und die
der katholischen Religion breiter Massen skeptisch gegenüberstand. Die katholische
Kirche in Flandern unterstützte die kulturelle und soziale Emanzipation der Flamen.
Ihr politischer Flügel distanzierte sich deshalb vom Unitarismus, mit dem Katholiken
und religionskritische Liberale die Trennung der Südprovinzen von den Niederlanden
in den 1820er Jahren vorangetrieben hatten. „Il y a, en Belgique, des Wallons et des Flamands; il n’y a pas de Belges
“, schrieb Jules Destrée achtzig Jahre nach der Gründung des Staates. (Destrée 1912:
5) Für ihn blieb Belgien „un Etat politique, assez artificiellement composé, mais [...] pas une nationalité.
“ Der von den staatstragenden Historikern wie Henri Pirenne (1862-1932) konstruierten
gemeinsamen Vergangenheit des nördlichen und des südlichen Teils stand er skeptisch
gegenüber.
De ce que deux fragments extrêmes tous deux, l’un de l’empire germanique, l’autre de la royauté française, ont pu tous deuxchercher pareillement à s’affranchir du pouvoir lointain, de certaines similitudes de leur histoire, il est vraiment osé de conclure à la communauté de vie, de moeurs et d’aspirations qui constitue un peuple. (Destrée 1912: 4)
85Mehrmals bezeichnete Destrée die beiden Bevölkerungsgruppen als „Rassen“. (Destrée
1912: 3 u. 5) Die Verbindung zwischen der „diversité originale
“ und dem Boden, auf dem die „Rassen“ leben, erinnert an die Überlegungen des französischen
Humangeographen Paul Vidal de la Blache. Bei Destrée waren die „gens qui vivent dans ces contrées diverses […] divers comme elles et les âmes […]
aussi différentes que le sont les paysages
“, denn „géologiquement, le pays est double et les aspects du paysage correspondent à la différence
du sous-sol.
“ Weiter hieß es: „Les activités auxquelles ils se vouèrent, par l’influence du milieu, sont différentes
et presque opposées. La Flandre est en grande majorité, agricole; la Wallonie est
en grande majorité, industrielle.
“ (Destrée 1912: 4) Über die Charaktereigenschaften und Weltanschauungen der beiden
Bevölkerungsgruppen schrieb Destrée:
Le Flamand est lent, opinâtre, patient et discipliné; le Wallon est vif, inconstant et perpétuellement frondeur de l’autorité. Les sensibilités sont différentes: Telle idée, tel récit, qui enthousiasmera les uns, laissera les autres indifférents, peut-être même leur fera horreur.[…]Il s’explique dès lors que les divergences sur la façon de comprendre la vie aient leur écho dans la manière de se laisser impressionner par les problèmes de l’au-delà de la vie. La Flandre est en grande majorité catholique et parfois, assez agressivement et bassement catholique; en Wallonie, au contraire, la foi n’est plus guère qu’une habitude et les libres penseurs sont très nombreux.(Destrée 1912: 5)
86Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die politische und kulturelle Geschichte Belgiens und damit auch das Regionalbewusstsein der Einwohner der heutigen Region Wallonien noch komplexer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Verhältnis der Wallonen, insbesondere der Eliten, zum deutschen Nachbarn entspannt, so der belgische Historiker Francis Balace. Insgesamt dreizehn deutsche Professoren lehrten über das 19. Jahrhundert verteilt an der 1817 vom niederländischen König gegründeten Universität Lüttich, was dazu beitrug, dass viele wallonische Akademiker an deutschen Universitäten promovierten, umso mehr als das französische Hochschulwesen im 19. Jahrhundert als nicht mehr zeitgemäß angesehen wurde. Bürgerliche Familien stellten deutsche Gouvernanten für ihre Kinder ein. Die auch für ihre besondere Reinlichkeit gerühmten „Fräulein“ sollten dem Nachwuchs die deutsche Sprache beibringen, von deren Kenntnis sich die Eltern Vorteile in den geschäftlichen Beziehungen versprachen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte sich der Blick auf Deutschland schlagartig. Im August und September 1914 töteten deutsche Erschießungskommandos in drei Wochen zahlreiche Zivilisten, die des Versteckens von Heckenschützen verdächtigt wurden. Hunger plagte die Bevölkerung, und die Deportation von Arbeitern jagte ihr Angst ein. (Balace 2012: 347-351)
87Vom 25. Februar bis zum 5. April 1919 tagte in Versailles eine „Commission des Affaires belges“. Der Versailler Vertrag belohnte das „Brave Little Belgium“ mit dem Kolonialmandat über Ruanda und Urundi (heutiges Burundi) und einer Gebietserweiterung auf Kosten Deutschlands. Es handelte sich dabei um deutsch- und französischsprachige Territorien, die der Wiener Kongress 1815 Preußen zugesprochen hatte und die nach dem Ersten Weltkrieg im Falle eines erneuten Angriffs Deutschlands als Pufferzone dienen sollten. Nach einer schon von den Zeitgenossen kritisierten Befragung der betroffenen Menschen, die zwischen dem 26. Januar und dem 23. Februar 1920 stattfand, wurden die 1.050 km² umspannenden Gebiete um Eupen, Malmedy und Sankt-Vith herum in die belgische Provinz Lüttich integriert. (Decoster 2004: bei [66]) Die Einwohner, die vor dem 1. August 1914 dort gelebt hatten, bekamen automatisch die belgische Staatsbürgerschaft. Es blieb ihnen freigestellt, sich binnen zwei Jahren für die deutsche Staatsbürgerschaft zu entscheiden. In diesem Fall mussten sie das Land verlassen, durften aber ihr Mobiliar und ihre Wertsachen steuerfrei mitnehmen und ihre Immobilien behalten. Nach dem 1. August 1914 Zugezogene konnten die belgische Staatsbürgerschaft kaufen. Von den „Alt“-Belgiern wurden die neuen Kantone als „cantons de l’est“ oder abschätzig als „cantons rédîmés“ (abgekaufte Kantone) bezeichnet. Insbesondere in der Gegend um Verviers wurden die Betroffenen in einer lautmalerischen Anspielung auf ihren Dialekt die „Hin è Han“ genannt. Wirtschaftlich verkraftete der Kanton Malmedy mit seinen Gerbereien und Papiermühlen den Staatswechsel am besten. Der Kanton Eupen litt unter dem Niedergang der Textilindustrie. Am schwersten traf die Veränderung der Staatsgrenzen den Kanton Sankt-Vith. Die Vennbahn, die bis dahin das Ruhrbecken mit Elsass-Lothringen verbunden hatte, verlor ihre Bedeutung, was den Abbau vieler Arbeitsplätze bedeutete.
881920 war den Einwohnern der Ostkantone ein staatliches Zugehörigkeitsgefühl aufgezwungen worden, das nicht mit ihrer sprachlichen Heimat übereinstimmte. Darüber hinaus erschwerte die wallonische Germanophobie, die ihnen entgegenschlug, ihre Integration, was erklärt, weshalb eine pangermanistische Vereinigung mit dem Namen Heimatfront nach der Machtübernahme Hitlers 1933 an Zulauf gewann. Bei den Parlamentswahlen von 1939 erhielt sie allerdings nur 45,2% der Stimmen in den drei deutschsprachigen Kantonen, denn nicht alle Mitglieder der Heimatfront, die für den Wiederanschluss an Deutschland eintraten, waren Nationalsozialisten. Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden die Ostkantone per Führerdekret Hitlers vom Dritten Reich annektiert. Am 23. September 1941 wurden die Bewohner Eupen-Malmedys wieder zu deutschen Staatsbürgern. Den etwa 700 jungen Ostbelgiern, die sich freiwillig in die Wehrmacht meldeten, standen ab September 1941 etwa 8.700 Zwangssoldaten gegenüber. (Conraads/Nahoé 2013: 303-308; Lejeune/Brüll 2014) Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die französischsprachigen Behörden Säuberungsmaßnahmen vor und französisierten Verwaltung und Schule.
89Mit den September-Verträgen von 1956 erkannte die Bundesrepublik Deutschland die Unrechtmäßigkeit der Annektierung der Kantone während des Zweiten Weltkriegs an. Belgien und Deutschland nahmen eine Grenzberichtigung vor, schlossen ein Kulturabkommen und vereinbarten Ausgleichszahlungen. (Decoster 2004: bei [133]) Die Autonomie der Kantone wuchs, und 1963 wurde das Deutsche im Rahmen einer gesamtbelgischen Sprachenregelung wieder als Amts- und Unterrichtssprache eingeführt. (Strasser 2009: 238-239) Anlässlich der Gründung der drei Kulturgemeinschaften zwischen 1968 und 1971 wurden Malmedy und Weismes in die französischsprachige Kulturgemeinschaft eingegliedert, während die übrigen Gemeinden des Kreises Malmedy mit den Gemeinden des Kreises Eupen, mit Moresnet und mit den Gemeinden von Sankt-Vith die Deutschsprachige Kulturgemeinschaft bildeten. Ihr Rat hatte im Gegensatz zu seinen flämisch- und französischsprachigen Gegenparts nur eine beratende Funktion auf dem Kulturgebiet. Die zweite belgische Staatsreform (1980-1983) ersetzte die Kulturgemeinschaften und ihre Räte durch Gemeinschaften, erweiterte ihre Befugnisse und setzte die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) den beiden anderen gleich. Die Gebiete bekamen allerdings keine eigene Region, sondern wurden in die Region Wallonien eingegliedert. Diese ist seither für die regionalen Kompetenzen der DG zuständig. (Decoster 2004: [142-164]) Es wird zu sehen sein, ob und wie das historische Verhältnis der alten und der neuen Kantone der Region Wallonien sich in Ausstellungen von lokalen Museen widerspiegelt.
Sprach- und Kulturgemeinschaften
90Die Sprache einer Gemeinschaft begreife „le souvenir et l’écho de ses moeurs, de ses croyances, de ses douleurs
“, so Destrée 1912, denn die durch die Sprache hergestellte Verbindung sei mysteriös
und reiche in die tiefen Schichten des menschlichen Unterbewusstseins, wo sie an „millions de racines tenues qui s’enfoncent dans le passé le plus reculé
“ anschließe. (Destrée 1912: 5) Die französischsprachigen Kantone Walloniens gehören
zur romanischen Sprachgemeinschaft. Der belgische Historiker Namurer Ursprungs Félix
Rousseau (1887-1981), wie Destrée ein Wallonien-Militant, bezeichnete Wallonien im
Titel eines seiner Hauptwerke als „terre romane“. (Rousseau 1993) Der 1942 geborene
belgische Historiker und Politiker Hervé Hasquin schreibt über den geographischen
Raum und den Ursprung seines Namens:
L
e territoire qui forme, à peu de chose près, la Wallonie d’aujourd’hui est devenu alors, un glacis de la Romania. Vis-à-vis des Germains, qui s’établirent dans la zone abandonnée et la coloniseront, les Gallo-Romains du Nord de la Gaule deviennent les Walhas: ce sont les Wallons.(Hasquin 1995: 20)
91Sprach-, Kultur- und „Rassen“-Grenze zur flämischen Gemeinschaft erklärt Destrée mit
der früheren „forêt charbonnière
“, die, obwohl längst verschwunden, als unsichtbare Grenze die „interpénétration
“ der beiden Sprachgemeinschaften immer noch verhinderte. „Des gouvernements se sont usés à cette oeuvre vaine et ont cherché à faire reculer
soit le flamand, soit le français. La frontière linguistique est restée immuable,
attestant la volonté des deux peuples de ne point se confondre.
“ (Destrée 1912: 6) Die zeitgenössischen französischen Humangeographen teilten diese
Weltsicht weitgehend. Für Vidal de la Blache reichten die kulturellen Wurzeln Frankreichs
in die „Méditerranée
“, aber der Staat Frankreich entstand im Norden im Kontakt mit der „germanischen“
Welt.
E
ntre la mer du Nord, la Manche, le Massif central et le Rhin, se déroulèrent des régions naturelles qui s’appellent l’Ardenne, les Flandres, le Bassin parisien, le Pays rhénan. Chacune a sa physionomie: mais unies entre elles par des rapports faciles, toutes pénétrées d’influences générales. Elles se combinent dans un ensemble qu’il ne faut pas morceler, la France du Nord. C’est cet ensemble qui a servi de berceau à un grand Etat.[…]Ainsi qu’un arbre dans une forêt, un Etat ne se sépare pas du milieu où vivent à côté de lui, en contact et en concurrence avec lui, d’autres Etats.(Vidal de la Blache 1908: 75)
92Die Gegend zwischen den Ardennen, der Nordsee in Richtung Pariser Becken war jahrhundertelang
Schauplatz der „luttes par lesquelles durent se constituer races et Etats, pressés les uns contre
les autres
.
“ (Vidal de la Blache 1908: 76) Die Sprachgrenze bezeichnete der Humangeograph als
„ligne de rencontre où la vieille civilisation romane dut faire face au néo-germanisme
constitué sur la mer du Nord
.
“ (Vidal de la Blache 1908: 79) Geographischer Bestandteil der Grenze sind für Vidal
de la Blache die Ardennen, als
le môle autour duquel [...] se divisent [les grands courants qui les entourent]. En pointe entre le Rhin et les Néerlandes germaniques, [l’Ardenne] est demeurée wallonne, c’est-à-dire française. En elle les langues romanes atteignent vers le Nord l’extrémité de leur extension; jusqu’au delà de Liège et de Verviers le français est la langue du pays.(Vidal de la Blache 1908: 92)
93Über den romanischen Sprach- und Kulturraum, zu dem Wallonien gehörte, äußerte er
sich, dass das „principal signe de luxe […] l’abondance du linge
“ sei, „trait moins bien marqué chez nos voisins
.
“ Für die bäuerlichen Lebenswelten und Essgewohnheiten verwies er auf die Gemälde
der Brüder Antoine und Mathieu Le Nain des 17. Jahrhunderts.
Ce sont bien les gestes lents de ces mangeurs de pain [que l’on reconnaît chez leurs descendants], sachant à l’occasion déguster le vin, assis autour d’une miche, pesamment sur leurs escabeaux de bois. Le pain, avec des légumes et des végétaux, une nourriture animale dont la volaille et le porc font surtout les frais, telle est l’alimentation conforme à un solo où les céréales, avec les genres d’élevages qui en dépendent, tiennent la plus grande place. […] Autant le Français se distingue de l’Anglais et même de l’Allemand par son mode de nourriture, autant il se ressemble à lui-même sur ce point au Nord et au Sud. Pour les peuples germaniques qui nous avoisinent, notre paysan appréciateur de pain blanc, amateur de végétaux, et ingénieux dans l’art de les produire, est un objet d’attention et de curiosité. Dans son récit de la campagne de France, Goethe remarque l’antagonisme des deux peuples au sujet du pain:„Pain noir et pain blanc sont la pierre de touche entre Français et Allemands (das shibolet, das Feldgeschrei zwischen Deutschen und Franzosen)“.
94Zu den Essgewohnheiten gesellte sich „une atmosphère ambiante, inspirant des manières de sentir, des expressions, des tours
de langage, un genre particulier de sociabilité [qui] a enveloppé les populations
diverses que le sort a réunies sur la terre de France.
“ Zu den die Kulturfranzosen trennenden Staatsgrenzen äußerte sich der Geograph: „Comment se raidir contre une force insensible qui nous prend sans que nous ne nous
en doutions, qui s’exhale du fond de nos habitudes et nous rend de moins en moins
étrangers les uns aux autres? Un peu plus tôt ou un peu plus tard, tous ont successivement
adhéré au contrat.
“ (Vidal de la Blache 1908: 69-70) Für den Humangeographen Vidal de la Blache waren
die flämische und die deutsche Sprache und Kultur Abwandlungen einer übergeordneten
germanischen Kultur. Für den Wallonien-Militant Destrée stellte sich die Frage nach
dem Stellenwert der deutschen Sprache nicht. Bis auf die Einwohner der Gegend um Arlon
sprachen zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg alle Einwohner Walloniens romanische
Dialekte.
Ein Museum für die Heimatdialekte
95Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Destrée’s Brief an den König gründeten die Société de la langue et de la littérature wallonne, das Institut archéologique liégeois und die Société d’art et d’histoire du diocèse de Liège 1913 zusammen das Musée de la Vie wallonne in Lüttich. Die Stadt Lüttich übernahm die Kosten und stellte dem Museum zunächst Räumlichkeiten im Curtius-Haus zur Verfügung. Der Anwalt, Folklore-Sammler und frühe Wallonien-Militant Joseph-Maurice Remouchamp (1877-1939) wurde erster Direktor, der Linguist und Professor an der Universität Lüttich Jean Haust (1868-1946) erster Präsident und der „académicien belge“ und wallonische Schriftsteller Henri Simon (1856-1939) erster „conservateur“ des Museums. Die Idee, die Mundarten und Traditionen Walloniens zu dokumentieren und eine Sammlung aufzubauen, reichte allerdings bis in das späte 19. Jahrhundert zurück und folgte einem allgemeinen Trend der Hinwendung zur Volkskunde. Etwa seit 1890 wandten sich überall in Europa gelehrte Gesellschaften der ländlich-bäuerlichen Kultur zu. 1909 fand der erste internationale Heimatschutzkongress in Paris statt. (Scharnowski 2019: 75) Auch Lütticher Gelehrte unter der Leitung des Gründers der Société de folklore wallon Eugène Monseurs (1860-1912) waren sich der Dringlichkeit der Sicherung und des Ausstellens von folkloristischen Objekten, die vom Verschwinden bedroht waren, bewusst. 1894 gründeten sie das Musée du Vieux Liège, das aber wegen mangelnder Unterstützung keine Sammlung auf die Beine stellen konnte und rasch verschwand. Die Idee eines Museums im Dienst der Pflege wallonischer Eigenarten und das wallonische Partikularbewusstsein entwickelten sich parallel weiter. Auf dem ersten „congrès national wallon“, der 1905 in Lüttich stattfand, wurde der Gedanke u.a. von Mitgliedern der bereits 1856 gegründeten Société de langue et de littérature wallonne wieder aufgegriffen. Im Zentrum des Interesses stand der wallonische Dialekt. Mit einer geeigneten Sammlung wollen sie die Genauigkeit der Wortdefinitionen gewährleisten und ihre linguistischen Veröffentlichungen illustrieren. Durch seine wissenschaftliche Tätigkeit erwarb das Museum, das sich vor allem bemühte, seine zahlreichen Dokumente und Objekte den Forschern zur Verfügung zu stellen, rasch national wie international einen guten Ruf. Von Anfang an sammelte und bewahrte das Museum Originalobjekte, Reproduktionen von Objekten sowie Bücher und Dokumente, die aus der Sicht der Ethnographie, der Folklore, der Kunst und des Handwerks von Interesse waren oder sich auf spezifische wallonische Begriffe bezogen. Über Spendenaufrufe gesammelte Objekte wurden sorgfältig katalogisiert und in Reserven im Curtius-Haus aufbewahrt. Von Anfang an konnte das Museum auf die Unterstützung der Mitglieder der Société de la langue et de la littérature wallonne aus ganz Wallonien zählen, insbesondere auf diejenigen, die an einem allgemeinen Wörterbuch der wallonischen Sprache arbeiteten.
Heimatbilder und Erinnerungsorte
96Die 2011 erneuerte Dauerausstellung des Musée de la Vie wallonne hat es sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, Geschichte und Traditionen der gesamten 16.844 km² umfassenden Region Wallonien mit den Provinzen Wallonisch-Brabant, Hennegau, Lüttich, Namur und Luxemburg mit ihren ungefähr 3,5 Millionen Einwohner abzubilden. Die geographischen Luxemburger Erinnerungsorte finden Pendants in einzelnen Ausstellungseinheiten. Der politischen Geschichte des Mouvement wallon ist eine bedeutende Ausstellungsabteilung gewidmet, während die politische Geschichte der Ostkantone nur an einigen Stellen berührt wird. Im Zuge des regelmäßigen Sammlungswechsels sind 2019 einige Propagandaplakate aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs eingefügt worden.
97Die im Museum für Sammlung und Archiv zuständige Konservatorin Cécile Quoilin erklärt den Themenschwerpunkt Mouvement wallon mit der Tatsache, dass das Archiv der Bewegung 2004 dem Museum übertragen wurde und die Kuratoren diese Sammlungen in die erneuerte Dauerausstellung integrieren wollten. In Punkto Folklore ist die deutschsprachige Kulturgemeinschaft durch die Tradition des Eupener Karnevalsprinzen vertreten.
98Interessant für die Belange dieser Arbeit ist der „Les Wallonies“ bezeichnete Einführungsraum
des Museums. Im Geiste der Humangeographen stellten dort die Ausstellungsverantwortlichen
„les richesses des sols et des sous-sols
“ in Form von fünf massiven Blöcken aus Holz, Kohle, Erde, Wasser und Glas in den
Raum. In Erinnerung an den dialektologischen Ursprung des Hauses bieten „Lauttrichter“,
die neben den Blöcken befestigt sind, den Besuchern Klangbeispiele einzelner Dialekte
an. Zu hören sind „picard
“, „wallon
“, „gaumais
“ oder „lorrain
“ sowie „champenois
“, (Filiber 2001, 30) aber kein deutscher Dialekt. Ist diese Tatsache bezeichnend
für das Verhältnis zwischen der “belle Wallonie
” (Raxhon 2004: 271) und der Region zwischen Venn und Schnee-Eifel hundert Jahre nach
der Grenzverschiebung? An den Museumswänden „steigen“ Grafiken, Photographien von
wallonischen Landschaften und deren Einwohnern sowie eine wandfüllende, für die „neue“
Dauerausstellung von Benoît Dervaux mit Dokumentarfilmen aus den Beständen des Museums
realisierte Film-Kompilation aus dem Boden hervor. Handelt es sich um eine zeitgenössische
räumliche Verwirklichung des Raum-Mensch-Verhältnisses der Humangeographen des frühen
20. Jahrhunderts? Auf jeden Fall liest sich der Raum wie eine Umsetzung bildhafter
Assoziationen mit dem eingangs dieses Kapitels erwähnten offenen Brief Destrées an
den belgischen König aus dem Jahre 1912.