9. Fazit
712In der vorliegenden Arbeit wurde das luxemburgische Intonationssystem innerhalb des autosegmental-metrischen Rahmens untersucht und so eine umfassende Beschreibung luxemburgischer Intonationskonturen gegeben. Dafür wurden Intonationsverläufe sowohl formal als auch funktional erfasst und auditiv sowie akustisch analysiert. Hierbei wurde erarbeitet, in welcher Situation welcher intonatorische Verlauf verwendet wird, wann ein gleicher Verlauf in unterschiedlichen Situationen realisiert wird und wie sich die verschiedenen Verläufe phonetisch und phonologisch voneinander unterscheiden.
713Dafür stellte sich im Vorfeld die Frage nach einer geeigneten Erhebungsgrundlage, um einerseits Vergleiche zu anderen Untersuchungen zu ermöglichen und andererseits die Elizitationsproblematik aufzugreifen und Vorschläge in die diesbezügliche Diskussion einzubringen. Eine Kombination aus geskripteter und ungeskripteter Sprache wurde herangezogen, um gleichzeitig vergleichbare und spontane Daten zu erhalten, deren Unterschiede in der Arbeit diskutiert wurden.
714Überdies konnte die davon abgeleitete Frage über den Transfer intonatorischer Strukturen aus dem Luxemburgischen ins Deutsche und Französisch beantwortet werden, da für beide Sprachen intonatorische Interferenzen festgestellt werden konnten. Auch die daran anknüpfende Frage, ob in beiden Sprachen gleichermaßen Interferenzen realisiert werden, konnte in dem Sinne beantwortet werden, dass die Interferenzen im Deutschen deutlicher ausgeprägt sind.
715Dieses Kapitel zieht jeweils ein Fazit zu den unterschiedlichen Fragen zur Datenerhebung (9.1), der Beschreibung des luxemburgischen Intonationsinventars (9.2) und den Interferenzen mit Deutsch und Französisch (9.3), wobei hier die formulierten Hypothesen besprochen werden.
9.1 Datenerhebung
716In dieser Arbeit konnte bestätigt werden, dass der Elizitationsmodus eine wesentliche Rolle für die Verteilung und Art der Konturen und somit auch für die Ergebnisse spielt (Savino 2012; Kügler 2003) und entsprechend mit der Forschungsfrage im Einklang gebracht werden muss (Möbius 1993; Kügler 2003). Für die Forschungsfragen dieser Arbeit kann festgestellt werden, dass die Kombination aus geskripteter Sprache (Experimentteil natürliche Lesesprache) und ungeskripteter Sprache (Experimentteile Gespräch und Interaktion228), die ihrerseits einmal Aussagen und Weiterweisungen und ein andermal Fragen elizitieren sollte, geeignet für die explorative Untersuchung luxemburgischer Intonation ist. Sie ermöglicht einerseits einen Vergleich beider Stile und vereint andererseits die Vorteile beider Elizitationsmethoden: die Kontrollierbarkeit und somit Vergleichbarkeit im Falle der geskripteten Sprache mit der Natürlichkeit spontaner Sprachdaten. Insbesondere für die Untersuchung eines unerforschten Intonationssystems erweist sich diese Herangehensweise als sehr geeignet, da zunächst kontrolliert an die Daten herangegangen und mit diesen Erkenntnissen anschließend die spontane Sprache untersucht werden kann. Mit der Kombination aus gelesenen Sätzen und konversationeller Spontansprache geht die vorliegende Arbeit über die Vorgehensweise von Niebuhr et al. (2010) hinaus, die zwar nicht auf gänzlich ungeskriptete Sprache zurückgreifen, sich jedoch ebenfalls für eine Kompromisslösung aus Einzelsätzen und dialogischer Sprache aussprechen. Die Diskussion über die (phonetische) Validität gelesener Einzelsätze und damit dem Elizitationsmodus im Allgemeinen wird interessanterweise erst seit einigen Jahren geführt (Iriondo et al. 2007; Niebuhr et al. 2010; Anderson et al. 1991) und scheint noch nicht abschließend geklärt zu sein. Diese Arbeit eignet sich aufgrund des durchgeführten Vergleichs zwischen intonatorischen Realisierungen in gleichen konversationellen Situationen und unterschiedlichen Sprechstilen als Überprüfungsmaßstab unterschiedlicher Methoden.
717Der geskriptete Experimentteil natürliche Lesesprache liefert Ergebnisse, die denen der Spontansprache sehr ähnlich sind; eine ‚Leseintonation’ kann mit dieser Methode weitestgehend vermieden werden. Der Aufbau ist zwar an die im IARI verwendeten discourse completion task angelehnt und daher vergleichbar, bietet jedoch mehr Kontrolle über die Daten, was für eine weitestgehend unerforschte Sprache unerlässlich ist. Aus der Durchführung dieses Experimentteils lässt sich folgern, dass der vorgegebene Kontext besonderer Aufmerksamkeit bedarf, da er die Sprechereinstellung leicht beeinflussen und damit den realisierten Intonationsverlauf prägen kann. Ein Nachteil dieser Herangehensweise ist, dass nur in eingeschränktem Maße konversationelle Strukturen erhoben werden können, die an die Interaktion mit einem Gesprächspartner gebunden sind. Gleichzeitig muss jedoch bei der Phrasenbestimmung beispielsweise nicht wie in spontanen konversationellen Daten auf einen Sprecherwechsel als endgültiger Hinweis für Finalität zurückgegriffen werden, da vorgegeben ist, wann ein Abschluss realisiert werden soll. Diese Methode eignet sich folglich, um vergleichbares Datenmaterial zu erhalten, ist jedoch als alleinige Erhebungsmethode für konversationelle Untersuchungen nicht ausreichend, da der Einfluss eines realen Gesprächspartners nicht ersetzt werden kann. In einem sorgfältig geplanten Experiment kann dennoch ein guter Überblick über das Formeninventar einer Sprache erhalten werden, sofern bei den Ergebnissen bedacht wird, dass außersprachliche Faktoren, wie Gestik und Mimik möglicherweise durch die Intonation ausgeglichen werden können. Dies konnte u. a. von Kügler (2003) und auch in der vorliegenden Arbeit für Fragen festgestellt werden.229 Einflüsse dieser Methode auf die akustischen Werte intonatorischer Konturen werden im Abschnitt 9.2 diskutiert, um auch diesbezüglich Aussagen über die Validität der Daten treffen zu können.
718Der aus einem Interview bestehende Experimentteil Gespräch erzeugt eine oftmals monologische Erzählweise der Teilnehmer, die aber durch eine aktivere Beteiligung seitens des Interviewers geregelt werden kann. Diese Form der spontansprachlichen Datenerhebung eignet sich insofern für eine quantitative Untersuchung von Intonation, als sie ausreichend Sprachmaterial liefert. Für die allgemeine Diskussion über die Datenerhebung zur Untersuchung von Intonation lässt sich sagen, dass diese Methode geeignetes Material für konversationelle Analysen liefert, jedoch nicht jede Form konversationeller Funktionen, wie z. B. Fragen, verlässlich und ausreichend abdeckt. Soll folglich eine möglichst große Bandbreite konversationeller Handlung und intonatorischer Formen abgedeckt werden, muss diese Methode durch zusätzliche Experimente ergänzt werden.
719Für den Experimentteil Interaktion, der ein Brettspiel beinhaltet, lässt sich festhalten, dass der geplante Ablauf gut umsetzbar war und auch der Sprachenwechsel für die Teilnehmer ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden konnte. Die Vorgehensweise eignet sich also insofern, als dass man unterschiedliche Sprachen in konversationeller Situation mit den gleichen Sprechern erhält. Auch für die Erhebung spontaner W-Fragen und Ja-Nein-Fragen kann diese Methode herangezogen werden. Auffällig ist allerdings, dass im Vergleich zum Experimentteil Gespräch zusätzlich zur Gesprächshandlung noch die Spielehandlung die Konversation begleitet und bestimmt. Das äußert sich beispielsweise in lautem Denken, Miteinbeziehen des Gesprächspartners in Handlungen, Unsicherheits- bzw. Höflichkeitsmarkierungen sowie kurzen Phrasen und vielen Abbrüchen, die sich für eine (akustische) Untersuchung nicht eignen.
720Für explorative Studien kann also festgehalten werden, dass eine kombinierte Methode aus geskripteter und ungeskripteter Sprache sinnvoll ist, um einerseits ausreichend vergleichbares Sprachmaterial und andererseits spontansprachliche Daten zu erhalten. Die Beschränkung auf eine Erhebungsmethode führt nicht nur zu schwer zu vergleichenden Daten, sondern auch zur Einschränkung in Bezug auf die konversationelle Vielfalt.
9.2 Luxemburgisches Intonationsinventar
721Die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit war, wie sich das luxemburgische Intonationsinventar gestaltet. Die formale Untersuchung legte sechs verschiedene Konturen mit sich teils überschneidenden Funktionen offen (vgl. Tabelle 32).
schematische Kontur | Funktion | |
(1) | - pragmatisch weiterweisend (PW1) - intonatorisch weiterweisend (IW1) | |
(2) | 722„Schirmmützenkontur“ | - offene Listen - syntaktisch weiterweisend - pragmatisch weiterweisend (PW2) - intonatorisch weiterweisend (IW2) - offene W-Fragen |
(3) | geschlossene Listen | |
(4) | Ja-Nein-Fragen ohne Erwartung230 | |
(5) | - neutrale abschließende Phrasen (AB1) - W-Fragen mit Erwartung an die Antwort | |
(6) | - markierte abschließende Phrasen (AB2) - Ja-Nein-Fragen mit Erwartung an die Antwort |
723Ob sich die Schirmmützenkontur (2) und die Kontur von geschlossenen Listen (3) phonologisch unterscheiden, konnte nicht geklärt werden, doch ist akustisch eine geringe Differenz nachweisbar. Diese Differenzen sind unter Umständen auf das von mehreren Sprechern und damit variable Datenmaterial zurückzuführen, weshalb es hier weiterführender Forschung bedarf. Aufgrund zusätzlicher, geringer auditiver Unterschiede zwischen beiden Formen werden bis auf weiteres zwei Konturen angenommen und die Kontur (3) deshalb nur einer Funktion zugewiesen. Ebenfalls nur in einer Funktion konnte die Form für Ja-Nein-Fragen ohne Erwartung (4) festgestellt werden.
724Bei der Analyse konnte zudem festgestellt werden, dass die funktionale Unterteilung weiterweisender Phrasen in syntaktische, pragmatische und intonatorische Weiterweisungen nicht notwendig ist. So findet sich beispielsweise kein formaler Unterschied zwischen intonatorischen und pragmatischen Weiterweisungen der Form IW1 und PW1 (1), wenn auch in der trunkierten Form nicht deutlich wurde, ob von einem Unterschied gesprochen werden kann oder nicht. Auch die zweite Form dieser weiterweisenden Phrasen (IW2 und PW2), die Schirmmützenkontur, wird gleichsam für intonatorische, pragmatische und syntaktische Weiterweisungen sowie für offene Listen eingesetzt (2). Weiterer formaler Zusammenfall liegt für die herabgestuft-fallende Form AB1 abschließender Phrasen und W-Fragen mit Erwartung (5) sowie für die hoch-fallende Form AB2 und Ja-Nein-Fragen mit Erwartung vor (6).
725Aus diesen Synkretismen lassen sich möglicherweise allgemeine Bedeutungen der Formen ableiten. So kann man davon ausgehen, dass eine fallende (nukleare) Bewegung, wie sie in abschließenden Phrasen und Fragen mit Erwartung an die Antwort vorliegt, dem Gesprächspartner eine gewisse Finalität gegenüber einem Thema oder dem Redebeitrag signalisiert. Eine (nuklear) steigende Bewegung bzw. hohe Tonhöhe des Pitchs hingegen, wie es in weiterweisenden Phrasen oder Fragen ohne Erwartung zu beobachten ist, verlangt einen Abschluss zu einem späteren Zeitpunkt. Dieser kann bereits innerhalb der nächsten Phrase erreicht werden oder aber erst nach einigen anschließenden Phrasen. Er kann vom gleichen Sprecher (bei Weiterweisungen) oder vom Rezipienten (bei Fragen) vollzogen werden.
726Die phonologische Form kann also funktionsunterscheidend sein, wenn es beispielsweise um die Differenzierung zwischen Abschluss und Weiterweisung geht, nicht aber für die Differenzierung zwischen Abschluss und Frage. Mit der Formengleichheit von Abschluss und W-Frage reiht sich das Luxemburgische in die Form-Funktion-Zuordnung vieler anderer Sprachen ein, wie Niederländisch (vgl. Haan-van Ditzhuysen 2002), Deutsch (vgl. Grice et al. 2005) oder Französisch (vgl. Delais-Roussarie et al. 2015). So gilt für das Luxemburgische, ebenso wie für die genannten Sprachen, dass kein Intonationsverlauf ausschließlich mit Fragen oder Aussagen assoziiert ist, was bedeutet, dass nicht von einer satzmodusspezifischen Intonation gesprochen werden kann. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus der jüngeren Literatur zur Intonation (Michalsky 2017).
727Dass Fragen trotzdem von abschließenden Phrasen unterschieden werden können, ist einerseits auf die Markierung auf syntaktischer bzw. lexikalischer Ebene zurückzuführen, andererseits auf der phonetischen Ebene der Intonation begründet. Der Nutzen einer (zusätzlichen) akustischen Analyse und somit der Einbezug der phonetischen Ebene bei der Analyse von Intonation kann in dieser Arbeit klar gezeigt werden: Die gleiche tonale Abfolge und die damit formal gleichen Phrasentypen können sich auf phonetischer Ebene unterscheiden und dadurch einen funktionalen Unterschied bewirken. Darunter fällt beispielsweise die hoch-fallende Kontur, die für abschließende Phrasen (AB2) und Ja-Nein-Fragen mit Erwartung verwendet wird, sich akustisch aber durch die Fallhöhe und das finale f0-Minimum unterscheidet. Diese Unterschiede äußern sich darin, dass der Verlauf der Fragen von einem höheren Gipfel herabfällt, einen stärkeren Fall aufweist und nicht gleichermaßen tief endet wie die gleiche Tonabfolge abschließender Phrasen. Dies stimmt mit der Realisierung von ,mehr Tonhöhe’ in Fragen für die meisten Sprachen überein (Bolinger 1978), was Ohala (1984) mit seinem frequency code erklärt. Neben dem Nachweis von Unterschieden in formal gleichen Verläufen, können akustische Messungen aber auch Gleichheit bestätigen, wie hier für die Schirmmützenkontur. Insgesamt ermöglichen akustische Analysen quantitative Aussagen bezüglich der phonetischen Form eines Verlaufs.
728Das Luxemburgische weist neben den strukturellen Ähnlichkeiten mit anderen Sprachen, wie der gleichen Form abschließender Phrasen und W-Fragen, auch seltenere Charakteristika auf. Dazu gehört beispielsweise der fehlende hohe Grenzton, der für eine Vielzahl an Sprachen festgestellt wurde (Gussenhoven 2002) und unter anderem im Deutschen, Englischen, Französischen und Griechischen Weiterweisung bzw. Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen wie Listen oder Auflistungen kennzeichnet. Bannert und Schwitalla (1999) beschreiben z. B. für diese Sprachen eine „Abfolge mehrmals steigender und zum Schluss fallender Intonation“ (S. 317), während das Schwedische – gleich dem Luxemburgischen – ein Plateau realisiert, um Zusammengehörigkeit zu markieren. Gleiches gilt für weiterweisende Phrasen, die im Deutsche und Französischen hoch und im Luxemburgischen mit einem Plateau mittlerer Höhe enden. Diese Beobachtung deckt sich mit der Beschreibung der hoch-mittel-gleichbleibenden Form in Weiterweisungen bei Gilles (2015).
729In Bezug auf die zwei hier untersuchten Sprechstile (geskriptet und ungeskriptet) lässt sich festhalten, dass sie den Sprechumfang beeinflussen, der sich seinerseits auf die akustischen Parameter auswirkt. So ist die Fallhöhe in geskripteter Sprache relational zum f0-Umfang geringer als in ungeskripteter und die Höhe des Verlaufs am Phrasenende (F0MinIP) bei Konturen mit mittlerer Höhe (z. B. die Schirmmützenkontur) liegt in ungeskripteter Sprache höher (ebenfalls relational zum f0-Umfang) als in ungeskripteter. Auch die Gipfelposition unterscheidet sich zwischen den Sprechstilen: in geskripteter Sprache wird der Gipfel später realisiert als in der ungeskripteten Sprache.
730Das bedeutet, selbst wenn auf den Sprechumfang zum Ausdruck relationaler Werte zurückgegriffen wird, dass die Ergebnisse nicht ohne Relativierung zwischen den Sprechstilen vergleichbar sind. Innerhalb eines Sprechstils bleiben die Verhältnisse zwischen den einzelnen Kategorien jedoch weitestgehend gleich. Nicht vom Sprechumfang beeinflusst ist die Gipfelposition, die in der geskripteten Sprache später realisiert wird (mit pragmatischen Weiterweisungen als Ausnahme), was auf eine langsamere Sprechart bzw. präzisere Artikulation sowie ausschließlich Langvokale zurückgeführt werden kann. Da der Elizitationsmodus Einfluss auf akustische Messwerte hat, können diese folglich erst unter genauer Inspektion der Erhebungsmethode interpretiert und für einen möglichen Vergleich herangezogen werden.
9.3 Interferenzanalyse
731Der Interferenzanalyse und damit der Überprüfung der Hypothesen ging ein Vergleich der intonatorischen Sprachsysteme voraus, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den luxemburgischen Konturen einerseits und den deutsche bzw. französischen Konturen andererseits abbildete. Der Vergleich zwischen dem Deutschen und dem Luxemburgischen zeigte, dass trotz der sprachlichen Nähe große formale Unterschiede zwischen den beiden Systemen bestehen. Dies betrifft zumindest die nukleare Region des Verlaufs, die in dieser Arbeit betrachtet wurde. Tatsächlich kann für fast keine der konversationellen Kategorien eine gleiche oder ähnliche nukleare Kontur gefunden werden, was einerseits daran liegt, dass das Luxemburgische keine nuklearen Tieftöne und keine hohen Grenztöne aufweist und andererseits ähnliche Konturen eine andere Funktion erfüllen. So ist beispielsweise die luxemburgische Kontur für abschließende Phrasen (AB1) auch im Deutschen zu finden, doch wird sie dort u. a. zur Bestätigung bekannter Tatsachen eingesetzt (Grice et al. 2005), während sie im Luxemburgischen lediglich den Abschluss eines Redebeitrags markiert.
732Der Vergleich zwischen dem Luxemburgischen und dem Französischen gestaltet sich etwas schwieriger als mit dem Deutschen, da das Französische auf unterschiedlichen Ebenen anders funktioniert als das Luxemburgische (und das Deutsche). Dazu gehört, dass das Französische weniger Information in der nuklearen Region und mehr Information in lexikalischen Markern trägt als das Luxemburgische. Das kann unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass der Nuklearakzent im Französischen immer auf der letzten Silbe liegt und der Tonhöhenverlauf so auf einen kurzen Zeitabschnitt beschränkt ist, um unterschiedliche Formen zu realisieren. Dadurch muss Bedeutung im Französischen (auch) auf anderen Ebenen ausgedrückt werden. Dies erschwert den Vergleich zum Luxemburgischen, das den nuklearen Akzent zwar in phrasenfinaler Position aufweisen kann, dieser aber ebenfalls in vorausgehenden Silben (z. B. auf der Pänultima oder Antepänultima) liegen kann. Aus diesem Grund wurden für den Vergleich die trunkierten Formen des Luxemburgischen herangezogen, deren Nuklearakzent auf der phrasenfinalen Silbe liegt.
733Aus diesen Unterschieden in den Intonationssystemen resultiert die Frage, ob die luxemburgischen Sprecher die Unterschiede beibehalten, wenn sie sich in der Fremdsprache ausdrücken und so einen Transfer muttersprachlicher Strukturen realisieren oder ob sie eine intonatorische Anpassung vornehmen.
734Die Hypothese 1 geht davon aus, dass intonatorische Interferenzen gebildet werden, obwohl die Sprecher in beiden Sprachen ein sehr hohes Niveau aufweisen. Diese Hypothese kann für das Deutsche eindeutig bestätigt werden. Zwar wird in einigen Kategorien (insbesondere syntaktische und pragmatische Weiterweisungen) häufiger eine Anpassung an die L2-Struktur vorgenommen, doch generell werden in allen Kategorien Interferenzen mit der luxemburgischen Intonationsstruktur realisiert.
735Für das Französische ist die Ermittlung von Interferenzen mit luxemburgischen Strukturen zwar wesentlich schwieriger, da die trunkierten Formen des Luxemburgischen den Formen des Französischen phonologisch ähnlich sind, doch werden an einigen Stellen eindeutige Interferenzen realisiert (z. B. bei abschließenden Phrasen und bei Ja-Nein-Fragen mit Erwartung), so dass die Hypothese 1 auch für das Französische bestätigt werden kann.
736Daran schließt sich die Frage an, wie sich die interferenzielle Realisierung im Deutschen und Französischen äußert. Die Hypothese 2 bezieht sich auf die unterschiedliche Realisierung von Interferenzen im Deutschen und Französischen und besagt, dass im Deutschen deutlichere Interferenzen gebildet werden als im Französischen. Dies kann anhand der Daten bestätigt werden, unterliegt aber folgenden Einschränkungen.
737Für den deutschsprachigen Teil besteht aufgrund der sehr unterschiedlichen intonatorischen Formen in vergleichbarer Funktion zwischen Luxemburgisch und Deutsch großes Interferenzpotenzial. Tatsächlich kann in allen Kategorien größtenteils intonatorische Interferenzbildung festgestellt werden. Auffällig ist, dass weiterweisende Phrasen eher an die L2-Struktur angepasst werden als abschließende oder fragende Phrasen, doch auch hier kann regelmäßig ein Transfer der muttersprachlichen Intonationsstruktur gefunden werden. Insbesondere zwei Sprecher (1m1 und 1m3) nehmen in weiterweisenden Phrasen eine Anpassung an die fremdsprachliche Struktur vor.
738Besonders interessant sind Interferenzen in abschließenden Phrasen, da hier meist die neutrale Kontur für abschließende Phrasen im Luxemburgischen (AB1) realisiert wird, obwohl auch eine Kontur (AB2) zur Verfügung stünde, die der deutschen Kontur ähnlicher ist. Für Fragen verhält es sich sehr ähnlich: Zwar konnten lediglich Fragen mit Erwartung gefunden werden, doch wurde für diese sowohl für Ja-Nein-Fragen als auch für W-Fragen ein Transfer aus dem Luxemburgischen festgestellt. Für letztere wird häufig eine zusätzliche finale Bewegung beobachtet, die im Luxemburgischen nicht konstatiert werden konnte, so dass an dieser Stelle möglicherweise teils eine Anpassung festgehalten werden kann.
739Im Vergleich zum Französischen unterscheidet sich das Luxemburgische bei abschließenden Phrasen durch den Fall auf der NA-Silbe. Ein solcher ist in den französischen Realisierungen luxemburgischer Sprecher allerdings nicht immer eindeutig zu erkennen, so dass hier von einer Anpassung gesprochen werden kann. In seltenen Fällen liegt dagegen eindeutige Interferenz vor, wenn die Sprecher die zweite fallende Kontur (AB2) des Luxemburgischen im Französischen verwenden. Weiterweisende Formen sind sich im Französischen und Luxemburgischen in dem Sinne sehr ähnlich, dass sie einen Anstieg auf der NA-Silbe aufweisen und mit einem Hochton enden. Ob es sich bei der Realisierung also um einen Transfer oder eine Anpassung handelt, ist nicht ohne weiterführende akustische Untersuchungen festzustellen. Der leichte Abfall nach dem Anstieg bei syntaktischen Weiterweisungen im Luxemburgischen kann bei den französischen Realisierungen jedoch nicht festgestellt werden, was als Zeichen für eine Anpassung gewertet werden kann. Für Fragen kann keine verlässliche Aussage getroffen werden, da nicht ausreichend Material vorliegt, um die drei bzw. vier syntaktischen Formen der Ja-Nein-Fragen und W-Fragen zu untersuchen, die sich im Französischen intonatorisch anders verhalten (können).
740Überdies kann für die Untersuchung zum Französischen festgestellt werden, dass sich die im deutschsprachigen Teil beobachteten Unterschiede zwischen den Sprechern im französischsprachigen Teil nicht darin äußern, dass einige Sprecher mehr oder weniger Transfer aufweisen, sondern eher über die unterschiedliche Verwendung anderer prosodischer Merkmale (wie Dehnung) oder der vollen Realisierung der Schwa-Silbe am Wortende, die dann ihrerseits Auswirkung auf die Intonation haben können.
741Als abschließende Erkenntnisse können daraus eindeutig gezogen werden, dass für beide Sprachen Interferenzen gebildet werden und dass andere Ergebnisse für das Deutsche vorliegen als für das Französische. Zudem werden deutlichere Interferenzen mit dem Deutschen als mit dem Französischen konstatiert. Letzteres ist u. a. darauf zurückzuführen, dass das Französische intonatorisch anders funktioniert als das Deutsche (und Luxemburgische), so dass nicht eindeutig erkannt werden kann, ob Interferenzen im Französischen vorliegen oder nicht. Ob dies auf die sprachliche Nähe bzw. Distanz zwischen den Sprachen bzw. die Angst vor Fehlern oder auf die Struktur der intonatorischen Systeme zurückzuführen ist, muss Gegenstand weiterer Forschung sein.
Fußnoten
716Für diesen Experimentteil wurde das Gesellschaftsspiel Scotland Yard herangezogen.
717Ein weiterer Grund für die Realisierung dieser Form kann auch darin gesehen werden, dass die Sprecher eine Form produzieren, von der sie glauben, sie entspreche einer typischen Frageintonation, die sie in spontaner Sprache jedoch nicht verwenden würden.
722Die schematische Abbildung der Form basiert fast ausschließlich auf den Daten der Lesesprache, im Gegensatz zu den anderen schematischen Formen.