6. Film
a) Gegenstand
Mit Sicherheit lässt sich nicht sagen, wann der erste mehrsprachige Film in die Kinos kam, denn erste mehrsprachige Elemente findet man bereits in Stummfilmen, wie z.B. die Überblendung eines französischen Zeitungsartikels zur englischen Übersetzung in THE FOUR HORSEMEN OF THE APOCALYPSE aus dem Jahre 1921.1 Allerdings gilt auch: »[W]hat’s usually of interest to us when we try to track the history of film forms is not the first time something is done but the moment when it becomes recognized as an active option. It stands forth as a strategy that can be copied, standardized, and revised.«2Bordwell, David Dieser Punkt ist sicherlich mit dem Aufkommen des Tonfilms in den 1930er Jahren erreicht. Eine starke Zuwanderung europäischer Filmschaffender nach Hollywood in den Zwischenkriegsjahren hat die dortige Filmgemeinschaft deutlich internationalisiert, und Darstellungen des Ersten Weltkriegs, wie z.B. Howard HughesHughes, Howard’ HELL’S ANGELS von 1930,3 setzen bereits mehrere Sprachen ein. Auf Grund der identitätsstiftenden Wirkung von Sprache bieten Kriegsfilme, in denen Gegner aus unterschiedlichen Sprachgemeinschaften aufeinandertreffen, ideale Voraussetzungen, um Mehrsprachigkeit einzusetzen. Spätestens mit der filmischen Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs ist die Mehrsprachigkeit dann aus dem Kriegsfilm nicht mehr wegzudenken.
Die Gesellschaft verändert sich nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell, und mit ihr die Filmlandschaft. Größere Mobilität und transportierbares Material verlagern die Drehorte aus den Studios heraus und erlauben Produktionen an den verschiedensten Orten der Welt. Agentenfilme wie die James Bond-Reihe oder Abenteuerfilme wie L’HOMME DE RIO4 treten auf den Plan und profitieren ebenso vom exotischen und kosmopolitischen Charakter der Drehorte wie von den dort verwendeten Sprachen. Die Filme erwecken die Reiselust einer Gesellschaft, die zunehmend die Mittel für diese Freizeitbeschäftigung hat, und infolge davon wird der internationale Jet Set auch selbst zum Thema vieler Filme.5 Ab Mitte der 1960er Jahre verlagern sich Produktionen für den lokalen Markt ins Fernsehen, und das Kino sieht sich angesichts dieser neuen Konkurrenz gezwungen seine Marktanteile durch andere Mittel zu erhalten. Die Filme werden für ein breiteres Publikum geschrieben und ihr Vertrieb internationalisiert. Produktionsfirmen aus Amerika drehen Filme in Europa6 und internationale Filmfestspiele bieten Plattformen, auf denen man Filme aus aller Herren Länder entdecken kann. Das definitive Ende des Studiosystems beschleunigt die Entstehung unabhängiger Studios, wodurch auch außergewöhnlichere Filme in den Kinos gezeigt werden, die mit den gängigen Konventionen der Zeit brechen. Die Globalisierung, die die Berührung mit anderen Sprachen verstärkt, und die ständige Weiterentwicklung von Genrekonventionen führen schließlich dazu, dass der Sprachgebrauch in den Filmen immer weniger auf Stereotypen aufbaut (BleichenbacheBleichenbacher, Lukasr, Multilingualism in the Movies, 219–222).
b) Grundproblematik
Kaum möglich ist es, im Rahmen dieses Beitrags einen Überblick über die Mehrsprachigkeit in der gesamten Filmgeschichte zu geben. Das Korpus beschränkt sich daher bis auf einige wenige Ausnahmen auf das nordamerikanische und europäische Kino, wobei die Beispiele hauptsächlich der Veranschaulichung dienen. Sie sind keineswegs die einzigen, in denen die im Folgenden beschriebenen Verfahren filmischer Mehrsprachigkeit zur Anwendung kommen.
Filmische Erzählung steht in einem künstlerischen Verhältnis zur außerfilmischen Wirklichkeit und bedient sich ihrer, um Geschichten zu erzählen. Die möglichen Erzählwelten und die darin stattfindende Handlung werden von Produzenten und Rezipienten im jeweiligen kulturellen und genrespezifischen Kontext bestimmt. Was in einem indischen Bollywoodfilm plausibel erscheint, muss nicht notwendigerweise auch für einen amerikanischen Actionfilm gelten. Obwohl Wahrscheinlichkeit und Plausibilität für den Zusammenhalt einer sinnhaften Erzählung unerlässlich sind,1Bordwell, David darf man nicht vergessen, dass es sich bei Spielfilmen um fiktionale Erzählungen handelt und dass die Gesetzmäßigkeiten der Erzählung generell Vorrang gegenüber der Wirklichkeit haben. Trotz diverser Einschränkungen durch äußere und innere Faktoren wie z.B. Zielpublikum, Sprachen in der Vorlage, Vorgaben durch Handlungsort oder Figuren, behalten die Filmemacher einen gewissen Spielraum, wenn es darum geht, zu entscheiden, welche Sprachen in einem Film vorkommen und welche Funktionen diese im Rahmen der Handlung einnehmen. Da ihnen grundsätzlich die Option offensteht, einen einsprachigen Film zu drehen, signalisiert der Einsatz von mehreren Sprachen in einem Film, dass hier gegenüber anderen Mitteln mehr oder anderes erreicht werden kann.
Es gibt verschiedene Ebenen der filmischen Mehrsprachigkeit, die man nach Graden der expliziten und impliziten Mehrsprachigkeit aufteilen kann, angefangen bei solchen, in denen alle Sprachen, die in der Handlung vorkommen, gesprochen werden, bis hin zu Filmen, in denen die vorkommenden Sprachen übersetzt werden. Die Taxonomie von Lukas BleichenbachBleichenbacher, Lukaser verschafft einen guten Überblick über die möglichen Fälle (BleichenbacherBleichenbacher, Lukas, Multilingualism in the Movies, 24; vgl. das Schema in V.7). In Filmen, in denen die Sprachen übersetzt werden, hören die Zuschauer nur eine Sprache, obwohl die Figuren nicht notwendigerweise alle die gleiche Sprache sprechen. In manchen Fällen wird die eigentliche Sprache durch Namen und Anreden oder besonders ausgeprägte Akzente angedeutet, in anderen Fällen wird versucht den Wechsel zu einer einzigen Sprache mit erzählerischen oder stilistischen Mitteln zu rechtfertigen.2
Sprache kann sowohl visuell als auch akustisch in Filmen vorkommen und dabei sowohl als Teil des Settings als auch als Teil der Handlung eines Films eine Rolle spielen. Das Setting ist Teil der Mise-en-Scène eines Films und umfasst den sichtbaren Hintergrund sowie die Requisiten. Als linguistisches Setting kann man die sprachliche Landschaft einschließlich der Geräuschkulisse und aller Requisiten, die mit Sprache zu tun haben, bezeichnen. Geschriebene Sprache findet man hauptsächlich in Form von Hinweis- oder Ladenschildern, Plakaten, oder in Zeitungen, Notizen, intradiegetischen Untertiteln,3 auf Schultafeln etc. Die Relevanz des schriftsprachlichen Settings für den Handlungsverlauf ist sehr unterschiedlich und hängt davon ab, wie die Figuren damit interagieren. In allen Fällen trägt sie jedoch zur Gesamtstimmung des Films bei. Je detailreicher und naturgetreuer das Setting die Stimmung des jeweiligen Ortes der Handlung wiedergibt, umso glaubwürdiger wird die Handlung für die Zuschauer. Wenn Figuren sich an Orten wiederfinden, in denen eine andere Sprache gesprochen wird, ist es durchaus plausibel, dass sich im Hintergrund Wörter und Schriftzeichen in dieser Sprache befinden. Insbesondere dann, wenn diese Sprachen in anderen Alphabeten oder Schriftzeichen geschrieben sind, als es der Zuschauer gewohnt ist, können die mit den Zeichen verbundenen Konnotationen eine Rolle spielen. Das linguistische Setting kann wichtige Hinweise für den Handlungsverlauf liefern, indem es dem Zuschauer die Orientierung in Raum und Zeit erleichtert oder Figuren charakterisiert. So erinnern deutschsprachige Plakate und Hinweistafeln den Zuschauer in GERMANIA ANNO ZERO4 daran, dass die Handlung in Berlin spielt, obwohl im Film Italienisch gesprochen wird. Die sprachliche Einbettung bleibt auch bei synchronisierten Fassungen erhalten und ist in manchen Fällen so relevant für die Handlung, dass Teile davon untertitelt werden. Da viele dieser Zeichen im Hintergrund bleiben, ist ihre Wirkung eher implizit. Solche Primingeffekte5Myers, David G. tragen zur Stimmung des Films bei, indem sie Assoziationen zum Fremden und Andersartigen aktivieren und die Zuschauer darauf vorbereiten, dass die Dinge in dieser Umgebung möglicherweise etwas anders als gewohnt ablaufen. Dieser Effekt funktioniert unabhängig davon, ob die Zuschauer perfekt verstehen, was in der anderen Sprache ausgedrückt wurde, oder ob die Sätze und Zeichen grammatikalisch und orthographisch korrekt sind, ja sogar, ob sie überhaupt einen Sinn ergeben.
Obwohl Film eher als visuelles Medium verstanden wird, taucht Sprache vorwiegend in gesprochener Form auf. Dabei können Sprachen in unterschiedlichen Konstellationen aufeinandertreffen. Eine einsprachige Figur kann ebenso auf eine anderssprachige wie auch auf eine mehrsprachige Figur treffen, die auch die eigene Sprache spricht, oder auf eine mehrsprachige Figur, die ihre Sprache nicht spricht. Mehrsprachige Figuren können auf andere mehrsprachige Figuren treffen und sich untereinander in ihrer Muttersprache unterhalten, eine Sprache sprechen, die entweder für eine der Figuren eine Fremdsprache ist oder für beide. Mehrsprachige Filme, die ohne mehrsprachige Figuren auskommen, sind sehr selten.6 Darüber hinaus gibt es Figuren, die mehrere Sprachen verstehen, aber aus den verschiedensten Gründen nur eine Sprache sprechen.7 Sprachen müssen zudem nicht an eine Figur gebunden sein, sondern können als Tonbandaufnahme, Lautsprecherdurchsage, im Radio, Fernsehen und Film, als Gespräch oder Geräusch im Hintergrund, intradiegetische Musik auf Band oder live auftauchen. Auch für die gesprochene Sprache kann das Andersartige der Sprache bereits zur Stimmung des Films beitragen. Gesprochene Sprache, als Hauptträger der Mehrsprachigkeit, erfüllt den Großteil der Erzählfunktionen der Mehrsprachigkeit. Die Gründe hierfür liegen im Medium selbst. Durch die allgemeine Abwesenheit einer beschreibenden Erzählerstimme unterscheidet sich Film wesentlich von der Literatur. Tendenziell lässt sich sagen, dass im Film konkretere Mittel eingesetzt werden, um eine Figur als Mitglied einer Sprachgemeinschaft zu charakterisieren. Zu diesem Zweck reicht es, wenn eine Figur ein paar Worte in der jeweiligen Sprache spricht. Hierdurch werden mehrsprachige Elemente notwendigerweise häufiger in audiovisuelle und darstellende Medien eingebaut. Dadurch, dass die akustische Umsetzung der verschiedenen Sprachen vom Medium übernommen wird, müssen die Zuschauer/-hörer nicht, wie die Leser, die fremden Zeichen selbst entziffern und interpretieren, sondern sind ihrem Klang ohne großen Aufwand unmittelbar ausgesetzt. Gegenüber der Literatur befördert dieser Unterschied den Einsatz einer wesentlich breiteren Palette an mehrsprachigen Elementen und erklärt möglicherweise auch, warum Mehrsprachigkeit im Film erst mit dem Aufkommen des Tonfilms größere Verbreitung fand.
c) Verfahren
Sprache ist das Hauptverständigungsmittel der Figuren in einem Film und entsprechend viel hängt davon ab, ob die Figuren einander und ob die Zuschauer die Figuren verstehen können. Ein perfektes sprachliches Verstehen der Figurenrede ist jedoch nicht immer notwendig, um der Handlung folgen zu können. Je nach Wichtigkeit der Figur kann selbst Figurenrede zum sprachlichen Hintergrund gehören und mehr zur Gesamtstimmung als zur eigentlichen Handlung beitragen. In manchen Fällen ist das Verständnis einer Fremdsprache unmittelbar an eine Figur gekoppelt. Das mehrsprachige Umfeld im Paris der Zwanziger Jahre, das in MIDNIGHT IN PARIS1 im Mittelpunkt steht, bleibt ohne Untertitel, weil die Hauptfigur die Sprachen nicht versteht. Obwohl manche Passagen von anderen Figuren gedolmetscht werden, liegt die Hauptfunktion in der ästhetischen Darbietung der Klangqualität der verschiedenen Sprachen. In THE 13TH WARRIOR2 wird die Sprache der Wikinger nach und nach ins Englische übersetzt, um den Lernprozess der Hauptfigur zu veranschaulichen, und im HITCHHIKER’S GUIDE TO THE GALAXY3 wird das Vogonische mit dem Einsetzen eines Babelfisches gleichzeitig für die Hauptfigur und die Zuschauer verständlich. Auf der Figurenebene schaffen sprachliche Unterschiede ein Bewusstsein für das Andere und führen (bewusst oder unbewusst) zu einer Aufteilung nach sprachlichen Gruppen. Sprache wird hierdurch zu einem eleganten und effizienten Mittel, um kulturelle Differenzen darzustellen. Diese Differenzen sind z. T. integraler Bestandteil der Konventionen bestimmter Filmgenres, die vor allem im amerikanischen Kino eine große Rolle spielen (vgl. BordwellBordwell, David/ThompsonThompson, Kristin, Film Art, 328–348). In amerikanischen Actionfilmen z.B. gibt es oft eine Gruppe internationaler Terroristen, deren Fremdsprachengebrauch sie zusätzlich vom amerikanischen Helden abgrenzt.4 Im Genre der ›Buddy Cop Comedy‹ werden die persönlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den Hauptfiguren mit Hilfe der Sprachen zusätzlich verschärft.5 In Kriegsfilmen helfen Sprachen und Dialekte, die beteiligten Parteien zu charakterisieren und klarer voneinander zu trennen. Filme, in denen zwei verfeindete Gruppen, freiwillig oder gezwungen, miteinander kooperieren, heben durch den Einsatz verschiedener Sprachen den Ausnahmecharakter dieser Situation hervor.6 Filme wie BABEL7 machen sich dieses Prinzip zu Nutze, um zu zeigen, dass die Schicksale der Menschen, trotz verschiedener Sprachen, im Grunde genommen sehr ähnlich sein können. Mehrsprachigkeit kann letzten Endes auch als unproblematischer Teil des jeweiligen sozialen Umfelds dargestellt werden.8 Je nachdem, welche Rolle Sprachen im Film einnehmen und ob Einsprachigkeit als Norm dargestellt wird, können mehrsprachige Figuren, unabhängig davon, ob der Zuschauer sie versteht oder nicht, besonders kompetent wirken9 – und einsprachige Figuren im Gegenzug dazu in manchen Situationen schnell hilflos.10 Die unmittelbare Nachvollziehbarkeit dieser Hilflosigkeit angesichts fremder Sprachen macht dieses Mittel sehr effizient. Muttersprachliche Kompetenz in mehr als einer Sprache gilt als Ausnahme,11Riehl, Claudia Maria was für Figuren, die mehrere Sprachen akzentfrei sprechen oder eine Hoch- bzw. Prestigesprache oder eine situationsrelevante Sprache perfekt beherrschen, bedeuten kann, dass sie insgesamt souveräner erscheinen. Figuren, die die gleiche Sprache oder mit dem gleichen Akzent sprechen wie die Zuschauer, kommen diesen mit einiger Wahrscheinlichkeit sympathisch vor.
Die Filme unterscheiden sich auch nach der Art von Sprache, die sie einsetzen. Natürliche Sprachen, die auch heute noch gesprochen werden, machen den überwiegenden Teil der vorkommenden Sprachen aus. Man kann hier davon ausgehen, dass ein Teil der Zuschauer in der Lage ist, Dialoge in diesen Sprachen zu verstehen. Hierzu zählen Dialekte, Soziolekte und Gebärdensprachen. Bei sog. ›toten‹ Sprachen, wie z.B. dem Latein, dem Altgriechischen oder im Falle von Hieroglyphen, ist es wahrscheinlich, dass nur ein geringer Teil der Zuschauer diese Sprachen versteht. Diese Sprachen werden häufig als Hindernis für den weiteren Verlauf der Handlung eingesetzt, das durch die Sprachkompetenz einer der Figuren überwunden werden kann.12 So erlauben es Indiana Jones seine Lateinkenntnisse, die antiken Artefakte in RAIDERS OF THE LOST ARK13 zu entziffern. Es handelt sich gewöhnlich um Prestigesprachen. In Science-Fiction oder Fantasyfilmen können fiktionale Sprachen auftauchen. Sie verleihen den Filmen ein gewisses exotisches Lokalkolorit und lassen die Filmwelt damit lebendiger wirken. In den Fällen, in denen die Laute über sinnloses Grunzen14 hinausgehen, können sie das Werk eines begeisterten Linguisten sein, wie im Falle von J.R.R. TolkienTolkien, J.R.R., oder das Ergebnis von Auftragsarbeiten wie im Falle von AVATAR.15 Fiktionale Sprachen können ebenfalls die Handlung weitertreiben16 oder als Ziel der Handlung fungieren, wie im Falle von CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND.17 In diesem ohnehin schon mehrsprachigen Film wird Musik als Sprache eingesetzt, um mittels einer bestimmten Tonfolge mit Außerirdischen zu kommunizieren. Sofern es überhaupt möglich ist, haben die Zuschauer in den genannten Fällen nur einen leichten Vorteil, wenn sie alle Sprachen verstehen. Wenn das Verständnis fremder Sprachen jedoch unerlässlich für das Verständnis der Handlung ist, werden meistens Untertitel eingesetzt, um die Informationsverteilung zu Gunsten des Zuschauers auszugleichen. Solche Untertitel sorgen dafür, dass die Zuschauer mindestens genauso viel vom Gesprochenen verstehen, wie die Figuren selbst; in vielen Fällen wissen sie durch die Untertitel sogar deutlich mehr als alle handelnden Figuren. Je nach erwünschtem Effekt haben fremdsprachige Sequenzen in der Kinofassung entweder durchgehend,18 nur in bestimmten Situationen19 oder gar keine Untertitel.20 Durch den Einsatz von extradiegetischen Untertiteln entsteht eine besondere Form der visuellen Mehrsprachigkeit.
Die Kombination von Mehrsprachigkeit und Untertiteln erlaubt es den Filmemachern zu bestimmen, wie sich das Wissen der Zuschauer vom Wissen der Figuren unterscheidet (BordwellBordwell, David/ThompsonThompson, Kristin, Film Art, 97). Wenn der Film den Zuschauern mehrere Sprachen verständlich macht, verfügen sie womöglich über Informationen, die den Figuren unbekannt sind. Eine solche Asymmetrie kann Spannung erzeugen, wie sie Alfred HitchcockHitchcock, Alfred im Gespräch mit François TruffautTruffaut, François beschreibt. Hitchcock verhandelt hier die beiden Begriffe ›Surprise‹ und ›Suspense‹, indem er eine Szene beschreibt, in der zwei Figuren um einen Tisch sitzen, unter dem eine Bombe liegt. Surprise entsteht, wenn die Bombe ohne das Wissen der Zuschauer plötzlich hochgeht. Suspense wird dadurch erzeugt, dass die Zuschauer im Gegensatz zu den Figuren wissen, dass eine Bombe unter dem Tisch liegt und wann sie explodieren wird. Während der gesamten Szene gilt ihre ganze Aufmerksamkeit so der Frage, ob die Figuren es rechtzeitig merken.21Truffaut, FrançoisHitchcock, Alfred Im Falle der Mehrsprachigkeit müssen die Zuschauer wissen, welche Figuren welche Sprachen verstehen, damit sie nachvollziehen können, wer zu einem gegebenen Zeitpunkt über welche Informationen verfügt.
Wie man mit Hilfe von Mehrsprachigkeit Suspense herstellt, kann man an Hand der Anfangssequenz von INGLOURIOUS BASTERDS veranschaulichen. Ein mehrsprachiger Nazioffizier besucht einen mehrsprachigen französischen Bauern, der eine jüdische Familie unter seinem Haus versteckt. Die Unterredung beginnt auf Französisch, das von den Juden verstanden wird, und wechselt ins Englische, die Hauptsprache des Films, das von ihnen nicht verstanden wird. Durch den Sprachwechsel sind die Zuschauer in der Lage, den Verrat auf Englisch zu verstehen, und wissen dadurch mehr, als die versteckten Juden. Die Zuschauer verstehen, dass die Lage der Juden sich mit jeder Minute, die sie warten, weiter verschlechtert, und warten so gespannt auf den Ausgang der Situation. Statt einer kurzen, überraschenden Schießerei erlebt man eine minutenlange Nervenprobe. In ähnlicher Weise beruht die Spannung, die der zweiten Hälfte von LA VITA È BELLA22 zu Grunde liegt, auch auf einer asymmetrischen Informationsverteilung, die mittels Mehrsprachigkeit erzeugt wird. Bei der Ankunft im Lager sollen den Insassen, zu denen auch die Hauptfigur Guido und ihr Sohn gehören, die Lagerregeln erklärt werden. Ein einsprachiger deutscher Soldat benötigt hierfür einen Übersetzer, den er unter den Insassen zu finden hofft. Um zu verhindern, dass sein Sohn die schmerzhafte Wahrheit über das Konzentrationslager durch einen kompetenten Übersetzer erfährt, meldet sich der einsprachige Guido freiwillig als Übersetzer und erfindet kurzerhand ein Spiel, bei dem man sich an gewisse Regeln halten muss, um zu gewinnen, anstatt die Erläuterungen des Soldaten korrekt zu übersetzen. Weder der deutsche Soldat, noch Guidos Sohn sind in der Lage, die falsche Übersetzung als solche zu erkennen. Aufgrund der Untertitel sind die Zuschauer sich der tragischen Komik der Situation bewusst und wissen genau, welche Rollen die einzelnen Figuren in dieser Lügengeschichte spielen, so dass jede Situation, in der sie aufzufliegen droht, zusätzliche Spannung erzeugt. In manchen Fällen lässt sich eine solche latente Spannung auch ohne Untertitel erzeugen. Die Hauptfiguren in LA GRANDE VADROUILLE23 sind während des Films in Frankreich auf der Flucht vor den Deutschen. An mehreren Stellen geben sie vor, zu einer Sprachgruppe zu gehören, deren Sprache sie nicht sprechen: ein englischer Soldat reist im Zug als Franzose, Franzosen und Engländer verkleiden sich als deutsche Soldaten. Die latente Spannung rührt daher, dass sie bei jeder Begegnung mit einem Sprecher der anderen Sprache Gefahr laufen, bloßgestellt zu werden.
Dolmetscher erlauben es einem Film ebenfalls ohne Untertitel auszukommen und dennoch die Möglichkeiten der Mehrsprachigkeit auszuschöpfen, sei es um die Spannung hinauszuzögern, wie in der UN-Debatte zwischen Amerikanern und Russen in THIRTEEN DAYS,24 oder um die Verwirrung und Hilflosigkeit der Figuren zu verdeutlichen, wie bei den viel zu knappen Übersetzungen der Regieanweisungen in LOST IN TRANSLATION.25 Der Wunsch zu verstehen und verstanden zu werden trägt maßgeblich zur Spannung bei und kann sogar zum Hauptmotiv eines Films werden. HELL IN THE PACIFIC26 erzählt die Geschichte eines amerikanischen und eines japanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, die beide die Sprache des anderen nicht sprechen und trotzdem zusammenarbeiten müssen, um die Insel, auf der sie gestrandet sind, verlassen zu können. Das latente Misstrauen gegenüber der anderen Sprachgruppe und die allgemeine Unsicherheit hinsichtlich der Aufrichtigkeit des anderen erzeugt zusätzliche Spannung.
d) Schlussbemerkungen
Mehrsprachigkeit in Filmen hat sich seit ihren Anfängen kontinuierlich weiterverbreitet. Interessanterweise ist sie nicht auf sog. ›ernste‹ Filme beschränkt, sondern kommt quer durch alle Filmgenres und selbst in großen Hollywoodblockbustern oder reinen Unterhaltungsfilmen vor.1 Mehrsprachigkeit bringt in Filmen eine Reihe von Vorteilen mit sich, die man durch andere Mittel nur schwer erreichen könnte. Die Tatsache, dass die darstellende Ebene vom Medium selbst abgedeckt wird, erleichtert selbst den Einsatz von eher unbekannten Sprachen wie Navajo,2 Pawnee3 oder Jul’hoan.4 Angesichts der ausgedehnten Bandbreite der Mehrsprachigkeit stellt letzten Endes jeder einzelne Film einen Spezialfall dar, den es zu analysieren gilt.
Literatur
Bleichenbacher, LukasBleichenbacher, Lukas, Multilingualism in the Movies. Hollywood Characters and their Language Choices, Tübingen 2008.
Bordwell, DavidBordwell, David/Kristin ThompsonThompson, Kristin, Film Art. An Introduction, New York 2010.