V. Gattungs- und medienspezifische Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit
1. Versform
a) Beschreibung des Verfahrens
Sprachdifferenzen und Mehrsprachigkeit spielen in Texten, die in Versform abgefasst sind, auf vielfältige Weise eine Rolle. Im Folgenden geht es jedoch in erster Linie um solche Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit, zu denen die Versform einen spezifischen Beitrag leistet. Dies ist z.B. der Fall, wenn aus unterschiedlichen Sprachräumen stammende Formen des Versbaus in einem Verstext zugleich zur Anwendung kommen.
In der europäischen Literaturgeschichte entwickelt sich die Versform bis ins späte 19. Jahrhundert in erster Linie aus der Ausformung metrischer Schemata – jedenfalls dann, wenn man den Reim in die Metrik einbezieht. Damit ist der Versbau unmittelbar an die phonologischen Regularitäten der jeweils beteiligten Sprachsysteme gebunden. Zugleich ist es gerade der bloße Schematismus der Metrik, der die Übertragung von Versformen über Sprachgrenzen hinweg ermöglicht (siehe hierzu BuniaBunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik, 207–215). Es kommt so zu vielgestaltigen Austauschprozessen, die als Manifestationen literarischer Mehrsprachigkeit in einzelnen Verstexten aufgefasst werden können. Ab dem späten 18. Jahrhundert kann man für den deutschen Sprachraum davon ausgehen, dass sich Lyrik als eigenständiger Gattungszusammenhang konstituiert, der die Zuständigkeit für den Versbau zunehmend für sich beansprucht. Von nun an etablieren sich mehr und mehr auch solche Arten des Versbaus, die sich nicht auf metrische Schemata zurückführen lassen, sondern andere Verfahren der sinnfälligen Segmentierung der Rede benutzen, um versförmige Gliederungen zu erzeugen (beispielsweise durch typographische Auszeichnung). Dadurch werden auch neue Formen des Einsatzes von Sprachdifferenz für die Zwecke des Versbaus möglich. Die konkrete Analyse des mehrsprachigen Versbaus muss die unterschiedlichen Strukturebenen, auf denen die Versbildung stattfindet, daher genau unterscheiden (siehe die Abschnitte c und d).
Zunächst kann zwischen solchen Verfahren versbaulicher Mehrsprachigkeit differenziert werden, die sich auf die Übernahme formal-ästhetischer Schemata aus anderen sprachlichen Zusammenhängen beschränken, und solchen, die sprachliche Elemente oder sprachbauliche Strukturen anderer Idiome übernehmen und für den Versbau nutzen. Es wird vorgeschlagen, hier von latenter und manifester Mehrsprachigkeit des Versbaus zu sprechen. Latente Mehrsprachigkeit des Versbaus liegt z.B. dann vor, wenn der deutsche Vers aus den romantischen Sprachen den Endreim übernimmt. Mit manifester Mehrsprachigkeit des Versbaus haben wir es hingegen zu tun, wenn in einem deutschsprachigen Gedicht französische Wörter auftauchen und die metrische Struktur und das Reimschema irritieren.
Allerdings lässt die Unterscheidung zwischen latenter und manifester Mehrsprachigkeit des Versbaus Abstufungen zu. So ist z.B. fraglich, inwieweit die syntaktischen Auffälligkeiten, die bei Friedrich HölderlinHölderlin, Friedrichs Versuchen auftreten, griechische Odenversmaße im Deutschen zu benutzen, Extravaganzen des Autors oder sprachstrukturelle Übernahmen aus dem Griechischen sind. Weiter wird man auch davon ausgehen müssen, dass anfangs als anderssprachig erkennbare Strukturmuster – beispielsweise der Endreim im Deutschen – im Laufe der Zeit diese Konnotation vollständig verlieren. Sowohl manifeste als auch latente Formen des mehrsprachigen Versbaus haben in der Regel kulturpolitische Konnotationen oder folgen sogar dezidiert kulturpolitischen Strategien – wie die Verwendung antiker oder ›exotischer‹ Versmaße in modernen Sprachen zeigt.
b) Sachgeschichte
Die Geschichte des mehrsprachigen Versbaus steht einerseits in Bezug zur sprachgeschichtlichen Entwicklung; andererseits handelt es sich um einen bedeutenden Strang der Entwicklung der (neuzeitlichen) Lyrik als Gattungszusammenhang. Deren hochkomplexes Zusammenspiel müsste aus der Perspektive vieler verschiedener Sprachen und literarischer Traditionen dargestellt werden. Exemplarisch werden im Folgenden mehrsprachige Versbauformen aus dem Blickwinkel der europäischen Literaturgeschichte rekonstruiert, insbesondere für den deutschsprachigen Raum.
Die Erforschung der Geschichte des Versbaus in den indoeuropäischen Sprachen findet im Grenzgebiet zwischen historischer Linguistik und Literaturwissenschaft statt. Der Versbau wird so einerseits in Bezug gesetzt zur Entwicklung der phonologischen Struktur der jeweiligen Sprache(n). So besteht z.B. ein Zusammenhang zwischen dem Wegfall der Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen im spätantiken Latein und der Entwicklung des silbenzählenden Versbaus im Mittellateinischen. Andererseits spielt die Rekonstruktion literarischer Einflüsse eine zentrale Rolle. So wird etwa der syllabisch-akzentuierende Versbau der germanischen Sprachen in der Neuzeit auch im slawischen Sprachraum übernommen, wobei kulturpolitische Motivationen eine zentrale Rolle spielen. Mit Blick auf den mehrsprachigen Versbau sind aus dieser Perspektive zumindest die folgenden literaturgeschichtlichen Stationen von Interesse (im Anschluss an die Darstellung von GasparovGasparov, Michail L., History of European Versification):
(1) Im zweiten und dritten Jahrhundert v. Chr. übernimmt das Lateinische den quantitierenden Versbau des Griechischen. Dieses metrische System unterscheidet Silben nach Länge und Kürze, wobei die Länge nicht nur von der Länge der Vokale abhängt, sondern sich auch aus den auf einen Vokal folgenden Konsonanten ergeben kann (Positionslänge). Weiter gründet es auf der Identifikation von Versfüßen, setzt also den Vers aus einzelnen, einander äquivalenten Segmenten zusammen; daher Namen wie ›Hexameter‹ für einen Vers, der aus sechs einander äquivalenten Versfüßen besteht. Schließlich können in bestimmten Positionen zwei kurze Silben eine lange Silbe vertreten, was von entscheidender Wichtigkeit gerade für den Hexameter ist. So sind beispielsweise die ersten fünf Füße des ersten Verses der OdysseeHomer (8./7. Jhd. v. Chr.) durchgängig Daktylen:
Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ (āndră mŏ[i] | ēnnĕpĕ | mūsă, || pŏ|lӯtrŏpŏn, | hōs mălă | pōllă).
Demgegenüber sind im zweiten Vers die ersten beiden Füße Spondeen:
πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε· (Plānchthē [e]|peī Troī|ēs || hĭĕ|rōn ptŏlĭ|ēthrŏn ĕ|pērsĕn).1Homer
Die Übernahme des quantitierenden Versbaus ins Lateinische zeugt einerseits von den einsetzenden Bemühungen der Römer, das Lateinische zu einer Kultursprache auf Augenhöhe mit dem Griechischen auszubauen. Insofern ist die latente Mehrsprachigkeit des lateinischen Verses Indikator eines starken kulturpolitischen Impetus. Andererseits ist aus der Perspektive der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung interessant, dass sich z.B. die Umsetzung des Hexameters im Lateinischen von derjenigen im Griechischen unterscheidet, und zwar im Umgang mit der für den Hexameter charakteristischen Zäsur im dritten Versfuß, also einer obligatorischen Wortgrenze, die entweder hinter die erste Silbe fallen kann (männliche Zäsur) oder (im Falle eines Daktylus) hinter die zweite (weibliche Zäsur). Während das Griechische weibliche Zäsuren bevorzugt, finden sich im Lateinischen mehr männliche Zäsuren. Der Grund dafür liegt nach Michail L. GasparovGasparov, Michail L. darin, dass sich im Lateinischen – anders als im Griechischen – bei der Verwendung männlicher Zäsuren im letzten Wort vor dem Versende ein Zusammenfall von Länge bzw. Hebung und Wortakzent ergibt, nicht allerdings im Wort vor der Zäsur. Dadurch werden Zäsur und Versende hörbar unterschieden (GasparovGasparov, Michail L., History of European Versification, 85–87). So finden sich z.B. in der invocatio zu OvidOvids Metamorphoses (um 5 n. Chr.) ausschließlich männliche Kadenzen (hier durch Kursivdruck markiert; der Wortakzent liegt jeweils auf der ersten markierten Silbe):
Īn nŏvă | fērt ănĭ|mūs || mū|tātās | dīcĕrĕ | fōrmās
cōrpŏră: | dī, coē|ptīs || (nām | vōs mū|tāstĭs ĕt | īllās)
ādspī|rātĕ mĕ|īs || prīm|āqu[e] ăb ŏ|rīgĭnĕ | mūndī
ād mĕă | pērpĕtŭ|ūm || dē|dūcĭtĕ | tēmpŏră | cārmĕn!2OvidAlbrecht, Michael von
(2) Im Hochmittelalter übernimmt die Dichtung in den Volkssprachen Verfahren der Versbildung, die das Lateinische nach der Rückbildung der Differenz zwischen langen und kurzen Vokalen in der gesprochenen Sprache etabliert hatte. Dabei handelt es sich zum einen um das Prinzip der Silbenzählung, zum anderen um die Markierung des Versendes durch Reimstrukturen – beginnend mit bloßen Assonanzen bis hin zum vollen Reim. Für den Reim wird überdies die These vertreten, er sei aus dem Arabischen in die europäische Literatur übernommen worden, so dass gereimte Verse auch in diesem Sinne zunächst eine latent mehrsprachige Dimension haben (MenocalMenocal, Maria Rosa, The Arabic Role in Medieval Literary History, 88). Reim und Silbenzählung liegen in unterschiedlichen Ausprägungen dem Versbau in den romanischen Literaturen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein (und darüber hinaus) zugrunde. Besondere Prägnanz erhält im Französischen dabei der Alexandriner, ein 12- oder 13-silbiger gereimter Vers mit einer Zäsur nach der sechsten Silbe, der, wie ein bekannter Beispielvers aus BoileauBoileau, Nicolass L’art poétique (1674) zeigt, seine Sinnfälligkeit durch den Wechsel zwischen den (in der Regel syntaktisch erzeugten) Zäsuren in der Versmitte und den Reimen am Versende erhält:
Que toujours, dans vos vers || le sens coupant les mots,
Suspende l’hémistiche, || en marque le repos.3Boileau, Nicolas
Zumindest teilweise dürfte die Anlehnung des romanischen Versbaus an (mittel-)lateinische Vorbilder kulturpolitisch motiviert sein, denn auch wenn diese Vorbilder im Lateinischen neu waren, konnte die Sprache auf eine eindrucksvolle literarische Tradition zurückblicken. Ähnlich ist ein weiteres Kernelement des französischen Versbaus, das Hiatverbot, als Versuch gedeutet worden, am kulturellen Prestige des klassischen lateinischen Versbaus zu partizipieren (BuniaBunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik, 167–171). Da das Hiatverbot im gesprochenen Französisch nicht existiert, würde es sich hierbei um ein bleibendes Element latenter Mehrsprachigkeit des Versbaus handeln, also um eine Struktur, deren anderssprachige Herkunft zwar nicht mehr bewusst ist, die aber dennoch eine gewisse innersprachliche Fremdheit markiert.
(3) Zu verschiedenen Zeiten kommt es zu Übernahmen von Versbaustrukturen aus dem Mittellateinischen bzw. aus den romanischen Sprachen (vor allem aus dem Französischen) in den germanischen (insbesondere den deutschen und englischen) Versbau. So findet sich in Otfrids von WeißenburgOtfrid von Weißenburg Liber evangeliorum (um 870) eine Überformung des althochdeutschen stabreimenden Langverses durch den Reim:
Lúdouuıg ther ſnéllo · theſ uuíſduameſ fóllo ·
er óſtarrıchı ríhtıt ál · ſo Fránkono kúnıng sca;
Vbar Fránkono lant · ſo gengıt éllu ſın gıuualt,
thaz ríhtıt, ſo ıh thır zéllu · thıu sın gıuuált ell4Otfrid von WeißenburgKleiber, Wolfgang
Dies ist umso bedeutsamer, als der Text auch seinem Inhalt nach eine sprachliche Grenzüberschreitung vollzieht: Es handelt sich nämlich um eine Darstellung der Evangelien in der Volkssprache. Literaturgeschichtlich folgenreicher ist demgegenüber die Übernahme des silbenzählenden Prinzips aus dem Französischen und seine Kombination mit dem bereits im Hochmittelalter im Deutschen gebräuchlichen akzentuierenden Versbau. Ist zuvor für den Vers einzig und allein die Zahl der betonten Silben entscheidend, so wird nun auch darauf geachtet, dass die Zahl der Silben eines Verses konstant bleibt. Auch hier hat man es wahrscheinlich mit einer kulturpolitisch motivierten Strukturübernahme zu tun, denn die altfranzösische höfische Literatur musste gegenüber der weniger entwickelten deutschsprachigen Tradition als außerordentlich fortschrittlich gelten. In Spätmittelalter und Früher Neuzeit gerät das silbenzählende Verfahren des Versbaus wieder weitgehend in Vergessenheit. Ein Beispiel hierfür ist der Meistersang, hier vorgestellt am Beispiel einiger Verse von Hans SachsSachs, Hans:
VOR zéyten áls ich Júnger wás
Da ích das grós Wéldtbuch durch lás
Wíe vil ínsel thét erfáren
Chrístoff ColúmbusKolumbus, Christoph vór vil járen5Sachs, Hans
Konstant sind in diesen Versen die Hebungszahl und der Paarreim, Hebungspralle und Füllung hingegen sind variabel. Gefestigt und expliziert wurde die Kombination von akzentuierendem und silbenzählendem Versbau im Zuge der sog. OpitzOpitz, Martin’schen Versreform im 17. Jahrhundert. Martin OpitzOpitz, Martin wird zwar immer wieder das Verdienst zugesprochen, das Prinzip des akzentuierenden Versbaus im Deutschen mehr oder weniger erfunden zu haben. Dies trifft sicher nicht zu. Vielmehr erkannte OpitzOpitz, Martin den Nutzen der Zweiwertigkeit der meisten einsilbigen Wörter für den Versbau in reiner Alternation und empfahl daher, sich die Tatsache zunutze zu machen, dass einsilbige Wörter im Deutschen betont oder unbetont sein können (BuniaBunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik, 74–89). In der Tat fällt an den eigenen deutschsprachigen Gedichten von OpitzOpitz, Martin schon die schiere Zahl der ›füllenden‹ einsilbigen Wörter auf:
ACh wó ist jètzt die Zeít, da jédermàn thet gleíchen
Der Rósen schóne Zíer mein’ édelè Gestállt?
Ja wòl bin ích wie síe, nun ích bin wòrden ált.6Opitz, MartinWitkowski, Georg
Letztlich hat das von OpitzOpitz, Martin propagierte Prinzip einen entscheidenden kulturpolitischen Vorteil, denn es lässt deutsche Verse als Umsetzungen antiker Versfußmetren erscheinen (GasparovGasparov, Michail L., History of European Versification, 197): bei gleichbleibender Verteilung der betonten Silben über eine feststehende Silbenzahl ergab sich schnell ein entweder jambischer oder trochäischer Rhythmus.
(4) Spätestens im 18. Jahrhundert wird schließlich der Versuch unternommen, die quantitierenden Versmaße des Griechischen und Lateinischen in die neuzeitlichen Sprachen zu übernehmen. Dies geschieht u.a. im Deutschen, das im Folgenden genauer in den Blick genommen wird. Die kulturpolitische Zielrichtung der Integration scheint zunächst klar: Es geht darum, den Versbau in der neuen Sprache am Prestige der alten Sprache und ihrer Kultur teilhaben zu lassen. Vorgeschlagen werden im wesentlichen drei Modelle: (1) Die Nachbildung der Hebungen durch Betonungen. Auch wenn sich dieses Modell auf lange Sicht durchsetzt (so etwa in GoetheGoethe, Johann Wolfgang vons einflussreicher Dichtung in antiken Versmaßen), hat es doch den Nachteil, dass die Ersetzung von Doppelsenkungen durch Hebungen (und umgekehrt) u.a. dazu führt, dass zwei Betonungen aufeinander folgen, was in der Regel eine Sprechpause in der Mitte des Versfußes erzeugt. Um die Nachbildung des Spondeus ranken sich dementsprechend die heftigsten Diskussionen im Streit um die (Un-)Möglichkeit des Hexameters im Deutschen. Die häufigste und letztendlich pragmatischste Lösung besteht darin, statt Spondeen Trochäen zuzulassen. (2) Das zweite Modell besteht darin, Positionslängen im Deutschen zu etablieren, also eine Silbe als Hebung zu werten, wenn auf den Vokal mindestens zwei Konsonanten folgen. Dieses Modell scheiterte jedoch daran, dass solche ›Längen‹ im Deutschen nicht hörbar sind (›Scheinprosodie‹). (3) Ein drittes Modell zur Nachbildung antiker Versmaße im Deutschen hat Friedrich Gottlieb KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb vorgeschlagen. Seine Idee besteht darin, Hebungen durch mehr als eine prosodische Silbeneigenschaft zu realisieren, d.h., sowohl durch Betonung als auch durch ›Bedeutungsschwere‹ und eine situativ erzeugte prosodische Prominenz (BuniaBunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik, 96–115). Diese flexible Art des Versbaus führt dazu, dass KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb etwa die folgenden Verse als perfektes Distichon ansehen kann:
Wēhĕtĕn | dōch sānft|rāuschĕndĕ | Wīndĕ seĭn | brǖnstĭg Vĕr|lāngĕn
Seīnēr | Seūfzēr | Lāut ||, seīnĕ Gĕ|sāngĕ dĭr | zū!7Klopstock, Friedrich GottliebSchneider, Karl Ludwig
Die Silben »doch«, »sanft« und »rau« gelten hier aus je unterschiedlichen Gründen als Hebungen: »rau« als Wurzelsilbe des Verbs »rauschen«; »sanft«, weil auf ihm der Akzent des zusammengesetzten Partizips liegt; und »doch«, weil auf ihm ein ›Bedeutungsakzent‹ liegt (denn in ihm bündelt sich die Emphase des ausgedrückten Wunsches). Zwar hat sich KlopstockKlopstock, Friedrich Gottliebs Vorschlag längerfristig nicht durchgesetzt, aber seine Metriktheorie kann als bemerkenswerter Neuansatz in der Geschichte des Versbaus angesehen werden.
Gegenüber den latenten Spielarten von Mehrsprachigkeit im Versbau, die sich aus der Migration von Versbauregeln ergeben, lassen sich immer schon auch unterschiedliche Formen manifester Mehrsprachigkeit im Vers feststellen. Diese müssen hier zumindest insofern beachtet werden, als sie im Vers teilweise anders funktionieren als in anderen literarischen Formen. Dies hat aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zuletzt damit zu tun, dass Grammatik wie Rhetorik seit der Antike der Versrede Ausnahmen zubilligen, d.h., eine gewisse Nachlässigkeit in der Sprachrichtigkeit, die es dann teils auch ermöglicht, großzügiger Elemente aus anderen Sprachen einzugliedern.
Dass anderssprachige Wörter in Verstexte integriert werden, ist ein sehr altes Phänomen. Dabei ist spezifisch für den Versbau, dass die Übernahme solcher Wörter Entscheidungen darüber nach sich zieht, wie man mit ihren womöglich abweichenden prosodischen Eigenschaften umgeht – ein Problem, das sich ganz ähnlich bei anderssprachigen Eigennamen stellt. So zwingt die durchaus geläufige Aufnahme griechischer Wörter (oder auch nur Lehnwörter) in lateinische Verse oft zu Entscheidungen über die Vokallänge, so etwa wenn im Griechischen zwei lange Vokale unmittelbar aufeinander folgen, was der lateinischen Regel widerspricht, dass Vokale vor langen Vokalen kurz sind. Beispielsweise wird in dem Vers, der in VergilVergils Aeneis den Helden einführt, dessen griechischer Name mit zwei aufeinanderfolgenden Längen skandiert: »ēxtēm|pl[o] Aēnē|āe || sōl|uūntūr | frīgŏrĕ | mēmbră«.8Vergil (Für weitere Beispiele aus der Antike siehe Liede,Liede, Alfred Dichtung als Spiel, 207; FritscheFritsche, Michael, »Maccaronea«, 175f.)
Das Verfahren, Wörter aus kulturell prestigeträchtigen Sprachen zu übernehmen und in den Versbau zu integrieren – mit der Bereitschaft zu prosodischen Konzessionen und Lizenzen – ist auch für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters charakteristisch. Das bekannteste Beispiel sind wahrscheinlich Teile der Carmina Burana (11./12. Jahrhundert; siehe hierzu auch den Abschnitt zur Sachgeschichte, Mittelalter, in III.1). Aber schon zuvor werden im altenglischen Vers Wörter aus dem Lateinischen benutzt, und es gibt Anzeichen dafür, dass dies unter Anpassung des lateinischen Wortakzents an den germanischen Initialakzent geschah (CainCain, Christopher M., »Phonology and Meter«). Dante AlighieriDante Alighieris Commedia verwendet als fremdes Idiom neben dem Lateinischen auch das Okzitanische; hier ist vermutet worden, dass dies auch einen Einfluss des okzitanischen Versbaus auf den von DanteDante Alighieri etablierten italienischen Endecasillabo signalisiert (BuniaBunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik, 216–218). In der mittelhochdeutschen Dichtung ragen einige Gedichte Oswalds von WolkensteinOswald von Wolkenstein aus dem 14. Jahrhundert heraus, die bis zu sechs klar fremde Idiome ins Deutsche mischen (ClassenClassen, Albrecht, »Multilingualism in the Middle Ages«, 139f.). Für die nur wenig später verfassten viersprachigen Glossen zum »Ave Maria« von Bruder HansHans, Bruder wurde nachgewiesen, dass die englischen, französischen und lateinischen Verse dem akzentuierenden Versmaß der deutschen Verse angepasst sind (NoelNoel Aziz Hanna, Patrizia und SeláfSeláf, Levente, »On the Status and Effects of Formulas«).
Ein demgegenüber neues Phänomen etabliert sich zur Zeit des italienischen Humanismus, nämlich die makkaronische Dichtung. Die Bezeichnung für dieses Genre geht auf die Publikation des Carmen macaronicum (1493) von Tifi degli OdasiTifi degli Odasi zurück, der zunächst im italienischen Sprachraum weitere Publikationen folgten, etwa die populären Macaroneae (1517) von Teofilo FolengoFolengo, Teofilo. Das Grundprinzip dieser Texte war es, in das Lateinische Wörter aus der Volkssprache einzufügen, diese aber den Flexionsregeln des Lateinischen (und auch dessen syntaktischen Regeln) zu unterwerfen. In der Nachfolge verbreitete sich die Gattung auch in anderen europäischen Ländern; Autoren wie François RabelaiRabelais, Françoiss und Johann FischartFischart, Johann haben zu ihr beigetragen (siehe WiegandWiegand, Hermann, »Makkaronische Dichtung«).
Der sprach- und kulturpolitische Hintergrund dieser Art von Versbau ist einerseits unmittelbar einsichtig, nämlich das zunehmend auch eine Konkurrenz mit sich bringende Nebeneinander der Bildungssprache Latein und der erstarkenden Volkssprachen. So ist die makkaronische Poesie als Reaktion auf Auseinandersetzungen um die Sprachpolitik der italienischen Humanisten gedeutet worden (Liede,Liede, Alfred Dichtung als Spiel, 210–212; FritscheFritsche, Michael, »Maccaronea«, 176f.). Allerdings handelt es sich sprachpolitisch um eine Zeit komplexer Gegenbewegungen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Vielfalt der sprachmischenden poetischen Genres wider. Als Vorläufer der Makkaronia zählen u.a. die Pedantesca, die auf die morphologische Überformung der nicht-lateinischen Wörter verzichteten (siehe WiegandWiegand, Hermann, »Makkaronische Dichtung«). Gegenüber dieser Art von Dichtung wie auch gegenüber Strategien wie dem als ›Küchenlatein‹ denunzierten Verfahren, wörtlich aus der Volkssprache ins Lateinische zu übersetzen oder Verfahren der homophonen Übersetzung einzusetzen, zeichnet sich die makkaronische Poesie in ihren avanciertesten Varianten dadurch aus, dass sie das (humanistische) Latein perfekt handhabt und so noch unter Einschluss der volkssprachigen Wörter die Prinzipien des antiken Versbaus wahrt. An dem kulturellen Prestige, das auf diese Weise signalisiert wird, versuchen nicht nur karnevalesk-satirische Autoren wie eben RabelaiRabelais, Françoiss und FischartFischart, Johann teilzuhaben, sondern noch die Philologen, die sich (angefangen mit GentheGenthe, Friedrich Wilhelm, Geschichte der Macaronischen Poesie) um die Aufarbeitung des Genres bemüht haben und die nahezu durchgängig an der strengen Abgrenzung der makkaronischen Poesie von ihren Nebengattungen festhalten (siehe Dembeck, »Mehrsprachigkeitsphilologie leben«).
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich, zumindest für den deutschen Sprachraum, ein Epocheneinschnitt konstatieren, für den sich allerdings auch in den übrigen europäischen Literaturen – wenn auch unter Umständen zeitversetzt – Parallelen finden (siehe zum Folgenden BreuerBreuer, Ulrich/Dembeck, »Literarische Gattungen«; Dembeck, »Vers und Lyrik«). Bis in die Frühe Neuzeit hinein sieht das Gattungssystem eine Vielzahl lyrischer Kleingattungen vor, für die sich jeweils eine einigermaßen stabile Korrelation von Versform und Inhalt etabliert hat: Eine Elegie ist ein Klagegedicht in Distichen (wie auch immer man dieses antike Versmaß im Deutschen nachbildet). Dabei lassen sich zwar vielfältige individuelle Innovationen in der Versbautechnik ausmachen, die teils auch individuell zurechenbar sind (etwa OpitzOpitz, Martin). Innovation ordnet sich jedoch dem Ziel unter, den deutschen Vers zu profilieren. Beides ändert sich in dem Moment, in dem die lyrischen Kleingattungen zu einer umfassenden Gattung ›Lyrik‹ zusammengeführt werden, und zwar zunächst in der systematischen Gattungstheorie in der Nachfolge Charles Batteux’Batteux, Charles und kurz darauf mittels der folgenreichen Theorie, Lyrik sei eine in besonderer Art auf Subjektivität bezogene Gattung (Völker,Völker, Ludwig »Einleitung«, 18–20). In diesem Zusammenhang erfolgt nicht nur eine Freisetzung der lyrischen Form von vormals gegebenen Formbindungen, sondern Lyrik etabliert sich nachgerade als Experimentierfeld für Verfahren der Versbildung. Die KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb’sche Metriktheorie kann diese Umstellung verdeutlichen, auch wenn es ihm zunächst erklärtermaßen ebenfalls um die Etablierung besserer Versbautechniken für das Deutsche geht. Denn indem KlopstocKlopstock, Friedrich Gottliebk ein ganzes Bündel an prosodischen Strukturen zur Markierung von Hebungen zulässt, erschließt er vormals nicht genutzte Ebenen der Sprachstruktur für die Ausarbeitung neuartiger Formen von sinnfälliger Segmentierung der Rede und greift damit den Entwicklungsprinzipien der modernen Lyrik vor.
Diese Beschreibung der modernen Lyrik als Entwicklungszusammenhang, der sich um die Erzeugung von sinnfälligen Segmentierungsmustern in der Rede auf allen sprachlichen Strukturebenen dreht, ermöglicht eine systematische Verortung der Mehrsprachigkeit im Versbau der Moderne. Denn anderssprachige Strukturen und Elemente können nun als treibende Kraft dieses Entwicklungszusammenhangs genutzt werden. Tatsächlich lässt sich seit dem späten 18. Jahrhundert eine beachtliche Erweiterung des lyrischen Formenrepertoires beobachten, die auf zwei unterschiedliche Arten und Weisen mit Sprachdifferenz zu tun hat. Zunächst lässt sich – paradoxerweise im Zusammenhang mit der gleichzeitig sich vollziehenden Etablierung der Muttersprachensemantik – eine Ausweitung der Spielräume für poetische Lizenzen ausmachen. Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfrieds Formulierung, nur der Muttersprachler wisse, wann er eine sprachliche Regel nur biege, aber nicht breche,9Herder, Johann GottfriedGaier, Ulrich bezeichnet präzise das Selbstbewusstsein von Autoren, die die Muttersprache gleichsam von Innen heraus um neue und teils eben aus anderen Sprachen angeeignete Strukturen bereichern. Im Sinne eines Bonmots von Oskar PastiorPastior, Oskar, der »HölderlinHölderlin, Friedrich« definiert als »eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache«,10Schäfer, ArminGeorge, Stefan kann die poetische Lizenz nun potentiell auch zur Überschreitung von Sprachgrenzen dienen, gleichsam zur Etablierung lyrischer Privatidiome. Mit seinen Übersetzungen europäischer ›Volkslieder‹ ist abermals HerderHerder, Johann Gottfried wegweisend für das um 1800 breit einsetzende Phänomen, dass nicht mehr nur prestigeträchtige antike Versformen, sondern alle möglichen, aus anderen Sprachzusammenhängen stammenden Formen nachgebildet werden. Zu denken ist etwa an das Experimentieren der Romantiker mit romanischen Formen, an GoetheGoethe, Johann Wolfgang vons extrem vielseitige Lyrik, insbesondere an seine Experimente mit orientalischen Formen, an PlatenPlaten, August Graf vons oder RückertsRückert, Friedrich Experimente in dieselbe Richtung und an vieles mehr.
Gleichwohl dürfte die Wirkmächtigkeit der Muttersprachensemantik im 19. Jahrhundert dafür gesorgt haben, dass sich die Eingliederung anderssprachiger Elemente in deutschsprachige Verse nur am Rande etablieren konnte, etwa in Heinrich HeineHeine, Heinrichs Gedichten, in denen insbesondere französische Reimwörter in Kombination mit deutschen eine zentrale Rolle spielen, und zwar teils mit dem Effekt, dass entweder das deutsche oder das französische Wort entgegen der Ausspracheregeln artikuliert werden muss (SolmsSolms, Wilhelm, »Reine und unreine Reime von HeineHeine, Heinrich«). Gegen Ende des Jahrhunderts beginnt sich dies nicht nur im deutschen Sprachraum zu ändern, insbesondere im Zuge verschiedener Avantgarde-Bewegungen. Zu denken ist hier etwa an die von Stefan GeorgeGeorge, Stefan (allerdings nur an einer Stelle auftauchende) erfundene Sprache, an Christian MorgensternsMorgenstern, Christian Unsinns-Gedichte (die einen Vorläufer beispielsweise in Lewis CarrollCarroll, Lewiss »Jabberwocky« haben), an den DADA, der Mehrsprachigkeit einsetzt, um mit der lyrischen Form nicht nur in Bereiche jenseits von Sprachigkeit, also von der Zugehörigkeit zu einer als langue systematisierbaren Sprache (siehe I.3), sondern auch von Sprachlichkeit überhaupt zu gelangen (siehe zu diesen Beispielen im Einzelnen die Ausführungen zur Sachgeschichte, Das 18. und 19. Jahrhundert, in III.1). In diesem Falle wie auch im Falle der sehr wirkmächtigen mehrsprachigen Lyrik T.S. EliotsEliot, T.S. und Ezra PoundPound, Ezras folgt der mehrsprachige Versbau starken ästhetischen und kulturpolitischen Impulsen.
Eine stärkere Konjunktur erleben manifeste Formen der Mehrsprachigkeit erst wieder am Ende des 20. Jahrhunderts (mit Ausnahme einiger Arbeiten von Ernst JandlJandl, Ernst und Rolf Dieter BrinkmannBrinkmann, Rolf Dieter; hierzu Dembeck, »›No pasaran‹«; Dembeck, »Oberflächenübersetzung«; Dembeck, »Was ist hier defekt?«). Dies geschieht insbesondere im Zeichen postkolonialer und interkultureller Theoriebildung. Im ›deutschsprachigen‹ Sprachraum stechen die mehrsprachigen lyrischen Texte Oskar PastiorsPastior, Oskar oder Yoko TawadasTawada, Yoko hervor.
c) Forschungsgeschichte
Es wäre übertrieben zu behaupten, der mehrsprachige Versbau sei als eigenständiger Forschungsgegenstand mit eigenständiger Forschungstradition etabliert. Dennoch lässt sich eine Forschungsgeschichte zumindest in Ansätzen skizzieren. Ihr gehören neben den wenigen Beiträgen zur manifesten Mehrsprachigkeit in einzelnen Verstexten zum einen alle Beiträge an, die sich mit der Übertragung metrischer Schemata und anderer Versbauverfahren über Sprachgrenzen hinweg befassen, und zum anderen auch systematische Versuche zur Bestimmung von Vers und/oder Lyrik, die Beschreibungsmodelle für den mehrsprachigen Versbau zur Verfügung stellen.
Gewöhnlich wird die Versform als Resultat einer auffälligen Segmentierung der Rede bestimmt. Dabei wird in der Regel genau spezifiziert, welche Art von Segmentierung im Gegensatz zu anderen Arten der Segmentierung verstauglich sei. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich demgegenüber auf die vergleichsweise offene Begriffsbestimmung von GasparovGasparov, Michail L.. Diese hat den Vorteil, dass sie sich mit einer evolutionstheoretischen Gattungstheorie verbinden lässt, durch die sich die Hintergründe des modernen mehrsprachigen Versbaus besser erhellen lassen.
GasparovGasparov, Michail L. beschreibt den Vers im Rahmen seiner kontrastiven Metrik als Ergebnis einer zur syntaktischen Segmentierung der Rede hinzukommenden »divisio[n] into correlatable and commensurate segments« (Gasparov, History of European Versification, 1). Dabei wird nicht von vornherein festgelegt, auf welcher Ebene der Sprachstruktur Verssegmentierung stattfinden kann. Die Offenheit der Beschreibung bei Gasparov ermöglicht es, Verschiebungen im Verhältnis zwischen metrischen Mustern und prosodischen Elementen, die im Laufe der Geschichte des Versbaus auftreten, als Erschließung neuer Segmentierungsebenen zu beschreiben. Es bleibt somit nicht, wie vielfach anzutreffen, bei der pauschalen und keinesfalls zutreffenden Behauptung, einzelne Sprachen hätten je spezifische Regeln zur Abbildung metrischer Muster auf das jeweils gegebene prosodische Material entwickelt (vgl. BuniaBunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik, 40–51, für eine instruktive Ergänzung dieses von BuniaBunia, Remigius als »Norm« bezeichneten »Versprogramms« um zwei weitere Programmformen, »Deduktion« und »Reziprozität«). Vielmehr lassen sich Evolutionsprozesse in den Blick nehmen, die Sprachgrenzen überschreiten und die Sprachdifferenz als genuines Medium der versbaulichen Innovation nutzen.
GasparovGasparov, Michail L.s Beschreibung des Verses greift letztlich auch jenseits des historischen Bereichs, den seine Arbeit im Wesentlichen abdeckt. Die moderne Lyrik kann dann als ein Zusammenhang beschrieben werden, der sich in der fortlaufenden Erprobung von (neuen) Segmentierungsmustern auf allen denkbaren Ebenen der Sprachstruktur fortentwickelt hat (siehe Dembeck, »Vers und Lyrik«). Eine solche Beschreibung hat den Vorteil, dass sie nicht einschränkt, welche Arten von Strukturmustern aus anderen Sprachräumen für den Versbau prinzipiell übernommen werden können. Zudem kann sie erklären, warum die Integration anderssprachiger Elemente und Strukturen für die Lyrik überhaupt attraktiv ist.
Für die konkrete Versbau-Analyse jenseits der üblichen metrischen Beschreibungsformen finden sich beispielsweise in Roman JakobsonJakobson, Romans Arbeiten zu konkreten Texten, die in jüngerer Zeit wiederentdeckt werden, sehr viele Anhaltspunkte. Dies verdankt sich nicht zuletzt Jakobsons Interesse an der Möglichkeit, ›grammatische‹ Strukturen versbildend einzusetzen (JakobsonJakobson, Roman, »Poesie der Grammatik«). In den Vereinigten Staaten hat sich inzwischen die historische Prosodie als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung etabliert (siehe z.B. PrinsPrins, Yopie, »Historical Poetics«). Dies ist für die Erforschung des mehrsprachigen Versbaus insofern von besonderem Interesse, als die Erschließung neuer Arten und Weisen der Formkonstitution durch Sprachdifferenz eines erweiterten versbauanalytischen Instrumentariums bedarf.
Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass mindestens folgende Ebenen der Sprachstruktur in Betracht gezogen werden müssen, wenn die Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf den Versbau, also die jeweils im (latent oder manifest) mehrsprachigen Vers zu beobachtenden Segmentierungsmuster, umfassend berücksichtigt werden sollen (vgl. Dembeck, »Vers und Lyrik«, 283–285):
Auf der Ebene von Phonetik und Phonologie ergeben sich die folgenden Möglichkeiten der Segmentbildung: nach Betonungsakzent, nach Silbenlänge und nach Assonanzen (also durch die Wiederkehr bestimmter Phoneme, siehe Stabreim und Reim). Auf dieser Strukturebene findet immer schon ein Austausch zwischen den in unterschiedlichen Sprachen etablierten Arten und Weisen der Musterbildung statt.
Auch aus morphologischen Mustern können sich Segmentierungen ergeben, etwa in der sog. Lautdichtung, die mit der variierenden Wiederholung von quasi-morphemischen (aber zunächst bedeutungslos erscheinenden) Versatzstücken arbeitet und so Muster etabliert. Auch die regelmäßige Wiederholung von Flexionsmorphemen kann einen Text bereits sinnfällig segmentieren. Auf dieser Ebene sind im mehrsprachigen Versbau vor allem solche Muster zu beobachten, die sich durch den wiederholten Einsatz anderssprachiger Elemente ergeben – also etwa in der makkaronischen Poesie durch die wiederholte Kombination lateinischer und deutscher Morpheme.
Syntaktische Einheitenbildung impliziert immer schon eine Segmentierung der Rede; dies zeigt die hohe Relevanz, die schon JakobsonJakobson, Roman dem syntaktischen Parallelismus beimisst. Diese Strukturebene gibt in erster Linie Anlass zu eher latenten Formen der Mehrsprachigkeit, so etwa, wenn im Deutschen die verhältnismäßig strengen Vorgaben an die Wortstellung in Anlehnung an das Lateinische oder Griechische gelockert werden.
Auch die Einteilung des Satzes in Kola (Sinneinheiten im Satz) und Wörter, selbst wenn sie syntaktisch bzw. morphologisch nur teilweise systematisierbar ist, hat an der Verssegmentierung teil.
Schließlich finden sich graphisch konstituierte Segmentierungen, von der sinnfälligen Wiederholung von Graphemen (die nicht mit der Wiederholung von Phonemen zusammenfallen muss, wie der englische ›eye rhyme‹ zeigt, also die Wiederholung identischer Buchstabenfolgen, die aber unterschiedlich ausgesprochen werden) über Interpunktionsmuster bis hin zur Segmentierung durch Zeilenumbrüche oder andere Strukturen des Layouts. Hier können insbesondere Verfahren der Mehrschriftlichkeit mehrsprachigen Versbau ermöglichen (siehe III.4).
Den derzeit wahrscheinlich umfassendsten Vorschlag für die Analyse rhythmischer Muster hat Henri MeschonnicMeschonnic, Henri vorgelegt (Meschonnic, Critique du rythme). MeschonnicsMeschonnic, Henri Grundinteresse besteht darin, Rhythmus unabhängig von jeglichem Schematismus zu beschreiben, um ihn als Träger von Individualität ausweisen zu können. Diese Beschreibung, die im deutschen Sprachraum durch Hans LösenerLösener, Hans vertreten wird, umfasst auch die semantische Struktur, insbesondere die Musterbildung durch Tropen (siehe z.B. Löseners rhythmische Analyse von GoetheGoethe, Johann Wolfgang vons »Erlkönig«; LösenerLösener, Hans, Der Rhythmus in der Rede, 136–153). Es mag sein, dass auch auf dieser Ebene durch Mehrsprachigkeit versbaulich relevante Strukturen erzeugt werden können, etwa durch die regulierte Übernahme anderssprachiger Phraseologismen.
Studien zum Transfer metrischer Formen sind zum überwiegenden Teil aus einzelsprachlicher Perspektive betrieben worden und haben in erster Linie das Ziel, zu erklären, wie sich die in der jeweiligen Sprache vorkommenden Versbautechniken etabliert haben. Ein herausragender Vertreter einer »kontrastiven Metrik«, die über diese Perspektiven hinausgeht, ist GasparovGasparov, Michail L.. Studien zur manifesten Mehrsprachigkeit des Versbaus gibt es mit Blick auf die frühneuzeitliche makkaronische Poesie. Diskutiert wird hier vor allem die soziale Funktion des makkaronischen Sprachgebrauchs vor dem Hintergrund der Zweisprachigkeit europäischer Bildungsinstitutionen bzw. der Emanzipation der Volkssprachen gegenüber dem Lateinischen. Allerdings wird auch ein Zusammenhang gesehen zwischen der makkaronischen Dichtung der Frühen Neuzeit und der experimentellen mehrsprachigen Dichtung um 1900 (siehe insbesondere die frühe Übersichtsdarstellung von ForsterForster, Leonard, The Poet’s Tongues). Wichtig ist auch hier die Annahme, dass Mehrsprachigkeit dazu genutzt wird, ästhetische Innovation zu befördern und so zur Evolution des Verses und der Lyrik beizutragen. Bei all dem ist die Anzahl der Einzelstudien zum mehrsprachigen Versbau erstaunlich gering. Beispielsweise interessiert sich der überwiegende Teil der Forschung zu T.S. EliotsEliot, T.S. The Waste Land zwar für die Herkunft der vielen nicht-englischsprachigen Zitate, nicht aber für das Faktum, dass sie im Original zitiert werden.
d) Anwendungs-/Analysebeispiele
Die Leitlinien zur Analyse des mehrsprachigen Versbaus, die sich aus der vorliegenden Forschung zum Vers ableiten lassen, können an zwei Beispielen verdeutlicht werden, die aus zwei sehr unterschiedlichen, aber für die Mehrsprachigkeit des Versbaus jeweils bedeutenden Epochen stammen. Untersucht werden ein (spätes) makkaronisches Gedicht aus dem Jahre 1690 und die Schlussverse von T.S. EliotsEliot, T.S. The Waste Land.
(1) Für die makkaronische Poesie ist, wie gesehen, charakteristisch, dass eine Sprache, in der Regel das Lateinische, Wörter einer anderen Sprache in sich aufnimmt und ihren Flexionsregeln unterwirft. Das folgende Beispiel zeigt allerdings, dass sich die Bestimmungsmacht des Lateinischen im Einzelfall sehr unterschiedlich weit erstrecken kann. Das ausgewählte Beispiel stammt (wie die überwiegende Mehrzahl der Beispiele) aus dem universitären Milieu.1 Als Erscheinungsort wird zwar »Athen« angegeben, es dürfte sich aber um Leipzig handeln:
Triumphirendes PROSIT
so den Herren Professoren-Purschen / als sie ihr Recht
in einer solennen Disp[utatio] erhalten /
zuruffet
BACCHUS
Collegii subterranei Director & p[ro] t[empore] Decanus
Hem Professorenbursi, nunc rufite Juch hei!
Lustigeosque simul multos anstimmite Liedros:
Schmausite, & in tieffam sub schmausis saufite Nachtam!
Non etenim vobis unquam bona bieria fehlunt.
Namque Halberstadicam Breihanam, Gratia, Duchstein
Et Zersterbirium in menga semper habetis:
Adsunt & langæ Pfeifæ. & Bremense Tabacum
Cum cranzo. Vobis vero si geldria desunt,
Ne modo sorgatis, nam scitere vivere Credit:
Optimus hic semper vestrum curator et hülffa.2
Auf den ersten Blick scheint es so, als werde in diesem Text – der üblichen Definition der makkaronischen Poesie entsprechend – tatsächlich sowohl die lateinische Satzstellung als auch die lateinische Flexion bewahrt. Die deutschen Wörter scheinen dem Lateinischen angepasst zu sein. Allerdings ist der Anteil der eigentlich lateinischen Wörter recht gering, so dass zu fragen ist, wie weit eigentlich die Bestimmungsmacht des Lateinischen hier noch geht. Orthographisch gibt es einen starken Einfluss des Deutschen: Davon zeugen zum einen die Großschreibung vieler Substantive, viele deutsche Laut-Buchstaben-Zuordnungen (z.B. »Liedros«, »tieffam«) und Buchstaben, die im Lateinischen gar nicht vorkommen (das »z« in »cranzo«). Zum anderen gibt es aber auch den Fall, dass die lateinische Flexionsendung nur scheinbar aus dem Lateinischen stammt, eigentlich aber deutsche Phoneme in lateinischer Schreibung wiedergibt: »langae Pfeifae« steht dann für ›lange Pfeife«, »hülffa« für »Helfer«. Schließlich finden sich auch ursprünglich lateinische Wörter, die im Deutschen gängig sind und gerade nicht lateinisch flektiert werden (»Professor« in »Professorenbursi« und »Credit«).
Die vergleichsweise starke Stellung des Deutschen in diesem Gedicht hat auch zur Folge, dass es zunächst schwierig ist, überhaupt ein metrisches Muster zu finden. Folgt man lediglich den lateinischen Regeln für die Feststellung langer und kurzer Silben (mit der Voraussetzung, dass sowohl im Deutschen lange Vokale als lang gelten als auch positionslange Vokale), ergeben sich keinerlei wiedererkennbare Muster:
Hēm prŏfēssōrĕnbūrsĭ, nūnc rūfītĕ Jūch hēi
Lūstĭgĕōsquĕ sĭmūl mŭltōs ānstīmmītĕ Līedrōs.
Schmāusīt[e] ĕt ĭn tīeffām sūb schmāusīs sāufītĕ Nāchtăm.
Nōn ĕtĕnīm vōbīs ūnquăm bŏnă bīerĭă fēhlŭnt.
Selbst wenn man annimmt, dass deutsche Verben wie ›rufen‹ im Lateinischen den i-Stämmen der dritten Konjugation angehören und also der Imperativ ›rūfĭtĕ‹ zu skandieren sei, macht dies keinen großen Unterschied. Beim Versuch wiederum, die Verse akzentuierend zu skandieren, muss man zunächst entscheiden, ob neben dem lateinischen auch der deutsche Wortakzent zugrunde gelegt werden soll, um zumindest Nebenakzente zu erzeugen. Für die Imperativformen ist es allerdings möglich, den deutschen und den lateinischen Wortakzent zusammenfallen zu lassen (unter der Voraussetzung, dass es sich um Verben der dritten Konjugation handelt). Schwieriger zu handhaben sind Wörter wie »Professorenbursi«, denn hier müsste der Wortakzent der lateinischen Prosodie zufolge auf der drittletzten Silbe liegen. Hier kann man lateinischen und deutschen Wortakzent miteinander versöhnen, wenn man »Professoren« und »bursi« als zwei verschiedene Wörter behandelt. Unter Zulassung aus dem Deutschen abgeleiteter Nebenakzente ergibt sich dann:
Hèm Professórenbúrsi, nunc rúfite Júch hei!
Lùstigeósque símul múltos anstímmite Líedros:
Schmáusit[e] èt in tíeffam sub schmáusis saufíte Náchtam!
Non étenim vóbis únquam bóna bíeria féhlunt.
Es handelt sich um fünf- und sechshebige Verse mit freier Füllung und durchgängig weiblicher Kadenz – alles in allem ein mehr der deutschen als irgendeiner lateinischen Tradition verpflichteter Versbau. Hinzu kommt noch, dass zumindest teilweise Formen des ursprünglich germanischen Stabreims und der Assonanz zu beobachten sind (»simul multos anstimmite«, »Schmausite […] sub schmausis saufite«, »bona bieria«). Allenfalls signalisiert die Wiederholung lateinischer Flexionsformen (vor allem »ite«) eine Form der Segmentierung auf der morphologischen Ebene, die sich in erster Linie dem Lateinischen verdankt.
Der offenkundige Verzicht des Textes darauf, sich durch latinitas, also die lateinische Sprachrichtigkeit auszuzeichnen, deren Wahrung ja gerade das Distinktionsmerkmal der ›höheren‹ makkaronischen Dichtung war, ist nun seinerseits auf seine sozialen und kulturpolitischen Implikationen hin zu befragen. Insofern der Text den Triumph der ›Professorenburschen‹, also derjenigen privilegierten Gruppe von Studierenden besingt, die, anders als etwa die ›Bürgerburschen‹, in Professorenhaushalten lebten, darf man diese Nachlässigkeit vielleicht als Demonstration der Unabhängigkeit von einer Form der akademischen Strenge werten, die nur für Angehörige der Akademie mit niedrigerem Status gilt: eine ostentative Distanznahme vom Bildungsstandard als Ausweis höherer Bildung, wie sie später auch die aus dem universitären Milieu stammende Philistersemantik auszeichnet.
(2) In den Schlussversen des letzten Gedichts aus The Waste Land, »What the Thunder said«, verdichtet sich die Einbindung der fremdsprachlichen Zitateinsprengsel, die schon vorher für EliotsEliot, T.S. Langgedicht charakteristisch ist. Mit einer einzigen Ausnahme sind alle nicht-englischen Wörter im Gedicht Teil von Zitaten:
I sat upon the shore
Fishing, with the arid plain behind me
Shall I at least set my lands in order?
London Bridge is falling down falling down falling down
Poi s’ascose nel foco che gli affina
Quando fiam ceu chelidon – O swallow swallow
Le Prince d’Aquitaine à la tour abolie
These fragments I have shored against my ruins
Why then Ile fit you. Hieronymo’s mad againe.
Datta. Dayadhvam. Damyata.
Shantih shantih shantih (V. 423–33)3Eliot, T.S.North, Michael
Die einzelnen Zitate lassen sich allesamt auf vorangehende Anspielungen, Zitate und Motive des Gedichts beziehen, wodurch sie verschiedene Grundzüge des Textes noch einmal zusammenführen.4Bunia, Remigius Sie lassen weiterhin die Gemeinsamkeit erkennen, dass sie im Originalzusammenhang auf dichterische Neuanfänge aus einer hoffnungslosen Situation heraus anspielen: Das italienische Zitat stammt von DanteDante Alighieri und berichtet von der Reinigung des Dichters Arnaut DanielArnaut Daniel (der in den unmittelbar vorangehenden Versen der Commedia übrigens noch auf Okzitanisch gesprochen hat) in den Flammen des Purgatorio; das lateinische Zitat (»Quando fiam …«) aus dem spätantiken Pervigilium Veneris ist Teil der Klage eines verstummten Dichters, der wieder »wie die Schwalbe« singen möchte; das sodann zitierte Gedicht von NervalNerval, Gérard de, »El Desdichado« (1853), führt mit der Figur des ›Prinzen von Aquitanien‹ möglicherweise ebenfalls eine untröstliche Dichterfigur vor Augen; die abschließende Passage in Sanskrit zitiert die Rede des Donners, die das gesamte Abschlussgedicht strukturiert.
Interessanter als diese ›thematische‹ Konzentration ist aber die formale Verbindung, die die zitierten Fragmente untereinander eingehen. Die Verse führen verklungene Versformen aus der Tradition und verklungene Formen und Motive des Gedichts selbst zusammen, und zwar jenseits der Unterschiede in den Prosodien und den gängigen Versbauverfahren der verwendeten Sprachen. Im Anschluss an den doppelten Hebungsprall in »London Bridge is falling down falling down falling down«, der sich bei akzentuierender Lesart jeweils in »down falling« ergibt, wird ein flüssiger, alternierender Rhythmus eingeführt, der mindestens drei verschiedene Versbauweisen nutzt. Die anderssprachigen Verse führen jeweils ein in der jeweiligen Tradition klassisches Versmaß ein: DanteDante Alighieris Vers ist ein Endecasillabo, der lateinische Vers spielt einen katalektischen trochäischen Trimeter an, der Vers von NervalNerval, Gérard de ist ein Alexandriner, er wird gefolgt von einem Blankvers, der von EliotEliot, T.S. selbst stammt. Natürlich konstituiert sich der italienische Vers nicht eigentlich akzentuierend, aber das Italienische verfügt durchaus über hinreichend starke Akzentuierungsdifferenzen, um beispielsweise folgendes Muster in dem Vers aktualisiert zu sehen: Pói s’ascóse nel fóco ché gli affína. Das dann folgende lateinische Zitat ist (zumindest in der Erstausgabe des Zyklus) verfälscht, denn das Original hat statt des einsilbigen (langen) »ceu« das zweisilbige »uti«. Durch diese Änderung lässt sich der Vers auch ohne Synaloiphe nach der klassischen, quantitierenden Versbauweise als Trochäus einordnen. Es ergibt sich dann: Quāndŏ fīām cēu chĕlīdōn, nicht: Quāndŏ fī[am] ŭtī chĕlīdōn. Am Übergang zum Englischen findet sich dann allerdings in beiden Varianten ein Bruch des trochäischen Metrums, denn auf das »on« ist ein eher unbetontes »O« vor die betonte erste Silbe von »swallow« eingeschoben, obgleich an dieser Stelle eine Hebung zu erwarten wäre. Wenn man für die lateinischen Verse akzentuierenden Versbau unterstellt (siehe hierzu BuniaBunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik, 246–248), ergibt sich, zumindest bei Ersetzung von »uti« durch »ceu«, ebenfalls ein trochäischer Rhythmus – und auch darin mag die Ersetzung begründet sein. Allerdings weist das Wort »chelidon«, wenn man es als griechisches Wort nimmt, eine Besonderheit auf. Denn χελιδών hat Längen auf dem ι wie auf dem ω, aber auf der letzten Silbe den Betonungsakzent. So gelesen geht in diesem Wort der ›lateinische‹ Trochäus in einen ›englischen‹ über: dón – O swállow, swállow. Damit verschiebt sich die metrische ›Unregelmäßigkeit‹ zwischen dem Zitat und der englischen Fortsetzung des Verses in das Zitat selbst – entweder, wenn man in »chelidon« eine Betonung auf der ersten Silbe zulassen will, vor das oder aber in das griechische Fremdwort hinein. Die Zäsur, die der Vers durch den am Übergang vom Lateinischen zum Englischen vor dem »O« gesetzten Gedankenstrich so oder so markiert, nimmt nun seinerseits die Mittelzäsur des folgenden französischen Alexandriners vorweg – die Zäsur rückte dort gewissermaßen um eine Hebung näher zum Versbeginn. Dieser Vers ließe sich zugleich, wenn man ihn nach der französischen Alltagssprache ausspricht und also das stumme ›e‹ nicht betont, als Anklang an den DanteDante Alighieri-Vers und seine dynamischen Doppelsenkungen lesen: Le Prínc(e) d’Aquitáin(e) à la tóur abolí(e). Dasselbe gilt für EliotEliot, T.S.s Blankvers, dessen dynamische Fünfhebigkeit ebenfalls ohne Zäsur auskommt.
Durch die Zusammenfügung der Verse und Versteile aus insgesamt fünf Sprachen (Italienisch, Latein, Griechisch, Englisch, Französisch) werden hier in nur vier Versen in unterschiedlichen ›Sprachen‹ etablierte Verfahren des Versbaus so zueinander ins Verhältnis gesetzt, dass sich möglicherweise ein neues Verfahren etabliert, das metrische Muster nach anderssprachigen Versifizierungsverfahren auf das jeweilige Sprachmaterial abbildet. Damit ergibt sich die Möglichkeit, über die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Bauweisen hinweg einen rhythmischen Zusammenhang zu erzeugen, der in seinem dynamischen ›Fluss‹ die Stauungen des vorangehenden kindlich-apokalyptischen Verses (»London Bridge …«) aufbricht. Die Herstellung dieses Zusammenhangs ermöglicht aber, zumindest in dem lateinisch-griechisch-englischen Vers, eine prosodische Uneindeutigkeit: Das Wort »chelidon« wird als Kippfigur lesbar, es gehört sowohl den lateinischen (klassisch quantitierenden und/oder akzentuierenden) Trochäen in der ersten als auch den englischen (akzentuierenden) Trochäen in der zweiten Vershälfte zu. Inszeniert wird so die Gefügigkeit und zugleich auch die Widerständigkeit des vorgegebenen Materials, das in der vereinheitlichenden ›Überformung‹ letztlich nicht ganz aufgeht und dem kulturpolitischen Programm des Textes gemäß auch nicht aufgehen darf.
e) Offene Forschungsfragen
Desiderate der Erforschung des mehrsprachigen Versbaus lassen sich auf nahezu allen hier berührten Themenfeldern konstatieren. Zuvorderst ist die mangelnde Erschließung des Materials hervorzuheben, vor allem, was Formen der manifesten Mehrsprachigkeit angeht. Das Vorkommen von Versen, die anderssprachige Elemente und/oder Strukturen enthalten, wird in der Forschung in der Regel nur im Vorbeigehen konstatiert, nicht aber systematisch erfasst. Das mag damit zu tun haben, dass sich diese Art des Versbaus nur in wenigen und dementsprechend auch besser erforschten Zusammenhängen zu einer Art Gattungstradition verdichtet hat, beispielsweise im Falle der makkaronischen Poesie. Vor allem wäre die Menge der berücksichtigten Sprachen deutlich zu steigern. Die hier referierten Überlegungen zum Einfluss des arabischen Versbaus auf die Entwicklung des romanischen Reims stellen nur ein Anfang dar. Die Rolle latenter und manifester Mehrsprachigkeit für die Evolution der modernen Lyrik bleibt ebenfalls ausführlicher zu erschließen. Daran schließt sich die grundlegende gattungstheoretische Frage an, inwiefern sich Vers und/oder Lyrik grundsätzlich als eine Form von Sprachdifferenz beschreiben lassen.
Die Ausweitung der historischen Rekonstruktion muss einhergehen einerseits mit einer Ausarbeitung des analytischen Instrumentariums, das bislang nicht wirklich vorliegt – im vorliegenden Beitrag werden nur erste Vorschläge referiert. In diesem Zusammenhang sind linguistische wie philologische Präzision gleichermaßen anzustreben. Andererseits muss versucht werden, grundsätzlich die kulturpolitische Funktionalität von Mehrsprachigkeit im Versbau zu bedenken – aber dies ist eine Forderung, die insgesamt für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit zu erheben ist.
Literatur
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