3. Erzählen
a) Begriffe
Erzählen ist eine Allerweltsredetätigkeit. Strukturell besteht sie aus adressierter, serieller, entfaltend berichtender Rede mit zwei Orientierungszentren über nichtaktuelle, zeitlich bestimmte Sachverhalte von Seiten eines Außenstehenden (Weber,Weber, Dietrich Erzählliteratur, 11–70). Phonisch repräsentierte Erzählungen bestehen aus erzählender Rede, fakultativ zudem aus Redewiedergabe, aus Rede zur erzählten Sache oder aus Anlass der erzählten Sache sowie aus Rede zur Rede und zur Redesituation. Graphisch repräsentierte Erzählungen bestehen aus der schriftlich gebundenen Darstellung von Erzählen (WeberWeber, Dietrich, Erzählliteratur, 71 ff.; Schmid,Schmid, Wolf Elemente, 1 ff.), der Darstellung von Redewiedergabe, der dargestellten Rede zur erzählten Sache oder aus Anlass der erzählten Sache sowie aus dargestellter Rede zur Rede und zur Redesituation in einem Text. Erzählungen können fiktional oder faktual sein, und sie können zur Literatur gezählt werden oder auch nicht (wie z.B. Polizeiberichte, medizinische Fallberichte etc.). Erzählungen können allein syntaktisch gebunden (in Prosa) oder auch metrisch gebunden (in Versen) sein und darüber hinaus den Schemata historisch und kulturell variabler Genres entsprechen – also z.B. als Epos oder als Roman, als Kurzgeschichte oder als Novelle betrachtet werden. Für die Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit ist insbesondere der Bereich der graphisch repräsentierten Erzählungen von Bedeutung, sofern sie der Literatur zugerechnet werden.
b) Sachgeschichte
Eine Geschichte des Einflusses von Mehrsprachigkeit auf Erzähltexte bzw. umgekehrt der Funktion von Erzählen für die Konstitution literarischer Mehrsprachigkeit ist bislang nicht rekonstruiert worden. Dennoch lässt sich feststellen, dass Mehrsprachigkeit in der graphisch repräsentierten Epik anscheinend ein ubiquitäres Phänomen ist. Es ist in allen Erzählkulturen der Welt anzutreffen und reicht literarhistorisch bis in die frühesten Phasen der schriftsprachlich bezeugten Dichtung zurück. Wenn man sich etwa den Anfängen der okzidentalen Dichtung zuwendet, so finden sich bereits in der Ilias des HomerHomer Hinweise auf Mehrsprachigkeit. Im Buch IV wird z.B. das Heer der Trojaner beschrieben. Ihr Kampfgebrüll sei »nicht ein ton, ein einziger schrei / aus einer kehle« gewesen, »sondern die lallenden zungen, das wirre sprachgelärm / eines heeres, das aus aller herren länder bunt zusammengewürfelt war«. (V. 438f.)1Homer An anderer Stelle, im zweiten Buch, wird über die Verbündeten der Trojaner gesagt: »diese fremden / die verstehen uns nicht, die sprechen alle andere sprachen« (V. 803f.).2 Später werden insbesondere die »karer aus der stadt milet« beschrieben, und unter anderem werden sie als die »mit den barbarischen rachenlauten« bezeichnet (V. 867).3 Schließlich gibt es in der Ilias einige Stellen, an denen neben der Mehrsprachigkeit der Menschensprachen auch von der Mehrsprachigkeit, die sich aus der Sprache der Götter und denen der Menschen konstituiert, die Rede ist. So wird im ersten Buch der Ilias über ein ›hundertarmiges Urweltwesen‹ berichtet, »das die menschen, die der sprache der götter unkundig sind, bloß ›aigaíon‹ nennen« (V. 403f.).4 Die Spur der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten ließe sich von hier aus über die Dichtungskulturen des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart verfolgen (siehe KnauthKnauth, K. Alfons, »Weltliteratur«; »Literary Multilingualism«). Dargestellte Mehrsprachigkeit gehört unter den Bedingungen der jüngsten Globalisierungsschübe inzwischen zu den markantesten Zügen einer in vielerlei Hinsicht hybriden, globalisierten, weltweit geschriebenen und weltweit rezipierten Erzählliteratur der Gegenwart (siehe hierzu III.2).
c) Forschungsgeschichte
Zum Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Erzählen bzw. zur Mehrsprachigkeit in Erzähltexten gibt es nur wenige wissenschaftliche Arbeiten. Mehrsprachigkeit und Erzählen bzw. Mehrsprachigkeit in Erzähltexten ist bislang kein Thema der Narratologie und steht nicht im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Komparatistik. Die wenigen Arbeiten zum Problem der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten befassen sich zudem hauptsächlich mit Texten aus den jüngeren Phasen der Globalisierung, vor allem mit Texten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Vielfach interessiert dabei die Thematik der Fremdheit und Fremdheitserfahrungen oder ›des Fremden‹ in den Erzähltexten mehr als Textstrategien und Verfahren in der narrativen Darstellung von Mehrsprachigkeit. Außerdem ist festzustellen, dass Mehrsprachigkeit in Erzähltexten als textstrukturell-semiotischer Sachverhalt häufig mit der Mehrsprachigkeit der Autorinnen und Autoren als kognitiv-epistemischer Sachverhalt vermischt oder verwechselt wird.
Die Textstrategien, die in der Forschung im Zusammenhang mit erzählerischer literarischer Mehrsprachigkeit untersucht werden, sind weitgehend identisch mit allgemeineren, also nicht für das Erzählen spezifischen Darstellungsverfahren (siehe III.1 und III.2). Mit Blick auf die Strukturen des Erzählens spezifische Verfahren mehrsprachiger Literatur werden in der Regel nur punktuell analysiert, beispielsweise in Ernst RudinRudin, Ernsts Untersuchung von englischsprachigen ›Chicano-Erzähltexten‹ (RudinRudin, Ernst, Tender Accent of Sound), die an einem Korpus von 17 Romanen und zwei Autobiographien herausarbeitet, dass die ›embedded language‹ Spanisch in einem Großteil der untersuchten Fälle in Form von inferierten Einzelwörtern (»single word entries«; über 7000 Belegfälle) dargestellt wird, die zumeist in der nichterzählenden Redewiedergabe positioniert sind und hier vor allem figurencharakterisierende und situationsgestaltende, atmosphärisch konstitutive Funktionen übernehmen. Wladimir KrysinskiKrysinski, Wladimir entwickelt u.a. am Beispiel von Finnegans WakeJoyce, James die möglicherweise auch narratologisch relevante These, »que dans l’espace de la littérature moderne – en dépit de différences –, les textes polyglottes appartiennent tous à ce que je propose d’appeler les poétiques de la bouche invisible«1 (KrysinskiKrysinski, Wladimir, »Poétique de la bouche invisible«, 40), wobei mit dem Begriff »bouche invisible« ›Poetiken‹ der Komplexitätssteigerung bezeichnet werden, bei denen Polyglossie als ein ›Verstärker‹ (»multiplicateur«) sprachlicher, textueller, literarischer und kultureller Bezüge und Beeinflussungen von außen (»extra-réferents«) fungiert. Im Fall der Sprachenverschmelzungen von Finnegans WakJoyce, Jamese etwa könne man sich nicht mehr fragen, wer hier eigentlich spreche (KrysinskiKrysinski, Wladimir, »Poétique de la bouche invisible«, 49). SchmelingSchmeling, Manfred (»Multilingualität und Interkulturalität«) hat im Hinblick auf einen Roman von Sten NadolnyNadolny, Sten (Selim oder die Gabe der Rede, 1990) gezeigt, dass man es hier vor allem mit der Thematisierung der Differenz zwischen lingualen Standards bei gleichzeitiger Bewahrung eines Standards (Deutsch) in allen Textteilen sowie mit intratextueller Konstituierung der Darstellung von Mehrsprachigkeit durch Implikation bzw. Insinuation von Abweichungen vom Standard durch die im Text dargestellten Umstände zu tun bekommt, gelegentlich auch mit Fällen von Sprachmischung, die sich zumeist auf die Einführung einzelner Wörter in den Kotext der ›matrix language‹ beschränkt. Ähnlich wie Manfred SchmelingSchmeling, Manfred stellt auch Georg KremnitzKremnitz, Georg aus Sicht einer ›Soziologie der Kommunikation‹ fest, dass der Wechsel von einer Sprache zu einer anderen innerhalb eines Textes ein »textstrategisches, mithin ein stilistisches Verfahren« sei, »das man gewöhnlich als Element von Realismus im Text ansehen kann« (KremnitzKremnitz, Georg, Mehrsprachigkeit und Literatur, 14).
Eine deutliche narratologische Orientierung hat die Untersuchung von Giulia RadaelliRadaelli, Giulia. Anhand von Fallstudien zu Elias CanettiCanetti, Elias und Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg entwickelt sie die Hypothese, dass Mehrsprachigkeit »zumeist innerhalb der Personenrede« vorkomme oder sich auf diese beziehe (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 125). Radaelli befasst sich weiter im Anschluss an die narratologischen Kategorien Gérard GenetteGenette, Gérards mit dem Konzept der narrativen Stimme und untersucht nicht nur die Frage, wie sich überhaupt eine ›denkende‹ oder ›sprechende‹ Stimme schreiben lasse und welche Konsequenzen die Konstituierung einer Stimme für die Rezeption hat, sondern mehr noch, wie (mehrsprachiger) Wortlaut und Stimme im literarischen Text erzeugt werden. Hier rücken Verfahren der direkten Rede, der ›Mimesis der Stimmen‹ oder auch der ›erinnerten Stimme‹ in den Fokus. Unter anderem kommt sie zu der Hypothese, dass sich durch die »Kopplung von Sprachwechsel und Wortlaut […] grundsätzlich eine besonders starke Bindung an die sprechende Person bzw. an deren Stimme« ergebe (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 139). Man könne daher die ›matrix language‹ als Medium einer referentiellen Illusion bezeichnen, eine Funktion des Sprachwechsels sei möglicherweise der ›Realitätseffekt‹ im Sinne von Roland BarthesBarthes, Roland. RadaelliRadaelli, Giulia unterscheidet weiter das Phänomen der Mehrstimmigkeit von der Mehrsprachigkeit und befasst sich mit der narratologischen Positionierung von Stimme und Sprachwechsel zwischen Erzähler und Figur. Sie formuliert als ein allgemeines Ergebnis ihrer Untersuchung eine ›Poetologie literarischer Mehrsprachigkeit‹. In diesem Zusammenhang erweist sich nach RadaellRadaelli, Giuliai »der Sprachwechsel im literarischen Text als Träger semantischer Eigenheit, und zwar als Nicht-Übersetzung«: »Denn gerade narrative Texte haben grundsätzlich die Möglichkeit, auf eine andere Sprache zu verweisen, ohne sie tatsächlich zu verwenden, d.h., latente anstelle von manifester Mehrsprachigkeit, Übersetzung statt Sprachwechsel zu wählen. Wenn sie aber eine Differenz zwischen ›Sprache des Erzählens und Sprache des Erzählten‹ einführen, so ist eben diese Differenz bzw. der Sprachwechsel an sich signifikant, unabhängig von den Sprachen und den Worten.« (RadaellRadaelli, Giuliai, Literarische Mehrsprachigkeit, 284)
Zusammenfassend kann man über die literaturwissenschaftliche Forschung zum Problembereich ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ sagen, dass sie sich noch immer weitgehend in einer Phase der Datensammlung befindet, dass sie die gefundenen Daten selten erzählanalytisch erschließt (wichtige Ausnahme: Radaelli) und stattdessen schnell zur Entwicklung literarhistorischer und geistesgeschichtlicher Interpretationen benutzt. Es finden sich lediglich Ansätze zu einer theoretisch und methodologisch geklärten Perspektivierung der Untersuchungen, die Forschungen nehmen dabei weder koordiniert aufeinander Bezug, noch gelingt es bis auf Ausnahmen (RudinRudin, Ernst, RadaelliRadaelli, Giulia), systematische Kenntnisse über den Zusammenhang von ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ zu gewinnen oder gar geschichtliche Entwicklungslinien zu rekonstruieren. Unsere Kenntnisse über den Bereich ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ sind daher insgesamt lückenhaft. Die Forschung zu diesem Problembereich steht im Grunde immer noch am Anfang.
d) Offene Forschungsfragen
Literaturwissenschaftliche Untersuchungen und Erklärungen des Verhältnisses von ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ könnten oder müssten sich sogar stärker als bisher systematisch mit Blick auf umfangreiche, historisch und kulturell verteilte Korpora auf Formen und Verfahren der Darstellung von Mehrsprachigkeit in (graphisch repräsentierten, dichterischen) Erzählungen richten, um beispielsweise zu erhellen, welche Verfahrensmöglichkeiten es zur Markierung von Mehrsprachigkeit in Erzähltexten überhaupt gibt, welche generischen Unterschiede bei der Darstellung von Mehrsprachigkeit in Erzähltexten festzustellen sind, wie und wo spezifische Verfahrensweisen zur Darstellung von Mehrsprachigkeit historisch/kulturell auftreten, wie sich unterschiedliche Nutzungen von Verfahrensmöglichkeiten erklären lassen, wie eine Typologie der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten aussieht und wie die Geschichte der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten anzugehen wäre.
Dabei könnte oder müsste der Fokus bei der literaturwissenschaftlichen Untersuchung von ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ auf allen ›Bauelementen‹ der Erzählung/des Erzähltextes liegen, auf erzählender Rede ebenso wie auf den Formen der außererzählenden Rede (und dabei würde sich u.a. vermutlich zeigen bzw. bestätigen, dass Sprachmischungen und/oder Sprachwechsel zumeist in außererzählender Rede vorkommen – etwa in der zitierten Rede des Figurals –, seltener in erzählender Rede in einem strukturellen Sinn, etwa der Rede einer ›Erzählinstanz‹). Daneben kann sich Mehrsprachigkeit aber auch schon im paratextuellen Bereich des Erzähltextes bzw. durch den Kontrast zwischen paratextuellem Bereich des Erzähltextes und dem Erzähltext selbst manifestieren, besonders bei Titeln (Werktitel und Kapitelüberschriften), Widmungen und Motti.
Literatur
Knauth, K. Alfons,Knauth, K. Alfons »Literary Multilingualism I: General Outlines and Western World«, in: Lisa Block de BeharBlock de Behar, Lisa (Hrsg.), Comparative Literature, Oxford 2007 (= UNESCO Enyclopedia of Life Support Systems, Bd. 6.8), URL: www.eolss.net/ebooks/Sample%20Chapters/C04/E6-87-07–05.pdf (22.10.2012).
Knauth, K. AlfonsKnauth, K. Alfons, »Weltliteratur: Von der Mehrsprachigkeit zur Mischsprachigkeit«, in: Monika Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika (Hrsg.), Literatur und Vielsprachigkeit, Heidelberg 2004, S. 81–110.
Kremnitz, GeorgKremnitz, Georg, Mehrsprachigkeit und Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen, Wien 2004.
Krysinski, Wladimir,Krysinski, Wladimir »Poétique de la bouche invisible. Polyglossie et codes discursifs de la modernité. JoyceJoyce, James, Haroldo de CamposCampos, Haroldo de, E. PoundPound, Ezra, T.S. EliotEliot, T.S., H. HeissenbüttelHeißenbüttel, Helmut et M. RocheRoche, Maurice«, in: Manfred SchmelingSchmeling, Manfred/Monika Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika (Hrsg.), Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg 2002, S. 39–50.
Radaelli, GiuliaRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias CanettiCanetti, Elias und Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg, Berlin 2011.
Rudin, Ernst,Rudin, Ernst Tender Accents of Sound. Spanish in the Chicano Novel in English, Tempe 1996.
SchmelingSchmeling, Manfred, Manfred, »Multilingualität und Interkulturalität im Gegenwartsroman«, in: Monika Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika (Hrsg.), Literatur und Vielsprachigkeit, Heidelberg 2004, S. 221–235.
Schmid, WolfSchmid, Wolf, Elemente der Narratologie, Berlin/New York 22008.
Weber, Dietrich,Weber, Dietrich Erzählliteratur, Göttingen 1998.