2. Dramatik/Theater
a) Beschreibung des Verfahrens
Formen der Mehrsprachigkeit kommen in der europäischen Dramengeschichte auf vielfältige, wenngleich auf unterschiedlich zu gewichtende Art und Weise vor. Im Prinzip lassen sich nahezu alle beschreibbaren Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit auch in dramatischen Texten nachweisen, wobei sich die folgenden Ausführungen vor allem auf gedruckte Theatertexte beziehen und Hörspiele, Singspiele, Opern, Kabarett sowie andere benachbarte dramatische Formen ausgespart bleiben. Zugleich sollen für die jüngere Zeit, für die der Zugang zu Überlieferungszeugnissen leichter ist, auch exemplarisch Inszenierungen von Theaterstücken berücksichtigt werden, da auch über die Bühnentechnik, etwa durch Übertitelung oder Einspielung von Aufnahmen, Mehrsprachigkeit im Theater in Erscheinung treten kann. Bei Text und Inszenierung ist der Entstehungs-, Rezeptions- und Produktionskontext des jeweiligen dramatischen Stückes stets mitzudenken. Da der Dramentext zumindest potentiell auf eine Aufführung vor Publikum ausgerichtet ist, ist zumindest seit dem 18. Jahrhundert der Aufführungskontext, von einigen mehrsprachigen Kulturräumen abgesehen, einsprachig definiert. Dramengeschichtlich kommt mehrsprachiges Theater von AristophanesAristophanes und PlautusPlautus, Titus Maccius über Bartholomé de Torres NaharroTorres Naharro, Bartholomé de, Andrea CalmoCalmo, Andrea und die Commedia dell’Arte, von William ShakespearShakespeare, Williame, Lope de VegaLope de Vega, Félix, MolièreMolière, Carlo GoldoniGoldoni, Carlo und Tristan BernardBernard, Tristan bis ins 21. Jahrhundert immer wieder vor, ohne dass sich ein eigenständiges Genre ›mehrsprachige Dramatik‹ herausgebildet hätte (WeissmannWeissmann, Dirk, »Mehrsprachigkeit auf dem Theater«, 76). Während mehrsprachiges Theater in Ländern mit kolonialer Vergangenheit (in Afrika, Indien oder Lateinamerika) gängig ist, treten multilinguale Theaterformen in Europa in traditionell mehrsprachigen Ländern wie der Schweiz, Belgien oder Luxemburg bzw. in Städten auf, die eine hohe Internationalität und/oder eine ausgeprägte kulturelle Vielfalt aufweisen. Unabhängig vom Wirkungsumfeld manifestiert sich Mehrsprachigkeit im Drama entweder durch die Verwendung unterschiedlicher Sprachvarietäten oder durch Sprachwechsel.
(1) Sprachvarietäten im Dramentext manifestieren sich im Vergleich zu einer dominanten und quantitativ erkennbaren Standardsprache dadurch, dass sie markiert anders oder durch den Aufführungskontext auffällig, wenn auch in beiden Fällen verständlich sind. Solche Sprachvarietäten können auf einzelne oder wenige Figuren begrenzt sein und haben sodann kulturhermeneutische Relevanz. In Georg BüchnersBüchner, Georg Woyzeck (Entstehung 1836, Druck 1879, Uraufführung 1913) etwa kontrastiert die von Satzbrüchen und Ellipsen geprägte Dialektsprache von Woyzeck und anderen Figuren mit der Gelehrtensprache des Doktors. Eine figurenspezifische Sprachdifferenz wird oft als Indikator sozialer Zugehörigkeit verstanden, im Fall von Woyzeck verweist der Dialekt auf die proletarische Zugehörigkeit. Es gilt insgesamt genrespezifische Unterscheidungen festzuhalten: In Lustspielen und Komödien erzielt sprachvarietätisches Sprechverhalten häufig eine komische Wirkung und führt eine hierarchische soziale Verortung vornehmlich der Nebenfiguren herbei, etwa in Luise Adelgunde Victorie GottschedGottsched, Luise Adelgunde Victories Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736), in der Frau Glaubeleichtin, die teils Sächsisch spricht, als gegenaufklärerische Figur konzipiert ist. In Schauspielen und Dramen, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, ist sprachvarietätisches Sprechverhalten oftmals Ausdruck von Sozialkritik in einem sich verändernden sozialen Umfeld, wie etwa im sozialen Drama Die Weber (1892) von Gerhart HauptmannHauptmann, Gerhart, das zunächst auf Schlesisch unter dem Titel De Waber verfasst wurde. Soziolekte sind im Drama des Naturalismus wie z.B. in Die Familie Selicke (1890) von Arno HolzHolz, Arno und Johannes SchlafSchlaf, Johannes oder in Gerhart HauptmannHauptmann, Gerharts Vor Sonnenaufgang (1889) Instrument sozialpolitisch motivierter Ideologiekritik. Diese Tradition wird im Theater der Weimarer Republik (Ödön von HorváthHorváth, Ödön von, Marieluise FleißerFleißer, Marieluise) bis ins neue Mundarttheater, etwa bei Franz Xaver KroetzKroetz, Franz Xaver, weitergeführt.
Eine Sonderform sprachvarietätischen Sprechens stellt das dialektsprachliche Theater dar, in dem der gesamte Dramentext in einem überwiegend standardsprachigen Umfeld eine durchgehende und kohärente Sprachvarietät aufweist. Vor allem in regionalen Sprachräumen, in denen die Varietät einer Sprache zu einer dominanten Standardsprache sozial anerkannt und praktiziert wird, sind Texte im Dialekt erfolgreich, populär und in der Theaterlandschaft institutionalisiert, wie im Fall des Millowitsch-Theaters in Köln (bis ins 18. Jahrhundert zurückreichend), des Ohnsorg-Theaters in Hamburg (auf das Jahr 1902 zurückgehend; mit niederdeutschen Stücken oder niederdeutschen Übersetzungen aus dem Standarddeutschen) oder des Komödienstadls (seit 1959 Bühnenstücke in bairischer Mundart im Bayerischen Rundfunk). Insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren erlebte das Dialekttheater eine gewisse Aufwertung (vgl. Reinert-SchneiderReinert-Schneider, Gabriele, Gibt es eine Dialektrenaissance?).
(2) Der Sprachwechsel äußert sich ebenso auf der Autoren- wie auf der Textebene. Unter literatursoziologischer Perspektive manifestiert er sich bei mehrsprachigen Autoren. Samuel BeckettBeckett, Samuel beispielsweise schrieb seit 1944 zweisprachig, auf Englisch in seiner Muttersprache und auf Französisch in seiner Wahlsprache: En attendant Godot (1948–1949), Fin de partie (1955–1957) und Oh les beaux jours (1960) übersetzte der Autor selbst ins Englische (vgl. TophovenTophoven, Erika, »BeckettBeckett, Samuel dreistimmig«). Gabriele D’AnnunzioD’Annunzio, Gabriele verfasste in seinem französischen Exil in Paris auch französischsprachige Theatertexte wie Le Martyre de Saint Sébastien (1911), La Pisanelle (1913) oder Le chèvrefeuille (1913) (vgl. MeterMeter, Helmut, »D’AnnunzioD’Annunzio, Gabriele oder die Dramatik des doppelten Registers«). Der seit 1991 in der Nähe von Paris wohnende slowenisch- und deutschsprachige Peter HandkeHandke, Peter, der Werke von Emmanuel BoveBove, Emmanuel, René CharChar, René, Francis PongePonge, Francis und Patrick ModianoModiano, Patrick aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt hat, schrieb Les Beaux Jours d’Aranjuez. Un dialogue d’été (2012) in der Sprache seiner Wahlheimat. Sprachwechsel tritt zudem als Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit auf der Textebene hervor. Dabei ist zunächst der Umfang mehrsprachiger Anteile am Text zu beachten. Kurze Zitate und Redewendungen bzw. Ausdrücke können bereits in Stücktiteln (etwa bei Falk RichterRichter, Falk, Small Town Boy [2014], Never Forever [2014], Fear [2015]) und auf der Figurenebene vorkommen oder sie haben insgesamt eine textstrukturelle Bedeutung, wenn sie sich auf Dialoge, einzelne Szenen oder ganze Stücke erstrecken. In solchen Fällen können eine einzelne oder mehrere Figuren mehrsprachig sein.
b) Sachgeschichte
Die Dramen- und Theatergeschichte wird traditionell entweder im nationalen literaturgeschichtlichen Kontext, im Kontext der europäischen Dramen- und Theatergeschichte (BrauneckBrauneck, Manfred, Europas Theater; Brauneck, Die Welt als Bühne) oder im internationalen Kontext (BrauneckBrauneck, Manfred, Kleine Weltgeschichte des Theaters) beschrieben. Dabei werden Formen der Mehrsprachigkeit zumeist nicht thematisiert, sondern eher am Rande erwähnt. Lediglich in der Einflussforschung der Vergleichenden Literaturwissenschaft wird hervorgehoben, dass z.B. die Anfänge des Lustspiels etwa in Deutschland von Übersetzungen aus französischen oder englischen Komödien geprägt sind, wodurch nicht nur ganze Modelle, sondern auch einzelne Figuren und manchmal auch Redewendungen in die deutschsprachigen Dramen übernommen wurden.
Da die entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Bedingungen von Mehrsprachigkeit im europäischen Drama und Theater je nach Staat oder Region zu unterschiedlich sind und nicht auf eine allgemeine Art und Weise historisch zusammengefasst werden können, scheint ein typologischer Zugriff eher erkenntnisfördernd. Insgesamt lassen sich in der Dramengeschichte Formen der latenten Mehrsprachigkeit im monosprachigen Entstehungs- und Wirkungskontext von denen der manifesten Mehrsprachigkeit unterscheiden. Bei latenten Formen der Mehrsprachigkeit wird auf eine anderssprachige Rede, die nicht wörtlich wiedergegeben wird, lediglich verwiesen, wobei der Bezug zur Fremdsprache auf eine implizite oder explizite Weise erfolgt.
(1) Von einer impliziten latenten Mehrsprachigkeit ist dann die Rede, wenn die gesprochene Sprache in einem Drama fiktionslogisch nicht mit jenem sprachlich-kulturellen Raum im Stück kongruiert, der die Kulisse bildet und die Handlung eines Textes bestimmt. Schauplatz des bürgerlichen Trauerspiels Miss Sara Sampson (1755) von Gotthold Ephraim LessingLessing, Gotthold Ephraim z.B. ist ein Gasthof in England. Dass die englische Namen tragenden Figuren in dem im Exerzierhaus zu Frankfurt an der Oder uraufgeführten Stück Deutsch sprechen, ist ein Beispiel einer solchen latenten Form der Mehrsprachigkeit im Drama. Latente Mehrsprachigkeit bedarf eines Paktes des Theaterbesuchers mit dem Inszenierungskontext. Obgleich Namen und Orte als fremd und ausländisch wahrgenommen werden, irritiert der fiktionslogisch falsche Sprachgebrauch der Protagonisten nicht. Es handelt sich um eine wirkungsgeschichtlich geduldete Art einer ansonsten im jeweiligen soziokulturellen Umfeld ungewöhnlichen Form der Mehrsprachigkeit.
Implizite latente Mehrsprachigkeit ist eine Charakteristik von Stücken, die im Kontext bestimmter literarischer Moden entstehen, z.B. Johann Gottlieb Stephanies des JüngerenStephanie der Jüngere, Johann Gottlieb von MozartMozart, Wolfgang Amadeus vertontes Libretto Die Entführung aus dem Serail (1782), das die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt kursierende Türkenmode aufgreift, oder das Ritterstück von ShakespeareShakespeare, William The Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmarke (1601/1602) bis hin zu Erfolgsstücken des 18. Jahrhunderts. Vor allem aber findet sich eine implizite latente Mehrsprachigkeit in historischen Dramen und historischen Gemälden wie z.B. Ben JohnsonsJohnson, Ben Catiline His Conspiracy (1611), Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783) und Don Karlos (1787) von SchillerSchiller, Friedrich oder in Tragödien wie Romeo and Juliet (1597) von ShakespeareShakespeare, William, die in Verona spielt, und Hernani, ou l’Honneur Castillan (1830) von Victor HugoHugo, Victor. Sie dient in Komödien indes auch als Projektionsfläche und versteckte Kritik an zumeist gesellschaftlichen oder politischen Zuständen vor Ort, so etwa in Dom Juan ou le Festin de pierre (1665/1682) und Les Fourberies de Scapin (1671) von MolièreMolière oder im Vaudeville Le verre d’eau ou Les effets et les causes (1840) von Eugène ScribeScribe, Eugène, die in Sizilien, Neapel bzw. Großbritannien spielen. In Deutschland beobachtete Christoph Martin WielandWieland, Christoph Martin in seinen Briefen an einen jungen Dichter (1784) den Tatbestand, dass gerade diese implizite latente Mehrsprachigkeit auch den Erfolg dieser Schauspiele erkläre, da sie vor jeweils unterschiedlichem Publikum Beifall gefunden hätten. Und mit etwas Bedauern fügt er hinzu: »Bei den allermeisten Trauerspielen, Lustspielen, Dramen usw. womit wir seit GottschedGottsched, Johann Christophs Zeiten unterhalten wurden, mussten wir uns bald nach Griechenland, bald nach Italien, bald nach Frankreich oder England, bald nach Konstantinopel, Babylon, Memfis oder Peking versetzen lassen. Diese Ausländer waren, so zu sagen, das einheimische eigenthümliche Land unserer Tragödie.«1Wieland, Christoph Martin
Eine Sonderform stellt die imaginierte latente Mehrsprachigkeit im monosprachigen Entstehungs- und Wirkungskontext dar, bei der auf der Textebene unterschiedliche Sprachräume und Sprachen imaginiert werden, die auf der Kommunikationsebene des Stückes als (imaginierte) Varietäten einer Sprache wahrgenommen werden. In Johann Nepomuk NestroyNestroy, Johann Nepomuks »indianischer Faschings-Burleske« Häuptling Abendwind oder Das greuliche Festmahl (1862) unterhalten, verständigen und missverstehen sich die Gross-Luluerer und Papatutuaner »von den fernen Inseln in Australien« in Phantasiesprachen, die aufgrund von mit dem Wiener Dialekt vergleichbaren Sprachstrukturen den Zuschauern durchaus vertraut klingen.
(2) Eine explizite latente Mehrsprachigkeit liegt häufig in solchen Stücken vor, in denen der Konflikt zwischen zwei Familien, Geschlechtern, Königshäusern aus unterschiedlichen sprachlich definierten Kulturräumen stattfindet, wobei der Dramentext in einer einzigen Sprache gesprochen wird, in Dialogen aber die Anderssprachigkeit erwähnt oder thematisiert wird (z.B. in AischylosAischylos’ Orestie). Dramatisierungen des Iphigenie-Stoffes, ausgehend von EuripidesEuripides’ Tragödie (408–406 v. Chr.), oder des Antigone-Stoffes, auf der Grundlage des SophoklesSophokles’schen Dramas (442 v. Chr.), sind Beispiele dafür. Gelegentlich wird auf der Figurenebene darauf verzichtet, die Fremdsprachigkeit zu thematisieren, so dass die antagonistische Konstellation und die Zwistigkeiten zwischen Repräsentanten zweier widerstreitender Staaten nicht sprachlich, sondern über kulturelle und politische Verweissysteme kommuniziert werden. Explizite latente Mehrsprachigkeit kommt zudem in Texten vor, die in fremden Ländern spielen und Protagonisten unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Herkunft vereinen. Zu nennen ist VoltaireVoltaire (François Marie Arouet)s Zaïre (1732), dessen Handlung in dem von Saladin eroberten Jerusalem stattfindet und worin nebst dem Sultan auch französische Kreuzritter auftreten.
(3) Außer latenten Formen der Mehrsprachigkeit gibt es, dramengeschichtlich zunächst seltener, in den letzten Jahrzehnten jedoch häufiger anzutreffen, Formen der manifesten Mehrsprachigkeit. Hier ist zu unterscheiden zwischen manifester Mehrsprachigkeit im monosprachigen oder im mehrsprachigen Entstehungs- und Wirkungskontext. Im monosprachigen Produktions- und Rezeptionsumfeld lässt sich manifeste Mehrsprachigkeit auf der Figurenebene anhand des Sprachwechsels festmachen, wobei zwischen einzelnen Wörtern von Protagonisten oder der einer Figur exklusiv zugewiesenen Fremdsprache zu unterscheiden ist. Manifeste Mehrsprachigkeit ist insbesondere in Komödien zu finden und übernimmt unterschiedliche Funktionen. Von einer epochenspezifischen Funktion manifester Mehrsprachigkeit wird gesprochen, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt Multilingualität in dramatischen Genres eher dem Erwartungshorizont des Publikums entspricht. Dies trifft etwa auf die Renaissance zu, wo sich an den oberitalienischen Höfen die Commedia erudita, zumeist Komödien oder Pastoralspiele, großer Beliebtheit erfreut. Bernardo Dovizi da BibbienaDovizi da Bibbiena, Bernardo hob etwa in der Einleitung zu La Calandria (1513) hervor, dass sein Stück nicht auf Latein, sondern auf Italienisch geschrieben sei.
Von einer genrespezifischen Funktion manifester Mehrsprachigkeit spricht man, wenn sie einer Figur oder einem Typus zugewiesen werden kann. In Soldatenstücken, in denen die berufsbedingte Migration thematisiert wird, tritt häufig der Typus des bramarbasierenden Capitano auf (vgl. de MicheleDe Michele, Fausto, »Der Capitano der Commedia dell’arte«), der nicht nur mit seinen kriegerischen Heldentaten, sondern nicht selten mit seinen Fremdsprachenkenntnissen als Ausweis seiner Weltläufigkeit prahlt. Solche genrespezifischen Funktionen manifester Mehrsprachigkeit besitzen in den Komödien Langzeitwirkung und kehren, etwa im Rollenfach (vgl. FlorackFlorack, Ruth, Bekannte Fremde), häufig wieder: der radebrechende, der sich in der Fremdsprache ausdrückende Fremde taucht etwa als miles gloriosus bei PlautusPlautus, Titus Maccius oder als Il Capitano in der Commedia dell’arte auf. Während der Maulheld dort im Kostüm der spanischen oder französischen Soldaten als äußerem Zeichen der Fremdheit spielte, besetzt in anderen Komödien die Fremdsprachigkeit diese Form der Marginalisierung. So flucht Capitain Daradiridatumtarides Windbrecher von Tausend Mord aus Horribilicribrifax Teutsch (1663) von Andreas GryphiusGryphius, Andreas auf Französisch. Daneben wird in dieser Komödie auch Altgriechisch, Lateinisch, Hebräisch, Italienisch sowie Spanisch gesprochen, und Cyrilla verulkt Sempronius mit einer Phantasiefremdsprache.
Ebenso mehrsprachig wie der miles gloriosus ist in den Komödien auch der Gelehrte. Der Dottore etwa, der pseudogebildete Jurist oder Gelehrte aus Bologna und Padua, der aus der Commedia dell’arte bekannt ist und noch in der sächsischen Typenkomödie, in den Vaudevilles und in den Possen des 18. und 19. Jahrhunderts in der Gestalt des falschen Gelehrten weiterlebt, ist für seine Besserwisserei und sein gelehrtes Geschwätz bekannt. In einer Art »Küchenlatein«, einer Vermengung von Fach- und Fremdsprachen, befleißigt sich diese lächerliche Figur der übertriebenen Verwendung von Latinismen, um zu imponieren und seiner Person Bedeutung gegenüber anderen zu verleihen. Sie gilt seit ihren Anfängen über GryphiusGryphius, Andreas’ bereits erwähntes Scherz-Spiel Horribilicribrifax Teutsch, worin der Dorflehrer Sempronius altgriechische, lateinische und hebräische Wortfetzen einfließen lässt, bis hin zu den Wiener Haupt- und Staatsaktionen etwa von Josef Anton StranitzkyStranitzky, Josef Anton und NestroyNestroy, Johann Nepomuks Zauberposse Der böse Geist Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt (1833) als komische Figur. In manchen Komödien lebt der Typus weiter, doch wird die fremdsprachige Komponente reduziert, etwa in MolièreMolières Le Malade imaginaire (1673), in der der Arzt Diafoirus nur noch wenige lateinische Wörter spricht.
Manifeste Mehrsprachigkeit kann überdies eine sprachkritische Funktion übernehmen. Im 17. Jahrhundert, als die Sprachgesellschaften entstanden und sich um die Reinheit der Sprache und die Bereinigung des Deutschen von Fremd- und Lehnwörtern und Mundarten bemühten, dienten Fremdsprachen in Komödien der Förderung der sprachpflegerischen und -puristischen Bemühungen, wobei die Sprachkritik nicht selten mit einer Diffamierung des Fremden einherging. So verbindet noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts Luise Adelgunde Victorie GottschedGottsched, Luise Adelgunde Victorie, die mehrere Bühnenstücke aus europäischen Sprachen ins Deutsche übersetzt hat, im Lustspiel Die Hausfranzösinn oder Die Mammsell (1744) die Kritik an der Gallomanie der Oberschicht seit den 1740er Jahren mit dem falschen und übertriebenen Gebrauch des Französischen, sowohl um die Praxis der adeligen Kavalierstour zu karikieren als auch alles Französische als lächerlich und lasterhaft darzustellen. Und der Vertreter der jüdischen Aufklärungsbewegung (Haskala) Isaak EuchelEuchel, Isaak hat in seiner deutschsprachigen und jiddischen, postum erschienenen Komödie Reb Henoch oder: Woß tut me damit (1793) am Beispiel des Jiddischen Konflikte beleuchtet, die im Aufklärungs- und Akkulturationsprozess aufgetreten sind; zugleich thematisiert er in seinem Sittengemälde kulturelle, soziale und politische Aspekte des jüdischen Lebens im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts.2Euchel, IsaakAptroot, MarionGruschka, Roland EuchelEuchel, Isaak, der sich für den Gebrauch des Hebräischen stark machte, ergänzt diese Formen der Mehrsprachigkeit (Englisch, Französisch, Hebräisch) durch weitere Sprachvarietäten (deutsche Dialekte, gebrochenes Deutsch, philosophischer Jargon). Diese Beispiele zeigen, dass Sprachkritik Mehrsprachigkeit nicht verdrängt, sondern durch den bewussten Rückgriff auf dieselbe diskutiert und bewertet, ohne sie zu ignorieren.
(4) Manifeste Mehrsprachigkeit übernimmt im mehrsprachigen Kulturraum eine andere Funktion als in der monosprachigen Literaturlandschaft. In europäischen Ländern wie der Schweiz, Belgien oder Luxemburg, in denen eine mehrsprachige Literaturlandschaft mit teils verschiedenen koexistierenden Sprachtraditionen besteht, wird manifeste Mehrsprachigkeit nicht als deviant oder irritierend, sondern als selbstverständlich wahrgenommen.
Formen einer manifesten Form der Mehrsprachigkeit werden auch in Städten, deren Kultur- (und meist auch Wirtschaftsleben) von einem hohen Grad an Internationalität geprägt ist, immer geläufiger. Eine Sonderform bildet der Werkauftrag eines Theaters an einen Schriftsteller, wonach das Stück zuerst in der Übersetzung uraufgeführt wird. Yasmina RezasReza, Yasmina Stücke Ihre Version des Spiels (2012) oder Bella Figura (2015) wurden je am Deutschen Theater in Berlin und an der Schaubühne Berlin uraufgeführt. Während diese Stücke dort noch in der Muttersprache der Zuschauer gespielt werden, werden in Metropolen mit einem hohen Anteil an Arbeitsmigration hingegen fremdsprachige Aufführungen immer üblicher. So lädt das Theater der Stadt Luxemburg jedes Jahr konsequent Theater aus anderen europäischen Ländern zu deutsch-, französisch-, englisch- oder polnischsprachigen Produktionen ein. Insgesamt ist in den europäischen Staaten seit den 2000er Jahren eine Internationalisierung der Theaterlandschaft, grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei Koproduktionen sowie international ausgerichtete Theaterfestivalkultur zu beobachten, durch die Multilingualität im Drama gefördert wird.
Mehrsprachigkeit kann dabei zeitlich punktuell anlässlich von internationalen Theaterfestivals (Avignon, Berlin, Edinburgh, Sibiu, Zürich) praktiziert werden. In Zürich waren 2014 insgesamt 36 Theaterproduktionen aus 30 Ländern von 5 Kontinenten eingeladen. Dabei werden nicht nur Texte in Übersetzungen gespielt, sondern immer häufiger Produktionen eingeladen, zu deren Kennzeichen manifeste Mehrsprachigkeit gehört. Multilinguale Stücke, die sich an ein polyglottes Publikum wenden, sind nicht länger ungewöhnlich. In Avignon wurde 2016 Angélica LiddellsLiddell, Angélica Stück ¿Qué haré yo con esta espada? (Que ferai-je, moi, de cette épée?) auf Spanisch, Französisch und Japanisch gespielt; andere Stücke wurden auf Arabisch, Deutsch oder Englisch aufgeführt und jeweils in Französisch untertitelt. Der belgische Autor Antoine LaubinLaubin, Antoine fragt in Heimaten (2016) nach der Bedeutung der Heimat und lässt zwei belgische und zwei deutsche Schauspieler miteinander u.a. auf Französisch, Deutsch und Englisch über ihre Sprachheimat diskutieren. Wie hier entsteht Mehrsprachigkeit im europäischen Theater insbesondere durch internationale Zusammenarbeit von Theaterhäusern, die durch die Mehrsprachigkeit von Schauspielern, Regisseuren und anderen Akteuren zusätzlich verstärkt wird.
Doch nicht nur zu besonderen Festivalanlässen, sondern auch in die regulären Spielpläne integrieren Theater immer häufiger fremdsprachige Produktionen. Das Kollektiv Rimini Protokoll (vgl. Abschnitt d) lässt Experten des Alltags auf der Bühne auf Englisch über eigene Erfahrungen berichten, und Milo RauRau, Milo verfährt in seinen Stücken mehrsprachig: In einer als Trilogie angelegten Hinterfragung einer europäischen conditio humana im 21. Jahrhundert (The Civil Wars [2014], The Dark Ages [2015] und Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs [2016]) reflektiert RauRau, Milo die Geschichte Europas in privaten Lebensläufen. In The Dark Ages teilen Schauspieler aus Bosnien, Deutschland, Russland und Serbien in ihrer jeweiligen Muttersprache gebrochene Lebensläufe mit, erzählen von der Vertreibung und der Heimatlosigkeit, vom Engagement und der Verzweiflung. Mehrsprachige Stücke scheinen gegenwärtig besonders erfolgreich zu sein und eine avancierte Position im deutschsprachigen Theater anzuzeigen. Neben Rimini Protokoll und Milo RauRau, Milo ist auch Falk RichterRichter, Falk zu erwähnen, dessen Stück Play Loud (2012) zunächst in französischer Sprache am Théâtre national in Brüssel aufgeführt wurde und in dem Songs in anderen Originalsprachen über youtube eingeblendet oder als Reenactement gespielt werden. Während Hotel Palestine (2004), im gleichnamigen Hotel in Bagdad spielend und eine Pressekonferenz zwischen Reportern, PR-Leuten und Regierungssprechern darstellend, ausschließlich auf Deutsch verfasst ist und sogar die Zitate des amerikanischen Präsidenten auf Deutsch wiedergibt, verfährt RichterRichter, Falk, gemeinsam mit der niederländischen Choreografin Anouk van DijkVan Dijk, Anouk, im Stück Rausch (2012) anders. In diesem Tanz-Stück über die menschliche Psyche und Ängste im Zeitalter sozialer Netzwerke und des Narzissmus einerseits, der Umbruchssignale (Occupy-Bewegung) und des bröckelnden Finanzkapitalismus andererseits, werden ganze Passagen auf Englisch gesprochen und die letzte Szene und nun endet die Sprache ist mehrsprachig; so soll einer Regieanweisung zufolge Virginia WoolfsWoolf, Virginia Text So on a summer’s day in unterschiedliche europäische Sprachen übersetzt und »überlagert gesprochen [werden]: Englisch, Französisch, Ungarisch, Serbisch …«3Richter, FalkKreuder, FriedemannRink, Annika Es verwundert nicht, dass das Stück bereits mehrfach übersetzt und auf verschiedenen Festivals gespielt wurde. Überhaupt wurden RichtersRichter, Falk Werke bislang in mehr als 25 Sprachen übertragen. Mehrsprachigkeit im zeitgenössischen Theater geht eben häufig mit einer internationalen Vermarktung einher; darüber hinaus inszeniert RichterRichter, Falk insbesondere in Belgien und Frankreich seine Stücke oftmals selbst.
c) Forschungsgeschichte
Es gibt keine eigenständige Forschungstradition, die sich der Formen der Mehrsprachigkeit im Drama angenommen hätte. Es überrascht daher nicht, wenn in der mittlerweile umfassenden Sekundärliteratur zum Gegenstand »Mehrsprachigkeit und Literatur« (SchmelingSchmeling, Manfred, Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert) Theatertexte und Inszenierungen unberücksichtigt bleiben. Zugleich ist es aber unzweifelhaft, dass ohne die zahllosen Beiträge zur Mehrsprachigkeit in der Literatur die teils an entlegenen Orten erschienenen Fallbeispiele zur Multilingualität in Drama und Theater nicht bekannt wären. Da es zu diesem Thema insgesamt weniger Beiträge gibt, lassen sie sich kaum systematisieren. Erkennbar ist jedoch, dass Epochen, die eine starke europäische Ausrichtung gekannt haben und die zudem mehrsprachig waren, wie etwa die Renaissance, bislang ein regeres Forschungsinteresse hervorgerufen haben (vgl. Doppelbauer,Doppelbauer, Max »Mehrsprachige Außenseiterinnen in der Renaissancekomödie«). Das humanistische Mehrsprachigkeitsideal und die Praxis der Mehrsprachigkeit in Lyrik, Reiseberichten, Novellen und Erzählungen, Lexika und Traktaten sind aber im Vergleich zum Drama stärker in den Mittelpunkt gerückt (vgl. MaaßMaaß, Christiane/VolmerVolmer, Annett, Mehrsprachigkeit in der Renaissance).
Mehrsprachige Dramentexte oder Texte, in denen Formen manifester Mehrsprachigkeit festzustellen sind, entstehen nicht selten in Sprachräumen, in denen mehrere Fremdsprachen nebeneinander bestehen und mit einer historischen Sachlage korrespondieren. Dass in den Werken des in Italien wirkenden Spaniers Bartolomé de Torres NaharroTorres Naharro, Bartholomé de (Comedia Soldadesca, 1517) oder in den Komödien des Neapolitaners Giambattista Della PortaDella Porta, Giambattista (La Tabernaria oder Lo Astrologo, 1560–1600) Spanisch und Italienisch/Toskanisch nebeneinander auftreten, hängt eben damit zusammen, dass das Königreich Neapel unter dem Herrschaftsgebiet der Spanischen Krone stand (GruberGruber, Teresa Maria, »Imitation und Karikatur«, 338). Damit Handlung und Komik nachvollziehbar bleiben, sind demnach zumindest passive Fremdsprachenkenntnisse unter den Zuschauern notwendig. Auch anhand anderer Studien wird deutlich, dass die Grundlage mehrsprachiger Texte oder mehrsprachiger Insertionen ein polyglottes Umfeld ist. So war Polen im 17. Jahrhundert ein Vielvölkerstaat, in dem, wie Brigitte SchultzeSchultze, Brigitte (»Benutzte und verhandelte Multikulturalität und Mehrsprachigkeit«) zeigt, z.B. Piotr BarykaBaryka, Piotr im Versdrama Z chłopa król (Vom Bauern zum König) aus dem Jahre 1633 das Sujet des Bauernfürsten aufgreift (wie man ihn aus ShakespearesShakespeare, William The Taming of the Shrew kennt). In der sprachlichen Konfrontation des Ukrainischen als Soziolekt und Mundart für die Sprache von unten und dem Polnischen als Hochsprache der höfischen Rede werden Konflikte in einer stratifikatorisch geordneten Gesellschaft ausgemalt, wobei in der Karnevalskomödie der Rollentausch von Bauer und Fürst eben für die Dauer des Ausnahmezustandes möglich ist. In einem europäischen Kontext sind also Formen manifester Mehrsprachigkeit insgesamt in polyglotten Gesellschaften zu beobachten; in diesem Zusammenhang erwähnenswert sind die deutschsprachige Theaterproduktion (ab 1753) in Temeswar (PechtolPechtol, Maria, Thalia in Temeswar; FasselFassel, Horst, Das Deutsche Staatstheater Temeswar) oder Sibiu in Rumänien (MaziluMazilu, Alina/WeidentWeident, Medana/WolfWolf, Irina, Das rumänische Theater nach 1989), Hybridtexte und die Theaterlandschaft in Luxemburg (De ToffoliDe Toffoli, Ian, »Damnation et salut babélique dans le théâtre luxembourgeois«; BlochBloch, Natalie, »Internationales und lokales Theater in Luxemburg«).
Bleibt zu ergänzen, dass Mehrsprachigkeit und Theater in ehemaligen europäischen Kolonien im Diskurs des Postkolonialismus durchaus Gegenstand der Forschung sind. Christopher BalmeBalme, Christopher B. diskutiert die Verwendung der Mehrsprachigkeit als dramaturgische Strategie von Ausgrenzung bzw. Einbeziehung verschiedener ethnischer Gruppen innerhalb des Publikums, was etwa im zeitgenössischen europäischen Theater in einem häufig multikulturellen Diskurs kaum thematisiert wird (BalmeBalme, Christopher B., Theater im postkolonialen Zeitalter). Dies gilt ebenso für das Nichtverstehen, eine der ersten Barrieren des Sprachkontaktes, wie für das Code-Switching. Nicht die Forschung, sondern Theaterakteure beschäftigen sich mit Fragen der Verständlichkeit von Mehrsprachigkeit auf der Bühne. Während Filme und Opern in den meisten europäischen Ländern in der Originalsprache mit Unter- oder Obertiteln gezeigt und gespielt werden, ist diese Praxis in Theatern noch unüblich. Umstritten ist, inwiefern Fremdsprachigkeit von Theatermachern z.B. zur Erschließung neuer Besuchergruppen eingeführt werden soll. Befürchtet werden eine geringe Akzeptanz durch ein traditionelles Publikum, die durch eine fremde Sprache aufgebaute Distanz zwischen Darstellern und Zuschauern oder mangelnde Fremdsprachenkompetenz der Schauspieler, doch werden auch die Chancen einer derartigen Theaterpraxis gesehen (vgl. HolthausHolthaus, Christina, »Jeder macht das mal auf seine Art und Weise«). Der Übertitelungstechnik, die potenziell dazu geeignet ist, Sprachbarrieren zu überwinden, wurden jüngst mehrere Studien gewidmet (GrieselGriesel, Yvonne, Die Inszenierung als Translat; GrieselGriesel, Yvonne, Welttheater verstehen). Als Sonderform der Mehrsprachigkeit im Theater gilt das Gebärdensprachendolmetschen in einem inklusiven Theater von und für Gehörlose (Ugarte ChacónUgarte Chacón, Rafael, Theater und Taubheit).
d) Anwendungs-/Analysebeispiel
Im Folgenden werden drei Beispiele für Formen manifester Mehrsprachigkeit in Theaterstücken besprochen: (1) LessingLessing, Gotthold Ephraims Lustspiel Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767) ist bezeichnenderweise ein kanonischer Text, in dem fremdsprachige Sätze von einer einzigen Figur gesprochen werden. Der geringe Umfang manifester Mehrsprachigkeit auf der Figurenebene ist dabei durchaus typisch für Komödien mit Sprachwechsel (vgl. ConterConter, Claude D., »Fremdsprachen in der Komödie«). (2) Die Farce now here & nowhere (2007) des Luxemburger Schriftstellers Nico HelmingerHelminger, Nico ist ein Beispiel für die seltenere Form eines Hybridtextes, bei dem mehrere Sprachen gleichberechtigt nebeneinander fungieren, so dass nicht mehr von einer dominanten Sprache ausgegangen werden kann. (3) Schließlich sollen die Inszenierungen des Schweizer Theaterkollektivs »Rimini Protokoll« diskutiert werden, die eine jüngere Tendenz im europäischen Theater der Gegenwart exemplifizieren und wonach Texte in einer oder mehreren Fremdsprachen und mit Übersetzungen in Übertiteln aufgeführt werden.
(1) In LessingLessing, Gotthold Ephraims Lustspiel Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767) taucht im vierten Akt die Figur des Riccaut de la Marliniere auf, über deren Auftreten und Sprechen in gebrochenem Deutsch mit untermengtem Französisch Josef Freiherr von SonnenfelsSonnenfels, Josef Freiherr von sich wunderte; er vermutete, dass LessingLessing, Gotthold Ephraim nur ein paar Lacher im Publikum, eine »Risade«,1Sonnenfels, Josef Freiherr vonLessing, Gotthold EphraimBohnen, Klaus habe provozieren wollen. Eine komisch-desavouierende Funktion hat das Französische in jenen Passagen, in denen der leidenschaftliche Kartenspieler Riccaut sich offen als Falschspieler zu erkennen gibt: »Je sais monter un coup«, »Je file la carte avec une adresse« und »Je fais sauter la coupe avec une dexterité« (M 75). Doch hat Riccaut durchaus auch eine zentrale Funktion für den Fortgang der Handlung. Es ist nämlich Riccaut, der dem Major Tellheim die »Nouvelle« überbringen will, »davon er sehr fröhlik sein wird.«2Lessing, Gotthold EphraimBohnen, Klaus Er kündigt die »Lettre de la main«, »eine Könikliken Handbrief« (M 72) an, in dem Tellheim mitgeteilt wird, dass er während des Krieges rechtmäßig gehandelt und Preußen nicht geschadet habe, was ihm zuvor vorgeworfen worden war. Riccaut berichtet darüber hinaus, dass der Major bei Hofe nicht in Ungnade gefallen sei, immerhin eine Nachricht, die für den Handlungsverlauf nicht ganz unwichtig ist, auch wenn manche Zeitgenossen LessingLessing, Gotthold Ephraims wie Johann Joachim EschenburgEschenburg, Johann Joachim die Figur Riccauts für mehr als überflüssig hielten, was bei einigen zeitgenössischen Aufführungen wie etwa in Wien auch zur Streichung der Szene führte.
Die Fremdsprachigkeit Riccauts hängt mit der komödiengeschichtlichen Tradition seiner Figur zusammen. Riccaut wird wiederholt in der Tradition des miles gloriosus, des bramarbasierenden Capitano gesehen. Indes bedient er sich einer gewählten Ausdrucksweise. Und er tritt als höflicher, eleganter homo politicus auf, stammt zudem aus einer adeligen Familie und ist keineswegs mit dem verrohten Soldaten gleichzusetzen, der den Lustspieltypus charakterisiert. Auch rühmt sich Riccaut nicht seiner Tapferkeit und Kampfeslust, wie es das Rollenfach des Capitano erfordert, sondern er berichtet freimütig davon, dass er vor einem Duell geflohen ist. Zudem verführt er Minna nicht, was dem gängigen Anforderungsprofil des Typus entsprochen hätte. Wenn Riccaut sich vorstellt, dann dienen seine Worte nur auf den ersten Blick der satirischen Selbstentlarvung und Karikierung des Franzosen: »Ihro Gnad seh in mik Le Chevalier Riccaut de la Marliniere, Signeur de Pret-au-val, de la Branche de Prensd’or« (M 72). Wenn der preußische König ihn den ›Herrn von Schmeichler und Schmarotzer‹ nennt, so eine mögliche Übersetzung aus Riccauts Bericht, dann wird er zwar in eine Reihe mit einem Betrüger (Prensd’or = Goldnehmer) gestellt, allerdings wird der aufmerksame Leser bemerken, dass Riccaut nicht das Geld anderer für sich gestohlen hat, sondern ebenso wie Tellheim im Auftrage Friedrichs II.Friedrich II. (Preußen) Kontributionen, also Steuern und Zwangserhebungen zur Finanzierung militärischer Belange eintreiben musste. Wenn Riccaut demnach ein Dieb wäre, wie es in der Konjektur ›Prensd’or‹ anklingt, dann ist er es im preußischen Dienste. Auch berichtet Riccaut aus dem Zentrum der Macht in Preußen und erläutert Entscheidungsabläufe zwischen Ministerium und König, wobei die so offenbar werdenden Entscheidungsfindungsprozesse im Ministerium wenig schmeichelhaft für die preußische Politik und den Hof sind. LessingLessing, Gotthold Ephraim nutzt also den Sprachwechsel auch zu einer versteckten Kritik an Preußen, genauer: er verlagert diese Kritik in die Worte einer Figur, die komödiengeschichtlich in dem Sinne vorbelastet ist, dass sie vom Publikum zunächst als Fortschreibung eines traditionell nicht ernstzunehmenden Figurentyps kategorisiert wird. LessingLessing, Gotthold Ephraim formuliert seine Kritik in der französischsprachigen Camouflage. Diese Kritik wird indes nur jenen Mitgliedern des Publikums als Kritik verständlich, die erstens das Stück auch in seinen fremdsprachigen Passagen verfolgen und zweitens LessingLessing, Gotthold Ephraims Nutzung eines auf die überholte Ästhetik GottschedGottsched, Johann Christophs zurückgehenden Rollentyps mit interessierter Skepsis begegnen und darin ein auffälliges, und damit besonderer Aufmerksamkeit würdiges, dramatisches Detail erkennen. Die Informationsdichte von Riccauts Aussagen ist zu groß, als dass sie in der Fremdsprache von jedem Zuschauer schnell und in der ganzen Brisanz ihrer Details begriffen werden könnte.
Auch wenn die geringen Deutschkenntnisse des Franzosen, die in den deutschsprachigen Komödien des 18. Jahrhunderts zumeist als Merkmal des Betrügers, des Unsteten oder Listigen gelten, die Riccaut-Figur zunächst zu desavouieren scheinen, ist LessingLessing, Gotthold Ephraims Figurenkonzept und Dramaturgie viel subtiler, als dass er einfach nur Konventionen übernehmen würde: Riccaut ist keine lächerliche Figur, weil er Franzose ist, sein Radebrechen ist nur auf den ersten Blick komisch. Vielmehr ist dem Französischen eine politische Kritik eingeschrieben. Auch handelt es sich bei Teilen von Riccauts Rede auf Französisch ja gerade nicht um seine eigene Rede, sondern, was in der Forschung bislang kaum angemerkt worden ist, um die wiedergegebene Rede des preußischen Ministers. Wenn die Sächsin Minna sich also weigert, in Berlin Französisch zu sprechen, dann ist dies letztlich eine Kritik an der Frankophilie und Gallomanie Friedrichs II.Friedrich II. (Preußen) selbst.
(2) Charakteristikum der Komödie now here & nowhere oder den här io ming pei hätt mueres gär krewetten des Luxemburger Schriftstellers Nico HelmingerHelminger, Nico ist ihre Polyphonie und Polyglossie (De Toffoli, »Damnation et salut babélique dans le théâtre luxembourgeois«, 74). Das Stück, das 2007 entstand, als Luxemburg und die Großregion Kulturhauptstadt Europas waren, handelt von den administrativen Vorläufen der vom Kulturministerium geplanten Errichtung einer Installation des chinesisch-amerikanischen Architekten Ieoh Ming PeiPei, Ieoh Ming als kulturellem Aushängeschild Luxemburgs in der Großregion. Diese Farce über Kulturpolitik in Luxemburg und die Ideologie der Mehrsprachigkeit spielt an einem babylonisch anmutenden Ort, an dem das Deutsche, Englische, Französische, Luxemburgische sowie verschiedene Ideolekte und Soziolekte einander begegnen. Während HelmingerHelminger, Nico genrespezifische Elemente der Komödie wie Verwechslungen, vertauschte Identitäten, Missverständnisse und Situationskomik fortführt, besteht die Originalität des Hybridtextes in der dekonstruktiven Beschreibung einer multikulturellen Gesellschaft, in der Sprache zum zentralen Verhandlungsgegenstand wird.
Sprachwechsel findet auf mehreren Ebenen statt: zwischen einzelnen Figuren, innerhalb der Figurenrede und zwischen Regieanweisungen und Text. Wie der Dramaturg Andreas WagnerWagner, Andreas hervorstreicht, ist das Gleiten von einer Sprache in eine andere kein »bloßer Sprachwechsel, sondern auch immer ein Wechsel zwischen Sprachschichten« (WagnerWagner, Andreas, »friem ass een nëmme viru sech selwer«, 84). HelmingerHelminger, Nico konstruiert und überspitzt die Situation der Mehrsprachigkeit: Ein Geschäftsmann führt Telefongespräche in vier Sprachen, ein Gabunese mit isländischen Wurzeln lernt Luxemburgisch als Fremdsprache zwecks erhoffter leichterer Integration; die wie aus einem BeckettBeckett, Samuel-Stück herausgefallenen Figuren Tim und Struppi sprechen Französisch mit wallonischem Akzent, der Ministerialbeamte wechselt zwischen einem gelehrten Bildungsfranzösisch, einem verknöcherten Verwaltungsfranzösisch und dem Luxemburgischen, ein Polizist radebrecht u.a. Französisch in einer luxemburgischen Syntax, der Kulturminister kauderwelscht in einem sinnfreien mehrsprachigen Hybridtext, und Diane und Robbie Williams wechseln zwischen dem Englischen und Luxemburgischen. now here & nowhere geht über eine Sprachkomödie hinaus, insofern sie die auch sprachenbedingten Friktionen zwischen Sprechern von Fremdsprachen, Vorurteile gegenüber Grenzgängern und Ausländern und Missverständnisse oder Kommunikationsanstrengungen in einer multikulturellen Gesellschaft verhandelt. Außer den erwähnten Figuren werden noch ein portugiesischer Cafébetreiber, eine Deutsch sprechende Prostituierte, eine Frau aus Algerien und eine bosnische Immigrantenfamilie erwähnt. In den auf 39 Szenen verteilten, überwiegend interkulturellen Begegnungen werden Sprachen nicht nur als Verständigungsmedium, sondern auch als Machtinstrument zwecks Hierarchisierung innerhalb einer privaten, geschäftlichen oder sozialen Beziehung genutzt. »In now here & nowhere existieren gleich mehrere Sprachgemeinschaften, zwischen denen sich die Charaktere bewegen. Ihre Identität geht dort verloren, wo ihre Privatsprachen in der Kommunikation der Sprachgemeinschaften versagen.« (Ebd., 84) HelmingerHelminger, Nico thematisiert also in seinem Hybridtext Formen des Fremdsprachengebrauchs, um zugleich den Identitätsdiskurs zu kritisieren und nationale Identitätsentwürfe zu subvertieren. Auf Versuche kultureller Festschreibungen von Identitätsentwürfen (auch interkulturellen) gibt now here & nowhere eine Antwort, bei der die Lust an den Sprachen und an der Kommunikation ästhetisch vollzogen wird.
Der Hybridtext von Nico HelmingerHelminger, Nico, in dem das Neben- und Miteinander der in Luxemburg gängig gesprochenen Sprachen reflektiert und vorgeführt wird, zeigt Möglichkeiten und Grenzen manifester Mehrsprachigkeit in einem mehrsprachigen Aufführungskontext. Notwendig sind Schauspieler mit einer mehrsprachigen Ausbildung und vor allem ein Publikum, das der Handlung folgen kann, wobei die sprachlichen Finessen im Text sowie die Sprachkomik immer dann ein höheres Fremdsprachenniveau erfordern, wenn keine Übersetzung bei der Aufführung mitgeliefert wird. Hybridtexte können als sprachexperimentelle Literatur verstanden werden, in der die Sprachenkombinatorik auch als ein Ausweis ästhetischer Virtuosität begriffen wird; sie verweisen indes zugleich auf ein mehrsprachiges literarisches Feld, in dem paradoxerweise auch das Nichtverstehen als Option konzeptionell mitgedacht werden muss. In anderen Hybridtexten wie in Yoko TawadasTawada, Yoko deutsch-japanischem Stück Till (1998) ist ebendieses Nichtverstehen Bestandteil der Theaterästhetik.
(3) Unter dem Label »Rimini Protokoll« haben Helgard HaugHaug, Helgard, Stefan KaegiKaegi, Stefan und Daniel WetzelWetzel, Daniel Theaterprojekte inszeniert und initiiert, bei denen Personen als Experten des Alltags auftreten und ihre Geschichten erzählen, folglich keine herkömmlichen Schauspielrollen übernehmen. Es ist ein »Theater der Partizipation« (BirgfeldBirgfeld, Johannes, »Nachwort«, 168), in dem das Publikum direkt angesprochen wird. Eines seiner Kennzeichen ist die Internationalität. Projekte haben Rimini Protokoll nach Ägypten, Argentinien, Belgien, Brasilien, Deutschland, Griechenland, Indien, Kanada, Kasachstan, Lettland, Nigeria, Norwegen, Österreich, Polen, Tschechien, Venezuela, Wales, in die Schweiz und in die Türkei geführt.
Es kann demnach nicht ausbleiben, dass Mehrsprachigkeit konstitutiv für die Inszenierungspraxis eines international ausgerichteten Theaterfeldes ist. Breaking News – Ein Tagesschauspiel (2008) ist ein von Helgard HaugHaug, Helgard und Daniel WetzelWetzel, Daniel initiiertes Projekt, bei dem neun Experten u.a. aus der Medienwelt tägliche Nachrichtensendungen aus Ägypten, Deutschland, Irak, Island, Lateinamerika, Österreich, Pakistan, Russland, Saudi-Arabien, Syrien und weiteren Ländern vor dem jeweiligen kulturellen und linguistischen Horizont übersetzen und kommentieren (vgl. RoseltRoselt, Jens, »Szenarien der Übertragung«). Rimini Protokoll hat im Vorfeld vier Satellitenschüsseln auf dem Dach des Theaters anbringen lassen, so dass die Zuschauer eine Auswahl des täglichen, von den Experten aus Nachrichten von 2000 Sendern aufbereiteten 15-minütigen Infotainment-Pakets live und synchron verfolgen können. Das Projekt sensibilisiert zunächst für den jeweiligen Ausschnitt der Wirklichkeit, die den Zuschauern eines Senders dargeboten wird. Durch den Vergleich der Nachrichtensendungen entsteht das Bild einer disparaten Medienwirklichkeit, vor allem aber die Einsicht in die Sprachenbedingtheit von Nachrichten. Während die Expertin im Saal die indischen Nachrichten simultan übersetzte, wurden die isländischen Nachrichten zunächst von einem Isländer ins Englische, anschließend von einem weiteren Dolmetscher ins Deutsche übersetzt. Gehört wurden Nachrichten auf Arabisch, Englisch, Hindi, Kurdisch, Russisch, Spanisch, Urdu, wobei die fremdsprachigen Nachrichten lautlich deutlich von den Kommentaren und Übersetzungen überlagert und zwischendurch von Auszügen aus AischylosAischylos’ Perser unterbrochen wurden.
Rimini Protokoll führt Projekte weltweit durch und greift zudem Themen heraus, die den Alltag und Lebensläufe in einer globalisierten Welt betreffen. In Airport Kids (2008) kommen jene sieben- bis dreizehnjährigen Kinder zu Wort, deren Nomadismus durch die beruflichen Odysseen der Eltern in den Bereichen Handel, Wissenschaft, Militär, Internationale Politik oder Diplomatie entsteht, und die sich immerzu in einem Zustand des Transits befinden. Bei der Aufführung im Théâtre Vidy-Lausanne erzählten Kinder mit unterschiedlichen nationalen, kulturellen und religiösen Hintergründen von ihren von der Globalisierung geprägten Lebensläufen überwiegend auf Französisch und Englisch sowie in weiteren Muttersprachen wie Russisch, wobei die Experten allesamt zweisprachig waren. Paradoxerweise äußerte eine dreisprachige Jugendliche, die vier Wörterbücher mit sich führt, den utopischen Wunsch nach Monosprachigkeit, nach der einen Sprache, die die Welt vereinen würde und aus der Sicht der Jugendlichen die drei Sprachen (Russisch, Französisch und Englisch) umfasst, die sie beherrscht. Diese künstliche (neue) Mischsprache fand bei einer Umfrage der Experten keine mehrheitliche Akzeptanz. Die Utopie eines die internationalen Gewässer befahrenden, gigantischen Friedensschiffes, auf dem die Gesetze einer Freihandelszone bestünden, sowie die Kolonisierung des Mars wurden hingegen von einem Großteil der globalisierten Kinder (third culture kids) begrüßt.
e) Offene Forschungsfragen
Die Erforschung von Mehrsprachigkeit in Theatertexten kann erst als in ihren Anfängen betrachtet werden. Außer wenigen Interpretationen zu einzelnen mehrsprachigen Stücken (etwa in Luxemburg) und vereinzelten Studien zu Formen der Mehrsprachigkeit im Rollenfach (FlorackFlorack, Ruth, Bekannte Fremde) liegt bis heute keine systematische Erschließung von Mehrsprachigkeit im europäischen Drama vor. Die Desiderata sind demnach vielfältig: In welchen Dramen Formen der manifesten Mehrsprachigkeit vorkommen, ist ebenso wenig literaturhistorisch erschlossen wie funktionsgeschichtlich präzisiert. Ertragreich scheinen in diesem Kontext genrespezifische, auf einer breiten Textgrundlage basierende Untersuchungen zu solchen Stücken, in denen fremde Figuren auftreten; das Soldatenstück wäre hierfür nur ein Beispiel.
Eine textbasierte Dramenanalyse müsste zudem um eine Analyse der Formen von Mehrsprachigkeit in den Inszenierungen sowohl in produktions- als auch in rezeptionshistorischer Hinsicht ergänzt werden. Wie fremdsprachige Passagen in Theatertexten auf der Bühne in Geschichte und Gegenwart umgesetzt wurden, ist gelegentlich aufgrund der Auswertung von Theaterkritiken oder Aufnahmen bekannt, jedoch handelt es sich dabei um Einzelfälle mit Ausnahmecharakter. Darüber hinaus wären Regiebücher und Rollenhefte heranzuziehen. Sprachwechsel kann zudem Teil der Drameninszenierung sein, wenn Schriftzeichen auf Kulissen- und Requisitenelementen, O-Töne oder audiovisuelle Einspielungen in einer Fremdsprache einen monosprachigen Text ergänzen, kommentieren oder reflektieren.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass historisch-mehrsprachige Kulturräume literaturgeschichtlich weniger gut aufgearbeitet sind und deren Theatergeschichte in der Regel kaum bekannt ist. Dass es in Mainz zur Zeit der Französischen Revolution ein französischsprachiges, im baltischen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts ein deutschsprachiges, im polnischen Gebiet ein russisches und ukrainisches Theater gab, mag im Einzelfall bekannt sein, eine theatergeschichtliche Beschreibung fehlt allerdings bereits allein wegen Schwierigkeiten bezüglich der Rekonstruktion der Spielpläne an den unterschiedlichen Theatern bis heute. Manche Städte und Regionen, die heute überwiegend monosprachig sind, waren zu früheren Zeitpunkten mehrsprachig. Umgekehrt lassen sich Formen der Mehrsprachigkeit mangels Zeugnissen nicht immer präzise nachweisen. So wurde in diesem Beitrag das Theater der Wandertruppen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts ausgespart, weil Formen der Mehrsprachigkeit nicht zwingend an den eher rudimentären Textvorgaben rekonstruiert werden können, sondern vielmehr aus zeitgenössischen Berichten extrapoliert werden müssen. Aus ähnlichen Gründen ist über Mehrsprachigkeit im Improvisationstheater wenig bekannt.
Das Schreiben im Exil bildet eine Sonderform des mehrsprachigen Theaters in einem multilingualen Kulturraum. So haben sich in Luxemburg, Belgien und in den Niederlanden, aber auch in Frankreich und in Spanien zwischen 1933 und 1939 deutschsprachige Bühnen gebildet, die ein Emigrantenpublikum ansprachen, sich aber auch an eine fremdsprachige Bevölkerung richten konnten. Die Exil-Forschung hat hierzu umfassende Ergebnisse geliefert, die von der Forschung zur Multiliteralität bislang jedoch kaum aufgegriffen wurden.
Mehrsprachigkeit im Theater ist ein Diskurs, der in erster Linie von den Theaterakteuren geführt wird. Die Forschung hat sich bislang kaum der Fragen angenommen, inwiefern der Einsatz von Mehrsprachigkeit den Stellenwert einzelner Sprachen in der Gesellschaft reflektiert, inwiefern der experimentelle Charakter von polyglotten Inszenierungen eine Überforderung des Publikums darstellen kann und inwiefern Multilingualität nicht auch als Ergebnis einer Subventionspolitik und demnach einer Kulturpolitik zu begreifen ist, welche durch Internationalisierung und Schaffung europäischer Theaterfestivals einen europäischen Kommunikationsraum etablieren will, durch den Mehrsprachigkeit gefördert wird.
Notwendig sind in diesem Zusammenhang Studien über die interkulturelle Spielplangestaltung, die durch internationale Koproduktionen gefördert wird und auf der Grundlage internationaler Ensembles oder Inszenierungen ausländischer Regisseure entsteht. Untersuchungen zur Organisation von Theaterfestivals und zur Finanzierung grenzüberschreitender Produktionen sowie über den Gebrauch von Fremdsprachen im Theaterbetrieb bleiben Desiderata.
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