7. Fernsehen
a) Gegenstand
Bei der Rede von ›Fernsehen‹ ist zu unterscheiden in erstens die technische Apparatur (den Fernseher), zweitens das Dispositiv Fernsehen mit Sendeanstalten, technischer Infrastruktur, politischen Kontrollgremien und drittens das Fernseh-Programm mit den verschiedenen Formaten und einzelnen Sendungen. Sieht man auf der Ebene der Apparatur von DVD- und Blu-Ray-Playern als solchen technischen Erweiterungen des Fernsehens einmal ab, die eine Rezeption von Filmen in verschiedenen Sprachen ermöglichen, dann sind für die Frage der Mehrsprachigkeit v.a. die zweite und dritte Ebene relevant. Dabei hat man es auf derjenigen des Dispositivs ›Fernsehen‹ in der Regel mit akkumulierenden Formen der Institutionalisierung von Mehrsprachigkeit zu tun, bei denen verschiedene Sprachen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten im Programm neben- oder auch nacheinander stehen. So zeichnet sich ein Sender wie ARTE beispielsweise durch sein parallel oder auch zeitlich versetzt in deutscher und französischer Sprache ausgestrahltes Programm aus, was Oliver HahnHahn, Oliver als »separate« bzw. »parallele (interlineare) Multilingualität« bezeichnet hat: »Mit separater Multilingualität […] ist eine getrennte Sprachenverteilung in unterschiedlichen Sendesprachversionen bei gleicher visuellsprachlicher Programm-Basis gemeint«. Dabei muss die »verbalsprachliche Betextung« des Bild- und Tonmaterials »in den einzelnen Sendesprachversionen unterschiedlich viele Informationen transportieren, um ein fernsehjournalistisches Thema jeweils angemessen aufzubereiten«. Demgegenüber versteht Hahn unter »paralleler (interlinearer) Multilingualität« die »nebeneinander verlaufende Sprachenverteilung in einer einzigen gemeinsamen Sendesprachversion mit einer gemeinsamen visuellsprachlichen Programm-Basis«. Für die »Rezipienten unterschiedlicher (sprach-) kultureller Herkunft […] werden nebeneinander unterschiedliche Sendesprachen zu den jeweils selben Bildern von unterschiedlichen Fernsehjournalisten als ›native speaker‹ mit relativem Bezug aufeinander eingesetzt« (HahnHahn, Oliver, Arte – der europäische Kulturkanal, 123f.). Solche Formen der akkumulativen Mehrsprachigkeit auf Ebene der Sender bzw. des Dispositivs ›Fernsehen‹ betreffen aber eher die Präsentationsformen sowie An- und Abmoderationen (vgl., ebd., 196–198) denn ›literaturnahe‹, fiktional-erzählende filmische Genres.
Integrative Mehrsprachigkeit dagegen kommt meist erst auf der Ebene einzelner Sendeformate und Sendungen zum Tragen. Im Folgenden werden daher solche ›literaturnahen‹ fiktionalen Fernsehnarrationen in den Blick genommen, die im Sinne eines medial erweiterten Literaturbegriffs als ›mehrsprachige Literatur‹ verstanden werden können. Ausgespart bleiben Nachrichten-, Magazin- und Dokumentationssendungen sowie Hybridformate.
b) Grundproblematik
Als Grundproblematik von Multilingualität in literaturnahen Fernsehsendungen stellt sich – ganz anders als für das Kino – die Frage: Wie lässt sich Mehrsprachigkeit in allen ihren Formen von Sprachmischung und Sprachwechsel (zur Unterscheidung von Sprachwechsel und Sprachmischung sowie von manifester und latenter Mehrsprachigkeit vgl. RadaellRadaelli, Giuliai, Literarische Mehrsprachigkeit, 53) bis hin zu Code-Switching in der je konkreten filmischen Textur so realisieren, dass auch diejenigen Zuschauer, die nur eine oder vielleicht gar keine der benutzten Sprachen verstehen, der Sendung bzw. Serie dennoch problemlos folgen können? Und wie kann man im Idealfall erreichen, dass die nicht-polyglotten Zuschauer darüber hinaus in der Lage sind, die über die jeweiligen Sprachen erfolgenden Semantisierungen von Figuren bzw. Charakteren (vgl. dazu BleichenbacherBleichenbacher, Lukas, Multilingualism in the Movies), von Gruppen und Ethnien sowie filmischen Räumen – verstanden im weiten semiologischen Sinne Jurij M. LotmanLotman, Jurij M.s (Die Struktur literarischer Texte, 311–329) – nachzuvollziehen? Denn gerade der Übergang von sprachlichen Differenzierungen zu räumlichen und zu kulturellen Differenzen ist wichtig, da darüber Identitäten ebenso wie stereotype Attribute konstruiert werden.
Diese Ausgangsproblematik wird noch einmal komplexer, wenn man sich erstens klarmacht, dass man es beim Fernsehen mit einem multikodalen Medium zu tun hat, kann Mehrsprachigkeit im Fernsehen doch ebenso hörbar wie sichtbar gemacht werden, auch gleichzeitig, was sich bei geteiltem Bildschirm und/oder der Gleichzeitigkeit von Sprache und Sound noch einmal vervielfacht, und zweitens vor Augen führt, dass Mehrsprachigkeit in Fernsehfilmen vielfach nicht analog zur Verteilung der Sprachkompetenzen der Figuren realisiert wird, sondern dass paradoxe Formen von Positionstausch in Kauf genommen werden, um auch einem nicht-polyglotten Publikum das Verstehen zu ermöglichen, ohne aber auf Mehrsprachigkeit zu verzichten. Das fällt in der Regel kaum auf, wenn der Rahmen der Mehrsprachigkeit bereits zu Beginn einer Sendung hinreichend deutlich gemacht wird. Von daher ist es auch durchaus möglich, in einer nachfolgenden Sequenz wieder zu einer anderen Verteilung der Sprachen und Sprechenden überzugehen.
c) Verfahren der Präsentation von Mehrsprachigkeit im Fernsehen
In seiner Untersuchung zur Multilingualität in Kinofilmen, die sich speziell für die Sprachwahl der Charaktere interessiert, hat Lukas BleichenbacherBleichenbacher, Lukas (Multilingualism in the Movies, 24) für drei Dimensionen, nämlich erstens die Behandlung anderer Sprachen im Film, zweitens das Publikumsbewusstsein anderer Sprachen und drittens das Publikumsverständnis der über andere Sprachen vermittelten Inhalte, jeweils vier verschiedene Formen des Umgangs mit Fremdsprachlichkeit unterschieden: (a) die »Elimination«, d.h. Ersetzung der Fremdsprache durch eine unmarkierte Standardvarietät der Basissprache (was für Filme nichts anderes heißt als Vollsynchronisation in der Basissprache des Publikums), (b) die »Signalization« durch die Figuren, durch eine Erzählerfigur oder durch metalinguistische Kommentare, (c) die »Evocation«, beispielsweise das Sprechen mit Akzent, also das, was hier als simulierte Fremdsprachigkeit in der Basissprache bezeichnet wird, und (d) die »Presence«, d.h., die Fremdsprache wird nicht mehr ersetzt, sondern ist im Film selbst vorhanden (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: A taxonomy of multilingualism in fictional texts, based on Mareš (Bleichenbacher, 24Bleichenbacher, Lukas)
Die sich daraus ergebende zweidimensionale Matrix macht zwar deutlich, dass man es bei der Frage der Mehrsprachigkeit filmischer Texturen mit Abstufungen in einem Kontinuum zwischen den Polen von ›Elimination‹ und ›Presence‹ zu tun hat, doch muss man diese Matrix für Mehrsprachigkeit im Fernsehen hinsichtlich der Vielzahl und der Bandbreite an eingesetzten Verfahren deutlich erweitern und ausdifferenzieren. Zudem geht es in vielen Fernsehformaten gerade nicht um ›Elimination‹, sondern um die doppelte Zielsetzung, Mehrsprachigkeit durchaus sichtbar und hörbar zu machen, aber zugleich eben auch verständlich.
(1) In der eigenen Sprache simulierte Mehrsprachigkeit. Eine generelle Lösung der Ausgangsproblematik, einerseits Multilingualität im Fernsehen realisieren zu wollen, andererseits aber Verstehbarkeit auch für ein nicht-mehrsprachiges Publikum sicherstellen zu müssen, liegt darin, zwar punktuell mit Sprachwechseln und auch mit verschiedenen Formen der Sprachmischung zu arbeiten, dominant jedoch Multilingualität innerhalb der Basissprache in Form von als jeweils typisch für andere Sprachen erachteten Eigenheiten in Prosodie, Grammatik und Lexik zu simulieren und auf diese Weise Effekte von Mehrsprachigkeit innerhalb der Basissprache zu erzielen. In Anlehnung an Jacques DerridaDerrida, Jacquess Überlegungen in »Die Einsprachigkeit des Anderen« könnte man sagen: ›Das Fernsehen spricht vielfach nicht in einer einzigen Sprache, wenn es nur in einer Sprache spricht.‹ (DerridaDerrida, Jacques, »Die Einsprachigkeit des Anderen«, 154: »1. Man spricht immer nur eine einzige Sprache./ 2. Man spricht niemals eine einzige Sprache.«) Punktuell erlaubt dieses Verfahren der in der eigenen Sprache simulierten Mehrsprachigkeit es sogar, genuin fremdsprachliche Elemente einzubeziehen, etwa einzelne fremdsprachliche Wörter oder feststehende Redewendungen. Dadurch wird die simulierte Mehrsprachigkeit im Sinne einer »zusammenführenden und vermittelnden Tätigkeit« (RadaelRadaelli, Giuliali, Literarische Mehrsprachigkeit, 15) zu einer Art von Übersetzung, die Mehrsprachigkeit realisiert und zugleich aufhebt. Der damit latent gegebene Widerspruch kann u.a. dadurch aufgefangen werden, dass eine Figur im Film die Funktion eines Übersetzers wahrnimmt.
Je nachdem wie latent oder manifest und v.a. in welcher Dichte solche Verfahren realisiert werden, kann ein regelrechtes Stakkato des verständlichen Einbringens von Mehrsprachigkeit in filmische Texturen entstehen. Im multikodalen Medium Film kann dies unterstützt werden durch mal parallele, mal aber auch durchaus gegenläufige Semantisierungen von Sprechern und Räumen (Beispiel: Simulation von Russisch in der Russendisko im ersten Fall, aber ein berlinerisch sprechender vietnamesischer Zigarettenhändler in seiner Wohnung unter lauter anderen Vietnamesen im zweiten). Hinzu kommen ebenfalls zur jeweiligen Sprache und/oder Handlung entweder parallele oder gegenläufige nicht-sprachliche Soundelemente. So bedarf das Hochdeutsche bei Untermalung mit Klezmer-Musik nur einer geringen Abwandlung, um je nach Kontextualisierung mal als Jiddisch, mal sogar als Hebräisch wahrgenommen zu werden. Insgesamt ergibt sich bereits daraus eine höchst komplexe Matrix von Möglichkeiten der Realisierung von Multilingualität innerhalb der Textur von Fernsehfilmen, deren Fluchtpunkt aber meist die Simulation von Mehrsprachigkeit in der Basissprache bildet.
Man mag solche Simulationen einer Fremdsprache wie das Sprechen in gebrochenem Deutsch und mit starkem Akzent auf den ersten Blick für ein triviales Verfahren des Einbringens von Mehrsprachigkeit in Fernsehfilme halten. Doch macht man sich klar, dass – linguistisch betrachtet – mit der Spezifik von Syntax, Prosodie und Lexik stets Subsysteme der Grammatik und Pragmatik einer Fremdsprache in die Basissprache integriert werden, dann stellt sich gerade dieses Verfahren als eines der wenigen dar, die Mehrsprachigkeit integral realisieren (was wiederum erklärt, warum so gern und oft darauf zurückgegriffen wird). Denn Basissprache und darin weiterverarbeitete Fremdsprache sind nicht mehr so ohne weiteres voneinander zu trennen. Man könnte das analog zu dem denken, was Homi K. BhabhaBhabha, Homi K. als transkulturellen dritten Raum (›third space‹) gedacht hat, als einen Raum, in dem Identität und Differenz zusammenkommen und damit die Voraussetzung für Hybridisierung schaffen. Dieser Raum ist aber im Falle der in einer Basissprache simulierten Mehrsprachigkeit im Gegensatz zu BhabhasBhabha, Homi K. ›drittem Raum‹ gerade nicht hierarchiefrei (vgl. Bhabha, Die Verortung der Kultur, 5), vielmehr bleibt die Basissprache stets dominant.
(2) Fremdsprachliche Einsprengsel. Will man die Tatsache der Mehrsprachigkeit deutlicher herausstellen, so lässt man diejenigen Figuren, die fremde Sprachen repräsentieren, zusätzlich zum gebrochenen Deutsch gelegentlich Wörter oder feststehende Ausdrücke ihrer Muttersprache benutzen. Die fremdsprachlichen Wörter rahmen dabei die gesamte Redepassage so, dass sie insgesamt als fremdsprachlich oder doch zumindest als Äußerung eines fremdsprachlichen Sprechers wahrgenommen wird. Die fremdsprachliche Rahmung ist jedoch so minimal, dass sie nicht zu Verständnisschwierigkeiten für ein vorrangig an der Basissprache orientiertes Publikum führen kann. Gaëlle PlanchenaultPlanchenault, Ga^%elle (Who can tell, 431 und 438), spricht davon, dass »film viewers are dealing with representations of bilingualism constructed for a monolingual audience«. Eine solche Repräsentation verschiedener Sprachen findet man im Falle der WDR-Weekly-Soap LINDENSTRASSE, die die Titel der einzelnen Folgen in Schriftform in drei wechselnden Sprachen ankündigt. Die Fremdsprachen sind damit als kulturell verfestigte Vorstellung, als Stereotyp und Rahmen (frame) durchgängig präsent, zugleich im eigentlichen Film aber doch auch nahezu absent. Peter R. PetrucciPetrucci, Peter R. hat in seiner Untersuchung zur »representation of Spanish and English in […] American films« davon gesprochen, dass sprachliche Vielfalt (»language diversity«) durch »Hollywood’s monolingual lens« (PetrucciPetrucci, Peter R., Portraying language diversity, 406f.) gesehen wird. Dieses Verfahren kann von einzelnen Wörtern bis hin zu ganzen fremdsprachlichen Passagen expandiert werden, wobei allerdings meist weitere unterstützende Mittel des Verständlichmachens von Mehrsprachigkeit zusätzlich herangezogen werden, etwa eine zweite, nicht explizit dolmetschende Figur. Dass dieses Verfahren sehr bewusst eingesetzt wird, macht der an der Produktion der deutschen Krimi-Kurzserie IM ANGESICHT DES VERBRECHENS1 beteiligte WDR-Redakteur Frank TönsmannTönsmann, Frank in einem Interview deutlich, wenn er über die Produktion sagt, dass man »z.B. bei einer Figur die Nationalität geändert« habe, »so daß sie das, was da auf [R]ussisch gesprochen wird, einem anderen übersetzen muß. Denn an bestimmten Stellen fanden wir die Untertitelung für die Dynamik der Erzählung nicht gut, weil die Untertitel ja auch ablenken und es obendrein schlicht anstrengend ist, sie zu lesen« (Graf, Graf, Dominik Im Angesicht des Verbrechens, 236).
(3) Foregrounding. Zu dieser monolingualen Perspektivierung von Fremdsprachlichkeit gehört auch die Technik des sprachlichen foregrounding, die darin besteht, Figuren mit hohen Dialoganteilen im Vordergrund des filmischen Geschehens die Basissprache bzw. die fremdsprachlich akzentuierte Basissprache sprechen zu lassen, während im Hintergrund ein sprachlich und häufig auch kulturell anderer, meist sehr vielfältiger Bild- und Tonteppich anzutreffen ist. Diese im Vordergrund agierenden Figuren werden dabei – unabhängig von der gesprochenen Sprache (im deutschen Fernsehen in der Regel Deutsch) – als repräsentativ für den (in der Regel fremdsprachlichen) Hintergrund gesetzt, so dass paradoxerweise das im Vordergrund gesprochene Deutsch tendenziell die Fremdsprache(n) im Hintergrund repräsentiert.
(4) Backgrounding. Der Hintergrund kann aber auch gleichsam pur inszeniert werden, nämlich in Form vielfältiger Sprachenüberlagerungen, die bis hin zu massendynamischem Sprachgewimmel reichen können. Das geschieht in der Regel an dafür prädestinierten Orten wie übervollen Restaurants, Clubs, Diskotheken, in Sportstadien oder bei größeren Familienfeiern. Für die Zuschauer ist das ein durchaus entlastendes Verfahren, denn wenn das Sprachengewimmel kaum mehr aufzulösen ist, muss man sich auch nicht mehr um das Verstehen der Einzelsprachen bemühen.
(5) Kontextualisierung. Lässt man die Figuren in ihren jeweiligen Muttersprachen reden und bietet dabei durch begleitende Informationen auf der Bildebene und/oder auf der Ebene der nicht-sprachlichen Soundelemente genügend Kontextualisierungen an, dann sichern diese ein Verständnis auch ohne Kenntnisse der je aktuell verwendeten Fremdsprache(n): »Man kriegt durch den Zusammenhang die Gefühlsregungen mit und auch, was die miteinander zu bereden haben.« (Graf,Graf, Dominik Im Angesicht des Verbrechens, 237)
(6) Inszenierte Untertitel. Zu den fremdsprachlichen Passagen können Untertitel in der Basissprache des jeweiligen Publikums angeboten werden. Im Gegensatz zu Untertiteln als eines der über einen ganzen Film hinweg praktizierten Verfahren von Synchronisation sind diese aber von Beginn an genuiner Teil der filmischen Textur, nämlich fortlaufend lesbarer Text in der Basissprache und nicht nachträglich in schriftsprachlicher Form präsentierte Übersetzung. Verwendung findet dieses Verfahren v.a. für Szenen, die nicht allzu viele Schnitte aufweisen, in denen nicht allzu viel gesprochen wird und in denen die Figuren auf begrenztem Raum agieren, so dass dem Zuschauer die Zeit bleibt, Bild und Untertitel aufzunehmen.
(7) Selbstübersetzung und zweisprachige Dialoge. Ein weiteres Verfahren besteht darin, dass man die Figuren sich in Dialogen selbst übersetzen lässt. Eine Figur sagt zunächst etwas auf beispielsweise Russisch und übersetzt dies dann, explizit adressiert an andere Figuren innerhalb des Films, implizit aber auch an die Zuschauer, ins Deutsche. Dramaturgischer Nachteil ist die dazu nötige Verdoppelung der Textmenge und die damit einhergehende Verlangsamung des filmischen Erzählens. Eine Abwandlung davon stellen zweisprachig geführte Dialoge dar, die so angelegt sind, dass alle für das Verstehen nötigen Informationen auch durch die jeweils eine Hälfte eines solchen Dialogs sichergestellt sind.
(8) Rollenspiele mit Sprachwechseln. Sehr wichtig für das Einbringen von Mehrsprachigkeit und zugleich das Sicherstellen des Verstehens sind im Film dargestellte Rollenspiele und Als-ob-Szenarien mit Sprach- und Positionswechseln. Dabei spielt eine Figur einer anderen vor, wie sie sich in dieser oder jener Situation verhalten hat oder verhalten wird. Das wiederum schafft die Möglichkeit, dass die beiden Figuren in der Basissprache über dieses Rollenspiel sprechen, in der jeweils eingenommenen (gespielten) Rolle selbst aber eine andere Sprache ins Spiel gebracht wird. Zu dieser zweiten Sprache können die Figuren dann sogar eine Art Metaebene einnehmen, auf der sie das im Rollenspiel fremdsprachlich Dargestellte noch einmal in deutscher Sprache repetieren, reflektieren, kommentieren und so verstehbar machen. Eine Variante des Rollenspiels, nämlich die Rollen- und zugleich Sprachenverteilung, stellen solche Szenarien dar, die auf zwei Handlungsorte verteilt sind. Das ist etwa der Fall, wenn an einem Ort X eine illegale Übergabe von Diebesgut zwischen zwei Banden stattfindet, die beide jeweils nur in ihrer Herkunftssprache reden, während in einem Restaurant zugleich die beiden Bandenchefs per Telefon die Übergabe verfolgen und in der Basissprache kommentieren.
(9) Dolmetscherfiguren im Film. Eine weitere Variante von Rollenspiel und mehrsprachigem Dialog ist das Auftreten von Dolmetschern als Figuren innerhalb der filmischen Handlung, wobei die Dolmetscher nicht nur ihr Gegenüber im Film adressieren, sondern über die filmische Diegese hinaus stets auch die Fernsehzuschauer.
(10) Metasprachliche Kommunikation über Mehrsprachigkeit. Nur selten wird Multilingualität im Film selbst zum Gegenstand metasprachlicher Kommunikation, so etwa dann, wenn eine Figur zur anderen sagt, sie möge doch nicht ukrainisches, sondern ›richtiges Russisch‹ sprechen, oder wenn sprachliches Nichtverstehen direkt artikuliert und inszeniert wird: »Sprich nicht Russisch mit mir; ich verstehe nicht, ich kann nicht, ich will nicht!« (IM ANGESICHT DES VERBRECHENS, Folge 3) Solche metasprachlichen Thematisierungen des Nichtverstehens von Sprachen entlasten auch die Zuschauer davon, alle fremdsprachlichen Elemente in einem Fernsehfilm verstehen zu müssen, sehen sie doch, dass es den Figuren in der filmischen Handlung nicht anders geht.
(11) Unerwartete Sprachkompetenz. Gegenläufig dazu angelegt ist als Verfahren dasjenige, einzelne Figuren mit sprachlichen Kompetenzen auszustatten, die man von ihnen eigentlich nicht erwartet hätte und die sie zunächst auch selbst nicht gezeigt haben. Beispiel: Ein verhafteter Zigarettenschmuggler lässt den Dolmetscher auf dem Polizeirevier zunächst alle seine Äußerungen übersetzen, um dann am Ende dem ihn verhörenden Beamten in gut überlegtem Hochdeutsch zu entgegnen, dass diese oder jene Formulierung im Protokoll nicht genau genug sei, um das wiederzugeben, was er gesagt habe. Auf diese Weise können semantische Zuschreibungen über die Fremdsprachlichkeit ebenso realisiert werden, wie Fremdsprachliches verständlich gemacht werden kann.
(12) Voice-Over. Hingewiesen sei schließlich noch auf das als eine Form der Synchronisation verwendete Voice-Over-Verfahren, bei dem die Tonstärke der Fremdsprache fast ausgeblendet und dann durch die deutlich lauter vernehmbare Basissprache überlagert wird. Dabei endet die Übersetzung meist »wenige Augenblicke vor dem Original, damit der Zuschauer erneut die Möglichkeit hat, die Ausgangssprache in voller Lautstärke zu hören« (AlbrechtAlbrecht, Christina, Die Problematik der Synchronisation, 17f.). Daraus entsteht insgesamt der Effekt, die Fremdsprache gehört und verstanden zu haben.
Alle diese Verfahren, um Multilingualität in Fernsehserien einzubringen, ohne dabei das Publikum sprachlich zu überfordern, kommen kaum einmal in Reinform vor, sondern in allen nur denkbaren Kombinationen, die sich ablösen, ineinander übergehen, sich überlagern und sich bisweilen auch widersprechen.
d) Rote Fäden
Trotz der Vielfalt der unterschiedenen Verfahren des Einbringens von Mehrsprachigkeit in Fernsehfilme und -serien lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen.
Erstens vervielfachen sie Sprachlichkeit, was Alfons KnauthKnauth, K. Alfons pointiert formuliert hat: »Mehrsprachigkeit schafft mehr Sprachlichkeit. Das ist der Grundsatz der mehr- und mischsprachigen Literatur« (KnauthKnauth, K. Alfons, »Multilinguale Literatur«, 265). Erklären lässt sich damit, warum die vorgestellten, stets Zeit in Anspruch nehmenden Verfahren eher in Fernsehserien anzutreffen sind denn in Fernsehformaten, denen weniger Platz zur Verfügung steht. Serien haben schließlich viel größere zeitliche Spielräume, müssen nicht in einer einzigen Sendung Handlung und Charaktere vollständig entwickeln und dazu noch Mehrsprachigkeit verständlich machen, sondern können alle diese Komponenten über eine Anzahl von Folgen hinweg peu à peu aufbauen. Das wiederum schafft den nötigen zeitlichen Raum für das ›Mehr‹ an Sprachlichkeit, das mit Mehrsprachigkeit unweigerlich einhergeht.
Zweitens ist auffällig, dass viele der vorgestellten Verfahren auf Paradoxien beruhen oder solche hervorbringen. Die selbst paradoxe Zielsetzung in zwei Richtungen, nämlich Mehrsprachigkeit praktizieren, ein dafür nicht kompetentes Publikum aber nicht ausschließen zu wollen, scheint sich für Fernsehserien in den Lösungsverfahren für das Verständlichmachen von Mehrsprachigkeit für ein tendenziell monolinguales Publikum fortzusetzen. Hinzu kommt, dass ein ganzes Set von Paradoxien auch aus den Genrekonventionen resultiert, denn etwa der Fernsehkrimi zeichnet sich durch ein »paradoxes Ineinander von Wirklichkeitscharakter und Konstruktion, Aktualitätszwang und Aktualitätsflucht, Beunruhigung und Harmonisierung, Offenheit und Klischeebestätigung, Logik und Plausibilitätsdefizit« aus (PrümmPrümm, Karl, »Der Fernsehkrimi«, 349; vgl. auch KließKließ, Franciska, Produktion von Fernsehserien, 24).
Indem die aufgezeigten Verfahren – drittens – verschiedene Sprachen und Formen der Sprachenvermengung, Sprachensimulation usw. in engen Bezug zu Figuren, Figurengruppen und auch hochgradig semantisierten Räumen setzen, sind sie geeignet, Effekte von multikultureller Authentizität zu erzielen, die v.a. aus Kollisionen sprachlicher, kultureller und zugleich räumlicher Art resultieren. Dadurch werden stets auch Grenzen über das Sprachliche hinaus etabliert, gleich wieder punktuell überschritten, neu errichtet, wieder eingerissen, so dass wir es insgesamt mit einem fluiden transkulturellen Raum ›in Bewegung‹ zu tun haben, der sich seinerseits aus einer Vielzahl kleinerer, meist selbst schon hybrider transethnischer Kulturen zusammensetzt.1Kimmich, DorotheeSchahadat, SchammaWelsch, Wolfgang
Fernsehserien wie IM ANGESICHT DES VERBRECHENS, DIE SOPRANOS2 oder auch eine deutsche Weekly-Soap wie LINDENSTRASSE3 können daher entlang der in ihnen praktizierten Formen des von einer Basissprache aus verständlichen Einbringens von Mehrsprachigkeit als mediale Reaktionen auf die kaum mehr zu ignorierende Mehrsprachigkeit moderner Gesellschaften und v.a. ihrer sich mal multikulturell, mal transkulturell darstellenden Metropolen angesehen werden. Gerade in LINDENSTRASSE sind »fremde Sprachen sehr präsent« (StreitStreit, Antje, Fremdheitskonzepte, 129); besonders bemerkenswert ist, dass »Gespräche zwischen Angehörigen einer nicht-deutschen Ethnie« (ebd., 130) in LINDENSTRASSE vergleichsweise häufig in deren Muttersprache stattfinden und dann verkürzt deutsch untertitelt werden. Trotz der im Medium Fernsehen immer noch zu konstatierenden Dominanz der Basissprachen stellen solche Sendungen erste Schritte in Richtung einer nicht mehr nur durch die monolinguale Linse (siehe PetrucciPetrucci, Peter R.) perspektivierten Multilingualität im Fernsehen dar.
Literatur
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