2. Homophone Übersetzung
a) Beschreibung des Verfahrens
Die homophone Übersetzung hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigene Kunstform vor allem im Bereich der Lyrik etabliert. Im Deutschen spricht man in Anlehnung an eine berühmte homophone Übersetzung von Ernst JandlJandl, Ernst auch von ›Oberflächenübersetzung‹. Anders als die semantische Übersetzung versucht die homophone Übersetzung die lautliche Struktur des Originals zu übertragen und nimmt dabei nicht unbedingt Rücksicht auf Bedeutungen. In einer homophonen Übersetzung ist daher die klangliche Seite der Ausgangssprache deutlich präsenter als in der Mehrzahl der semantischen Übersetzungen, in denen die Lautstruktur des Originaltextes in der Regel nahezu ganz verloren geht (zum Stellenwert dieser Unterscheidung und zum Begriff ›semantische Übersetzung‹ vgl. IV.1). Insofern ist die intrinsische Mehrsprachigkeit homophoner Übersetzungen besonders ausgeprägt.
Das Verhältnis zwischen Original und homophoner Übersetzung kann auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben werden:
(a) Zum ersten bringt die Wiedergabe der phonologischen Struktur einer Sprache mit den Mitteln einer anderen mehr oder weniger große, d.h., mehr oder weniger gut ›hörbare‹ Differenzen zwischen Original und Übersetzung hervor. Der Grad dieser Differenzen kann nicht nur zwischen unterschiedlichen Übersetzungen, sondern auch innerhalb ein und derselben Übersetzung beträchtlich schwanken.
(b) Zum zweiten können, wiederum auch in ein und derselben Übersetzung, sehr unterschiedliche Methoden der Transformation von Laut-Buchstabe-Zuordnungen angewendet werden. Man kann sehr unterschiedlich mit den nicht oder nur teilweise lautlich relevanten Strukturen des Originals umgehen: Wort- und/oder syntaktische Grenzen können bewahrt werden oder nicht; dasselbe gilt für metrische Strukturen inklusive des Reims. Überdies ist es manchmal möglich, Wörter zu verwenden, die es in verwandter Form auch in der Originalsprache gibt, etwa Lehn- bzw. Fremdwörter. Stellenweise werden auch schlicht Laut-Buchstabe-Zuordnungen der Originalsprache in der Übersetzung vorausgesetzt.
(c) Zum dritten kann die Übersetzung in unterschiedlichem Maße konkordant sein, d.h., die Ausdrücke der Ausgangssprache in unterschiedlichem Grade konsistent mit korrespondierenden Ausdrücken in der Zielsprache wiedergeben (vgl. EastmanEastman, Andrew, »Estranging the Classics«, § 12).
Die Analyse konkreter homophoner Übersetzungen muss die Freiheitsgrade, die das Verfahren bietet, genau abwägen. In ihrer Nutzung gibt sich nicht zuletzt die Tendenzhaftigkeit der Übersetzung zu erkennen: die Art und Weise, wie der Originaltext im Übersetzungsvorgang womöglich strategisch auf eine bestimmte Bedeutung hin ›abgehört‹ wird. Das wiederum ist wichtig für die Einschätzung der kulturpolitischen Ausrichtung der jeweiligen Texte.
b) Sachgeschichte
Als künstlerisches, insbesondere in der Lyrik genutztes Verfahren erlebt die homophone Übersetzung seit dem Ende der 1950er Jahre eine gewisse Konjunktur, mit Höhepunkten in den späten 1960er Jahren und um die Jahrtausendwende. Allerdings ist die homophone Übersetzung der Sache nach deutlich älter. Man wird dem Prinzip der homophonen Übersetzung nachgerade sprachhistorische Relevanz zusprechen müssen: So greift es beispielsweise immer schon bei der Anpassung von Eigennamen aus fremden Sprachen, bei der Fremdwortübernahme und vor allem bei der Lehnwortbildung, die in der Regel mit der Anpassung des übernommenen Wortes an die phonologischen Regeln der Zielsprache einhergeht. Ein Beispiel hierfür ist die Benutzung des germanischen Initialakzents für aus dem Lateinischen ins Deutsche übernommene Wörter wie ›Fénster‹ (im Original ›fenéstra‹).
Eine im engeren Sinne literarische Praxis der homophonen Übersetzung liegt vor, wenn das Prinzip des Verhörens systematisch zur (meist populärkulturellen) Aneignung anderssprachiger Texte genutzt wird – ob bewusst oder nicht. Dass dieses Verfahren eine gewisse Faszinationskraft birgt, zeigt etwa die vielverkaufte Zusammenstellung verbreiteter Missverständnisse englischer Liedtexte von Axel HackeHacke, Axel und Michael SowaSowa, Michael.1Hacke, AxelSowa, Michael Allerdings bleibt die populärkulturelle Facette der homophonen Übersetzung vor allem in historischer Perspektive noch sehr viel gründlicher zu untersuchen. Anhaltspunkte gibt die Geschichte der Komödie: So übersetzen sich die römischen Figuren in Titus Maccius PlautusPlautus, Titus Maccius’ Komödie Poenulus die Rede einer Figur, die Punisch spricht, homophon ins Lateinische.2Duckworth, George E. Dasselbe Verfahren findet sich in Andreas GryphiusGryphius, Andreas’ Horribilicribrifax Teutsch (1663) (siehe das erste Anwendungs-/Analysebeispiel in III.2) und in William ShakespeareShakespeare, Williams Love’s Labour’s Lost. Hier hält eine Person mit dem sprechenden Namen Dull das Latein des Schulmeisters Holofernes pausenlos für reinstes Englisch. Es ist zu vermuten, dass im Rahmen von parodistischen Adaptionen z.B. des lateinischen Messetextes oder in der frühmodernen makkaronischen Poesie (siehe V.1) weitere Beispiele für homophone Übersetzung zu finden sind, die allerdings bis heute nicht systematisch erforscht sind. Ein interessantes Zeugnis bilden schließlich eine Reihe von Texten Jonathan SwiftSwift, Jonathans, die in einer Art Pseudolatein geschrieben sind, wie es noch heute von Lateinschülern gepflegt wird: »No quare lingat præ senti de si re«, antwortet ein Arzt seinen streitenden Kollegen in »A Consultation of four Physicians upon a Lord that was dying« (1736, publiziert postum 1746). Das heißt: »No quarrelling at present, I desire.« (Zit. nach CainCain, Christopher M., »Phonology and Meter«, 24.) Auch hier handelt es sich im Grunde um eine homophone Übersetzung, auch wenn das ›Original‹ erst durch Rückübersetzung erschlossen werden muss.
Seit der literarischen Etablierung der Muttersprachensemantik (also der Durchsetzung der Vorstellung, man könne nur in der Muttersprache echte Literatur schaffen) finden sich der spärlichen Forschung zufolge über lange Zeit kaum literarische Texte, die homophone Übersetzung als literarisches Verfahren einsetzen. Eine Ausnahme bildet Clemens BrentanoBrentano, Clemenss Verssatire »Der Einsiedler und das Klingding« von 1808, die BrentanoBrentano, Clemens im Zuge einer Debatte mit Johann Heinrich VoßVoß, Johann Heinrich über die Differenzen zwischen modernem und klassischem Vers publiziert hat. Hier tritt ein griechisches Sonett (!) auf – und zwar buchstäblich, denn es betritt die Hütte eines Eremiten. Das Sonett gibt nun einzelne Verse auf Griechisch von sich, die der Eremit, der diese Sprache nicht versteht, auf deutsche Wörter zurückzuführen sucht: »Τοῦ παιδιώδους φιλτάτου τ᾽ἀγῶνος / (Er sagt, bei Dich, o thus, viel da)«.3Brentano, ClemensBergengruen, Maximilian
Ihren ersten Höhepunkt erfährt die literarische homophone Übersetzung – nach einer frühen Übersetzung von »Frère Jacques« ins Englische, die Howard L. ChaceChace, Howard L. 1956 unter dem Titel »Fryer Jerker« publiziert hat (siehe WeissmannWeissmann, Dirk, »Stop making sense?«, 297) – mit dem nahezu gleichzeitigen Erscheinen des berühmten Gedichts »Oberflächenübersetzung« von Ernst JandlJandl, Ernst (1964),4Jandl, Ernst den Mots D’Heures: Gousses, Rames. The D’Antin Manuscript von Luis d’Antin van RootenVan Rooten, Luis d’Antin (1967)5Van Rooten, Luis d’Antin und schließlich der Übersetzung der Gedichte CatullsCatull (Gaius Valerius Catullus) von Louis unZukofsky, Celiad Celia ZukofskyZukofsky, Louis (1969).6Zukofsky, CeliaZukofsky, LouisCatull (Gaius Valerius Catullus) JandlsJandl, Ernst Übersetzung eines WordsworthWordsworth, William-Gedichts (die nach seinen Angaben schon 1957 entstanden ist) etablierte die Oberflächenübersetzung als lyrische Form im deutschen Sprachraum. Bei den Mots D’Heures handelt es sich um homophone Übersetzungen englischer Kinderreime ins Französische – was allerdings unterschlagen wird, da der Text nur die französischen Texte liefert und sie zudem als authentische literarische Neuentdeckung mit einem reichhaltigen philologischen Kommentar versieht. Die CatullCatull (Gaius Valerius Catullus)-Übersetzung von CeliaZukofsky, Celia und Louis ZukofskyZukofsky, Louis schließlich zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar ebenfalls homophon vorgeht, aber zugleich versucht, die Bedeutung des Originals zu erhalten. Dieses Verfahren bringt die Nutzung abgelegener Teile des englischen Wortschatzes mit sich – und dementsprechend eine extreme Mischung der Sprachregister des Englischen.
Seither ist die homophone Übersetzung ein zwar randständiges, aber doch durchgängig gebrauchtes Verfahren experimenteller Lyrik, besonders in den Vereinigten Staaten und hier vor allem im Kontext der Zeitschrift L=A=N=G=U=A=G=E (siehe WeissmannWeissmann, Dirk, »Stop making sense?«, 300). David J. MelnickMelnick, David J. hat ab 1983 mit Men in Aïda gar an das Projekt derZukofsky, Celia ZukofskyZukofsky, Louiss angeschlossen – es handelt sich bei dem Buch um eine zugleich homophone und semantische Übersetzung der IliasHomer.7Melnick, David J. In Frankreich ist die homophone Übersetzung vor allem von Mitgliedern der literarischen Gesellschaft Oulipo betrieben worden,8 und im deutschsprachigen Raum ist in erster Linie das Oulipo-Mitglied Oskar PastiorPastior, Oskar mit homophonen Übersetzungen hervorgetreten (siehe Abschnitt d). Weitere jüngere Beispiele haben der deutsche Lyriker SchuldtSchuldt und der amerikanische Lyriker Robert KellyKelly, Robert mit Am Quell der Donau (1998) vorgelegt9SchuldtKelly, RobertHölderlin, Friedrich – einem Text, der die mehrfache abwechselnd homophone und semantische Hin- und Her-Übersetzung eines HölderlinHölderlin, Friedrich-Gedichts dokumentiert (siehe hierzu Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika, »Nach-Klänge und Ent-Faltungen«). Einen Sonderfall stellen die Oberflächenübersetzungen aus dem Deutschen ins Deutsche dar, die Felix Philipp IngoldIngold, Felix Philipp veröffentlicht hat.10Ingold, Felix Philipp Ein zentrales literarisches Gestaltungsprinzip ist die homophone Übersetzung schließlich im Werk der bei Literaturwissenschaftlern mit Interesse an Mehrsprachigkeit wohl derzeit beliebtesten Autorin, nämlich Yoko TawadaTawada, Yoko.
c) Forschungsgeschichte
Es gibt bislang relativ wenige Forschungsbeiträge, die sich schwerpunktmäßig der homophonen Übersetzung widmen. In einer Reihe von Arbeiten wird das Phänomen am Rande erwähnt, allerdings oft in verzerrender Weise. So wird – in Übernahme fragwürdiger Vorstellungen von ›Lautpoesie‹ – vielfach behauptet, die homophone Übersetzung negiere die Bedeutung der Originaltexte. Dass diese Behauptung nicht korrekt ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass Übersetzungen homophon und semantisch zugleich funktionieren können, wie beispielsweise die CatullCatull (Gaius Valerius Catullus)-Übersetzung von Louis und CelZukofsky, Celiaia ZukofskyZukofsky, Louis.
Den Beiträgen, die sich intensiv mit einzelnen homophonen Übertragungen auseinandersetzen, lässt sich denn auch entnehmen, dass die Übersetzungen in der Regel eher tendenziös mit den Originalen umgehen und gerne Dinge in sie ›hineinhören‹, die man nicht notwendig in ihnen hören muss. Des Weiteren lässt sich zeigen, dass die homophone Übersetzung als Verfahren in sich keineswegs homogen ist, sondern dass in homophonen Übersetzungen eine Vielzahl von Transformationsmethoden angewendet wird (siehe Abschnitte a und d). So lassen sich die Möglichkeiten des tendenziösen Übersetzens noch steigern. Der deutsche Lyriker SchuldtSchuldt hat denn auch im Nachwort zu seinem Gemeinschaftsprojekt mit Robert KellyKelly, Robert gerade die semantische Übersetzung als »semanto-pedantisc[h]« (SchuldtSchuldt, »Nachwort/Afterword«, 76) bezeichnet und damit darauf hingewiesen, dass die semantische Übersetzung womöglich viel strengeren Konditionierungen unterliege als die homophone. Neuere Lektüren homophoner Übersetzungen zeigen auf, inwiefern das tendenziöse Verhören der Übersetzungen näher bestimmbaren Strategien folgt, und versuchen daraus Schlussfolgerungen auf den kulturpolitischen Impetus der jeweiligen Texte zu ziehen (vgl. z.B. Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika, »Nach-Klänge und Ent-Faltungen«; Hammerschmidt, »ÜberseHammerschmid, Michaeltzung als Verhaltensweise«; WickhamWickham, Christopher J., »Vom Wert der Worte«; Weissmann,Weissmann, Dirk »Stop making sense?«; Dembeck, »Oberflächenübersetzung«).
In einer Reihe von Arbeiten zu der CatullCatull (Gaius Valerius Catullus)-Übersetzung von CeliaZukofsky, Celia und Louis ZukofskyZukofsky, Louis wird die übersetzungstheoretische Relevanz des Verfahrens hervorgehoben. Ein mittlerweile schon kanonisch gewordenes Werk der Translationswissenschaft, Lawrence VenutiVenuti, Lawrences The Translator’s Invisibility, charakterisiert es als eine Möglichkeit, der unvermeidbaren Tendenz von Übersetzung zur Domestizierung des fremden Textes entgegenzuwirken bzw. die Automatismen eines Übersetzungsbetriebs, der die Flüssigkeit (fluidity) der Übersetzung zentral setzt, auszusetzen (214–224). In diesem Sinne bemerkenswert ist beispielsweise die Art und Weise, wie die Übersetzung derZukofsky, Celia ZukofskyZukofsky, Louiss mit der Notwendigkeit umgeht, im Englischen das Personalpronomen der ersten Person Singular einzuführen, wo es im Lateinischen fast immer fehlt: Sie setzt das »I« und seine Derivate konsequent syntaktisch mehrdeutig ein – und nimmt so anlässlich des Lateinischen eine Dekonstruktion der impliziten Identitätspolitik des Englischen vor (EastmanEastman, Andrew, »Estranging the Classics«, § 25). Auch hat das Verfahren derZukofsky, Celia ZukofskyZukofsky, Louiss Anlass zu der kulturpolitischen Deutung gegeben, die konsequente Weigerung, etwas anderes als amerikanisches Englisch zu hören, sei als »parody of imperial linguistic universalism« aufzufassen (ebd., § 17).
Die für die CatullCatull (Gaius Valerius Catullus)-Übersetzung konstatierte Proliferation von Obszönität (HoráčekHoráček, Josef, »Pedantry and Play«, 125–130) ist vielleicht insgesamt für das Genre nicht ganz untypisch; zumindest gilt das für JandlsJandl, Ernst berühmtes Gedicht, für das Projekt von SchuldtSchuldt und KellyKelly, Robert und auch für MelnickMelnick, David J.s Ilias-Übersetzung. HilsonHilson, Jeff hat das Argument vorgetragen, die homophone Übersetzung bringe den von Jean-Jacques LecercleLecercle, Jean-Jacques als »remainder« bezeichneten Strukturüberschuss der parole zum Erscheinen – also dasjenige am konkreten Sprechen, das sich jeder Einordnung in das System der Langue entzieht (HilsonHilson, Jeff, »Homophonic Translation«, 101f.; vgl. WeissmannWeissmann, Dirk, »Stop making sense?«, 306).1Lecercle, Jean-Jacques In der Tat ist das Verfahren der homophonen Übersetzung in gewisser Weise darauf angelegt, verborgene Strukturmuster der Sprache zu entbergen – und damit bisweilen Strukturen, die aus letztlich kulturpolitischen Gründen normalerweise verborgen bleiben. Wenn JandlJandl, Ernst von »Oberflächenübersetzung« spricht, so vielleicht auch deshalb, weil diese Technik einen ›Untergrund‹ der Sinnbildung an die Oberfläche bringt, der hier dann obszön wirkt.
d) Anwendungs-/Analysebeispiele
Wie eine Analyse und ansatzweise Interpretation homophoner Übersetzungen funktionieren könnte, sei im Folgenden an einem Beispiel vorgeführt, das vergleichsweise viele unterschiedliche Verfahren zugleich verwendet. Es handelt sich um eine homophone Übersetzung eines der berühmtesten Gedichte von Charles BaudelaireBaudelaire, Charles, »Harmonie du soir«, durch Oskar PastiorPastior, Oskar:
Harmonie du soir | karbon knie sud ovar |
Voici venir les temps où vibrant sur sa tige | wo saß sie wenn ihr gang & viehbrands ur attische |
Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir; | schlackenflöhe aus poren des einsickernden zensors |
Les sons et les parfums tournent dans l’air du soir; | (lektion eins) barfuß turnten – dann lehrt uns sogar |
Valse mélancolique et langoureux vertige! | das falsche mehl kolchis auf langohr musverzicht und |
Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir; | schlackenflöhe aus poren – ein sickernder zensor |
Le violon frémit comme un cœur qu’on afflige; | schlüpft kimono porphyr mit anker keiner fliege |
Valse mélancolique et langoureux vertige! | das falsche mehl auf kolchis langustös verzichtend |
Le ciel est triste et beau comme un grand repo soir. | wie hesekiel ist grammophon ein epos randfossil |
Le violon frémit comme un cœur qu’on afflige, | schlüpft kimono porphyr mit anker keiner fliege |
Un cœur tendre, qui hait le néant vaste et noir! | ein chor tanker quitte lineal fast ethno-haar |
Le ciel est triste et beau comme un grand reposoir; | wie hesekiel ist grammophon ein epos randfossil |
Le soleil s’est noyé dans son sang qui se fige. | lass o leise es je neue tangolange küsse feigen |
Un cœur tendre, qui hait le néant vaste et noir, | ein chor tanker quitte lineal fast ethno-haar |
Du passé lumineux recueille tout vestige! | du hast eh mini-ulmen reh-keulen puffer-stiege |
Le soleil s’est noyé dans son sang qui se fige … | lassoleise neue schlangolange kissen schweigen |
Ton souvenir en moi luit comme un ostensoir!1Baudelaire, CharlesKemp, Friedhelm | tonspur: venus ihr e-moll blüht summt ofenrohr2Pastior, OskarBaudelaire, CharlesRamm, Klaus |
Pastiors Übersetzung weist einen relativ geringen Grad an Konkordanz auf: Die in BaudelairesBaudelaire, Charles Gedicht sich regelmäßig wiederholenden Verse sind in der Übersetzung jeweils unterschiedlich wiedergegeben. PastiorPastior, Oskar verzichtet darauf, den Reim zu imitieren, und behält auch die Silbenzahl der BaudelaireBaudelaire, Charles’schen Verse vielfach nicht bei, sondern erhöht sie leicht. Das hängt damit zusammen, dass Pastior immer wieder phonetisches Material hinzufügt, für das kein Äquivalent im Original zu finden ist. So transformiert Pastior »Valse mélancolique« in »das falsche mehl kolchis« (der bestimmte Artikel hat im Original keine Entsprechung). Weiter finden sich anagrammatische Permutationen, zum Beispiel, wenn »Le ciel est triste« zu »wie hesekiel ist« wird und die Silbe »iel« verschoben wird; oder wenn die zweite Silbe des Worts »noyé« in »je neue« doppelt wiedergegeben wird, so dass das Wort des Originals sowohl in Permutation seiner zwei Silben als auch in der ursprünglichen Reihenfolge hörbar wird. Anagrammatische Verfahren werden auch ganz ohne Berücksichtigung der klanglichen Ebene verwendet: »et beau comme un grand reposoir« wird zu »grammophon ein epos randfossil«, »lumineux« zu »mini-ulmen«. An anderen Stellen scheint Pastior den BaudelaireBaudelaire, Charles’schen Textes nach deutschen Laut-Buchstabe-Zuordnungen zu lesen: »vestige« wird zu »stiege«, »Ton« zu »ton« und »Du passé« wird zu »Du hast eh«. Dasselbe gilt übrigens auch für die Übersetzung des Titels: aus »du soir« wird »sud ovar«, was ebenfalls nur dann halbwegs homophon ist, wenn in beiden Fällen entweder ein deutsches ›u‹ oder ein französisches ›ü‹ gelesen wird. In einem Falle macht PastiorPastior, Oskar schließlich Gebrauch von der Tatsache, dass im französischen Versbau das stumme ›e‹, das ›e-muet‹, als eigenständige Silbe gilt. So wird aus einem stummen Phonem ein eigenes Wort: »vertige« wird zu »verzicht und«. Schließlich werden Wortgrenzen und syntaktische Unterteilungen ständig verschoben, und auch die Regeln, nach denen dies geschieht, verändern sich offenkundig fortlaufend – wie wiederum die je unterschiedliche Übersetzung der bei Baudelaire identischen Verse zeigt.
Alles in allem ist PastiorsPastior, Oskar Übersetzung weder mit Blick auf die angewendeten Transformationstechniken, noch in den Aussprachestandards kohärent, die man zur lauten Lektüre des deutschen Textes wird befolgen müssen. Das Gedicht vollzieht so eine simultane Verschiebung unterschiedlicher, auf ganz verschiedenen Ebenen der Sprachstruktur angesiedelter Standards. Man kann darin, insbesondere in Kenntnis der Biographie des Autors, nicht zuletzt den kulturpolitischen Impuls sehen, das Verhältnis von Standard bzw. Regel und Singularität zum zentralen Bezugspunkt der Poesie zu machen, und zwar mit der Pointe, dass jeder Standard im Namen der Singularität schon im Akt seiner Etablierung wieder destabilisiert werden muss.3Stockhammer, Robert Vielleicht ist PastiorsPastior, Oskar homophone Übersetzung nicht zuletzt darauf ausgerichtet, zu zeigen, dass dieser Einsatz für Instabilität keinesfalls in Chaos mündet. Auch das Gedicht »karbon knie sud ovar« macht ja Sinn: Immerhin zieht sich durch PastiorsPastior, Oskar Gedicht eine Reihe von Wörtern, die sich auf Klanglichkeit und Musik, also auf die Grundprinzipien ihrer Entstehung beziehen: »langohr«, »grammophon«, »chor«, »leise«, »tango«, »tonspur«, »e-moll« und schließlich – ganz unbestimmt: – »summt«. Das »ostensoir«, die Monstranz, in der in der katholischen Liturgie die Hostie gezeigt wird, verwandelt sich in der Übersetzung in ein »ofenrohr«, das wiederum in einem kurzen Prosatext, der auf die Übersetzung folgt, mit einer »Ziehharmonika« assoziiert wird – mit einem Instrument also, das zum Titel des Originals von BaudelaireBaudelaire, Charles zurückführt.
e) Offene Forschungsfragen
Die systematische Erforschung der homophonen Übersetzung steht, wie die Beispiele gezeigt haben, noch ganz am Anfang. Vordringliche Aufgabe der Forschung sollte zum einen die Erfassung des historischen Materials und zum anderen die Entwicklung eines analytischen Instrumentariums zur Beschreibung der intrinsischen Vielfalt homophoner Übersetzungen sein. Ihre Geschichte wird dabei nicht zuletzt der Nähe des Verfahrens zu populärkulturellen Formen des Umgangs mit fremdartigem Sprachmaterial nachgehen müssen.
Auf einer abstrakteren Ebene muss der in der Forschung bereits diskutierten übersetzungstheoretischen Relevanz des Verfahrens weiter nachgegangen werden. Unter anderem wäre hier zu fragen, inwiefern Elemente homophoner Übersetzung nicht auch Bestandteile semantischer Übersetzungen sein können oder immer schon sind (siehe hierzu IV.1). Einige dieser Forschungslücken wird sicherlich die Publikation der Beiträge zu einer von Vincent BroquaBroqua, Vincent und Dirk WeissmannWeissmann, Dirk im Herbst 2016 in Paris organisierten Tagung mit dem Titel »Sound/Writing: On Homophonic Translation« schließen.
Literatur
Dembeck, Till, »Oberflächenübersetzung: The Poetics and Cultural Politics of Homophonic Translation«, in: Critical Multilingualism Studies 3.1 (2015), S. 7–25.
Eastman, AndrewEastman, Andrew, »Estranging the Classic: ThZukofsky, Celiae ZukofskyZukofsky, Louiss’ CatullusCatull (Gaius Valerius Catullus)«, in: Revue LISA/LISA e-journal VII.2 (2009), URL: https://lisa.revues.org/312 (Stand: 29.7.2015).
HammerschmHammerschmid, Michaelid, Michael, »Übersetzung als Verhaltensweise«, in: Martin A. HainzHainz, Martin A. (Hrsg.), Vom Glück sich anzustecken: Möglichkeiten und Risiken im Übersetzungsprozess, Wien 2005, S. 47–64.
Hilson, JefHilson, Jefff, »Homophonic Translation: Sense and Sound«, in: Helen Julia MinorsMinors, Helen Julia (Hrsg.), Music, Text and Translation, London u.a. 2013, S. 95–105.
Horáček, JosefHoráček, Josef, »Pedantry and Play: TheZukofsky, Celia ZukofskZukofsky, Louisy CatullusCatull (Gaius Valerius Catullus)«, in: Comparative Literature Studies 51.1 (2014), S. 106–131.
Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika, Monika, »Nach-Klänge und Ent-Faltungen: HölderlinHölderlin, Friedrichs Am Quell der Donau und seine Schallgeschwister«, in: Manfred SchmelingSchmeling, Manfred/dies. (Hrsg.), Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg 2002, S. 68–95.
SchuldtSchuldt, »Nachwort/Afterword«, in: Ders./Robert KellyKelly, Robert/Friedrich HölderlinHölderlin, Friedrich, Am Quell der Donau, Teil II & III, Göttingen 1998, S. 75–78.
Venuti, LawrenceVenuti, Lawrence, The Translator’s Invisibility. A History of Translation, London/New York 1995.
Weissmann, DirkWeissmann, Dirk, »Stop making sense? Ernst JandlJandl, Ernst et la traduction homophonique«, in: Études Germaniques 69.2 (2014), S. 289–306.
Wickham, Christopher J.Wickham, Christopher J., »Vom Wert der Worte: Zu Ernst JandlsJandl, Ernst oberflächenübersetzung«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 57.3 (2007), S. 365–370.