The Humanities und die Rechtsbindung
Über die (de-)rekonstruktive Macht geisteswissenschaftlicher Diskurse
1Im folgenden Artikel werde ich zunächst eine abstrakt-funktionale Bestimmung der Rolle der Humanities mit Blick auf das Recht vornehmen. Davon ausgehend soll sodann durch einen Blick auf gegenwärtige Tendenzen in den kulturtheoretischen Wissenschaften deren de-, re- bzw. konstruierender Einfluss auf die Bindung des Subjekts an das Recht bzw. die Bindung des Rechts an ein Fundament nachgewiesen werden, das dieses legitimiert. Es handelt sich damit gewissermaßen um den Versuch einer Beobachtung des Wandels der diskursiven Bestimmung von Normativitäts- und Subjektivitätspositionen – ein Unternehmen, was nicht nur aus der Perspektive Foucaults (1969: 171 f.), dem zufolge dies nur in der Retrospektive möglich ist, zugegebenermaßen wagemutig ist und sich dementsprechend der notwendig darin enthaltenen blinden Flecken bewusst ist. In diesem Sinne soll es insbesondere als Anregung zur Diskussion begriffen werden.
2Im Folgenden möchte ich nun zunächst (1.) also eine Begriffsklärung von Rechtsfundament und -bindung vornehmen und sodann einen Überblick über die diesbezügliche Funktion der Humanities – und zwar insbesondere der Kultur- und Literaturwissenschaft – geben. In einem zweiten Schritt (2.) werde ich die entsprechenden Funktionen an einem Beispiel darlegen, aus dem das de-, re- oder konstruierende Potenzial deutlich werden soll. Und schließlich, in einem dritten Schritt (3.), sollen weitere aktuelle, daran – womöglich in dialektischem Sinne – anschließende kulturtheoretische Tendenzen nachgezeichnet werden. Diese sollen darüber hinaus die Herausforderung deutlich machen, vor die sich gerade das Recht in der hier verstandenen Form gestellt sieht, und zudem den Blick auf die genau daraus erwachsende Bedeutung der Humanities lenken.
1. Rolle der Humanities mit Blick auf Rechtsbindung
3Zunächst also zu den Konzepten des Rechtsfundaments und der Rechtsbindung. Zu deren Erläuterung ist auf jene Logik einzugehen, die Pierre Legendre zufolge die maßgebliche in der Relation zwischen Recht, Subjekt und Kultur ist: die Logik der Repräsentation – diese ist sowohl gemäß der juristischen Stellvertretung zu verstehen als auch als représentation, d. h. in der Bedeutung der Vorstellung bzw. Darstellung, d. h. der bildlichen Darstellung einer Idee bzw. eines Objekts.
4Dies bedeutet zunächst, dass das Recht als legitim nur dann gelten kann, wenn es im Namen einer Instanz gesprochen wird, die es legitimiert. Die Mittel, durch welche diese etabliert – d. h. repräsentiert – wird, ist das, was ich hier als Rechtsfundament bezeichne: Hierbei handelt es sich im Sinne Legendres um ein kulturspezifisches, aus der jeweiligen Geschichte erwachsendes Werte-, Diskurs- und Bildfundament, aus dem das Recht seine Legitimation bezieht. Dieses muss ihm zufolge auf ästhetischem, metaphysischem und politisch-diskursivem Wege immer neu in Szene gesetzt werden.
5Für das Subjekt und seine Positionierung in der normativen Ordnung der Kultur bedeutet die Repräsentationslogik wiederum, dass es seine vollgültige Identität nur dann konstituieren kann, wenn es sich von eben jenem System umfänglich repräsentiert fühlt, sein eigenes Reden, seine eigenen Vorstellungen, in dem es umgebenden System widergespiegelt findet. Dies, was ich hier Rechtsbindung nenne, erfolgt Legendre zufolge in erster Linie durch den Spracherwerb, indem das Subjekt über die Sprache seinen Platz im institutionellen und normativen System erhält, damit zugleich jedoch ebenso in die dazugehörige Bild- und Wertordnung eintritt. Für eine umfängliche Bindung an das Recht, d. h. an die Instanzen, die über wahr und falsch, Recht und Unrecht und schließlich auch über die institutionellen Identitäten befinden, muss das Subjekt Legendre zufolge auch in seinem irrationalen Bereich, d. h. in seinem Begehren, adressiert werden. Dies kann seines Erachtens nur durch die eingangs genannten ästhetischen Mittel gelingen.
6Vor diesem Hintergrund geraten die Humanities als Mediatoren der Repräsentation in den Blick. Zunächst im Sinne Bourdieus (1998: 97), der die Wissenschaften als einen „integralen Bestandteil [des] Bemühens um die Konstruktion der Darstellung [also der Repräsentation] des Staates“ beschreibt.
7Durch die Beobachtung, Analyse und Beleuchtung jener Diskurse und Bilder, die das Sinnfundament der normativen Ordnung konstituieren, verfestigen sie deren Geltungskraft, speisen sie ein in den theoretischen Orientierungsrahmen der Gesellschaft.
8Darüber hinaus übernehmen sie jedoch zudem eine konstruierende bzw. eine konstituierende Rolle, auch dies zunächst im Sinne Bourdieus (2005: 136), der auf ihre Fähigkeit der Sichtbarmachung dessen hinweist, „was bis dahin unbekannt war, das heißt, je nach Fall, unausgesprochen oder verdrängt [– und wodurch sie in der Lage sind –], die Vorstellung von der sozialen Welt und damit auch die soziale Welt selbst“ zu verändern. Mit Blick auf die Rechtsbindung ließe sich dies als sprachliche Verdoppelung neuer Tendenzen in Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, in der Regelung des Zugriffs auf die Welt und des Miteinanders, begreifen, durch die sich ästhetische, diskursive, aber auch juridische Repräsentationsparadigmen erneuern oder modifizieren.
9Die Geisteswissenschaften bilden damit gewissermaßen (mit Blick auf das ästhetisch-diskursive Fundament des Rechts) das theoretisch-reflektierende Pendant zu jener „institutionelle[n] Verdoppelung“ (Röhl/Magen 1996: 25), als die die customs theory die Rechtsentwicklung bezeichnet; bzw. diesem Ansatz gemäß als die theoretisch-reflektierende Vorstufe des Moments, in dem mit Blick auf das Recht „Schlüsse von Formen des Seins auf solche des Sollens gezogen werden“ (Suhr 1967: 204).
10Schließlich lässt sich, nunmehr mit Blick auf die Relation zwischen Rechtsfundament und Subjekt, neben der erwähnten legitimierenden und bindungsbekräftigenden Funktion ein Potenzial erkennen, das aus der diskursiven Natur der Geisteswissenschaften erwächst: Und zwar ermöglichen sie es den Rechtssubjekten zudem, und zwar gerade durch die diskursive Verdoppelung, kritischen Abstand zu nehmen, die Rechtsbindung bzw. deren Grundlagen bewusst zu erkennen – im Sinne jener Rechtserfahrung, jener subjektiven, bewussten Anerkenntnis des Rechts, ohne die dem Soziologen Gilliard zufolge das Recht an Geltungskraft verliert; eine Machtposition des Subjekts, die in Legendres Ansatz völlig ausgelassen wird (vgl. Becker 2016, mit Verweis auf Gilliard 1979).
11Dementsprechend vermögen sie bestärkend oder lösend auf die Rechtsbindung einzuwirken. Dies gelingt ihnen dann mit umso mehr Schlagkraft, wenn ihre Inhalte explizit oder implizit die Subjektpositionen und Bindungsmodalitäten betreffen, und darüber hinaus, wenn die wissenschaftlichen Erkenntnisse in den (populären) Repräsentationsdiskurs aufgenommen werden und damit auf die sprachliche Natur der Bindung selbst zurückwirken.
Ich unterscheide hier mit Blick auf die Rechtsbindung also somit zwischen einer einerseits diskursiven und andererseits sprachlich-normativen (im Sinne de Saussures) Ebene. Die sprachlich-normative ist somit diejenige, die das Subjekt von sich selbst trennt, es, als sprachfähiges, in die es übersteigende Legalitätsordnung einbettet und so zur Selbsterkennung befähigt – aber auch zur Anerkenntnis der ihn umgebenden normativen Ordnung, die über Recht und Unrecht und seine Identität als Rechtssubjekt entscheidet. Unmittelbar daran knüpft die diskursive Ebene an, d. h. die inhaltliche, bzw. bildliche, imaginäre, und jene Ausprägung der Rechtsbindung, die das Irrationale, das Begehren einbezieht, ohne die dieser Anerkennungsprozess Legendre zufolge nicht möglich wäre. Anders gesagt: Jene diskursiven, bildlichen, mythologische Identifikationsangebote, die dem Subjekt vonseiten der Kultur dargeboten werden, in denen es sich selbst als zur Kultur gehöriges erkennen kann.
12Noch einmal mit Legendre gesprochen, wäre die diskursive – inhaltliche – Ausprägung dann Aufgabe der Ästhetik, der Kunst, der Literaten, während die Bekräftigung und Darlegung der sprachlich-normativen Bindung den Juristen obliegt.
13Momentan wird dem Poststrukturalismus retrospektiv ein eben solcher Effekt bescheinigt, indem er am Ursprung eines allumfassenden Relativismus und der Abkehr von jenen Instanzen gesehen wird, die traditionell das Recht und Wahrheitsfragen verbürgen.
2. Postmoderne und das dialektische Umschlagen
14Da dieses Phänomen vermutlich bereits den meisten bekannt ist, halte ich mich kurz: Und zwar sind diesem Ansatz zufolge die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse des linguistic turn, Poststrukturalismus etc. gemündet in einen umfassenden epistemischen Relativismus. Dessen ursprünglich positiven und wohl beabsichtigten Effekte, wie die Einsicht in den Eurozentrismus vieler Theorien, in die Dominanz maskuliner oder weißer Perspektiven, ist inzwischen umgeschlagen in das, was nicht erst seit der Wahl Trumps als Postfaktualismus oder alternative Fakten beschrieben wird (Malik 1917). Und unter Verweis auf die Relativität der Wahrheiten werden hier all jene Instanzen infrage gestellt bzw. abgelehnt, die traditionell für die Gewährleistung von Wahrheit oder Gerechtigkeit standen.
15Der geisteswissenschaftliche Diskurs hat also, so könnte man sagen, zu einer Lockerung der Rechtsbindung geführt und damit zu einer neuen Subjektposition: Das Subjekt sieht sich – im Sinne der oben genannten Logik der sprachlichen Bindung an eine ästhetisch fundierte Wahrheits- und Rechtsordnung in gewisser Weise – und gerade aufgrund der Sprachlichkeit dieser Bindung – in der Beurteilung von wahr und falsch auf sich selbst zurückgeworfen. Auf der populär-diskursiven Seite ist diese Entwicklung inzwischen dialektisch in einen dem ursprünglichen Diskurs diametral entgegenstehenden Diskurs – und in das Erstarken identitärer Bewegungen – umgeschlagen, in denen identitätspolitische Ansätze sowie das Recht auf Differenz von der rechten Seite in reaktionäre Richtung umgedeutet werden. Ein Diskurs also, der eine umso stärkere Bindung an neue (oder im schlimmeren Fall: alte) – identitär, ethnisch, religiös ausgerichtete – Instanzen befördert.
3. Weitere Entwicklungen
16Die beschriebenen – hier als bindungslockernd gedeuteten – Entwicklungen sind, so meine ich, bei genauerem Hinsehen als Störung der Repräsentationsrelation zwischen Rechtsfundament und Subjekt zu begreifen: Das repräsentationslogische Medium schlechthin, die Sprache, transportiert Repräsentationen, die dazu führen, dass das Subjekt nicht mehr von der institutionellen Ordnung repräsentiert wird, an die repräsentativ etablierte Legitimation der Rechts- und Institutionsordnung nicht länger glaubt.
17Dieses diskursiv initiierte Phänomen lässt sich darüber hinaus an weiteren Analysen zu eher systemischen festmachen: So ist beispielsweise von der mangelnden Repräsentation (vgl. Untersinger 2017), von Post- oder Scheindemokratie auf der einen Seite die Rede, und auf der anderen Seite – bzw. möglicherweise als Folge dessen – von der „institutionellen Aufwertung des Intim-Privaten“ (Luhmann 2009: 78) als Reaktion auf eine „komplexer und unübersichtlicher gewordene[] gesellschaftliche[] Umwelt“ (ebd.), oder mit Baudrillard, von individueller „Überrepräsentation“, die aus der „Transparenz und Obszönität des Raumes in der Promiskuität der Netze“ resultiere (Raulet 1990: 33, mit Verweis auf Baudrillard 1983: 98: „Was heute obszön ist, ergibt sich aus einer Überrepräsentation. Am Anfang war das Geheimnis. […] Heute wird ein ganz anderes Spiel gespielt, das […] eine totale Durchsichtigkeit aufführt: die transparente Welt einer weißen Obszönität inszeniert.“)
18Gerade in dem Kontext systemischer Ursachen rückt dabei ein Problemfeld in den Blick, das die traditionellen Repräsentationsstrukturen fundamental infrage stellt und dementsprechend erhöhte Sprengkraft für die Rechtsbindung bzw. -geltung birgt:
19Und zwar stellt sich angesichts der Migration, Globalisierung etc. immer dringender die Frage, ob sich ein ästhetisch, sprachlich, lokal umgrenztes Rechtsfundament im eingangs genannten – legendreschen – Sinne überhaupt noch denken lässt, an das sich binden ließe, d. h., in dem sich das Subjekt repräsentiert sieht und auf dem die Geltungskraft des Rechts beruhen kann. Zwar ist die Tatsache, dass Kultur und Sprache – bzw. die Kultur gerade aufgrund ihrer sprachlichen Konstituiertheit – generell nie klar umgrenzt waren, ihnen „ein genuin grenzüberschreitendes Potenzial“ (Dembeck 2017) eignet, keine neue Erkenntnis. Jedoch zeichnen sich durch Migration, Flucht und globalisierte Kommunikation sowie transnationale Rechtsinstitutionen eine Situation ab, in der die zuvor genannten Konzepte der Rechtsbindung und eines kulturspezifischen Rechtsfundaments grundlegend fraglich zu erscheinen beginnen: wenn in Zeiten des globalen Kommunikationsnetzes, das mit Bildern und Diskursen zugleich Rechts- und Wertvorstellungen um den Globus kommuniziert (Röhl/Magen 1996: 28) , wenn über virtuelle Interaktionen „soziale[] Beziehungen aus Raum und Zeit disloziert werden“ (ebd.: 48), physische Präsenz für die Partizipation in einem System/Kollektiv nicht mehr nötig ist. Was letzten Endes ein physisches Zusammenleben von Subjekten ermöglicht, die sich psychisch, sprachlich – und zwar auf virtuellem Wege – an andere Referenzordnungen gebunden fühlen; eine Konstellation, die umso mehr durch Migration und Flucht befördert wird.
20Die geisteswissenschaftlichen Diskurse, die sich diesen Phänomenen unter den Begrifflichkeiten wie Nomadismus, Multilingualität, Interkulturalität (oder der Fragmentierung zwischen Regionalisierung und Globalisierung, in unterschiedliche ‚Stämme‘) widmen, tragen diesem Problemfeld nicht nur beobachtend Rechnung, sondern verhandeln letztlich zugleich die Möglichkeit neuer Bindungsparadigmen, verschiedener Bindungsintensitäten oder unterschiedlicher Bindungsebenen. So widmen sie sich zum einen den ästhetischen, subjektivitäts- oder Kollektiv-konstitutiven Konsequenzen neuer Lebensentwürfe, stellen aber zugleich auch die Frage nach jenen Elementen, die sich hier – im Sinne der Rechtsbindung – als unauflöslich, als unverbrüchliches Band zwischen Subjektivität und normativer Ordnung erweisen; wie bspw. jene Bindungen des Nomaden, „wie Prägungen oder tradierte Verhaltensmuster“ (Leutzsch 2015: 8) des Wanderers; oder die Verflechtung von Sprach- und Kulturdifferenzen im Sinne einer vertikalen Mehrsprachigkeit; oder letztlich die Fragmentierung der Gesellschaften in unterschiedliche Schichten, die in unterschiedlich intensivem Maße an der Globalisierung und Öffnung teilhaben – was letztlich die Frage nach Varianzen der Bindungsintensitäten bzw. nach unterschiedlichen Bindungsebenen aufwirft, für die möglicherweise unterschiedliche Instanzen der Bindung infrage kommen würden. Diese Entwicklung findet auch in der systemtheoretisch basierten Rechtstheorie des societal constitutionalism (Teubner 2016) Entsprechungen im Sinne des Entstehens vielzähliger, transnationaler und funktionell differenzierter Verfassungen jenseits der staatlichen Verfassung oder im Ansatz eines rechtlichen Sphärenpluralismus mit unterschiedlichen Legitimationsgraden oder zuletzt solchen Ansätzen, die zwischen „two cultures – better perhaps, two levels of culture – [zu unterscheiden vorschlagen] one global and the other local, national, or provincial“ (Röhl/Magen 1996: 15, mit Verweis auf Field 1971: 367). Im Sinne eines Sphärenpluralismus, in dem es „globale, staatliche und lokale Rechtsordnungen“ gibt,
also Rechtsordnungen verschiedener Reichweite, die auf gleichartige Situationen in unterschiedlicher Art und Weise reagieren. Lokales Recht zeichnet sich, wie unter einem Vergrößerungsglas, durch ausgeprägte Legitimität aus, staatliches Recht durch Legitimität in mittlerer Größenordnung während globales Recht geringe Legitimität mitbringt. (Ebd.: 48)
21Zugleich sind zwei Entwicklungen in den Geisteswissenschaften zu beobachten, die sich als direkte – diskursive – Reaktion auf die (diskursiv initiierte) Störung der Repräsentationsrelation deuten ließen. Diese würde ich insofern unter die Kategorie der re- bzw. konstruierenden Funktion subsumieren, als diese Ansätze z. T. explizit versuchen, dieser Störung in der Repräsentationsrelation entgegenzuwirken. Und zwar zum einen die unter dem Titel Neuer oder Spekulativer Realismus firmierende Bewegung, zum anderen der sich intensivierende Fokus auf Körperlichkeit und Affekt. Beide Bewegungen tragen möglicherweise Ansätze neuer Paradigmen der Repräsentation und damit Formen der Rechtsbindung in sich.
Neuer Realismus
22Der Neue Realismus, der gegenwärtig nicht nur die Philosophie, sondern auch die Kulturanthropologie und Literatur/-wissenschaft beeinflusst, setzt sich zum erklärten Ziel, der poststrukturalistischen Dekonstruktion und Relativierung jeglicher Wahrheiten neue Tatsachen und neue Wahrheiten entgegenzusetzen, d. h., neue Verbindlichkeiten zu schaffen. Als Hauptvertreter können bislang Gabriel, Meillassoux, Ferraris und Harman gelten. Diese erkennen „ein wiedererwachtes Bedürfnis nach ‚starken Gedanken‘, nach Sicherheiten und nach ‚Wahrheiten‘, die mehr als relativ und konstruiert sind“ (Riedweg 2014: 8), und versuchen, dieses mit entsprechenden Gedanken zu befriedigen, „damit wir unsere Welt wieder ‚so erkennen, wie sie an sich ist‘“ (Gabriel 2013: 13). „Das Außerhalb des Menschen reklamiert wieder erfolgreich seine Autonomie für sich“, so erläutert Palzer im Deutschlandfunk, insofern als es inzwischen möglich sei, „ohne eigene Wahrnehmung wahrzunehmen – etwa mittels Algorithmen“ (Palzer 2016, mit Verweis auf Quentin Meillassoux).
23Die hier zunächst außer Acht gelassene Frage nach dem Bürgen, Geltungsraum bzw. Adressaten solcher neuen Wahrheiten wird implizit stärker verhandelt in jenen Ansätzen, die sich der Körperlichkeit und dem Affekt und damit neuen Subjektpositionen, aber auch Bindungsfragen widmen.
Körperlichkeit und Affekt
24Hier ist an sehr verschiedenartige Phänomene zu denken, wie Butlers Forderung nach einer „Rückkehr zum Begriff der Materie“, den Forschungszweig zu „law and affect“, die Diskussionen um die corporeality der Masse (Hussain 2017, mit Verweis auf Mazzarella 2015: 5 f.) oder jene um Intensität (Garcia 2016). Die damit einhergehenden geisteswissenschaftlichen Rufe nach Empörung (Hessel 2011) und Versammlung von Körpern auf der Straße (Butler 2015) scheinen dabei mit neuen – beobachteten – Entwicklungen körperrelativer Phänomene wie der Zunahme von Blockade- und Massenphänomenen, aber auch von individueller Gewalt (Gumbrecht 2017) und Zorn (Mishra 2017) zu korrelieren, und ließen sich dementsprechend als diskursive Verdoppelung deuten, die diese Tendenzen analysierend aufzugreifen bzw. ihnen konstruktive Paradigmen der Körperlichkeit entgegenzusetzen versuchen. Die entsprechenden theoretischen Ansätze seien Resultat eines neuen „Verlangen[s] nach Präsenz“, so beispielsweise Gumbrecht, nach dem Überwinden der postmodernen Preisgabe der auf „Präsenz basierenden Beziehung zur Welt“ (2017), und wenden sich somit zugleich gegen die Virtualisierung sozialer Beziehungen.
25Dabei verhandeln diese Ansätze insofern neue Bindungsparadigmen, als hier die körperliche Dimension der sozialen Existenz in den Vordergrund gerückt wird, und zwar unter scheinbarer Marginalisierung der übrigen Elemente der Rechtsbindung, wie Diskurse, kulturspezifische Bildlichkeit etc. Das Potenzial liegt zum einen darin, dass diese Ansätze das jedes Rechtsfundament betreffende und damit verbindende Erfordernis der Repräsentation der Körperlichkeit ins Bewusstsein rücken – im Sinne Butlers gesprochen: das distanzüberwindende Solidaritätspotenzial der alle Menschen verbindenden Körperlichkeit (wobei Butler darüber hinausgeht – wenn sie dazu aufruft, auf dem Wege des Ungehorsams eine „sociality [hervorzubringen] that does not want to assume or have a stake in law or assume the power that brings it into being“).
26Zum anderen richtet sich damit (ex negativo) der Fokus auf die für das Recht äußerst relevante Exklusionsproblematik, die nicht erst mit zunehmender Fragmentierung immer dringlicher wird – d. h. das Phänomen jener Individuen/Körper, die aus den bestehenden diskursiv-normativen Bindungsparadigmen herausfallen (Flucht) – bzw. auf deren Ausschluss die Funktionstüchtigkeit der bestehenden Bindungsparadigmen basiert (Puglia 2018; Aizicovici 2017).
27Ob diese Ansätze Grundlagen bieten, neue Strukturen der Bindung, neue für das Recht relevante Subjekt- und Gemeinschaftskonzepte zu entwerfen, bleibt abzuwarten – und lässt sich an dieser Stelle nicht klären. Es ist aber einsichtig, dass gerade angesichts der gegenwärtigen Dynamiken das Recht diese Entwicklungen in den geisteswissenschaftlichen Diskursen beobachten muss, da sie von unmittelbarer Relevanz für Fragen der Geltungskraft und des Geltungsraums des Rechts sind.
4. Fazit
28Ich fasse noch einmal abschließend meine These zusammen: Durch ihre Funktion der diskursiven Verdoppelung sind die Humanities maßgeblich an der repräsentationslogischen Bindung zwischen Recht und Subjekt beteiligt, sie können Verschiebungen in diesem Bindungsgefüge dokumentieren oder sogar befördern – auf diese Weise erweisen sie sich als diskursiver Schalthebel der Repräsentation, auf dessen Erkenntnisse bzw. Affirmationen das Recht zum Zwecke seiner eigenen Legitimität und Geltungsmöglichkeit angewiesen ist.
29Noch einmal anders: Die in den Geisteswissenschaften verhandelten Fragen der Positionierung des Subjekts in jener Ordnung, die seine Subjektivität konstituiert bzw. legitimiert, wie auch die Perzeption bzw. Akzeptanz der dieser zugrundeliegenden Wahrheiten und Gegebenheiten sind nicht nur für die Kohärenz und Existenz eines (kultur-?)gemeinschaftlichen „Im Namen von“, sondern zudem für die Bindung des Subjekts an das Recht – und damit letztlich für die Geltungsmöglichkeit desselben – von entscheidender Bedeutung.
Literatur
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- Becker, Kathrin (2016): Franz Kafka im Dialog mit Pierre Legendre – Rechtserfahrung oder Fenster auf das Chaos. In: Rechtstheorie 47, S. 1–15.
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- Butler, Judith (2015): Notes Toward a Performative Theory of Assembly. Cambridge (MA).
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- Gumbrecht, Hans Ulrich (2017): Intensität – und existenzielle Ästhetik der Gegenwart. In: FAZ Blog vom 2. Dezember 2017.
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