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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 11. Jahrgang, 2020, Heft 1: Es gibt keine einsprachigen Texte! – Ein Vorschlag für die Literaturwissenschaft (Till Dembeck)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 11. Jahrgang, 2020, Heft 1

Es gibt keine einsprachigen Texte! – Ein Vorschlag für die Literaturwissenschaft (Till Dembeck)

Es gibt keine einsprachigen Texte!

Ein Vorschlag für die Literaturwissenschaft1

Till Dembeck

Die Erforschung literarischer Sprachvielfalt besteht meist darin, dass man das Vorkommen unterschiedlicher Sprachen in Texten interpretiert – im Hinblick auf ihre kulturellen, sozialen, politischen Implikationen und auf die Erfahrungen, die sie transportieren oder zumindest konnotieren. Sprachvielfalt zeigt in der Regel kulturelle Vielfalt an, wobei, wie man sagt, jede Sprache eine eigene Welt eröffnet; zugleich kann sie immer auch Exklusion bewirken, da die Sprachfähigkeiten eines jeden begrenzt sind. Daher ist das Studium literarischer Sprachvielfalt letztlich immer mit Fragen der Interkulturalität verbunden. Ich möchte die Art und Weise, wie sich literarische Texte auf diese Fragen beziehen, als ihre kulturpolitische Dimension bezeichnen: Literarische Sprachvielfalt lehrt uns, dass Texten im Bereich der Kultur politische Handlungsfähigkeit zugeschrieben werden kann.

Mein Beitrag konzentriert sich vor diesem Hintergrund auf die Grundoperation des Lesens literarischer Sprachvielfalt, d.h. auf die Art und Weise, wie wir in Texten mehr als eine Sprache erkennen. Diese Operation mag trivial und daher eher uninteressant erscheinen. Eine genauere Untersuchung dessen, was sprachliche Vielfalt in (literarischen) Texten sein kann, zeigt jedoch, dass sie in verschiedenen Formen auftritt – und dass es wichtig ist, Mittel und Wege zu finden, diese Formen genau zu beschreiben. Es ist keinesfalls ausgemacht, was es heißt, wenn in einem Text unterschiedliche Sprachen ›vorkommen‹; die Selbstevidenz des eingangs skizzierten Standardverfahrens zur Analyse und Interpretation ist dementsprechend zu hinterfragen.

Aus diesem Grund schlage ich vor, eine Art Werkzeugkasten für die Analyse und die anschließende kulturpolitische Interpretation literarischer Sprachvielfalt zu entwickeln, der im Prinzip auf jeden Text Anwendung finden kann. Es geht dann nicht mehr darum, mehrsprachige Literatur als einen Gegenstand unter vielen (oder gar als ein fest umrissenes Korpus) zu untersuchen. Sondern die Analyse und Interpretation literarischer Sprachvielfalt muss umgekehrt als Frage der Methode aufgefasst werden. Der Vorschlag ist also, Literaturwissenschaft als Mehrsprachigkeitsphilologie neu auszurichten (vgl. Dembeck 2018 sowie Dembeck / Parr 2017).

1. Mehrsprachigkeitsphilologie / Mehrsprachigkeitslinguistik

Manchmal liegt Sprachvielfalt in literarischen Texten nicht offen zutage. Tatsächlich ist dies recht häufig der Fall. Es gibt eine reiche Tradition an Methoden, andere Sprachen zu simulieren, etwa bei der Wiedergabe von Figurenrede: Die Protagonisten in einem ansonsten englischsprachigen Roman können zum Beispiel regelmäßig französische Begrüßungsformeln verwenden, die keiner Übersetzung bedürfen, uns aber signalisieren, dass hier Französisch und nicht Englisch gesprochen wird. Manchmal suggeriert auch die Nachahmung eines Akzents, dass jemand sonst eine Fremdsprache spricht, die zumindest qua phonetischer Interferenz gegenwärtig ist. Manchmal deutet die Verwendung eines Dialekts neben der Standardsprache darauf hin, dass eigentlich ganz verschiedene Sprachen verwendet werden: In den Wildwestromanen Karl Mays sprechen die deutschen Protagonisten manchmal untereinander im sächsischen Dialekt, während sie ihre amerikanischen Gefährten in Standarddeutsch ansprechen, wodurch klar wird, dass Standarddeutsch in diesem Zusammenhang Englisch darstellt. Manchmal können Sprachdifferenzen sogar durch unterschiedliche Metren angezeigt werden, wie es in Shakespeares Komödien der Fall ist, wo der Blankvers im Gegensatz zur Prosa auf einen Oberschichtensoziolekt hinweist, oder in Grillparzers Goldenem Vlies (1820), wo der Blankvers von den Griechen gesprochen wird, während es den ›barbarischen‹ Kolchern nicht gelingt, ihre Sprache zu dieser regulären Form zu zähmen (vgl. Weissmann 2017). In all diesen Fällen werden Phänomene, wie sie auch die Mehrsprachigkeitslinguistik beschreibt, etwa Interferenz oder Codeswitching, durch poetische Tricks nachgeahmt.

Schon mit Blick auf dieses (eher triviale) Phänomen liegt auf der Hand, dass es nicht ausreicht, literarische Sprachvielfalt als das manifeste Auftreten von mindestens zwei Sprachen zu denken – wobei mit ›Sprachen‹ hier im Alltagsverständnis des Worts Idiome gemeint sind, deren Sprecher sich nicht ohne Weiteres miteinander verständigen können. Dies gilt, obgleich dieser Fall, eben weil Fragen des Verstehens berührt sind, in seinen kulturpolitischen Implikationen sicherlich besonders interessant ist. Eine umfassendere Bestimmung ist von Rainier Grutman vorgeschlagen worden, der »hétérolinguisme« definiert als »la présence dans un texte d’idiomes étrangers, sous quelque forme que ce soit, aussi bien que de varietés (sociales, régionales ou chronologiques) de la langue principale« (Grutman 1997: 37).2 Den Fall von Grillparzers Goldenem Vlies schließt jedoch auch diese weite Begriffsbestimmung nicht ein. Offensichtlich gibt es also Texte, die es erfordern, auch metrische und andere scheinbar rein ästhetische oder rhetorische Muster als Teil literarischer Sprachvielfalt aufzufassen – und dies schon dann, wenn weiterhin nach der Gegebenheit von mindestens zwei Sprachen im Alltagsverständnis des Worts gesucht wird. Denn auch in Grillparzers Drama gewinnen die Sprachen der Griechen und Kolcher ja im deutschsprachigen Text eine gewisse Präsenz.

Um hier mehr Klarheit zu schaffen, ist es notwendig, einige grundsätzliche Überlegungen zu den methodischen Unterschieden zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft anzustellen. Sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Soziolinguistik wird in den letzten Jahrzehnten zunehmend festgestellt, dass es, entgegen der unausgesprochenen Überzeugung vieler Menschen, weder für Personen noch für den alltäglichen Sprachgebrauch und auch nicht für (literarische) Texte die Norm ist, einsprachig zu sein, und dass Einsprachigkeit ein historisch spezifisches, ja, kontrafaktisches Konstrukt oder Regulativ darstellt.3 Ich würde aus philologischer Sicht vorschlagen, noch radikaler zu formulieren: Es gibt keine einsprachigen Texte!

Diese Behauptung muss Widerspruch wecken – und deshalb näher erläutert werden. Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, wo man ansetzen möchte. Zunächst ist festzuhalten, dass Sprachvielfalt in Texten leicht übersehen werden kann und womöglich viel weiter verbreitet ist, als man denken sollte. Als Leser dieses Textes mag man zum Beispiel annehmen, man lese gerade einen auf Deutsch verfassten Text, aber es sind nicht nur bereits einige französische Wörter begegnet, sondern man mag dem Text vielleicht auch einen gewissen ›Akzent‹ anhören und dies auf die Tatsache zurückführen, dass es sich streckenweise um eine nicht allzu gut gelungene Übersetzung aus dem Englischen handelt. Aber selbst wenn man einräumt, dass Texte tatsächlich sehr häufig anderssprachige Elemente oder Strukturen aufweisen, ist damit nicht die grundsätzliche Möglichkeit einsprachiger Texte in Frage gestellt. Diese Momente von Anderssprachigkeit mögen durchaus für vermeidbar gehalten werden: Natürlich, so könnte man einwenden, hätte ein Muttersprachler, der sich auf seine Muttersprache beschränkt, solche Verunreinigungen umgehen können. Denn ein Muttersprachler sollte dazu in der Lage sein, sowohl (grammatikalische) Fehler als auch nicht-idiomatische Formulierungen zu vermeiden, und der so entstandene Text müsste dann doch, gemessen an den heutigen Standards der deutschen Sprache, wirklich einsprachig sein.

Man muss sich also grundsätzlicheren Fragen zuwenden. Beispielsweise könnte man darauf hinweisen, dass auch ein in ›reinem‹ Deutsch verfasster Text als die Kombination von Elementen und Strukturen zu betrachten ist, die historisch aus verschiedenen sprachlichen Kontexten stammen. Auch wäre das Konzept einer Muttersprachlichkeit, die Einsprachigkeit garantieren kann, kritisch zu befragen. Denn letztlich ist es Effekt kulturpolitischer Interventionen, die Bildungssprachen aus vermeintlich naturwüchsigen Erstsprachen heraus entwickeln (vgl. Bonfiglio 2010; Yildiz 2012). Ja, man kann überdies behaupten – und das ist noch entscheidender –, dass Sprechern im Prinzip immer bis zu einem gewissen Grad Lizenzen an Unreinheit gewährt werden, wobei ›Fehler‹ als mehr oder weniger legitime rhetorische Mittel zur Anpassung an die Bedürfnisse einer gegebenen Situation gelten (vgl. Martyn 2004). Unter diesem Gesichtspunkt sind die Anwendung von Mitteln aus verschiedenen sprachlichen Kontexten und die Abweichung von sprachlichen Standards immer schon vorgesehen, ja, bei der Diversifizierung unserer Mittel zur Erzeugung von Bedeutsamkeit überschreiten wir durchaus regelmäßig die Grenzen der radikal einsprachigen Rede, also einer Rede, die durchgängig genau aus einem System generiert würde. Anders wäre Sprachwandel gar nicht erklärbar. Mit anderen Worten: Man muss davon ausgehen, dass sich im konkreten, stets singulären Sprachgebrauch und zumal in der Literatur, die ja in besonderer Weise auf die Originalität ihrer Ausdrucksmittel bedacht ist, immer schon eine beständige Veränderung dessen vollzieht, was man als Sprachsystem bezeichnet. Im Anschluss an den Linguisten M.A.K. Haliday hat David Gramling die schiere Diversifizierung der Ausdrucksmittel, die vor Sprachgrenzen keinen Halt macht, als »semiodiversity« bezeichnet – im Gegensatz zur »glossodiversity«, dem Nebeneinander wohlbestimmter Einzelsprachen (Gramling 2016: 31-36).

Die Beobachtung, dass Sprechen nicht durchgängig auf Sprachsysteme zu reduzieren ist und es Sprachwandel gibt, ist natürlich alles andere als originell. Die Frage ist allerdings, welche Schlussfolgerungen man aus ihr ziehen will. So hat die Einsicht in die Mechanismen, die den Sprachwandel vorantreiben, nicht dazu geführt, dass Behauptungen wie diejenige, es gebe keine einsprachigen Texte, in der Linguistik hätten salonfähig werden können. Und in der Tat ergibt es für die Sprachwissenschaft völlig zu Recht wenig Sinn, jede potenzielle Vielfalt des Sprachgebrauchs gleich als Nichteinsprachigkeit oder gar als Mehrsprachigkeit zu bezeichnen. Denn es kommt, wenn Sprachvielfalt aus linguistischer Sicht untersucht wird, und zwar selbst mit Blick auf Phänomene der ›superdiversity‹ (vgl. Blommaert 2010), darauf an, die Regelmäßigkeiten im Umgang mit Sprachvielfalt so genau wie möglich zu beschreiben – und nicht die ungeregelte, singuläre Diversifizierung der Ausdrucksformen. Die unterschiedlichen von der Linguistik bestimmten Idiomtypen (z.B. standardisierte Nationalsprachen, Dialekte, Soziolekte) sind dann ebenso wie die Umgangsweisen mit Sprachvielfalt (Formen von Codeswitching, von Interferenz und translanguaging) als jeweils relativ stark standardisiert erfassbar. Diese letztlich statistische Erfassung ist die Grundlage linguistischer Arbeit – und aus dieser Perspektive können aus einem hinreichend klar definierten Sprachsystem heraus klar einsprachige Texte produziert werden.

In der Literaturwissenschaft liegt der Fall allerdings anders. Zwar können und müssen auch hier linguistische Begrifflichkeiten verwendet werden, aber dies geschieht unter anderen Vorzeichen. Denn als Literaturwissenschaftler sind wir an jeder Form von Sprachvielfalt interessiert, die in literarischen Texten zu beobachten ist, was bedeutet, dass wir niemals zu früh zu dem Schluss kommen dürfen, ein Text sei einsprachig und könne also als Ganzer auf die Regeln eines wohlbestimmten Systems linguistischer Standards zurückgeführt werden. Hier macht sich das Erbe der antiken Rhetorik bemerkbar, das die Literaturwissenschaft angetreten hat – und das sie methodisch wie erkenntnistheoretisch in einen Gegensatz zur Grammatik setzt (vgl. Stockhammer 2014). Die Rhetorik interessiert sich immer für den Einzelfall, für die individuelle Situation – so wie die Literaturwissenschaftler, wie die Philologen sich für den singulären Text interessieren (vgl. Szondi 1967). Grammatiker sind wie (die meisten) Linguisten in erster Linie an Regelmäßigkeiten interessiert, und der Einzelfall zählt im Zusammenhang statistischer Belege nicht. Wenn man sich aber für den Einzelfall interessiert, dann sind singuläre Unregelmäßigkeiten, einschließlich sprachlicher Unreinheiten, besonders signifikant. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Verwendung von zwei verschiedenen ›Sprachen‹ (wieder: im Alltagsverständnis des Wortes), selbst wenn es sich um eine Verletzung der grammatischen puritas handelt, als gleichwertig angesehen werden mit, sagen wir, der Verwendung einer rhetorischen Figur oder einer Trope – als ein Mittel dazu nämlich, in einer bestimmten Situation eine bestimmte Wirkung zu erzielen.

Dass hier nicht nur auf der Ebene der Theorie eine Äquivalenz besteht, sondern diese auch für die (literarische) Textproduktion eine konkrete Rolle spielt, haben die obigen Beispiele gezeigt: Wenn der Unterschied zwischen zwei metrischen Schemata im Rahmen der literarischen Darstellung für den Unterschied zwischen zwei Sprachen einstehen kann, muss es zwischen diesen beiden Unterschieden irgendeine Art von Äquivalenz, ein tertium comparationis, geben. Das bedeutet nicht nur, dass man die unterschiedlichen Strukturebenen, auf denen die Vielfalt des Sprachgebrauchs sich entfalten kann, im Falle literarischer Darstellung niemals isoliert voneinander betrachten sollte. Vielmehr muss allgemein dafür plädiert werden, bei der philologischen Beurteilung literarischer Sprachvielfalt immer zu versuchen, sich ein Bild von dem gesamten Netzwerk der Mittel zu machen, die ein Text benutzt, um die ihm innewohnende sprachliche Vielfalt zu regulieren.

Damit ist die These, es gebe keine einsprachigen Texte, zugleich gerechtfertigt und relativiert. Denn eigentlich will sie gar keine Existenzaussage treffen, sondern eine Einstellung umreißen, eine methodische Voraussetzung namhaft machen: Jeder Text kann im Hinblick auf die Vielfalt der verwendeten sprachlichen Ausdrucksmittel gelesen werden. Diese Ausdrucksmittel begreifen durchaus auch dasjenige ein, was man traditionell Mehrsprachigkeit nennt und was in der Begrifflichkeit Gramlings als Glossodiversität bezeichnet werden könnte. Die These aber ist hier, dass die Philologie es sich methodisch nicht erlauben kann, Sprachvielfalt auf diese eine Form zu reduzieren – weshalb in diesem Text, um Verwechslungen vorzubeugen, vorzugsweise allgemein von Sprachvielfalt und nicht von Mehrsprachigkeit die Rede ist.

Natürlich gibt es weiterhin gute Gründe dafür, sich besonders für solche Formen literarischer Sprachvielfalt zu interessieren, bei denen in einem Text mindestens zwei Sprachen im alltagssprachlichen Wortsinn verwendet werden, bei denen also Verstehensprobleme impliziert sind. Gerade die Berücksichtigung dieser Form von Sprachvielfalt legt kulturpolitische Interpretationen nahe – darauf werde ich ganz am Ende dieses Beitrags zurückkommen. Aber selbst dann, wenn wir unser Interesse auf diese Form literarischer Sprachvielfalt einengen, sind wir als Literaturwissenschaftler dazu verpflichtet, auch die Vielfalt im Sprachgebrauch, die auf anderen Ebenen im Text erkennbar ist, zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, die Untersuchung der literarischen Sprachvielfalt muss als Mehrsprachigkeitsphilologie ein Instrumentarium entwickeln, das darauf ausgerichtet ist, manifeste wie latente Formen sprachlicher Vielfalt (vgl. Radaelli 2011) in (literarischen) Texten gleichermaßen aufzudecken.

Im Folgenden möchte ich skizzieren, welche spezifischen Werkzeuge dieses Instrumentarium der Mehrsprachigkeitsphilologie umfassen könnte, wobei ich gleichzeitig versuche, die Nützlichkeit dieser Werkzeuge in sehr skizzenhaften Seitenblicken auf Texte aus verschiedenen Epochen und Sprachen zu veranschaulichen. In einem letzten Schritt möchte ich zumindest andeuten, wie wir mit Hilfe des so zusammengestellten Werkzeugkastens (subversive oder affirmative) kulturpolitische Strategien untersuchen können, die im literarischen Gebrauch von Sprachunterschieden am Werk sind.

2. Analyseebenen

Die Beobachtung, dass mehrsprachige Figurenrede in literarischen Texten auf sehr unterschiedliche Weise dargestellt werden kann, lässt erste Rückschlüsse darauf zu, welche Aspekte für die Analyse von Sprachvielfalt in literarischen Texten wichtig sein könnten. Natürlich kann man hier mit linguistischen Beschreibungsmodellen arbeiten und so zum Beispiel analysieren, wie das Codeswitching in literarischen Darstellungen funktioniert – dies ist in der Tat in letzter Zeit auch in der Sprachforschung selbst ein Thema geworden (vgl. Sebba / Mahootian / Jonsson 2012, Gardner-Chloros / Weston 2015). Wichtig ist es dabei, im Auge zu behalten, wie sprachliche Vielfalt auf den unterschiedlichen Ebenen der Sprachstruktur im (literarischen) Text umgesetzt wird.

Aus der Tatsache, dass in den Romanen Karl Mays die Differenz zwischen unterschiedlichen (standardisierten) Nationalsprachen mittels des Unterschieds zwischen einer Standardsprache und einem Dialekt repräsentiert wird, wurde bereits abgeleitet, dass die Mehrsprachigkeitsphilologie auch dasjenige einbeziehen muss, was man ›binnensprachliche Mehrsprachigkeit‹ genannt hat (vgl. Wandruszka 1979) – das entspricht ja auch dem Vorschlag von Grutman. Es ist darüber hinaus deutlich geworden, dass auch unterschiedliche metrische Schemata verschiedene Sprachen oder zumindest verschiedene Kompetenzstufen in einer Sprache anzeigen können.

Die Interpretation solcher Darstellungen mehrsprachiger Figurenrede in literarischen Texten ist alles andere als trivial: Grutman hat gezeigt, dass die Verwendung von Russisch und Französisch in den Romanen von Lev Tolstoi keineswegs dem Prinzip dessen folgt, was Meir Sternberg »vehicular matching« (Sternberg 1981: 223) genannt hat: Der Text gibt die Figurenrede nicht dort auf Russisch wieder, wo die Protagonisten Russisch sprechen, und dort auf Französisch, wo sie Französisch sprechen. Vielmehr kann Französisch auch auf Russisch wiedergegeben werden, was meist dann der Fall ist, wenn intimere Situationen erzählt werden (vgl. Grutman 2002: 337-341). Auch die Verwendung des Französischen in Thomas Manns Zauberberg von 1924 (um auch das zweite sehr berühmte Beispiel für eine literarische Darstellung des Codeswitching zu bemühen) ist durch einen ziemlich komplexen Kommunikationskontext innerhalb des Geschehens motiviert und muss mit den allgemeinen psychologischen und sozialen Hintergründen, die der Roman entfaltet, in Beziehung gesetzt werden; und es muss natürlich berücksichtigt werden, dass sich die Beredsamkeit Hans Castorps und Clawdia Chauchats im Französischen unterscheidet – die beiden sprechen tatsächlich zwei recht verschiedene französische Sprachen.

In ähnlicher Weise erfordert die Verwendung von Dialekten und / oder Soziolekten, verschiedenen Sprachregistern, Jargons und Akzenten, dass wir der Art und Weise, wie sie repräsentiert werden, große Aufmerksamkeit schenken. Da es zum Beispiel in vielen Fällen keine feste Rechtschreibung für Dialekte gibt, kann die spezielle Rechtschreibung, die verwendet wird, immer schon für sich genommen von Bedeutung sein. (Daher wäre es im Fall von Karl May auch eigentlich angezeigt, von einer Imitation des sächsischen Dialekts zu sprechen.) Der französische Akzent des Riccault in Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767) ist eher eine Karikatur; dasselbe gilt für Honoré de Balzacs Versuch, einen deutschen Akzent nachzuahmen, indem stimmhafte und stimmlose Konsonanten vertauscht werden (vgl. Helmich 2016: 70). In beiden Fällen hat die Art und Weise, in der die anderssprachige Rede dargestellt wird, spezifische Konnotationen – ebenso wie die Wiedergabe der kolchischen Rede in freien Versen bei Grillparzer. Feridun Zaimoglus berühmte Nachahmung des Slangs türkisch-deutscher Jugendlicher in Kanak Sprak (1995), die freilich explizit eine »Nachdichtung« (Zaimoglu 2011: 19), also die literarische Konstruktion einer diesen Jugendlichen zugeschriebenen Sprechweise, ist, kommt fast ohne türkische Elemente aus und prägt ihren Ton durch die Verwendung norddeutscher Dialekte und / oder Soziolekte, Reminiszenzen an die poetische Sprache der deutschen Romantik, ›Hip-Hop-Englisch‹ (vgl. Yildiz 2012: 186) und Jiddisch. Schließlich lassen sich oft Veränderungen in der Sprechweise einzelner Protagonisten feststellen: In Goethes Faust lernt Helena zu reimen, und es ist deutlich zu erkennen, dass dies für sie bedeutet, sich eine neue (moderne!) Sprache anzueignen, die sie fortan in ihren Gesprächen mit Faust verwendet (vgl. Dembeck 2018); und Xiaolu Guos Roman A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2007) zeigt in seinem Verlauf den Fortschritt, den die Erzählerin, eine chinesische Englischlernerin, in ihrem Lernprozess macht.

Der Wechsel zwischen verschiedenen Idiomen, auf all diesen verschiedenen Ebenen, beschränkt sich bei weitem nicht auf die Darstellung von Figurenrede in literarischen Texten. Im Gegenteil, Sprachvielfalt in der Erzählstimme (wenn es eine solche gibt) oder, allgemeiner gesprochen, das Wechseln von Sprachen in literarischen Texten, das nicht mit verschiedenen Sprechern korreliert, ist sehr verbreitet. Auch in diesem Zusammenhang kann es um sprachliche Unterschiede auf allen Strukturebenen gehen: Das berühmte »Oxen of the Sun«-Kapitel in James Joyce’ Ulysses (1922) – eines Romans, der viele verschiedene Sprachen und auch viele verschiedene Varietäten des Englischen verwendet – imitiert in seinem Verlauf die Entwicklung der englischen Literatursprache(n) (meist durch Parodien auf bestimmte Autoren) und endet in einem sehr modernen (und zumindest für Nichtmuttersprachler fast unverständlichen) Jargon.

Auf dieser Ebene kann man, zumindest versuchsweise, zwischen Sprachwechsel einerseits und Sprachmischung andererseits unterscheiden, wobei Ersterer die segmentäre Differenzierung der beteiligten Idiome erlaubt, während Letztere die verschiedenen Sprachen in einem solchen Maße integriert, dass diese Differenzierung nicht möglich ist. Beide Formen gehen zuweilen ineinander über, zum Beispiel bei der humoristischen Integration von Wörtern aus der Volkssprache ins Lateinische in der frühneuzeitlichen makkaronischen Dichtung, die eine Anpassung der Flexionsendungen erforderlich machte (vgl. Wiegand 2000). Effekte der Sprachmischung lassen sich wiederum auf allen Ebenen der sprachlichen Struktur beobachten: In Gedichten von Ernst Jandl und Oskar Pastior wird die Vermischung verschiedener europäischer Sprachen, zum Beispiel des Englischen und des Deutschen, so weit getrieben, dass schwer zu entscheiden ist, nach welchen Laut-Buchstaben-Zuordnungen die einzelnen Wörter auszusprechen sind; sie haben die Zugehörigkeit zu einem eindeutigen Idiom verloren und sind in sich mehrsprachig geworden (vgl. Dembeck 2015). In solchen Fällen wird der Wert der einzelnen Grapheme (bzw. Phoneme) durch das Nebeneinander von Material aus verschiedenen Sprachen potenziell verändert – mit Auswirkungen auch auf der Ebene der Morphologie. Auch die Ebene der Syntax bleibt von solchen Veränderungen nicht verschont. David Martyn hat für Martin Luthers Tischgespräche gezeigt, dass das deutsch-lateinische Codeswitching bisweilen zur Verwendung einer lateinischen Syntax in den deutschen Teilen seiner Rede führt (vgl. Martyn 2014). Dasselbe gilt für das, was man gewöhnlich als ›wörtliche Übersetzung‹ bezeichnet – die Nachbildung anderssprachiger Syntax oder anderssprachiger Phraseologismen. In der neueren deutschen Literatur ist dies beispielsweise in vielen Texten von Emine Sevgi Özdamar der Fall, die idiomatische Redewendungen aus dem Türkischen ins Deutsche übertragen, ohne die Kollokationen zu verändern, und damit das Deutsche wie Türkisch klingen lassen.

Im Extremfall kann die Sprachmischung an einen Punkt führen, an dem es schwierig ist, festzustellen, ob ein Text so etwas wie eine ›Hauptsprache‹ hat. Dies geschieht zum Beispiel in Joyce’ Finnegans Wake (1939). Keinesfalls ist das Englische die Hauptsprache des Textes, da dieses Idiom, auch wenn es das Rohmaterial für den größten Teil der Lexik und auch für die morphosyntaktische Struktur liefert, durch den übermäßigen Gebrauch mehrsprachiger Wortspiele so stark verändert wird, dass man den Eindruck gewinnt, es mit einer ganz neuen Sprache zu tun zu haben. Dabei wäre es aber sogar noch falsch, von der Sprache von Finnegans Wake zu sprechen, da sich diese Sprache überdies ständig verändert. Man kann Joyce’ Finnegans Wake auch als Ergebnis eines Schreibens auffassen, das sich recht streng einer Reihe von Produktionsregeln unterwirft – dazu zählt der Zwang, gleichgeschriebene Homonyme zu vermeiden und die Mehrdeutigkeit des Textes an jeder Stelle zu maximieren, zum Beispiel durch mehrsprachige Paronomasien. Es sind diese Regeln oder, um es mit der Poetik des OuLiPo zu sagen, diese contraintes, die seine Sprache verändern. Einen vergleichbaren Effekt kann man sogar durch die Anwendung von contraintes erzielen, die auf der Ebene nur einer einzigen, scheinbar wohldefinierten Sprache wirken. Dies ist der Fall in dem berühmten Roman La disparition des OuLiPisten George Perec (1969), der als erweitertes Lipogramm nur Wörter verwendet, die den Buchstaben ›e‹ (den häufigsten Buchstaben im Französischen) nicht enthalten – und der damit, zumindest aus der Sicht der Mehrsprachigkeitsphilologie, aber auch ausweislich der von der Sprache des Textes irritierten ersten Rezensionen, eine neue Sprache innerhalb des Französischen etabliert.

Sprachmischung kann allerdings in sogar noch unauffälligeren Formen auftreten – und dennoch philologisch relevant sein. Ein Beispiel hierfür ist die Übertragung von Versbaumustern in andere sprachliche Kontexte. Die Konkretisierung metrischer Formen in Sprachen funktioniert sehr unterschiedlich: Ein dreifüßiger jambischer Vers im klassischen Latein wird anders konstituiert als ein dreifüßiger jambischer Vers im Englischen – das Lateinische besteht aus langen und kurzen, das Englische aus akzentuierten und nicht akzentuierten Silben. Dennoch vermittelt das Schema selbst zwischen den beiden Sprachen, und je nach Konstellation ist dies auch markiert. So sind Hexameter im Deutschen tatsächlich auch als gräzisierende Sprachform verstanden worden – sie sind in dem Sinne Ergebnis einer Sprachmischung aus dem Deutschen und dem Griechischen (bzw. dem Lateinischen). Dieses Argument mag etwas weit hergeholt sein, aber das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass die Verwendung einer ursprünglich anderssprachigen Form der Verskonstitution einen Text potenziell mit dem sprachlichen Kontext, aus dem diese Form stammt, in Beziehung setzt. Die Lyrik zitiert ganz allgemein regelmäßig konkrete poetische Formen – und Sprachen können durch solche Formzitate zumindest beschworen werden. Schließlich ist es möglich, dass das Nebeneinander von Versen in Sprachen mit unterschiedlicher Prosodie potenziell dafür sorgt, dass Interferenzen der Versbauprinzipien auftreten – zeigen ließe sich dies etwa an T.S. Eliots The Waste Land von 1922 (vgl. Dembeck 2013a).

Die mit Blick auf den Versbau und die Lyrik zu beobachtenden Formen literarischer Sprachvielfalt sind nur ein Beispiel für eine Reihe vergleichbarer gattungsspezifischer Verfahren. So könnte man behaupten, dass im Drama, insofern es immer schon auf die tatsächliche Aufführung hin geschrieben ist, der Hinweis auf sprachliche Unterschiede durch Kostüme, Requisiten, Schauplätze (fremde Landschaften und Interieurs) und Musik als eine potenzielle Facette des Textes selbst betrachtet werden kann. In der Erzählung können sprachliche Unterschiede ein Mittel des Geschichtenerzählens sein – wie etwa Guos Concise Chinese-English Dictionary zeigt. In Finnegans Wake ermöglicht die durchgängige Verwendung (mehrsprachiger) Wortspiele sogar eine unspezifische Pluralisierung der Handlungsstränge. Eher innovative Formen der literarischen Sprachvielfalt entwickeln sich schließlich mit dem Aufkommen von Phonographie und Film – auch wenn teils strittig sein mag, inwiefern es sich dabei noch um literarische Sprachvielfalt handelt: Tonaufnahmen ermöglichen die genaue Wiedergabe von Dialekten oder Akzenten und bereichern so das Potenzial des Hörspiels und des Hörbuchs im Vergleich zum geschriebenen Text. Der Film fügt dem die Möglichkeit hinzu, anderssprachige Schriften zu integrieren, sowohl auf der Ebene der Diegese (zum Beispiel Straßenschilder in einer anderen Sprache als der gesprochenen) als auch in extradiegetischer Schrift (zum Beispiel Sprachwechsel oder Sprachmischung in den Eröffnungstiteln, im Vorspann oder in den Untertiteln).

Ein (vorläufig) letztes Moment literarischer Sprachvielfalt, das eine systematische Behandlung verdient, ist die Übersetzung. Dabei ist es wichtig, auch hier eine große Bandbreite von Verfahren zu unterscheiden. Schon Herausgeberfiktionen, die einen Text als Übersetzung aus einer anderen Sprache ausweisen, angefangen mit Cervantes’ Don Quixote, geben dieser Sprache eine latente Präsenz, Ähnliches gilt für die stillschweigende Übersetzung von Figurenrede. Neben der bereits angeführten wörtlichen Übersetzung, also der Nachbildung von syntaktischen Strukturen oder von Phraseologismen, muss aber auch die homophone Übersetzung berücksichtigt werden, also die Übersetzung nach dem Klang (vgl. Broqua / Weissmann 2019). Die homophone Übersetzung ist zunächst ein alltagssprachliches Phänomen. Sie ist eine populäre Praxis des Umgangs mit unverstandener Sprache und als solche in Komödien von Plautus bis zur Moderne in Erscheinung getreten. Bei Eigennamen ist die homophone Übersetzung in der Tat das Standardverfahren, um anderssprachige Wörter in eine Sprache einzuführen. In Rom wird aus ›Hamburg‹ (/'hambʊɐk/) ›Amburgo‹ (/am'burgo/). In vielen literarischen Texten, die in exotischen Umgebungen angesiedelt sind, werden Spuren dieser Art der homophonen Übersetzung von Eigennamen die einzigen manifesten Anzeichen der Sprache(n) sein, die innerhalb der Diegese gesprochen werden. Ein speziellerer Fall tritt darüber hinaus auf, wenn die homophone Übersetzung als Mittel zur Erstellung ganzer Texte verwendet wird, was spätestens seit den 1950er Jahren regelmäßig geschieht. Bei der Untersuchung solcher Übersetzungen kommt es dann darauf an abzuschätzen, wie die beträchtlichen Freiheitsgrade, die bei der Wahl analoger phonemischer Strukturen in der Zielsprache bestehen, genutzt werden. Diese Freiheitsgrade sind in der Tat so groß, dass auch homophone Übersetzungen innerhalb ein und derselben Sprache möglich sind. Beispielsweise hat Felix Philipp Ingold homophone Übersetzungen von Gedichten aus dem Deutschen ins Deutsche vorgelegt.

Das Bündel von Beobachtungen, die bislang zusammengestellt wurden, um einen ersten Eindruck von der Bandbreite der hier interessierenden Phänomene zu bieten, lässt sich abschließend systematisieren. So muss festgehalten werden, dass sich die Mehrsprachigkeitsphilologie zur Beschreibung der vorkommenden Idiomtypen nicht allein auf die Begrifflichkeiten der Linguistik beschränken kann. Vielmehr sind (mindestens) die folgenden Ebenen zu berücksichtigen:

  1. die Ebene der Idiome, die von ihren Sprechern wechselseitig nicht ohne Weiteres verstanden werden und die je nach Kontext einen recht unterschiedlichen Stellenwert haben können – man kann, zumindest theoretisch, eine standardisierte Landessprache wie das Russische mit einem Schweizer Dialekt mischen,
  2. die Ebene der Soziolekte, Dialekte, Register, historischen Idiome usw. sowie
  3. die Ebene der metrischen, rhetorischen, ästhetischen contraintes, denen sich ein Text womöglich unterwirft.

In all diesen Fällen ist es wichtig, mögliche Interferenzen auf mindestens den folgenden Ebenen der Sprachstruktur zu unterscheiden:

  1. Grammatik, d.h. Phonologie, Morphologie und Syntax,
  2. Lexik,
  3. Phraseologie und
  4. Rechtschreibung.

Weiterhin lassen sich im Anschluss an die angeführten Beispiele unterschiedliche Arten der Kontrastierung von Idiomen ausmachen, und zwar mit Blick auf

  1. die Differenz von Sprachwechsel und Sprachmischung,
  2. die Verteilung unterschiedlicher Idiome auf unterschiedliche Sprecher (dieser Fall schließt auch anderssprachige Zitate ein, denn auch hier korreliert der Sprachwechsel mit einem Sprecherwechsel) und
  3. unterschiedliche Formen der Übersetzung (einschließlich ›wörtlicher‹ und homophoner Übersetzung).

Schließlich lassen sich gattungs- und medienspezifische Verfahren unterscheiden, also im Grunde Bündelungen von Verfahren literarischer Sprachvielfalt, die bereits aufgeführt wurden, aber mit Blick auf die spezifischen Darstellungsverfahren unterschiedlicher Genres und / oder Technologien eine besondere Relevanz gewinnen. Nur die Analyse des Zusammenspiels dieser Faktoren kann uns den vollen Grad an Sprachvielfalt bewusst machen, der einem literarischen Text innewohnt.

3. Kulturpolitische Interpretation

Diese kurze tour d’horizon der sehr unterschiedlichen Formen literarischer Sprachvielfalt zeigt zum einen, dass es vieles zu beachten gibt, wenn man die sprachliche Vielfalt eines einzelnen Textes erschließen möchte – selbst wenn die meisten Texte nur einen sehr kleinen Bruchteil der hier beschriebenen Mittel nutzen werden. Natürlich aber darf die schematische Analyse sprachlicher Vielfalt nicht das Ziel einer Mehrsprachigkeitsphilologie sein. Deren Hauptinteresse bleibt, ganz im Gegenteil, die Einschätzung der kulturellen, sozialen und politischen Implikationen sprachlicher Vielfalt in literarischen Texten.

Der Vorschlag dazu, wie das analytische Instrumentarium der Mehrsprachigkeitsphilologie in dieses allgemeinere Projekt integriert werden kann, ist zweifacher Natur: Erstens gilt es, flexibel zu bleiben, wenn es darum geht, die auf verschiedenen strukturellen Ebenen des Textes zu erfassenden Phänomene sowohl in Beziehung zueinander als auch zu literarischen wie historischen Kontexten, Semantiken und Politiken zu setzen. Der eher offene, antischematische Ansatz beispielsweise der Akteur-Netzwerk-Theorie könnte sich hier als nützlich erweisen (vgl. Latour 2005): Nur dann, wenn man, wie es Bruno Latours Arbeiten an anderen Gegenständen vorführen, die verschiedenen Beobachtungsebenen gerade nicht voneinander isoliert, sondern Beziehungen zwischen scheinbar disjunkten Phänomenen als Teile interagierender Netzwerke anerkennt, wird die volle Relevanz auch literarischer Sprachvielfalt erkennbar.

Zweitens gilt es, den literarischen Text als kulturpolitischen Akteur ernstzunehmen. Auch diese Forderung lässt sich aus der Akteur-Netzwerk-Theorie ableiten, die Artefakten regelmäßig Handlungspotenzial zuschreibt. Literarische Texte können tatsächlich eine Art agency entwickeln, denn sie haben das Potenzial, die Art und Weise, wie wir den Dingen Bedeutsamkeit zuschreiben, zu verändern. Literarische Texte erforschen Alternativen der Weltbeschreibung qua Sprache; sie machen die Dinge also auf andere Art und Weise bedeutsam. Nun ist Kultur, wenn es zulässig ist, einen Begriff, der so umstritten ist, so festzulegen, nichts anderes als der Name für all jene Mechanismen, durch die die Gesellschaft den Dingen Bedeutung zuschreibt – und kulturelle Unterschiede sind Unterschiede in der Art und Weise, wie diese Zuschreibung vollzogen wird (vgl. Dembeck 2013b). Es liegt auf der Hand, dass Sprachen auf sehr unterschiedliche Weise Bedeutung produzieren – deshalb ist literarische Sprachvielfalt immer schon in die Handhabe kultureller Unterschiede verstrickt. Und insofern literarische Texte sich auf gesellschaftliche Politiken der Bedeutungszuschreibung beziehen und in diese eingreifen, wie sie zum Beispiel durch die Untersuchung historischer Sprachpolitiken oder der historischen Semantik von Sprachvielfalt rekonstruiert werden können, sind sie selbst kulturpolitische Akteure. Diese Form der Argumentation stark zu machen, ist das vorrangige Ziel der Mehrsprachigkeitsphilologie. Deshalb könnte ihr Instrumentarium für die Literaturwissenschaft im Allgemeinen von Interesse sein.

Anmerkungen

1 | Gekürzte und überarbeitete Übersetzung von Till Dembeck (2017): There Is No Such Thing as a Monolingual Text! New Tools for Literary Scholarship. In: www.polyphonie.at 1; online unter: http://www.polyphonie.at/?op=publicationplatform&sub=viewcontribution&contribution=105 [Stand: 1.4.2020]. Mein Dank gilt den Herausgebern des Polyphonie-Portals für die Erlaubnis zur erneuten Publikation.

2 | »[D]as Vorhandensein fremder Idiome, in welcher Form auch immer, sowie von (sozial, regional oder chronologisch definierten) Varietäten der Hauptsprache in einem Text« (Übers. T.D.).

3 | Vgl. z.B. Makoni / Pennycook 2005, Sakai 2009, Blommaert 2010, Bonfiglio 2010. Von literaturwissenschaftlicher Seite argumentieren ähnlich Yildiz 2012, Martyn 2014, Suchet 2014, Gramling 2016.

Literatur

Blommaert, Jan (2010): The Sociolinguistics of Globalization. Cambridge.

Bonfiglio, Thomas P. (2010): Mother Tongues and Nations: The Invention of the Native Speaker. New York.

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