Musils ›Portugiesin‹ liest Novalis
AbstractThis article aims at a new interpretation of Robert Musil’s narrative Die Portugiesin, by exploring intertextual references to Novalis’ writings. The article points out how the perception of identity and alterity, as experienced by the Portuguese and her husband, von Ketten/delle Catene, gradually changes and how this process leads to a comprehensive self-transformation of both protagonists. Intercultural immersion resp. the shift from war to peace not only brings the two protagonists together, but also shows the path to infinite concatenations (as meant by Novalis), freeing delle Catene from the chains implied by his name and his ancestry. At the same time, the intertextual references to Novalis alluded to in the article’s title turns out to be the vanishing point for the linkage between poetical and cultural identity/alterity in Musil’s narrative.
TitleMusil’s ›Portugese‹ Reads Novalis
Keywordschains; concatenation; self-transformation; intercultural immersion; poetical and cultural identity/alterity
1.
Musils 1916 zuerst entworfene und 1923 als bibliophiler Einzeldruck erschienene Erzählung Die Portugiesin fand in der jüngeren Musil-Forschung vergleichsweise wenig Beachtung. Als mittlerer Text im Zyklus Drei Frauen wurde sie seltener interpretiert als Grigia, der erste, und Tonka, der dritte Text, was vielleicht auch an dem auf den ersten Blick konventionellen, auf den zweiten Blick etwas sperrig und unzusammenhängend wirkenden Aufbau der mittelalterlichen Handlung liegt.
Der Entstehungszusammenhang liefert einige Hinweise zum inneren Zusammenhalt der Erzählung. Musil, während des Kriegs im Frühjahr 1916 schwer erkrankt, wurde auf Intervention seiner Frau nach Bozen verbracht, wo er in der Villa Isidora, langsam von seinem hohen Fieber genesend, an einem ersten Entwurf unter dem Titel Die kleine Geisterkatze in Bozen oder Die kleine Geisterkatze aus dem Jenseits arbeitete, der von Adolf Frisé aus dem Nachlass ediert wurde. Dieser stark autobiographisch geprägte und in Musils Gegenwart angesiedelte Text verarbeitet die eigene Erkrankung und enthält bereits zentrale Episoden wie das Erscheinen einer geheimnisvollen Katze, die unerklärliche Schrumpfung des Kopfes infolge der Krankheit sowie Ohnmachtserfahrungen (vgl. Eibl 1978: 98f.). Eine andere Titelvariante lautete: Das Gobelin.
Dieser Titel geht möglicherweise auf die Burg Runkelstein zurück, die Musil während der Zeit der Genesung besichtigte, jene auf einem steilen Felsen zwischen Bozen und Trient im Mittelalter erbaute Anlage, die für ihre gut erhaltenen Fresken berühmt ist, die vorwiegend weltliche Motive zeigen. ›An der Schwelle des Südens‹ gelegen, boten Burg und Fresken offenbar für die Beschreibung der Topographie, der mittelalterlichen Figuren, der zahmen und wilden Tiere sowie der Situation am Übergang zwischen deutsch- und italienischsprachigem Raum vielfältige Anregungen. Zu ihnen zählt eine eindrucksvolle Freske zu Tristan und Isolde – ein weiterer möglicher Intertext für die Dreierbeziehung, die sich in der Erzählung anbahnt (vgl. Hayasaka 2011: 274f.).
Ferner sind historische Bezüge auf gleich zwei Habsburger Kaiser des Heiligen Römischen Reichs aufschlussreich, auf Karl V. und Maximilian I. Karl V. war nicht nur mit einer Portugiesin verheiratet – Isabella von Portugal, der Schwester des portugiesischen Königs Johann III. –, er starb der Überlieferung nach tatsächlich infolge eines Fliegenstichs. Diesem Schicksal entgeht von Ketten, der Protagonist in Musils Erzählung, nur knapp. Maximilian I., der sich auf der Burg Runkelstein aufgehalten hat und die dortigen Fresken schätzte, aber teilweise verändern ließ, soll auf halber Höhe der Martinswand, einem steilen Felsberg in Tirol, auf Gamsjagd in Lebensgefahr geraten sein und dort lange verharrt haben, ohne sich vorwärts oder rückwärts bewegen zu können, bis die unwahrscheinliche Rettung gelang (vgl. ebd.: 283f.).
Aus der Art und Weise, wie auf diese Episoden und die beiden für das Haus Habsburg und die Genealogie der K.-u.-k.-Monarchie zu Musils Zeit bedeutsamen Persönlichkeiten im Text Bezug genommen wird, lässt sich eine aufschlussreiche Beobachtung mit Blick auf Interkulturalität ableiten: Von Ketten, der Protagonist, dessen Nachname an Identitätsstiftung durch genealogische Ketten (wie jene der Habsburger) denken lässt, überwindet zwei lebensbedrohliche Situationen, die auch die beiden Monarchen durchlaufen hatten – Fliegenstich und Felswand –, dank einer ›fremden Frau‹, der Portugiesin. Dafür gibt es keine historische Vorlage. Bemerkenswert ist ferner, dass die Portugiesin augenscheinlich gerade nicht die Funktion erfüllt, diese genealogische Kette wieder zu schließen oder zu ›heilen‹. Am Ende der Erzählung tritt das Paar vielmehr aus dieser imaginären Verbindungslinie heraus. Die interkulturelle Begegnung ermöglicht nicht nur das Überleben, sondern führt auch zu einer neuen, anderen Art der ›Verkettung‹.
Zusammengehalten wird die Erzählung, über diese historischen Bezüge hinaus, durch die Arbeit an Übergängen: Dazu gehören der deutsch-italienische Familienname von Ketten/delle Catene, die Lage des Schlosses an der Schwelle zwischen germanischem und romanischem Sprach- und Kulturraum sowie die Familientradition, Frauen von weit her, aus sprachlich und kulturell differenten Räumen zu heiraten. Allein, dieser auf den ersten Blick bereits hybride Zustand bringt dennoch in jeder Generation nahezu identische, bis in die kleinste Körperfaser einander gleichende1 Herren von Ketten hervor, die alle ihr Leben nach scheinbar denselben Gesetzmäßigkeiten auf die gleichen Ziele richten – insbesondere auf den Krieg gegen den Bischof von Trient. Schon dies lässt darauf schließen, dass die Erzählung zum einen Differenz und Fremdheit verhandelt, zum anderen jedoch ihre ästhetische Eigenlogik durch die Überblendung und Verdichtung unterschiedlichster Bezüge exponiert, so dass es erforderlich ist, nach dem Zusammenhang »von kultureller und poetischer Alterität« (Uerlings 1997: 8; Hervorh. i.O.) zu fragen. Augenscheinlich ist für den Text ein elaborierter – genauer zu analysierender – »Umgang mit Differenz (im analytischen Sinne einer Skala von ›identisch‹ über ›ähnlich/unähnlich‹ bis ›nicht-identisch/anders‹) und kognitiver wie normativer Fremdheit (als Interpretament von Differenz)« (ebd.; Hervorh. i.O.) konstitutiv.
Der vorliegende Beitrag untersucht die Erzählung daher zunächst mit Blick auf die Veränderung der Wahrnehmung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹, die dem Ritter von Ketten/delle Catene wie auch seiner Ehefrau, der adligen Portugiesin, eignet, und fokussiert die damit einhergehenden Selbst-Transformationsprozesse der Figuren. Im zweiten Abschnitt steht die Selbst-Transformation von Kettens/delle Catenes als Befreiung aus einer paralysierenden Ähnlichkeit durch Fremd-Werdung des Kriegs im Mittelpunkt. Der dritte Abschnitt untersucht die interkulturelle Erfahrung der Portugiesin als Selbst-Transformation, und im vierten Teil werden diese beiden Stränge zusammengeführt, indem Novalisʼ Vorstellungen zur ›Verkettung‹ als ihr gemeinsamer Fluchtpunkt ausgewiesen werden – unter Einbeziehung des Novalis-Zitats, auf welches der Titel dieses Beitrags hinweist. Im kurzen Fazit wird die Frage nach poetischer und kultureller Alterität wieder aufgegriffen.
2.
Ziemlich genau in der Mitte des Textes findet sich der Satz: »Da stach ihn, als er heimritt, eine Fliege« (P: 261), und dieses folgenreiche Ereignis (auf dem die Klassifikation der Erzählung als Novelle beruht) verlangt von dem zweiundvierzigjährigen Ritter, zu überdenken, was er für ›Eigen‹ und ›Fremd‹ hält. Infolge des Stichs erkrankt er so schwer, dass der frühere Krieger zur Passivität bis hin zur Paralyse gezwungen wird. An der Schwelle zwischen Leben und Tod gefangen, kann von Ketten nicht mehr an seiner ursprünglichen Existenz festhalten; ihm muss, wenn er ins Leben zurückkehren will, der Absprung in ein anderes Verhältnis zur Welt und sich selbst gelingen – er weiß allerdings nicht wie. Bei näherem Hinsehen lebte er offenbar seit seiner Kindheit, aus der nur der seltsame Wunsch überliefert ist, einmal die unbesteigbare senkrechte Felswand seines Schlosses zu erklettern, in einer seltsamen Selbstentfremdung, da er das Leben seiner Vorfahren in jeder Hinsicht und bis in die letzte Faser seines Körpers hinein wiederholte.
Der Bischof von Trient, der jahrzehntelange Erzfeind aller Herren von Ketten, ist besiegt; dennoch erleidet der Ritter körperlich und seelisch die schlimmstmögliche Niederlage. Zwar hat ihm der Erbfeind keine frischen Wunden geschlagen, aber dies tut der Bader, der sein Fleisch aufschneidet, damit das Fieber austritt, wobei er ihm Schmerzen zufügt, »gegen die er sich nicht wehren durfte«. Die Versehrung seines Körpers erleiden zu müssen, ist für den Krieger von Ketten eine ganz neue, befremdliche Erfahrung. Zuvor war er in einen fiebrigen Schüttelfrost, »wie er solchen noch nie gesehen«, verfallen, wobei sich sein geschwollener Körper jeglicher Kontrolle entzieht: »[S]eine Muskeln zuckten und tanzten so, daß er die eine Hand nicht zur andern bringen konnte, und die halb aufgeschnallten Eisenteile klapperten wie eine losgerissene Dachrinne im Sturm.« (P: 261) Angesichts der Dysfunktionalität seiner Rüstung lachte der schwankende Herr von Ketten »mit grimmigem Kopf über sein Geklapper« (P: 261), wobei hier wie an weiteren Textstellen das Lachen auf einen wirksamen, aber nicht begriffenen Zusammenhang reagiert. Mehr tot als lebendig wird der Ritter, besiegt von einer unberechenbaren Kettenreaktion, die sich zwischen seinem Körper und der Fliege ereignet hatte, auf seine Burg gebracht, wo dann »eines Tags vom Herrn von Ketten nicht mehr übrig war als eine Form voll weicher heißer Asche« (P: 261).
Dies ist allerdings bloß der Anfang einer langen Zeit, in der »dieser willenlose, kindlich warme und ohnmächtige Körper nicht seiner, und diese von einem Hauch erregte schwache Seele seine auch nicht« (P: 262) ist. Von Ketten ist sich selbst fremd geworden, indem sich sein altes Ich »wie ein Zug Wanderer« aufgelöst hat, und »alles, was er liebte« – also auch sein Kriegerdasein –, »vorangestorben« (P: 262) war, ohne dass etwas Neues an dessen Stelle getreten wäre oder sich auch nur ankündigen würde. Mit der Kettenreaktion, die die Interaktion zwischen der Fliege und seinem Leib auslöst, hat der Burgherr, dessen Eigenname in geheimnisvoller Weise mit seinem eigenen Auflösungsprozess verknüpft scheint, nicht gerechnet; er konnte damit nicht rechnen, solange ihm »Kriegslist, politische Lüge, Zorn und Töten« täglich Brot waren und solange »der Stoß eines Speers unter den verschobenen Eisenkragen […] so einfach [war], wie wenn man mit dem Finger weist und sagen kann, das ist dies.« (P: 259) Der Herr von Ketten hatte über das Leben anderer verfügt und am Ende seine langjährigen Verbündeten ohne zu zögern im Stich gelassen, indem er »als Letzter stark und drohend dastand, das meiste für sich einstrich, wofür sich das Domkapitel an Schwächeren und Zaghafteren schadlos hielt« (P: 260).
Bemerkenswerterweise verändert sich delle Catenes Wahrnehmung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ grundlegend, wobei er keine inter-, sondern eine intrakulturelle Differenz umwertet. Erscheint ihm eingangs das Kriegshandwerk überaus »[t]raulich« (P: 259), empfindet er es später als von Grund auf fremd: »Kampf erschien ihm wie eine sinnlos fremde Bewegung, selbst der kurze Weg eines Messers war wie eine unendlich lange Straße, auf der man verdorrt.« (P: 268) Diese Transformation wird unter anderem durch die paralysierende Wirkung familiengenealogischer Ähnlichkeit mit seinen Vorfahren erzwungen, die sich für seine Identität als nicht mehr tragfähig erweist. Dabei ist die Erzählung nichts weniger als eine christliche Lehrstunde, bleibt doch von Ketten bis zum Schluss ein Ungläubiger, der nicht zu Gott betet. Sowenig wie die Gegensätze männlich-weiblich, Sonne-Mond, germanisch-romanisch strukturgebend sind, sowenig ist es auch der Gegensatz Gott-Teufel.
Entscheidend ist, dass in der ›alten‹ Welt, sei sie auch reich an Nuancen und Übergängen, von Ketten/delle Catene keine Individualität entfalten kann. Deshalb gerät er in die lebensbedrohliche Krise, die sich als Katatonie äußert – da er nicht er selbst sein darf, agiert er auch nicht, sondern verfällt in ›Stupor‹. Dieser lässt sich vor dem Hintergrund von Musils Auseinandersetzung mit Joseph Breuers und Sigmund Freuds Studien über die Hysterie (1895) als eine ›Abreaktion‹2 auffassen. Musil hatte sich übrigens ausgehend von eigenen Schwäche- und Lähmungszuständen gefragt, ob diese »eine Art männlicher Hysterie« (Musil 1981: 6) seien. Da von Ketten in einem gesellschaftlichen Dispositiv gefangen ist, das ihm Individualität nur in sehr begrenztem Maße zugesteht, agiert er die symbolische Gewalt, die bewirkt, dass er ›in Ketten‹ liegt, performativ aus. Hierin liegt auch das moderne Momentum der Erzählung: Sowohl von Ketten als auch der Portugiesin muss, damit sie jeder für sich und als Ehepaar weiterleben können, eine Selbst-Transformation gelingen, im Zuge derer sie ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹ gemäß individueller Wahlentscheidungen neu codieren.
Delle Catenes Katatonie (»er konnte sich nicht rühren«, P: 265) kommt totaler Entmachtung gleich. Wie ein der Pflege ergebenes Kind, wie ein »von Krankheit zerschundener« (P: 265) Greis, schließlich wie ein Tier, seiner sozialen Persona verlustig, erduldet er, dass sich seine Frau ihrem angereisten Jugendfreund annähert, während er »wie ein Hund im Gras lag und sich schämte« (P: 263).
Die Katze, deren Ausstrahlung »zwischen einem kaum sichtbaren Heiligenschein und dem gräßlichen Schmutz« wie eine »Menschwerdung« im »Hinschwinden« anmutet, wird von ihm, der Portugiesin und ihrem zugereisten Jugendfreund aufgefasst, als sei ihr eigenes Leiden »in diese vom Irdischen schon halb gelöste Katze übergegangen« (P: 267); die Katze ist aber nicht nur Christus-Figur, mindestens so nah steht sie dem Teuflischen, denn um die Stelle, an der sie verscharrt wurde, schnupperten die Hunde, »steiften die Beine, sträubten das Fell und blickten schief zur Seite« (P: 268). Allenfalls in einem ketzerischen Sinne kann es als »Gottesurteil« (P: 268) bezeichnet werden, dass es delle Catene gelingt, die senkrechte Felswand hinaufzuklettern, heißt es doch: »[u]nten ankommen konnte nur ein Toter, und die Wand hinauf der Teufel« (P: 269); auch glaubt von Ketten, nicht er würde die Wand hochklettern, sondern er wäre selbst »die kleine Katze aus dem Jenseits«, die, indem er die Felsmauer hochklettert, »wiederkommen« (P: 268) würde. Somit imaginiert von Ketten seinen Aufstieg ins Leben als Wiederkunft der Katze aus dem Jenseits, meint aber zugleich, dies sei ein Teufelsritt.3
Von Ketten, die Portugiesin und ihr Jugendfreund kommen somit überein, die Katze als »Zeichen«4 zu betrachten, es ist aber ziemlich offenkundig, dass dies nicht im Sinne einer metaphysischen Offenbarung, sondern als individueller Imaginationsakt gemeint ist. Nachdem die Portugiesin entschieden hatte, dass der Knecht die Katze töten sollte,5 wird diese definitiv zum ›Zeichen‹, welches in ganz unterschiedlicher Weise aufgefasst wird – vom Portugiesen als Todesurteil, von delle Catene als Lebenschance, von der Portugiesin in ihrem Schlusssatz als Mittlerfigur. Freilich ist es ein Streich des Zufalls, dass ein und dieselbe Erscheinung die Figuren und ihre Beziehungen zueinander dynamisiert und an ihr »zweites Wesen« (P: 266) erinnert.
Im Falle von Kettens setzt die Auslegung des ›Zeichens‹ Katze einen Heilungsprozess in Gang, der nicht vom Metaphysischen her erklärt werden kann, sondern auf den eigenen Körperkräften beruht; durch die Erfahrung, dass »sein Leben in den zehn Riemchen der Fingersehnen« (P: 269) in der Felswand hing, stellt sich bei von Ketten ein vorher nicht dagewesenes Selbst-Gefühl ein. Hatte er zuvor sein Leben im Krieg aufs Spiel gesetzt, erringt er sich mit dem Aufstieg ein Anrecht auf Individualität und Liebe; er entscheidet sich gegen die Tötung des Jugendfreundes seiner Frau6 zugunsten dieser Bewährungsprobe, die ihn ins »Schlafgemach« (P: 269) seiner Frau führt. Damit lässt sich der Entwicklungsweg des Schlossherren als eine Ablösung von den seriellen Gesetzen des kollektiv geführten Kriegs hin zur Liebe und einem individuellen Selbst- und Lebensgefühl beschreiben: Er »wachte, so schien es deutlich, auf« (P: 269). Diese Entwicklung vom ›Krieg‹ hin zur ›Selbstfindung in der Liebe‹ weist sowohl in Richtung der Moderne als auch in Richtung der Frühromantik. Ersteres gilt insbesondere für die psychologische Seite der Entwicklung von Kettens und für seine Faszination für die technische Welt des Kriegs, deren Beherrschung ihm Genugtuung verschafft. Zweiteres wird in der Selbst-Transformation im Zuge der Zeichendeutung sowie der Selbstfindung durch Liebe greifbar.
Ein zentrales Thema des Textes, der Weg von dem seriellen Ich, das dem technoiden Krieg verschrieben ist, hin zum individuellen, das Liebe erlebt, enthält offenkundig Anspielungen auf Heinrich von Ofterdingen: Damit Freya in Klingsors Märchen ›erwacht‹, muss Eros das (geliehene) eiserne Schwert wegwerfen. Die Begegnung mit Zulima veranlasst Heinrich dazu, der Faszination des Kriegs und der Bruderschaft mit den Kreuzzüglern zugunsten der Verheißung von (auch interkulturell codierter) Liebe und Kunst zu entsagen. Der Transformationsweg von Kettens ist damit durchaus vergleichbar. In seiner Faszination für den Krieg klingt das ›Ratïode‹ an, wie es Musil in seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters 1918 beschrieben hat: »Dieses ratioïde Gebiet umfaßt – roh umgrenzt – alles wissenschaftlich Systematisierbare, im Gesetze und Regeln zusammenfaßbare« (Musil 1978b: 1026f.). Das Kriegshandwerk gehört dieser Sphäre an: »Tat geschieht, weil andere Tat geschehn ist; […] Befehlen ist klar; taghell, dingfest ist dieses Leben« (P: 259). Anfangs gleicht von Ketten dem rationalen »Mensch[en] mit dem festen Punkte a« (Musil 1978b: 1026); indem er sich allmählich von dieser Haltung löst, entwickelt er sich zunehmend zu einem Menschen mit dichterischem Weltzugang. Damit sind weder »ein ganz falsches metaphysisches Pathos« gemeint noch eine vermeintliche »Unendlichkeit des Gegenstandes«, sondern unendliche » Gegenstandsbeziehungen« (ebd.: 1030).
Die Portugiesin, die ›fremde Frau‹, die dieser Herr von Ketten wie all seine Ahnen von weither geholt hat, um keine Verbindlichkeiten gegenüber etwaigen Verwandten vor Ort einhalten zu müssen, ist, wenngleich sie ebenfalls als ›Exotin‹ konnotiert und in der Fremde auf sich selbst gestellt ist, allerdings nicht machtlos wie die Gefangene Zulima; Letzterer gelingt es, selbst als ›interne Exkludierte‹, von einer Position aus, von der sie, mit Gayatri Spivak gesagt, als »Subalterne […] nicht sprechen kann« (Spivak 2020: 106), überzeugend für interkulturelle Anerkennung und Kunst statt für Krieg zu plädieren, ja sogar gehört zu werden und Heinrich dazu zu bewegen, sich vom Krieg abzuwenden und abwertenden Erzählungen der Kreuzzügler über das ›Morgenland‹ keinen Glauben zu schenken. Der Portugiesin gelingt mit Blick auf den Krieg Ähnliches – ironischerweise (auch) dadurch, dass sie offenbar Novalis gelesen hat, noch lange bevor er gelebt und geschrieben hatte. Dieser krasse Anachronismus ist ein moderner und zugleich romantischer Streich Musils:
»›Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden,‹ sagte die Portugiesin, und er hätte ihr die Hand vor den Mund halten müssen, wegen der Gotteslästerung, aber sie wußten, kein Laut davon drang aus diesen Mauern hinaus.« (P: 270) Der Satz der Portugiesin, mit dem die Erzählung endet, enthält ein Novalis-Zitat. Es lautet vollständig: »Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Stein, Pflanze[,] Thier und Element werden, und vielleicht giebt es auf diese Art eine fortwährende Erlösung in der Natur.« (N III: 664)7 Musils Leserinnen und Leser werden aufgefordert, im Licht dieses Schlusses – und dieses Zitats – den Text noch einmal zu überdenken, und dabei springen die zahlreichen Hinweise auf die Bücher der Portugiesin und die darin enthaltenen Bilder und Zeichen hervor; diese Zeichen sind es, die, von der Portugiesin an Tür und Bett angebracht, den Tod zu bannen scheinen – wobei auch hier der Zeichengebrauch und nicht das Zeichen selbst wirksam zu sein scheint, ähnlich wie im Falle der Katze.
In der Forschung wurde das leicht abgewandelte Novalis-Zitat schon seit längerem als solches erkannt, und ihm wurde schon früh – allerdings noch unpräzise und allgemein – eine große Reichweite für Musils Werk zugesprochen: Novalisʼ Denkfigur der ›Erlösung‹ bliebe zwar in diesem Satz der Portugiesin unausgeprochen, »aber sie ist das geheime Zentrum dieser Novelle, wie sie das von Musils gesamten Werk ist« (Kaiser/Wilkins 1962: 118). Die Nachlassbearbeiter Kaiser und Wilkins weisen auch darauf hin, dass die Katze »in gewissem Sinne eine Mittlerrolle spielt« (ebd.: 117), insbesondere weil ein »zweites Wesen oder Ab-Wesen oder ein stiller Heiligenschein« (P: 266) um sie zu sein scheint. In Reaktion darauf äußerte Maximilian Aue allerdings eine gegenteilig zugespitzte Auffassung in seinem Aufsatz Die Ablehnung romantischer Vorstellungen von Liebe, Natur und Tod in Robert Musils ›Drei Frauen‹: Musils experimentelle Poetik evoziere in diesem Zyklus Novalisʼ frühromantische Position nur, um sie zu widerlegen, so dass »hier eine bewußte Ablehnung der romantischen Antworten auf grundlegende menschliche Probleme thematisch« (Aue 1976: 249f.) werde, und Musil zeige, dass romantische Kategorien »im Zeitalter der Technik keine Kraft« (ebd.: 253) hätten. Freilich lässt sich dieser Auffassung entgegenhalten, dass Novalisʼ Poetik bloß die Alleinherrschaft von Technik ablehnt, worin sie jener Musils durchaus nicht unähnlich ist, und dass in der Portugiesin Herr von Ketten gerade infolge der Einseitigkeit seines ganz von Kriegstechnik beherrschten Daseins sich selbst verliert und erstarrt.
Die neuere Forschung hat die Kontroverse mit Blick auf diese Erzählung leider kaum fortgesetzt; sie fand auch im Musil-Handbuch kaum einen Niederschlag.8 Aufschlussreich ist der Aufsatz Novalis und Musil von Ulrich Karthaus, der – ohne eine Gesamtinterpretation von Musils Erzählung daraus abzuleiten – einen Abschnitt zur Relevanz von Novalis für Die Portugiesin enthält (vgl. Karthaus 2000: 269-276).9 Interessant ist Karthaus’ abschließende Überlegung, dass Musil im Gegensatz zu Novalis »auch als Dichter und Mystiker, Positivist« sei, weil sich die ›zweite Wirklichkeit‹ nicht als Vision, sondern in Gestalt der Katze als ein »Zeichen« (ebd.: 275) zeige, welches als Aufforderung zu eigenem Handeln erst gedeutet werden müsse. Es wäre aber zu fragen, ob nicht gerade dies auch für Novalis gilt.
3.
Daran lässt sich die These anschließen, dass es der Erzählung um Individuation durch Fremdwerdung geht und dass dies auch das poetische Prinzip ist, das Die Portugiesin zusammenhält – ein poetisches Prinzip, das erkennbar auf interkulturelle Potentiale und intertextuelle Bezüge setzt.
Was das Geschlecht der von Ketten angeht, gehört kulturelle Flexibilität zur selbstverständlichen Ressource des Handelns. Die Übersetzbarkeit des Eigennamens impliziert die Wahlmöglichkeit zwischen romanischer und germanischer Selbstverortung. Für delle Catene besteht die Herausforderung der Neucodierung von Übergängen zwischen Eigenem und Fremdem darin, sich der Individualität der Portugiesin – und seiner eigenen – zu stellen. Dies ist die grundlegende Fremdheitserfahrung, die ihn verändert. ›Familienerbe‹ des Schlossherren ist ein Selbstentwurf, der Interkulturalität mit einschließt – aber nur in einem sterilen, funktionalistischen Sinn: »Sie hießen in manchen Urkunden delle Catene und in andern Herren von Ketten; […] sie gebrauchten ihre deutsche oder welsche Zugehörigkeit, wie es der Vorteil gebot, und fühlten sich nirgends hingehören als zu sich.« (P: 252) Diese kulturelle Flexibilität ist allerdings stark eingehegt: Sie erlaubt – paradigmatisch im bewussten Abschotten der ›fremden Frauen‹ von ihren Angehörigen durch die große Entfernung – nur Verkettung nach innen. Diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist von Kettens Lebensaufgabe, und es gelingt ihm schließlich, indem er sich der Fremdheit seiner Frau stellt. Am Ende schließt sich der Umlauf einer Entwicklungsspirale zwischen dem ersten und dem letzten Satz der Erzählung: von einer abgestumpften, mit lähmender Ähnlichkeit geschlagenen Verfassung hin zur Gestaltung von Übergängen als ›Vermittlung‹.10
Die Ehefrau ist nicht mehr – wie es der Brauch der delle Catene vorsieht – austauschbare Schöne aus der Fremde, die eine Fortsetzung der patrilinearen ›Ahnenkette‹ nach dem immer gleichen Muster ermöglicht. Dabei ist »der bestimmende Zug in der Namensgebung die Depersonalisierung« (Pott 1984: 52); bei ihr bleibt es jedoch nicht. Von Ketten muss, so die Textlogik, erst die »Heiligkeit des Lebens« (P: 265) erlernen, die alte patrilineare ›Verkettung‹ auflösen und neue ›Verkettungen‹ – insbesondere jene der Liebe – eingehen, die er selbst wählt.
In der Erzählung hat die Überschreitung von Grenzen kultureller Alterität daher zwei unterschiedliche Valenzen: Einmal ist sie bloß Mittel zu ökonomischen, politischen und militärischen Zwecken, in ihrer Erneuerungskraft abgestumpft und zur Selbst-Transformation wenig tauglich – allenfalls als Ressource einer gewissen geistigen Flexibilität. Damit geht möglicherweise die Ungläubigkeit von Kettens einher: das urkundlich verbriefte Wissen um die Übersetzbarkeit des Eigennamens. Die Erzählung nimmt die Pointe von Walter Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers insofern vorweg, als jede Übersetzung neue Potentiale birgt;11 wie in dem darauf bezogenen Aufsatz Babylonische Türme von Jacques Derrida und den auf das Wort Ba-Bel bezogenen Ausführungen, fallen bei allen von Ketten/delle Catene bis zu den Ur-Ahnen der Eigenname und dessen Dekonstruktion in eins. Allerdings unterscheidet sich Musils Erzählung insofern von Derridas Argumentation, als »Transparenz« auf eine absolute Sprache hin sowie »Eindeutigkeit und Gleichnamigkeit« (Derrida 1997: 127) nicht vermisst werden.
Ein anderes Mal – im Falle der Portugiesin – hat Interkulturalität ganz andere Valenzen, indem sie zu einer Erfahrung wird, die Selbst-Transformation ermöglicht. Dass sich die Portugiesin auf von Ketten, das unwirtliche Schloss und den langen Krieg einlässt, liegt darin begründet, dass sie »[m]üde des pfaublauen Meers« war und sich »ein Land erwartet [hatte], das voll Unerwartetem war wie die Sehne eines gespannten Bogens« (P: 255). In dem ›Pfau‹ klingt die endlose Rekursivität des Selbstbezugs an; diese ›Kette‹ möchte die Portugiesin mehr als alles andere abschütteln.
In der Forschung findet sich öfter die Ansicht, dass die titelgebende Portugiesin eine blasse Nebenerscheinung im Text sei, deren exotische Attribute lediglich instrumentelle Funktion für den Weg des Schlossherren hätten. Noch Karl Eibl befand, dass die Entwicklung der Portugiesin nicht mit jener von Kettens verschränkt sei, da sie die Tötung des Wolfs, den sie als Stellvertreter ihres abwesenden Krieger-Ehemanns hegte, als »Zumutung« empfunden und seine damit indirekt geäußerte Bitte, »daß auch sie ihn auf eine neue Weise annimmt, […] nicht akzeptiert und nicht verstanden« (Eibl 1978: 148) habe. Insbesondere habe sie auf die Wolfstötung »mit einem geschmacklosen Witz aus der Krieger-Sphäre« (ebd.) geantwortet. Das Gegenteil ist aber der Fall. Wenn die Portugiesin sagt, »[i]ch werde mir eine Haube aus dem Fell machen lassen und dir nachts das Blut aussagen« (P: 263), verbindet sie sich körperlich-intim sowohl mit seinem alten als auch mit seinem neuen Ich: Das alte führt sie als wärmende Kappe einem funktionalen Zweck zu, und mit dem neuen schließt sie ›Blutsbrüderschaft‹. Da von Ketten zu der Zeit bereits mehrfach angenommen hatte, er sei schon gestorben und kehre allenfalls als Wiedergänger auf die Welt zurück, gesellt sich die Portugiesin in ihrer scherzhaften Antwort gleichsam zu ihm, indem sie sich als Vampir ausgibt. Gerade weil beide wissen, dass diese imaginäre Rolle nicht der Realität entspricht, öffnet sie von Ketten eine Tür zurück ins Leben. Die Portugiesin erinnert in dieser Hinsicht an Isis, denn sie führt den fast dahingeschiedenen von Ketten ins Leben zurück und stellt seine Potenz symbolisch wieder her, indem sie sich vom portugiesischen Jugendfreund trennt, der vor den Augen des kranken von Ketten um ihre Liebe geworben hatte.12 Ihre Entgegnung enthält somit das Versprechen, sein verändertes Ich anzunehmen; sie begibt sich sogar mit ihm in den gefährlichen Bereich zwischen Leben und Tod, in dem er sich befindet, und holt ihn dort ab. Unterstrichen wird das in dieser Szene durch den ersten nicht an der Augenoberfläche abgleitenden Blickwechsel zwischen den Eheleuten nach der Verwundung.
In der neueren Forschung wird zunehmend das ausgewogene Geschlechterverhältnis hervorgehoben; so legte Stephanie Catani, ausgehend von dem Gegensatzpaar appetitiv-kontemplativ, dar, dass die (kontemplativen) Eigenschaften der Portugiesin vor dem Hintergrund von Musils Essayistik keineswegs die minder Wertvollen seien (vgl. Catani 2005: 243).13
So sind die Entwicklungswege beider Hauptgestalten als zwei unterschiedliche, gleichermaßen bedeutungsvolle Veränderungsvorgänge gestaltet, die zu neuem Gemeinsam-Sein führen. Mit ihrer Fremdheitserfahrung in Südtirol ist die Portugiesin dem Burgherren hinsichtlich der Selbst-Transformation um einen Pferdehals voraus: Die Erzählerstimme betont, dass von Ketten »um einen Pferdehals zurück neben ihr ritt« (P: 254). Dieser Hinweis wird sogar verstärkt, denn von Ketten verspürt in der Anwesenheit der Portugiesin stets etwas, das »weder seinen Willen überwand, noch ihm nachgab, sondern ausweichend ihn anderswohin lockte und ihn unbeholfen schweigend hinter ihr dreinreiten machte wie eine arme verlorene Seele.« (P: 255f.) Hier kündigt sich nicht allein die Liebe an, sondern mit ihr auch die Öffnung und Bereitschaft für Neues; der gemeinsame Weg führt für beide ›anderswohin‹.
Die interkulturelle Erfahrung, die Immersion der Portugiesin in eine ganz andere Landschaft und Sprachumgebung, kann – da sie stets den passenden Zeichengebrauch und auch die richtige Auslegung beherrscht – sogar als Modell für die ›Auferstehung‹ von Kettens als Verwandelter betrachtet werden. Die erste Beschreibung des Schlosses am Brenner erfolgt aus Sicht der Portugiesin; die Erzählerstimme macht die Leserinnen und Leser mit der Anlage vertraut und schildert im selben Atemzug eine radikale Erfahrung der Befremdung angesichts dieses lebensfeindlichen Ortes:
Wild stieg das Schloß auf. Da und dort saßen an der Felsbrust verkümmerte Bäumchen wie einzelne Haare. Die Waldberge stürzten so auf und nieder, daß man diese Häßlichkeit einem, der nur die Meereswellen kannte, gar nicht hätte zu beschreiben vermögen. […] [U]nd alles war so, als ritte man in einen großen zerborstenen Topf hinein, der eine fremde grüne Farbe enthielt. (P: 255)
Vor dem Hintergrund anderer Schönheitserfahrungen gefällt der Portugiesin in der Heimat ihres Mannes nichts; seine Welt scheint ihr in jeder Hinsicht aus den Fugen geraten; als habe die Natur eine kriegerische Verwüstung in Stein gießen wollen, stößt der Ort – so scheint es der Frau – die menschliche Gesellschaft ab. Sie
hatte sich ein Land erwartet, das voll Unerwartetem war wie die Sehne eines gespannten Bogens; aber da sie das Geheimnis sah, fand sie es über alles Erwarten häßlich und mochte fliehn. Wie aus Hühnerställen zusammengefügt war die Burg. Stein auf Fels getürmt. Schwindelnde Wände, an denen Moder wuchs. Morsches Holz oder rohfeuchte Stämme. Bauern- und Kriegsgerät, Stallketten und Wagenbäume. (P: 255)
Die Portugiesin ist – wie elf Jahre später ihr Mann nach dem Fliegenstich – von allem, was sie in Sinnzusammenhänge des Zuträglichen und Erfreulichen einbeziehen könnte, abgeschnitten. Mit den wilden Tieren, den Felswänden, hinter denen Dämonen vermutet werden und über die noch nie jemand hatte blicken können, ohne dahinter weitere Mauern vorzufinden, mit den Geröllhalden »wie Tücher voll Steinen, Sterne so groß wie ein Haus, und noch der feinste Schotter unter den Füßen nicht kleiner als ein Kopf« (P: 255), findet sie »eine Welt, die eigentlich keine Welt war« (P: 255), in einem apokalyptischen Zustand vor, in der sie die Steine an rollende Menschenköpfe erinnern.
Sie lernt aber, diesen locus terribilis anders wahrzunehmen. Zunächst scheinen ihr die »vielen Perlenketten, die sie besaß« (P: 254), mit den »Stallketten« (P: 255), die sie vorfindet, unvereinbar. Dennoch entstehen, um im Bild zu bleiben, neue Kettenglieder, die sie nach und nach mit dem Ort verbinden; dies geschieht, weil sie sich die Möglichkeit offenhält – wie die Erzählerstimme berichtet –, andere Schönheitswahrnehmungen zu erlernen (»vielleicht war das, was sie sah, gar nicht häßlich, sondern eine Schönheit wie die Sitten von Männern, an die man sich erst gewöhnen mußte«, P: 255).
Die interkulturelle Erfahrung und Transformation der Portugiesin vollzieht sich im Schatten der Wahrnehmung von Kettens, und während der Kriegsjahre bleibt die wechselseitige Wahrnehmung arretiert: Sie ist »mondnächtige Zauberin« (P: 262), er »Geliebte[r] des Ruhms und der Phantasie« (P: 265). Dieses Arrangement trägt aber nur so lange, bis von Ketten als Siechender heimkehrt.
Die Portugiesin und von Ketten ›verstehen‹ sich zwar nicht im Sinne einer Einigung, aber sie ›erkennen‹ einander zunehmend besser. Deutlich ist dies in der Schilderung einer Liebesnacht, in der von Ketten ins Schloss kommt und seine Frau, zur Nacht gekleidet, vor den gelb beleuchteten Seiten eines Buchs findet, als »Gestalt, nur aus sich heraussteigend und in sich fallend; wie ein Brunnenstrahl; und kann ein Brunnenstrahl erlöst werden, außer durch Zauberei oder ein Wunder, und aus seinem sich selbst tragenden, schwankenden Dasein ganz heraustreten?« (P: 259) Die ›Erlösung‹, um die es hier geht, ist die Verbindung einer autonomen Kraft, der Person der Portugiesin, mit einer anderen, der des Ritters. Der Liebesakt scheint erst eine unmöglich zu erreichende Verkettung zu sein, vollzieht sich dann aber als Unio mystica – der Ehemann empfindet es »wie Zauberei« (P: 259) und die Zärtlichkeit scheint ihm »noch unheimlicher« (P: 259) als der Widerstand, den er zunächst befürchtet. Hier klingt sicherlich Novalis an: »Liebe ist der Grund der Möglichkeit der Magie. Die Liebe wirckt magisch« (N III: 255; Hervorh. i.O.). Liebe als Fremdheitserfahrung ist für beide Hauptfiguren verbunden mit den Neucodierungen von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ – in einem Falle mit der interkulturellen Aneignung des Südtiroler Hochgebirges, in dem anderen mit dem Übergang vom vertrauten Krieg in ein selbstbestimmteres, friedliches Leben.
Die Liebesbeziehung zwischen dem Schlossherren und der Portugiesin ist also unübersehbar an Novalisʼ Konzepte von Liebe, einer individuellen Arbeit an und mit Religiosität und Selbst-Transformation angelehnt; Musils und Novalisʼ Poetiken passen zusammen, wie das Bild von dem alten, bekannten und doch fremden Mantel die Passung zwischen der Portugiesin und Catene beschreibt. Dafür sprechen weitere Anspielungen im Text, etwa der Vergleich zwischen der Portugiesin und einer Rose (vgl. P: 258) oder ihre Ansprache als »mondnächtige Zauberin« (P: 262). Vor seiner Krankheit ist für den Schlossherren der Krieg das Vertraute, das »andre aber ist fremd wie der Mond. Der Herr von Ketten liebte aber dieses andere heimlich«, und »sein Begehren griff nicht nach Frieden des Gewinns, sondern sehnte sich aus der Seele hinaus« (P: 259); dies erinnert – gerade angesichts der zunehmenden Annäherung von Sonnen- und Mondsymbolik im Text, die nicht als bloße Gegensätze codiert sind – an die Hymnen an die Nacht: »Aber getreu der Nacht bleibt mein geheimes Herz, und der schaffenden Liebe, ihrer Tochter« (N I: 137). Während der Kriegsjahre hatte sich das Gerücht verbreitet, von Ketten habe sich »aus Haß gegen den Bischof dem Teufel verschrieben«, und diesen besuche er heimlich, wenn er »in Gestalt einer schönen fremden Frau auf seiner Burg weilte« (P: 258). Bemerkenswerterweise verwehrt sich der Ritter gegen diese Unterstellung nicht nur nicht, sondern »er wurde ganz dunkelgolden vor Freude« (P: 258), was sich – wenn man den ›Teufel‹, wie es in dieser Erzählung naheliegt, mit Nacht, Mond, Magie und Liebe, also mit allem zusammendenkt, was sich nicht ›ratioïd‹ erklären lässt,– ebenfalls auf die oben angeführte Stelle der Hymnen beziehen lässt: Von Ketten strahlt wie die Sonne, weil er den Mond in seinem Herzen weiß.
Die Liebe der beiden wird als Fremdheitserfahrung geschildert, aber als eine, in der sie sich treffen, wie (aus Sicht der Frau) das Bild vom vertraut-fremden Mantel, in den man hineinschlüpft, veranschaulicht. Dieses Bild, das abermals auf Benjamins Übersetzungsmetapher vom lose Falten werfenden »Königsmantel« vorausweist (Benjamin 1972: 15), impliziert eine Passung und Ähnlichkeit; ihr geht eine andere Szene des Übergangs voraus, in welcher der Abriss des Körpers der Portugiesin sich unter die Zeichen eines Buchs mengt, aus dem sie liest: »[U]nd die schöne Nase sprang scharf in das glatte Gelb eines beleuchteten Buchs mit geheimnisvollen Zeichnungen. Es war wie Zauberei.« (P: 259) Dieses Körper-Zeichen auf dem Hintergrund der Buch-Zeichen löst die ›Zauberei‹ aus – eine magisch wirkende Verkettung, in der das zweite Kind des Paares gezeugt wird. Im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Buch und der unheimlichen Liebesvereinigung, die, obwohl sie die Grenzen des Selbst auflöst, doch die Kraft der einzelnen ›Brunnenstrahlen‹ (der einzelnen ›Ichs‹) erhält, ist in der Erzählung zum ersten Mal von ›Erlösung‹ die Rede: »[U]nd kann ein Brunnenstrahl erlöst werden, außer durch Zauberei oder ein Wunder, und aus seinem sich selbst tragenden, schwankenden Dasein ganz heraustreten?« (P: 259) – ›Erlösung‹ bringt hier die Liebe. Der letzte Satz der Portugiesin enthält, wie bereits erwähnt, ein nicht zu Ende gesprochenes – aber angesichts der Figurationen im Text sicher zu Ende gedachtes – Novalis-Zitat.
4.
Die ›Lektüre‹ der Portugiesin, ihr Zitat aus der Zukunft, scheint in der Tat Musils Erzählung insofern zusammenzuhalten, als es Novalis an dieser Stelle um die ›Kette‹ der Lebewesen geht, um ein Verkettet-Sein aller Dinge, dessen Dynamik sich weder arretieren noch auf einen Begriff bringen noch allein durch rationale Kausalitäten erklären lässt.
Es ist anzunehmen, dass insbesondere Novalisʼ Reflexion über Ketten und Verkettungen14 und die poetischen Bilder dafür wichtige Intertexte dieser Erzählung sind. So ist gerade der für Die Portugiesin strukturgebende Gedanke der Liebesverkettung von ›Sonne‹ und ›Mond‹ für Novalis Anlass zum Nachdenken über das Schließen und Öffnen von Ketten: »Wie ist der Aufgang der Sonne – Schließung einer Kette? Begriff der Kette – über ihr Schließen und Oeffnen.« (N III: 100; Hervorh. i.O.) Wie bei Musil bleibt auch bei Novalis offen, was die eigentlichen Glieder der Kette sind.
In der Novelle Die Portugiesin desintegriert sich die patrilineare Kette der delle Catene, indem sich Überdruss über die Unzulänglichkeit des Kriegshandwerks in Bezug auf Selbst und Welt einstellt: Diese Glieder halten weder die Kette des eigenen Körpers noch der Seele zusammen, so empfindet es der Schlossherr. Novalis überlegt in seinen Mathematischen Fragmenten, ob die Möglichkeiten, dass Ketten und Glieder zustande kommen, nicht unendlich seien: »Jede Gr[öße] ist ein Aggregat – ein Theilbares[,] eine Reihe, Kette – eine schlechthin einfache Gr[öße] giebts nicht« (N III: 127). Noch deutlicher wird dieser Punkt, wenn Novalis die Brown’sche Theorie kritisiert: »Der K[örper] ist eine unendliche Kette von lauter Individuen. Alle Kr[äfte] sind lauter LocalKr[äfte]« (N III: 612; Hervorh. i.O.). Es ist dann nur folgerichtig, dass sich heterogene Kräfte im Körper nach Innen und Außen vielfältig verketten können und, ohne zentral kontrolliert zu werden, auch solche Kettenreaktionen auslösen, wie sie der Herr von Ketten infolge des Fliegenstichs erlebt. Musils Forderung nach der »Unendlichkeit der Gegenstandsbeziehungen« (Musil 1978b: 1030) im Konvergenzbereich von Dichtung und Wissenschaft weist – wenngleich deutlicher formuliert – in eine durchaus vergleichbare Richtung.
Novalis geht so weit, anzunehmen, dass die Einheiten von ihren Verkettungen abhängig sind, dass also die Entitäten nur je nach den von ihnen eingegangenen Relationen erfasst und definiert werden können. Zu diesem magisch-positivistischen Zugang gehört es, dass die kleinsten Gegenstände der Analyse sich vor dem Beobachterblick eigenständig verflüchtigen können, sobald sie in andere Ketten treten – und genau dies geschieht in der Portugiesin mit dem Schlossherren, der in andere Ketten tritt. Offenbar durch die für ihn unkenntlichen ›Individuen‹ in seinem Körper angeleitet, die als Erste aus den alten Verkettungen austreten, wird er, ganz im Sinne von Novalis’ Poetik, von einer Kette der Liebe, unterstützt durch eine Mittlerfigur, ›erlöst‹: »Der Liebe eine Kette –Ein Kuß der Liebe weckt sie.« (N I: 339), notierte Novalis am Rande des Klingsor-Märchens in Heinrich von Ofterdingen; gemeint ist Freyas Erwachen durch einen Kuss von Eros und die Kette Zinks, die ebenso glüht wie das weggeworfene Schwert. Auch Ginnistan erweckt in Klingsors Märchen den Vater durch eine intime Berührung – sie legt ihm auf Anraten Fabels ihre Hand aufs Herz –, und setzt dabei auch die von Zink geschmiedete Kette ein, die sie um den Hals trägt. Als sie sich über ihn beugt, ragt diese Kette in das geschmolzene Gold hinein, in dem der Körper des Vaters ruht, und löst eine Kettenreaktion aus. Auch im Märchen von Atlantis im Ofterdingen hängt die Prinzessin ihrem Auserwählten eine goldene Kette um den Hals (vgl. N I: 220).
Auch die Portugiesin, von deren Halsketten der Schlossherr eingangs schwärmt, beugt sich mehrfach über den Todkranken; zwischen beiden wird schon im ersten Teil eine als ›Zauberei‹ erlebte Körper-Kette als Liebesakt beschrieben; und darüber hinaus brachte die Portugiesin »außerdem noch geheime Zeichen an Tür und Bett an« (P: 261), die offenbar dazu beitragen, dass von Ketten nicht ›endgültig‹ stirbt, obwohl er annimmt, »[g]ewiß […] schon abgeschieden« zu sein und bloß irgendwo zu warten, »ob er noch einmal zurückkehren müsse« (P: 262). Die Zeichen, die das Leben schützen sollen, kennt die Portugiesin aus ihren Lektüren, die, wenn sie nicht durch die Wälder ging, »vor den Bildern in ihren Büchern saß« (P: 260). Auch die »kleine Katze hatte inzwischen einen Namen aus einem der Märchenbücher erhalten« (P: 266); da damit die Bücher der Portugiesin gemeint sind, wird hier wohl auf die Märchen in Heinrich von Ofterdingen angespielt. Da die Katze in einer frühen Skizze der Erzählung als ›Katze aus dem Jenseits‹ bezeichnet wird, in der Portugiesin zwischen Diesseits und Jenseits changiert und dem Schlossherren als auslegungsbedürftiges ›Zeichen‹ zeigt, was zu tun ist, mithin Transformation und Progression ermöglicht, mag ›Fabel‹ als Assoziation für den Namen aufkommen.
Einiges spricht also dafür, dass sich Herr von Ketten hier der Gesetze der »eisernen Kette« (N I: 144) des Kriegs entwindet, um zu einer neuen Verkettung im Geist der Liebe zu finden. Die Selbst-Transformation lässt sich besonders deutlich daran ablesen, dass er, dem der Krieg Alltagshandwerk war, die Tötung seines Rivalen, des portugiesischen Jugendfreundes, nunmehr als Mord empfindet und ablehnt. Die letzte Tötung, für die von Ketten verantwortlich ist – stellvertretend für das Abstreifen des alten kriegerischen Ichs – ist jene des Wolfs, den die Portugiesin während seiner Feldzüge an seiner statt um sich hatte.
Für Novalis sind ›Ketten‹ also eine Art Daseinsbedingung – seien es solche, die zur Unterdrückung der Selbstentfaltung führen, seien es solche, die dessen Gedeihen durch die eingegangenen Verbindungen ermöglichen. In jedem Fall ist die Interaktion, das dynamische Moment der Verschränkung zweier Glieder, ein Grundmodus des Selbst-Seins und des Lebens im Allgemeinen. Im Lied der Toten tragen selbst die Verstorbenen Ketten, die es ihnen ermöglichen, in einen anderen Zustand, in ein anderes ›Reich‹ überzutreten:
Schüttelt eure goldnen Ketten
Mit Schmaragden u. Rubinen,
[…]
Schwebt ins bunte Fabelreich. (N I: 352f.)
In gewisser Weise rüttelt auch der Schlossherr, der mehr als einmal glaubt, bereits dahingeschieden zu sein, an seinen Ketten – also auch an seinem Namen, der mit der sprachlichen Dopplung die Möglichkeit der Transformation impliziert – und findet in einen neuen Zustand. Selbst mit Blick auf die Schwerkraft15 befindet Novalis: »Keine Kraft, kein Phaenomèn wird sich einzeln in der Natur erklären lassen – z.B. Schwere. Alle Kr[äfte] sind, was sie sind – durch Vertheilung in Ketten. Eins ist, was das Andre ist – nur verschiedentlich durch seine Stelle, seine Nachbarschaft modificirt.« (N III: 598). Durch den Wechsel der Verkettungen wird damit theoretisch buchstäblich alles möglich, selbst das Unwahrscheinliche.
Genau dies erlebt auch Musils Herr delle Catene, als er die Schwerkraft überwindet und nachts die steile Wand zu seinem Schloss hinaufklettert, mit Hilfe des Mondes, der »mit Schattenpunkten die kleinen Vertiefungen [zeichnete], in welche Finger und Zehen hineingreifen konnten« (P: 269), wie bereits erwähnt in der Annahme, »[n]icht er, sondern die kleine Katze aus dem Jenseits würde diesen Weg wiederkommen« (P: 268). Von Ketten wird hier schon an einer (oder zu einer) neuen Kette von seinem eigenen Körper »geführt« (P: 269).
Bei Novalis finden sich zahlreiche weitere Stellen, an denen für eine Betrachtung der Welt in ihren ›geselligen‹ – also dialogisch-interaktiven – Verhältnissen geworben wird, auch und gerade wenn es um physikalische Prozesse geht:
In der Physik hat man zeither die Phaenomene stets aus dem Zusammenhange gerissen und sie nicht in ihre geselligen Verhältnisse verfolgt. Jedes Phaenomen ist ein Glied einer unermeßlichen Kette – die alle Phaenomène als Glieder begreift. Die Naturlehre muß nicht mehr capitelweise – fachweise behandelt werden – Sie muß (ein Continuum) eine Geschichte – ein organisches Gewächs – ein Baum werden – oder ein Thier – oder ein Mensch (N III: 574; Hervorh. i.O.).
Was für ›Gott‹ in dem von der Portugiesin aufgegriffenen Novalis-Zitat gilt, dass er sich in der gesamten Kette der Lebewesen oder einem ihrer Glieder, ja selbst im Stein materialisieren kann, gilt auch für alle Phänomene der Natur, die ihrerseits Glieder einer unendlichen, dynamisch gedachten Kette sind; daher die Forderung, die Wissenschaft solle strukturanalog zu dieser unendlichen Wechselbeziehung (der ineinandergreifenden Glieder) verfahren.
Dieser Prozess der Verkettung hat auch eine zeichenhafte Komponente: Für Novalis ändert sich das zeichenhafte Script einer Kette mit jedem neuen Glied, und diese veränderte Selbstbeschreibung löst neue Wirksamkeit, neue Aktivität aus; die ›Verkettung‹ hat damit eine semantische und eine praktische Seite: »Alles ist Glied einer Kette. Jedes neue Glied veranlaßt Repraesentationen in den andern Gliedern – dadurch Thätigkeit« (N III: 612; Hervorh. i.O.). So bewirkt von Kettens ›Neuverkettung‹ schließlich Aktivität (er »wachte […], so schien es deutlich, auf«, P: 269) und eine neue Selbst-Repräsentation im Zeichen der Liebe, die, so scheint es, seinem ›Wesen‹ näherkommt.
Eine für Musil – als aufmerksamen Leser des Heinrich von Ofterdingen – poetologisch wichtige Implikation von Novalisʼ Verkettungskonzept findet sich in den Ausführungen des Einsiedlers, der dem Krieg abgeschworen hatte, gegenüber Heinrich. Er beschreibt den »eigentliche[n] Sinn für die Geschichten der Menschen« (N I: 257) als Rückwendung in die Vergangenheit – was nicht nur Novalisʼ Roman, sondern auch Musils Portugiesin mit der gleichermaßen ins Mittelalter zurückverlegten Handlung tut.
Die nächsten Ereignisse scheinen nur locker verknüpft, aber sie sympathisieren desto wunderbarer mit entfernteren; und nur dann, wenn man imstande ist, eine lange Reihe zu übersehn und weder alles buchstäblich zu nehmen, noch auch mit mutwilligen Träumen die eigentliche Ordnung zu verwirren, bemerkt man die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen, und lernt die Geschichte aus Hoffnung und Erinnerung zusammensetzen (ebd.: 257f.).
Musils Novelle versteht sich auch als ein Metakommentar zu dieser Aussage, denn mit der ›Lektüre‹ der Portugiesin verketten sich Ehemaliges und Zukünftiges, und es treten Genealogien zutage, die ganz andere sind als die durch bloße Familienbande oder Kriegsparteien Vorgegebenen.
Durch die zeitliche Verortung im Mittelalter verschränkt sich die Novelle über Handlung und Bildsprache mit Novalisʼ Heinrich von Ofterdingen. Wie Heinrich in den Bildern des jahrhundertealten, im fremden Provenzalisch geschriebenen Buchs des Einsiedlers im Bergwerk seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entdeckt, befinden sich Novalisʼ Fragmente und literarische Texte mit ihren Bildern und Zeichen, die eigentlich der Zukunft (der Frühromantik) angehören, in den Händen der Portugiesin. Das Ende des Kriegs und die beginnende Zeit des Friedens und der Liebe bilden einen der wichtigsten Themenkomplexe bei Novalis. Den bei ihm angedeuteten Weg finden Musils Portugiesin und ihr Ehemann. Die Erfahrung kultureller Alterität ist für die Portugiesin Anlass zu Erneuerung und Selbst-Transformation, denn die Frau, die am Ende selbst eine Verwandelte ist, stellt sich dem kulturellen Raum und den kriegerischen Sitten; am Ende ist nicht nur sie verändert, sondern auch das Schloss – ein wichtiges Zentrum im Schwellenraum am Brenner –, und ihr Mann hat seine alten Ketten abgestreift. Der Portugiesin kommt schließlich mit ihrem scherzhaft-ironischen Schlusssatz die Deutungshoheit über das gesamte Geschehen zu.
5.
Die Erzählung wirkt, so betrachtet, wie eine Meditation über Schließung und Öffnung von Identitätskettengliedern – verstanden als eine Form der Prozessierung von kultureller und ästhetischer Alterität. Die interkulturelle Immersion der Portugiesin, aber auch die Kraft, mit der sie als abgewandelte Isis-Figuration agiert, weisen von Ketten den Weg ins Leben. So durchbricht er die genealogische Kette von Familie und Krieg. Wurde er während der Kriegsjahre manchmal von dem Gefühl heimgesucht, »einen ganzen Tag lang alle seine Kräfte angestrengt [zu haben], um nicht ohne alle Anstrengung etwas Schönes zu sein, das er nicht nennen konnte« (P: 259), erlebt er nach der Erkletterung der Wand in der Tat schöne Momente, in denen er »beinahe gesungen [hätte] vor Freude« (P: 269) und die er nicht, wie in der Zeit der Brautwerbung, als Kopflosigkeit erlebt; und dies obwohl es ungewiss bleibt, in welchem Maß es zu einem Verhältnis zwischen der Portugiesin und ihrem Jugendfreund gekommen ist. Die Deutung der Katze als Mittlerfigur durch die Portugiesin – ein ›schöner‹ Augenblick – stellt Einvernehmen her und die Aussprache erübrigt sich. Damit ist kein Idealzustand begründet, aber darum geht es auch nicht. Die Idee des »tausendjährigen Reich[s]« wird in der Erzählung ganz offenkundig von den Falschen in den Mund genommen – es sind nämlich ausgerechnet »mit scholastischer Tünche überzogen[e] […] Lümmel«, unter ihnen ein »Schreiber« (P: 264), die sich damit einen gelehrten Anstrich geben wollen, ansonsten aber Konflikte schüren und kein Verständnis vom Frieden haben. Delle Catene hätte sich früher ohne Weiteres zu ihnen gesellt; zum Ende der Novelle hin hat er sich jedoch so verändert, dass er sie als ganz fremd empfindet. Auch sprechen sie für ihn ein unverständlich gewordenes »Welsch« (P: 264) und er empfindet ihnen gegenüber Ekel. Gerade durch den Gegensatz zu ihnen wird deutlich, dass delle Catene und die Portugiesin sich nun als Teile der »ungeschlossnen, schwebenden Kette« (N III: 631) sehen, indem sie an der »Unendlichkeit der Gegenstandsbeziehungen« (Musil 1978b: 1030) Anteil haben.
Die interkulturelle Begegnung wird für beide Hauptfiguren zum Anlass einer befreienden Selbst-Transformation. Von Kettens/delle Catenes Name bleibt im Modus des Immer-schon-Übersetzten, aber Fremdheit bedeutet für ihn am Ende des Textes etwas anderes: Krieg ist ihm kognitiv wie normativ fremd geworden, so wie auch die Ähnlichkeit mit seinen Vorfahren (und potentiell mit seinen weiterhin als ›Wölfe‹ bezeichneten Söhnen) nicht mehr besteht. Eigen und vertraut werden ihm hingegen Liebe und das eigene Selbst- und Körpergefühl. Ausgehend von den historischen Bezügen auf das Haus Habsburg dominiert in der Novelle deutlich die Skepsis, ob die Fortsetzung genealogischer Herrschaftslinien, die Krieg treiben und Erbfeindschaften pflegen, um Macht und Reichtum zu vermehren, sinnvoll ist. Vom Ende her gelesen erscheint das kriegerische Leben von Kettens in jeder Hinsicht verkehrt; darin mag durchaus auch Musils Auswertung seiner eigenen Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg eingeflossen sein. Ein ›Weiterleben‹ gibt es nur durch Transformation gemeinsam mit dem ›Fremden‹ – mit der fremden Frau, der Portugiesin. Dass ›die Fremde‹ in dieser Novelle, die Portugiesin, die Richtung ins gemeinsame Mit-sich-selbst-vertraut-Sein weist, ist schon bemerkenswert genug. Indem sie zusätzlich im Spätmittelalter – die Handlungszeit der Novelle – auf Novalis Bezug nimmt, exponiert sich die poetische Alterität der Novelle als intertextueller Scherz, der sich wiederum als eine ironische Verknüpfung von kultureller und poetischer Alterität auffassen lässt. Zu Letzterer gehört der temporale Anarchismus dieser Intertextualität – sowohl die Portugiesin als auch die gleichnamige Erzählung haben Novalis ›gelesen‹; dies kann als Erweiterung der Musil durch Heinrich von Ofterdingen bekannten poetischen Abwandlung der Anamnesis-Lehre bei Novalis aufgefasst werden. Die Verweise auf Novalis zeigen auf der Handlungsebene die Richtung einer autonomen Transformation an und tragen den ästhetischen »Eigen-Sinn« (Mecklenburg 1987: 572) der Erzählung.
Insgesamt kann man sagen, dass die Linie, die von Novalis zu Musil führt, für die Poetik des österreichischen Schriftstellers durchaus allgemeinerer, übergreifender Bedeutung ist. In seinem Essay Theater- und Bildungskrisis beklagt er – als denke er Novalisʼ oben ausgeführte Überlegungen mit –, dass an Universitäten den Studierenden der Literaturwissenschaft der eigentliche »Sachwert« (Musil 1978c) der Literatur (zu dem die ›Verkettungen‹ gehören) vorenthalten bliebe – anders als jenen der Physik, die durchaus erführen, wie »sich die Erkenntnisse der Physiker verketten« (ebd.: 1130; Hervorh. I.-K.P.). Allgemein gelte für Literatur als Kunst und darüber hinaus: »Jedes menschliche Werk besteht aus Elementen, die auch in unzähligen anderen Verbindungen vorkommen, und indem man es so versteht, löst es sich in die fließenden Reihen der Seele auf, welche von Anbeginn bis heute laufen, und wird eine Auslegung des Lebens.« (Ebd.)
Einschränkend lässt sich allenfalls anmerken, dass trotz ihrer Dichte und ihres Facettenreichtums möglicherweise eine Schwäche der Novelle darin liegt, dass sie nur auf die Schwierigkeit fokussiert, aus hegemonialen Positionen und Genealogien auszutreten, ohne die Machtasymmetrien, Ungleichheiten und Exklusionsmechanismen zu thematisieren, die konstitutiv für die Vormachtstellung des Hauses Habsburg oder des europäischen Adels im Allgemeinen sind. So geraten weder Selbst-Entwürfe Nichtadliger in den Fokus der Erzählung noch die Anfänge des Kolonialismus, die in die Zeit der historischen Anspielungen auf Karl V. und Maximilian I. fallen. Für diese Novelle gilt einerseits, dass ihr, mit Norbert Mecklenburg gesagt, ein »transzendierender ›Gestus des Heraustretens‹« eignet,16 mit dem ein »negatorisches Moment« (Mecklenburg 1987: 581; Hervorh. i.O.) gegenüber der Kultur und Gesellschaft einhergeht. Die Dekonstruktion imaginärer Machtzentren, ihrer Identitäten und Handlungsweisen lässt die Legitimität darauf begründeter Distinktionsmechanismen und Exklusionsmuster kollabieren. Andererseits bleibt es dabei, dass hier nicht Versklavte oder Inferiorisierte ihre Ketten abschütteln.
Anmerkungen
1 »Sie sollten einander alle, wer auch immer sie im Laufe der Jahre und Jahrhunderte waren, auch noch darin geglichen haben, daß sie früh weiße Fäden in ihr braunes Haupt- und Barthaar bekamen« (P: 253). Mit der Sigle P wird hier und nachfolgend auf die Erzählung Die Portugiesin in den von Adolf Frisé herausgegebenen Gesammelten Werken Musils verwiesen (vgl. Musil 1978a).
2 Diesen Begriff exzerpierte Musil aus den Studien über Hysterie, es ist der erste klare Beleg seiner Psychoanalyserezeption (vgl. Nübel/Wolf 2016: 540). Von ›männlicher Hysterie‹ sprach er in einem Brief an die Schauspielerin Stefanie Tyrka.
3 Karl Eibl (vgl. 1978: 149) hat bereits dargelegt, dass das Vorbild der mittelalterlichen Mirakelerzählung hier bloß durchschimmert.
4 »Das Zeichen war dagewesen, aber wie war es zu deuten, und was sollte geschehn?« (P: 268)
5 Es ist abermals die Portugiesin, die mit dieser Entscheidung, die Katze gleichsam zu opfern, deren weitere Semantisierung auslöst (vgl. ebd.).
6 Eine Wahrsagerin hatte ihm prophezeit, dass er etwas Großes vollbringen müsse, um wieder gesund zu werden; den Rivalen umzubringen, ist die Alternative, an die er denkt – dies wäre aber eine dem alten kriegerischen, selbstentfremdeten Ich entsprechende Lösung gewesen.
7 Novalisʼ Texte werden nach der sechsbändigen historisch-kritischen Ausgabe (vgl. Novalis 1960-1999) zitiert. Im Fließtext wird darauf mit der Sigle N und der Angabe des Bandes als römische Zahl verwiesen.
8 Zur grundsätzlichen Bedeutung von Novalis für Musil liefert das Handbuch hingegen durchaus wertvolle Informationen und Anhaltspunkte (z.B. Nübel/Wolf 2016: 771f.).
9 Für weitere Aspekte des Verhältnisses von Musil und Novalis siehe Uerlings 2000: 21f. u. 31-34. Aufschlussreich sind insbesondere der Hinweis auf Musils spätere Kritik an der Vereinnahmung Novalisʼ für den Nationalismus, die Musil für ein grundlegendes Missverständnis hielt, sowie die Überlegung, dass die »auf die Dialektik von Gefühl und Gedanke und die Anamnesislehre abhebende Novalis-Deutung […] ins Zentrum des Werkes von Musil« (ebd.: 22) führe.
10 Karl Eibl (1978: 149) hat in ähnlichem Sinne von einer »radikal privatisierte[n] Religiosität« gesprochen, die sich am Ende durchsetzt, indem die Wunder ›getan‹ werden müssen.
11 Benjamin betrachtet es bekanntlich als Vorzug, dass »die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten« (Benjamin 1972: 15) umgibt und somit Spielräume möglicher Sinngehalte eröffnet, während ein Text, der als ›Original‹ gelesen wird, eine enge Bindung zwischen Zeichen und Bedeutung beansprucht. In diesem Sinne gehen mit dem immer schon übersetzten Eigennamen Spielräume für den Selbstentwurf einher.
12 Von hier aus lassen sich u.a. mit Blick auf Selbsterkenntnis und Selbsttransformation Bezüge zu Musils Gedicht Isis und Osiris (1923) und zur Isis-Figur im Fragment Die Lehrlinge zu Saïs von Novalis herstellen.
13 Catani ergänzt, dass sich unter anderem in den Tagebüchern sogar geschlechterunabhängige Codierungen dieser Typen finden und darüber hinaus Musil weitaus offener für Phänomene der Androgynie als die Anthropologie seiner Zeit sei. – Nicht ganz zugestimmt wird hier hingegen den Thesen, die Erzählung handle von einer Identitätskrise, die aus der »männlichen Veranlagung, auf der Suche nach Befriedigung innerster Sehnsüchte die Realität durch imaginäre Wirklichkeiten zu ersetzen«, resultiere, und dass »die Frau eine Fremde in der Heimat des Ritters« (Catani 2005: 239) bleibe. In beiden Fällen handelt es sich aber, anders als Catani annimmt, nur um transitorische Zustände, die von den Figuren überwunden werden.
14 Die Ausführungen sind vorbehaltlich dessen zu verstehen, dass Musil nicht die historisch-kritische Werkausgabe besaß, immerhin war ihm aber eine Ausgabe der Fragmente zugänglich und nachweislich bekannt.
15 Weitere Überlegungen beziehen wissenschaftliche Positionen zum Galvanismus (vgl. N III: 471 u. 603) zur Optik (vgl. N III: 617), zur Physiologie – als kritischer Kommentar zu Schelling (vgl. N III: 470 ) –, zum Magnetismus (vgl. N III: 631) und zur Geognostik (vgl. N IV: 308) in dieses Konzept der Verkettung als einer Grundoperation mit ein.
16 Norbert Mecklenburg (vgl. 1987: 584, Anm. 59) zitiert aus der Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos (vgl. 1970: 100f.).
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