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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen: Wir in anderen Zeiten. Identitätskonstruktionen der Wende bei Jana Hensel und Günter Grass (Silvan Moosmüller)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen

Wir in anderen Zeiten. Identitätskonstruktionen der Wende bei Jana Hensel und Günter Grass (Silvan Moosmüller)

Wir in anderen Zeiten

Identitätskonstruktionen der Wende bei Jana Hensel und Günter Grass

Silvan Moosmüller

Abstract

The years of German reunification in 1989/90 are regarded as a caesura par excellence in recent history. However, in Jana Hensel’s Zonenkinder (2002) and Günter Grass’s Ein weites Feld (1995) those years are narrated in almost contrary ways: Hensel makes use of them, with all the radicality of the caesura, to make her own childhood in the GDR emerge as the inaccessible ›other‹ that constitutes the identity of the Zonenkinder generation. In Grass’s work, on the other hand, the Wende years result in a spatial and temporal dissolution of historical meaning that makes it impossible at all to think in terms of caesurae, and thus alterity. This temporality in both texts is embodied by the we-narrator: In Hensel’s work, behind the we a single voice is speaking for an entire generation, whereas in Grass a collective narrative agent figures as the voice of the archive.

Title

We in Different Times. Identity Constructions of the ›Wende‹ in Jana Hensel and Günter Grass

Keywords

we-narrative; German reunification; Jana Hensel (*1976); Günter Grass (1927-2015); diachronic interculturality

Die deutschen Wendejahre 1989/90 veranschaulichen paradigmatisch, welche Bedeutung zeitliche Grenzziehungen für die Formierung kultureller Identitätsentwürfe haben und welche narrativen Konstruktionsprinzipien hierbei am Werk sind. Insbesondere der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 gilt in der jüngeren Geschichte als Zäsur par excellence (vgl. Sabrow 2014: 172). Seine Folgen veränderten die politische Weltkarte und haben in der kulturellen Landschaft Deutschlands tiefe Spuren hinterlassen.1 In der DDR erfolgte der »Bruch mit der Vergangenheit […] einschneidend und rasch« (Ther 2010), und die in den Stadien der Vereinigung gemachten Differenzerfahrungen zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen wurden sogar als »Kulturschock« beschrieben (Mitscherlich/Runge 1993; Wagner 1996).

Paradigmatisch ist der Umbruch um 1989/90 aber auch, weil sich an ihm exemplarisch die Grenzen und Probleme des Zäsur-Konzepts zeigen (vgl. Schöning 2015). Allgemein gesagt, bezeichnet eine Zäsur den Sonderfall eines Ereignisses, welches auf der chronologischen Zeitachse Alterität erzeugt, indem es ein Nachher von einem Vorher als qualitativ anders bestimmte Zeiträume voneinander trennt.2 Hierbei kommt der »Mikroplot« (Koschorke 2012: 267) des Zäsur-Konzepts dem »desire for narrative foreclosure« (White 1987: 24) besonders entgegen, indem der Zäsur-Begriff weniger die Übergänge betont, als vielmehr den radikalen Einschnitt hervorhebt: Etwas Altes geht zu Ende. Etwas Neues beginnt.3 In diesem scharfen, einschneidenden Charakter, der schon in der Etymologie des Wortes ›Zäsur‹ (lat. caesūra bedeutet wörtlich ›schlagen‹, ›hauen‹, ›herausschneiden‹) anklingt, ist denn auch der Hauptunterschied zwischen dem Zäsur-Konzept und dem historiografischen Standardausdruck der ›Epochenschwelle‹ zu sehen (vgl. Schöning 2015: 68).

Dabei gilt für den Zäsur-Begriff, was für alle anderen Arten der Periodisierung auch gilt: Sie sind genauso unverzichtbar wie problematisch. Da es sich bei solchen Markierungen nicht um Eigenschaften der Welt und der Geschichte handelt, sondern um »Anschauungsformen des geschichtlichen Sinns« (Barner 1987: 522), bleibt ihre Bedeutung stets sektoral, perspektivengebunden und subjektiv (vgl. Sabrow 2014: 171); sektoral, weil Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte ihren eigenen Logiken und Rhythmen des Wandels folgen (vgl. ebd.: 166); perspektivengebunden, weil zunächst dramatisch erscheinende Einschnitte durch einen wachsenden zeitlichen Abstand wieder eingeebnet werden können (vgl. ebd.: 167); und subjektiv, weil historische Zäsuren nicht immer deckungsgleich mit den biografischen verlaufen (vgl. ebd.: 169). Der Zäsur-Begriff tendiert jedoch – stärker als die ›weicheren‹ Alternativen – zu einer »Geschichte im Singular« und sperrt sich gegen eine »historiographisch[e] Differenzierung« im Sinne der »Pluralisierung von Geschichte in Geschichten« (Schöning 2015: 77).

In Bezug auf die Wendejahre 1989/90 ist neben den sektoralen, perspektivischen und subjektiven Differenzierungen eine noch grundlegendere Asymmetrie hinsichtlich der Zäsurerfahrung in West- und Ostdeutschland zu konstatieren. Während sich der Zeitraum von 1949 bis 1989 sowohl in der BRD als auch in der DDR plausibel als Kontinuum beschreiben lässt (vgl. Sabrow 2014: 161f.), implizierte die Zäsur von 1989/90 ausschließlich für die Bevölkerung der neuen Bundesländer »eine paradigmatische Revision ›des Weltbildes‹« (Schöning 2015: 68). Für die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR bricht am selben Ort plötzlich eine andere Zeit an. Aus westlicher Sicht ändert sich dagegen nach 1989/90 vergleichsweise wenig.

Auch bei den Deutschen der neuen Bundesländer steht indes die Diskontinuität des historischen Einschnitts in Spannung zum lebensgeschichtlichen Kontinuitätsanspruch. Als Nahtstelle zwischen »Zeitalter und Menschenalter« (Esch 1994) wirkt der Umbruch von 1989/90 zwar in deren Biografien hinein. Während die DDR mitsamt ihrem Gesellschaftssystem binnen kurzer Zeit verschwand, beginnen die Biografien ihrer ehemaligen Bürgerinnen und Bürger aber nicht einfach von neuem. Das historische Vorher-Nachher lässt sich darum nicht eins zu eins auf die individuellen Lebensgeschichten abbilden, denn Biografien sind viel stärker von synchronen Überlagerungen als von diachronen Unterteilungen geprägt.

Somit ist die Zäsur von 1989/90 für die Initiation und damit die Identität des vereinigten Deutschland zwar von tragender Bedeutung, deren Erfahrung – vor allem, aber nicht nur zwischen West- und Ostdeutschen – verläuft jedoch nicht einheitlich (vgl. Wenzel 2019). Die Vielschichtigkeit zwischen Geschichtsschreibung, individuellen Biografien und kollektivem Gedächtnis wird besonders sinnfällig und virulent in der Form des Wir, um die sich in der Wendezeit eine neue Gattung von Kollektivtexten formiert (vgl. Helbig 2013: 218). So lässt sich der Übergang vom Revolutionskomplex des Jahres 1989 zum Nationalkomplex 1990 im Wechsel der Slogans »Wir sind das Volk« zu »Wir sind ein Volk« veranschaulichen (Herrmann/Horstkotte 2016: 36; Hervorh. i.O.). Bloß, wer ist das Wir, das hier spricht? Und für wen kann es zu sprechen beanspruchen?

Auf den folgenden Seiten stehen zwei literarische Texte im Zentrum, die sich durch die Verwendung der Wir-Form genau in dieses Spannungsfeld aus Geschichtsschreibung, individueller Biografie und kollektivem Gedächtnis einschreiben: Jana Hensels Zonenkinder (2002) und Ein weites Feld (1995) von Günter Grass. Beide Texte zogen dermaßen zahlreiche und kontroverse Reaktionen nach sich, dass das literarische Wir auf die politische Öffentlichkeit übergriff und eine gesellschaftliche Debatte auslöste.4 Außerdem setzen die Texte von Grass und Hensel die Wir-Erzählinstanz in konträrer Weise ein, und beide Texte wurden für die jeweilige Verwendung des Wir zum Teil heftig kritisiert. Dieser Beitrag untersucht, welche identitätspolitischen Angebote die unterschiedlichen Wir-Instanzen angesichts der Wendezeit von 1989/90 machen und wie hierbei über das Wir die Erfahrung der infrage stehenden Zäsur gestaltet wird.

»Fremdheit auf dem Boden des Heimatlandes«. Jana Hensels Zonenkinder (2002)

Bei der Rezeption von Jana Hensels Zonenkindern (2002)5 ist die Wir-Erzählform der gewichtigste Diskussionspunkt – in den Rezensionen der großen Zeitungen und Zeitschriften genauso wie bei den Leserinnen und Lesern, die sich zu Hunderten, teils direkt per Briefpost bei der Autorin meldeten, teils auf Verkaufsplattformen wie Amazon ihre Kommentare posteten (vgl. Kraushaar 2004c: 7). Das Spektrum reicht von der Empörung über die »Vereinnahmung durch das ›Wir‹« (anonymer Kommentar aus Leipzig, 31. August 2003, zit. n. Kraushaar 2004b: 93) bis hin zu seiner Wertung als besonderem Vorzug des Buches, »da es zum Diskutieren anregt« (Schmidt 2004: 82).

Die Autorin selbst konstatierte 2018 in einem Gespräch mit dem Soziologen Wolfgang Engler, dass sie »damals wahnsinnig für das ›Wir‹ in ›Zonenkinder‹ kritisiert worden« sei. Gleichzeitig besteht sie darauf, dass sie diese Erzählform als »künstlerisches Mittel […] brauchte«. Denn, so Hensel weiter, »[w]enn ich mit meiner eigenen Geschichte gekommen wäre, hätte man sie zur Seite schieben können. Aber genau das wollte ich verhindern« (Engler/Hensel 2018: 48). Zudem erinnert die Autorin daran, dass sie »die Wir-Form ja nicht erfunden« habe, und nennt mit Generation Golf von Florian Illies und Generation Ally von Katja Kullmann zwei zeitnah erschienene Bücher, die ebenfalls »mit einem ›Wir‹ als verallgemeinernder Form arbeiten« (Hensel/Kraushaar 2004: 98).

Ihrer eigenen Aussage zufolge konzipierte Jana Hensel Zonenkinder als direkte Reaktion auf Florian Illies’ Generation Golf, weil sie in Illies’ westdeutscher »Inspektion« der 1980er-Generation die ostdeutsche Perspektive vermisste. Den Handlungsbedarf sah sie dadurch gesteigert, dass ihrer Wahrnehmung nach »viele Ostdeutsche begannen […], diese westdeutsche Erfahrung für ihre eigene zu halten« (Engler/Hensel 2018: 47).6 Insofern ist die Wir-Erzählform in Zonenkinder ein von der Autorin bewusst eingesetztes und dabei auch politisch motiviertes Stilmittel, mit der Absicht, »eine Identität zu markieren, einen kollektiven Erfahrungsraum, den man uns ja vorher abgesprochen hatte« (Engler/Hensel: 48).

Das Buch Zonenkinder ist allerdings nicht durchgängig in der Wir-Form verfasst. Die Erzählinstanz changiert zwischen erster Person Plural und erster Person Singular. So gibt sich das Wir letztlich als erweitertes Ich zu erkennen.7 Zu Beginn der Erzählung wird der Wechsel vom Ich zum Wir durch ein narratives showing quasi induziert:8 Als die 13-jährige autodiegetische Erzählerin (hier als ›erlebendes Ich‹) ihrer Mutter eines Abends zu einer Montagsdemonstration an der Leipziger Nikolaikirche folgt, wird sie dort von der zusammenströmenden Menge gleichsam eingesogen. So erscheint der anschließende Wechsel vom Singular in den Plural durch die geschilderte Gruppenwerdung motiviert.

Im weiteren Fortgang ist jedoch kein durchgängiges Prinzip für die Verwendung von Ich oder Wir ersichtlich. Allenfalls im Kapitel zur Erziehung (»Ja, das geloben wir! Über unsere Erziehung«) wird über das Vorherrschen der ersten Person Plural das Prinzip der Ausbildung »Nicht auffallen und immer Durchschnitt bleiben« (Hensel 2002: 91) unterstrichen. Demgegenüber herrscht im Kapitel zur Liebe und Freundschaft (»Die Welt als Alltag. Über Liebe und Freundschaft«) die erste Person Singular vor, was die Individualität dieser Erfahrungen ausweist.

So flexibel in Zonenkinder der Wechsel zwischen Ich und Wir gehandhabt wird, so deutlich wird indes die Identität der Wir-Gruppe, für die das Ich spricht, eingegrenzt: einerseits nach innen durch eine die ganze Generation einigende Erfahrung von Alterität und Akkulturation; andererseits nach außen gegenüber der gleichaltrigen ›Generation Golf‹ im Westen, vor allem aber gegenüber der eigenen Elterngeneration im Osten. Die Identitätsgrenze ist damit keine vorrangig räumliche zwischen Ost und West, sondern vor allem eine diachron-generationelle. Das »sogenannte Kapitel über die Eltern« bezeichnet Hensel denn auch als »Herzstück« ihres Buches (Engler/Hensel 2018: 52). Denn am Verhältnis zur Elterngeneration zeigt sich die zentrale Differenz gegenüber der ›Generation Golf‹ – oder wie es in Zonenkinder zugespitzt heißt: »Unsere Eltern waren nicht ihre« (Hensel 2002: 66).

So fehlt der Generation Zonenkinder die kulturelle Kontinuität zu den eigenen Eltern. Die westdeutsche Situation bringt Florian Illies in Generation Golf auf die griffige Formel: »Ich wollte alles anders machen als mein Herr. Und nun fahren wir das gleiche Auto« (Illies 2000: 41). Demgegenüber diagnostiziert Hensel zwischen den Eltern und Kindern der ehemaligen DDR einen schwerwiegenden Bruch: Während die Kinder gleichsam zwei aufeinanderfolgende Leben führen (ihre Kindheit in der DDR, den Rest ihres Lebens im vereinigten Deutschland), bleiben die Eltern dem ersten Leben verhaftet, weil ihnen die Akkulturation nicht gelingt.9 Somit wird die eigene Elterngeneration zu einem Anderen, einem Sie, und zwar zu einem als kulturell anders wahrgenommenen Sie, das durch die Bewahrung der alten Zeit aus der Gegenwart fällt. Daraus resultiert nicht der übliche Generationenkonflikt, sondern das Auseinanderbrechen der Geschichte: »Unsere gemeinsame Geschichte endete an dem Tag, als die Mauer fiel.« (Hensel 2002: 76) Über diese kulturelle Spaltung der Gesellschaft, die sich mit divergierenden Geschichtlichkeiten verknüpft, lässt sich Intergenerationalität hier als eine Form diachroner Interkulturalität fassen10 – also als eine interkulturelle Konfiguration, die sich nicht räumlich bestimmt, sondern rein zeitlich über die Wende als grenzziehenden Einschnitt.

Was die Erzählerin in Zonenkinder als vereinigendes Moment ihrer eigenen Generation herausstellt, ist somit die spezifische Erfahrung von 1989 als historische Zäsur, die hin und zurück immer wieder überquert werden muss:

Wir sind weder in der DDR noch in der Bundesrepublik erwachsen geworden. Wir sind die Kinder der Zone, in der alles neu aufgebaut werden musste. […] Eine ganze Generation entstand im Verschwinden. Deshalb sind Veränderungen in unserem bisherigen Leben stets Abschiede, immer Brüche und nie Übergänge gewesen. […] Das einzige Kontinuum unseres Lebens mussten wir selbst erschaffen: Das ist unsere Generation. Nur die Erfahrungen der letzten zehn Jahre und alle Freunde, die sie teilen, bilden unsere Familie. (Hensel 2002: 159-161)

Aus dieser zeitlichen Konstellation ergibt sich das gespaltene Verhältnis zur eigenen Kindheit, die zugleich immer eine fremde ist.

Um diese Alterität auszuweisen, markiert Zonenkinder die Epochenwende um 1989 als zeitlichen Keil, der die Beziehung zu allem Davorgewesenen jäh unterbricht. Auffallend ist die hyperbolische Plötzlichkeit, mit der der Bruch gesetzt wird: »Plötzlich war sie weg, die alte Zeit« (ebd.: 14).11 Als wäre die Kindheit mit einem Schlag ausradiert. Durch die drastische Betonung des Bruchs bedient Jana Hensel letztlich selbst die von ihr im Gespräch mit Wolfgang Engler kritisierten »klischierten Denkbilde[r] […], wonach man damals tatsächlich annehmen wollte, dass die DDR und alle ihre Prägungen mit dem Jahr 1989 verschwunden waren« (Engler/Hensel 2018: 46).

Hinter der inszenierten Plötzlichkeit und einschneidenden Absolutheit des Bruchs von 1989 steckt jedoch poetisches Kalkül. Der radikale Epochenumbruch wird in Zonenkinder als Mittel eingesetzt, um die Kindheit als unzugänglich gewordenes Anderes hervortreten zu lassen, das gerade in seiner Andersheit für die Identität der Generation – und damit das Eigene – konstitutiv ist. Damit »Jana Hensel den Kindheitstraum als kulturell differenten rekonstruieren« kann und die Kindheit »ausschließlich als differente, abweichende erinnert wird, als schmerzhafte Alterität« (Brüns 2009: 95, 97), setzt sie den Epochenbruch um 1989 in seiner ganzen Radikalität als Zäsur ein.

Umso verklärter und fremder müssen die Kindheitstage aus der Perspektive der Erzählerin wirken. Denn diese Perspektive ist immer schon eine des Verlusts: »Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit […] für uns wie Türen in eine andere Zeit, die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden können.« (Hensel 2002: 13) Neben der exotisierenden »Märchenzeit« (ebd.: 14) gebraucht Hensel für die Kindheit in der DDR auch Begriffe wie »Museum« (ebd.: 20, 25) oder »Zeitkapsel« (ebd.: 34), um das aus der Zeit gefallene, gleichsam unwirklich Gewordene daran zu markieren. Umso entschiedener versucht die Erzählerin, die noch verbliebenen Erinnerungen vor einer Vermischung mit der sich rasant veränderten Gegenwart zu bewahren: »Ich wollte diesen Menschen nicht begegnen, sie sollten auf der Seite meines Fotoalbums verbleiben, auf der ich sie vor vielen Jahren eingeklebt hatte.« (Ebd.: 37)

Die DDR-Kindheit wird so in einer Art ›Zeitkapsel‹ stillgestellt. Derweil tritt die einstmalige Teilung in Ost und West in den zweigeteilten Biografien der Zonenkinder erneut als Teilung auf der diachronen Zeitachse auf:

Heute, mehr als zehn Jahre später und nach unserem zweiten halben Leben, ist unser erstes lange her, und wir erinnern uns, selbst wenn wir uns anstrengen, nur noch an wenig. Ganz so, wie unser ganzes Land es sich gewünscht hatte, ist nichts übrig geblieben von unserer Kindheit, und auf einmal, wo wir erwachsen sind und es beinahe zu spät scheint, bemerke ich all die verlorenen Erinnerungen. (Ebd.: 14)

»[U]nser ganzes Land«, das vereinigte Deutschland, setzt aus der Optik der Erzählerin die zeitliche Auslagerung ihrer Kindheit in einen historisch zurückliegenden Bezirk voraus, der mit der Gegenwart nichts zu tun hat. »Das schöne warme Wir-Gefühl« (ebd.: 11) der Zonenkinder speist sich somit weder aus einer historischen noch einer biografischen Kontinuitätserfahrung, sondern aus der Erfahrung der Zäsur. Diese Erfahrung macht das Wir der Zonenkinder zu einem anderen als das Wir des »ganze[n] Land[es]«.

»Nichts ist unsterblicher als ein Archiv«. Günter Grass: Ein weites Feld

Auch in Günter Grass’ beinahe in allen deutschsprachigen Medien besprochenem Wenderoman Ein weites Feld (1995) war die Verwendung der Wir-Erzählinstanz ein wiederkehrender Diskussionspunkt. Bei Grass erscheint das Wir indes in einem eindeutig fiktionalen Rahmen: Anhand des Protagonisten Theo Wuttke alias Fonty – ein Wiedergänger des Schriftstellers Theodor Fontane, der genau ein Jahrhundert später dessen Lebensbahnen erneut durchläuft und schließlich abtaucht – verschränkt Grass, an die postmoderne Narrativik anknüpfend (vgl. Geisenhanslüke 2001), die Genres Zeitroman und historischer Roman und entfaltet in nur zwei Jahren Erzählzeit (Dezember 1989 bis Oktober 1991) ein Panorama deutscher Geschichte, das von der Revolution 1848 bis zur Wende reicht.12 Was in dieser Erzählkonstruktion die Wir-Erzählinstanz betrifft, unterscheiden sich bei Grass – anders als in Hensels Zonenkindern – nicht nur die Werturteile der Rezensentinnen und Rezensenten. Bereits die Bestimmung des infrage stehenden Wir fällt unterschiedlich aus.

Zwar exponiert Grass die Wir-Erzählinstanz gleich am Anfang, wenn er seinen Roman mit dem Satz beginnen lässt: »Wir vom Archiv nannten ihn Fonty.« (Grass 1995: 9) Was es mit diesem Archiv-Wir auf sich hat, darüber gehen die Ansichten in den Rezensionen indes weit auseinander. Für die einen ist es ein »allwissende[r] Erzähler« (Wapnewski 1995, auch in Negt 1996: 148-151, hier 150), für die anderen gerade im Gegenteil »kein ›allwissender Erzähler‹« (Schütte 1995, auch in Negt 1996: 128-133, hier 130). Manche identifizieren die Erzählinstanz mit dem »Potsdamer Fontane-Archiv« (Isenschmid 1995, auch in Negt 1996: 64-67, hier 66), während die Gegenmeinung zum Schluss kommt, das Wir habe mit dem »Potsdamer Fontane-Archiv nichts zu tun« (Gotthard Erler zit. n. Negt 1996: 175-180, hier 179). Manchmal wird die Erzählinstanz als männlich interpretiert, zuweilen als weiblich (vgl. Glossner 1995, auch in Negt 1996: 103-107, hier 104). Mal sehen sich die Rezensentinnen und Rezensenten an ein Schöpferkollektiv aus der DDR erinnert,13 dann wieder an die Stasi (vgl. Busche 1995; auch in Negt 1996: 75-79, hier 77). Nur Marcel Reich-Ranicki umgeht in seinem prominenten Spiegel-Verriss das Problem ganz, indem er durchgehend von einem »Ich-Erzähler« (Reich-Ranicki 1995, auch in Negt 1996: 79-88, hier 83) spricht.

Die divergierenden Deutungen weisen auf eine generelle Charakteristik von Erzählungen in der ersten Person Plural hin, die mit der Eigenschaft des Pronomens ›wir‹ zu tun hat. Da dieses, anders als die Pronomen ›ich‹ oder ›er‹/›sie‹, keinen klaren Referenten hat, kann sich die Reichweite seiner Referenz ständig verengen oder erweitern oder die Referenten können wechseln, ohne dass die grammatikalische Form dies von sich aus mitteilt.14 So gesehen, spielt Grass’ Roman mit einer »illimitable variety of we« (Fludernik 2018: 178; Hervorh. i.O.). Unlimitiert ist die Referenz bei Grass zwar nicht, da sich sein Wir durchwegs auf jenes »archivierend[e] Kollektiv« (Grass 1995: 481) bezieht, das durch seine Wirkungsstätte in »Potsdam« (ebd.: 488) und seinen Untersuchungsgegenstand Fontane (ebd.: 480) tatsächlich ans Potsdamer Fontane-Archiv gemahnt. Wie viele es sind und wer jeweils spricht, bleibt indes offen. Auch Grass selber lag wenig daran, die Referenz zu vereindeutigen, als er gegenüber der Zeitschrift Stern die vage Auskunft gab, das Wir werde in seinem Roman »in einzelne Personen aufgelöst, aber man weiß nicht, wie viele es insgesamt sind« (Grass 1996: 413). Diese Uneindeutigkeit lässt sich jedoch nicht einfach als »Wahl eines ebenso diffusen wie aktengläubigen Erzählers« (Köhler 1995, auch in Negt 1996: 92f., hier 92) diskreditieren. Denn sie ist zentral für die Funktionen, die die erste Person Plural im Roman übernimmt.

Anders als in Jana Hensels Zonenkindern ist hinter Grass’ Wir kein Ich zu erkennen, das für die ganze Gruppe spricht. Vielmehr erzählt im Weiten Feld »eine in der Zusammensetzung wechselnde Gruppe« als Kollektiv (Labroisse 2008: 80). Auch dort, wo sich das Wir – wie Grass im Stern-Interview ausführt – in einzelne Stimmen auflöst (oder einzelne Stimmen aus dem Kollektiv hervortreten), lässt sich die Sprechposition nicht genau festlegen, weil die Ich-Erzählinstanzen (manchmal sind sie männlich, manchmal weiblich) anonym bleiben, wie die zitierte Stelle exemplarisch demonstriert: »Nicht, daß wir das Archiv geschlossen hätten, aber gesucht haben wir ihn überall. Einige waren ständig unterwegs, und auch ich schob wiederholt Außendienst, denn Gründe für unsere Suche gab es genug: Schon nach wenigen Tagen fehlte uns Fonty sehr.« (Grass 1995: 764)

Außerdem wird der Erzählakt explizit als jener einer ganzen Gruppe markiert, indem das Archiv-Wir seine Absicht kundtut, »als Kollektiv die Geschichte des Verschollenen [Fonty; Anm. S.M.] niederzuschreiben« (ebd.). So wenig sich das Wir demnach auf ein einzelnes Ich reduzieren lässt, so wenig ist es eine auktoriale Erzählinstanz im üblichen Sinn, sondern allenfalls »eine Variante des allwissenden Erzählers« (Fischer/Roberts 2001: 154). Denn selbst »das Archiv wusste nicht alles« (Grass 1995: 85). Und durch dieses Nichtwissen ist die narrative Souveränität der Erzählinstanz eingeschränkt. Manchmal kann sie »nur vermuten« (ebd.: 27, 71), dann wieder muss sie gewisse Sachverhalte »unkommentiert« lassen (ebd.: 73).

Insgesamt lässt sich das erzählende Wir im Weiten Feld somit am treffendsten als »Rahmen« beschreiben (Kassem 2015: 91), innerhalb dessen sich verschiedene Stimmen zu Wort melden. An manchen Stellen kommt es zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe (»Wir stritten ein wenig«, Grass 1995: 285), an anderen zu einer »Überlagerung und Mischung der Stimmen« (Kassem 2015: 89). Dadurch entgrenzt das Archiv-Wir die klassische Funktion des Erzählers als einer »always-present singular structuring authority« (Bekhta 2017: 116) und tritt in seinem »entsubjektivierten Verständnis als Generator von Geschichte(n)« auf (Brüns 2006: 109).

Das Archiv figuriert in Grass’ Roman aber nicht im diskursanalytischen Sinn nach Foucault als »kontrolliertes Aussagesystem« oder gar als »historisches Apriori« (ebd.). Denn durch die metareflexiven Betrachtungen seiner Tätigkeit wirkt es gerade nicht im Verborgenen. Vielmehr werden die kommunikativen Prozesse im Erzählfortgang ständig offengelegt. Und aufgrund der Meinungsverschiedenheiten lässt sich dieser Vorgang nicht als »einstimmi[g]« charakterisieren (ebd.). Konzeptionell bewegt sich Grass’ Archiv-Wir eher am Übergang zwischen »Speichergedächtnis« und »Funktionsgedächtnis« im Sinne von Aleida Assmann (2009: 169f.) und wird damit zum Modell für ein »verlebendigendes Umgehen mit Fontane-Materialien in ihrer möglichen Bedeutsamkeit« für Gegenwart und Zukunft (Labroisse 2008: 82).

Aus diesem Spannungsfeld zwischen »Fakten-Archiv« und »kreativ-fiktionale[r] Erzählinstanz« (ebd.: 81) ergibt sich die Funktion des Wir im Hinblick auf die Zeitlichkeit des Romans. So erweist sich das erzählende Wir im Weiten Feld als eigentliche Schaltstelle jener – an Grass’ Roman oft kritisierten – Verschichtung und Überblendung historischer Zeiten, für die Grass den Begriff der »Vergegenkunft« (Grass 1987: 233) geprägt hat. »Vergegenkunft« bezeichnet im Wortsinn »ein schriftstellerisches Konzept der narrativen Simultaneität« (Kónya-Jobs 2017: 78), in der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zusammenfließen. Im Weiten Feld reicht die erzählte – und in der Erzählgegenwart zusammengezogene – Zeit »vom Vormärz zu den Montagsdemonstrationen« (Grass 1995: 26f.). Dadurch versetzt sich Grass in die Lage, »die Ereignisse von 1989/90 im Lichte der Ereignisse von 1870/71 [zu] erklären« (Scheitler 2005: 144). Im Weiten Feld führt Grass somit das in Unkenrufe (1992) erprobte archivalische Erzählen mit seiner seit den Kopfgeburten (1980) entwickelten »Poetik der Vergegenkunft« zusammen und ersetzt die sonst bevorzugte Instanz eines »fiktionalisierten Autor-Ich als Erzähler« (Kónya-Jobs 2017: 78f.) durch eine kollektive Wir-Erzählinstanz.

Mit dieser Erzählkonstruktion plausibilisiert Grass die ständige Permeabilität zwischen den Zeiten, die für seinen Roman konstitutiv ist und sich mit dem Geschichtsbild des Autors deckt. Im Weiten Feld bewirken der Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung nicht nur eine räumliche Durchlässigkeit zwischen West und Ost, sondern auch eine zeitliche Durchlässigkeit, infolge derer diachron auseinanderliegende Ereignisse sich synchron überlagern (vgl. Brüns 2006: 108). Der Protagonist Fonty belebt »die Vergangenheit in aller Breite und Tiefe« (Grass 1995: 74), und das in einem Ausmaß, dass »ihm […] die Jahrhunderte durchläßig« werden (ebd.: 416).

Das deutlichste Zeichen dieser Zeitlichkeit ist im Roman die Kategorie des ›Unsterblichen‹. Von Thomas Mann auf Theodor Fontane gemünzt (Fontane, der Unsterbliche), verbindet sie im Roman das erzählende Archiv-Wir mit dem Protagonisten Fonty genauso wie mit dessen Tag-und-Nacht-Schatten Hoftaller, der als intertextuelles Konstrukt – nämlich als Abwandlung von Hans Joachim Schädlichs ewigem Spion Tallhover – in den Roman einwandert:

Zwei Immortellenkränze wären zu vergeben, sogar ein dritter, denn uns erging es kaum besser; nichts ist unsterblicher als ein Archiv. So ängstlich wir versucht haben, Hoftaller zu meiden, Wegducken half nicht: Mit Fonty saßen wir in der Falle, wie ihm war auch dem archivierenden Kollektiv der Name des Unsterblichen vorgeschrieben (ebd.: 108f.).

Die Kehrseite dieser Unsterblichkeit ist, dass sowohl der Wir-Instanz als auch den beiden Figuren »die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Zeit« fehlten (Scheitler 2005: 145). Als historisch »hybrid[e] Persönlichkeit[en]« (Brogi 2001: 82) sind Fonty und Hoftaller (wie das Archiv) überindividuelle Figuren in dem Sinn, dass ihre eigene Lebenszeit keine existenziellen Grenzen kennt – auch nicht die natürlichen von Geburt und Tod. Entsprechend wenig können sie mit historischen Zäsuren anfangen. Stattdessen verbinden sie mit dem Mittel des »alles einbeziehenden Rückgriff[s]« (Grass 1995: 72) die Geschichte »über alle Wendezeiten hinweg« (ebd.: 79) zu einem einzigen Kontinuum. Hoftaller akzeptiert »keine Brüche und Nullpunkte, nur fließende Übergänge« (ebd.: 482). Und für Fonty steht ohnehin fest: »[I]n Deutschland ändert sich nichts…« (ebd.: 500).

So wie Grass selbst in seiner späten Schaffensphase eine »Deutung der deutschen Geschichte, die von Wiederholung, nicht von Veränderung ausgeht« (Pontzen 2008: 37), vertrat, so wird auch die Wende in seinem Roman lediglich als »weitere Variatio[n] zum Thema Unsterblichkeit« (Grass 1995: 520) verhandelt. Emblematisch steht im Roman dafür der Paternoster der Treuhand als »Symbol der ewigen Wiederkehr« (ebd.: 526). Somit erscheinen die Wendejahre 1989/90 als ›Bruch‹ gerade nicht im Sinne eines epochalen Neubeginns, bei dem etwas Altes durch etwas Neues abgelöst wird, sondern – im Gegenteil – als Unterbrechung der diachronen Zeitläufte schlechthin. Angesichts des Endes der DDR sistiert Grass über sein Archiv-Wir die Vergänglichkeit als solche und lässt stattdessen vergangen Geglaubtes und Verdrängtes im Zeitraum der ›Vergegenkunft‹ erneut auftauchen.15

Fazit

Die deutschen Wendejahre 1989/90 werden in Jana Hensels Zonenkindern und Günter Grass’ Weitem Feld in konträrer Weise dargestellt: Hensel setzt sie in der ganzen Radikalität der Zäsur, um die Kindheit in der DDR als jenes unzugänglich gewordene Andere im Eigenen hervortreten zu lassen. Bei Grass dagegen münden die Wendejahre in eine räumliche und zeitliche Entgrenzung des Geschichtssinns, was ein Denken in Zäsuren und damit auch Alterität überhaupt verunmöglicht.

In engem Zusammenhang mit dieser Deutung der Wendejahre steht die Konzeption der Wir-Erzählinstanz, die sich ihrerseits zwischen beiden Texten fundamental unterscheidet: In Hensels Zonenkindern hat man es mit dem für Generationenromane typischen »progroup I-narrator« (Bekhta 2020: 18) zu tun, bei dem sich ein ich – stellvertretend für eine Gruppe – in der ersten Person Plural zu Wort meldet. Hensel setzt so bei der individuellen Biografie an und gibt ihr durch die Verwendung der ersten Person Plural politische Sprengkraft.

In Grass’ Roman waltet ein »full-blown we-narrator« (ebd.), bei dem verschiedene Stimmen am kollektiven Erzählakt partizipieren. Auch wenn es zwischen den Mitgliedern des Kollektivs manchmal zu Meinungsverschiedenheiten kommt, ist bei Grass die individuelle Erfahrung weitgehend eliminiert oder zumindest durch die überindividuellen Protagonist:innen seines Romans an den Rand gedrängt. Das öffnet in seinem Roman zwar die historische Totale, macht ihn aber unempfindlich für die Nahtstellen, über die historisches Geschehen in individuelle Biografien hineinwirkt.

Da Grass in seinem Roman »Geschichte als Alterität zur Gegenwart« leugnet (Brüns 2006: 110), ist die Gegenwart nicht erfahrbar. Sie wird durch die überindividuellen Instanzen des Romans noch im selben Moment historisiert. Dadurch kehrt sich die Perspektive auf das Zäsur-Konzept um: Lässt sich an historischen Periodisierungen die Abstraktheit und Konstruiertheit kritisieren, weil sie sich nicht mit den individuellen Erfahrungen decken, so gilt umgekehrt, dass es ohne individuelle Erfahrungen erst recht keine Zäsuren geben kann. Denn eine Zäsur bleibt das historische Ereignis nur, wenn es in der Erinnerung weiter schmerzt, wenn es als ›Wunde‹ fungiert, die sich nicht gänzlich schließt (vgl. Assmann 1999: 241).

Dass dies dreißig Jahre nach dem Mauerfall für die deutschen Wendejahre 1989/90 nach wie vor gilt, darauf werfen die aktuellen politischen Debatten und Verwerfungen in Deutschland ein scharfes Licht. Jana Hensel lässt die ›Wunde‹ in Zonenkinder als subjektiv erfahrene deutlich hervortreten. Grass verhindert durch die überindividuelle Perspektivierung, sie überhaupt auszumachen. Das verunmöglicht eine Aussöhnung erst recht.

Anmerkungen

1 Mit Fokus auf die Literatur vgl. Fischer/Roberts 2001; Brüns 2006; Stephan/Tacke 2008.

2 »Erst ein Minimum von Vorher und Nachher konstituiert die Sinneinheit, die aus Begebenheiten ein Ereignis macht. Der Zusammenhang eines Ereignisses, sein Vorher und Nachher mögen ausgedehnt werden; seine Konsistenz bleibt jedenfalls der Zeitfolge verhaftet.« (Koselleck 1989: 145)

3 Grundlegend zum Verhältnis zwischen Ereignis und Narration vgl. Häusler/Schneider 2016.

4 Die Rezeption beider Werke lag jeweils bereits ein (bzw. zwei) Jahr(e) später in einer Publikation aufgearbeitet vor. Zu Grass’ Weitem Feld vgl. Negt 1996. Zu Hensels Zonenkindern vgl. Kraushaar 2004a.

5 Autorin und Verlag verzichten auf eine Gattungsbezeichnung wie Roman, Erzählung, Bericht etc., während beispielsweise Florian Illies’ Bestseller Generation Golf, auf den sich Hensel bezieht, den Untertitel »Eine Inspektion« trägt.

6 Vgl. auch: »In der Nachfolge von ›Generation Golf‹ wurde im Feuilleton unglaublich viel über die Probleme und Nöte, Zwänge und Prägungen dieser Generation geschrieben, dabei fiel niemandem auf, dass da das halbe Land nicht vorkam.« (Hensel/Kraushaar 2004: 94) Elke Brüns liest Zonenkinder denn auch als »Ost-Pendant zur Generation Golf von Florian Illies« (Brüns 2006: 237).

7 Für Generationenromane im deutschen Sprachraum ist dieses Changieren zwischen Ich und Wir typisch. Auch die oben genannten Erzählungen von Florian Illies und Katja Kullmann wechseln zwischen erster Person Singular und Plural.

8 Mit showing bezeichne ich in Anlehnung an Katja Mellmann (2010: 119) die Dominanz der »perceptual function« über die »voice function« (telling), wodurch der Eindruck entsteht, als existiere das Erzählte als vorangegangene Realität, die lediglich vergegenwärtigt wird.

9 Für diese Sichtweise erntete Jana Hensel teils heftige Kritik.

10 Grundlegend zum Konzept einer Kulturdifferenz, die nicht in einer räumlichen, sondern einer zeitlichen Dimension besteht, vgl. Wiegmann 2018.

11 Vgl. auch: »Über Nacht waren all unsere Termine verschwunden« (Hensel 2002: 16); »Überhaupt waren sie auf einmal verschwunden, diese ganzen pädagogischen Berufsgruppenspiele« (ebd.: 20).

12 Für einen Überblick über den Roman und eine konzise Analyse vgl. Sesto 2015.

13 So äußerte sich Karl Corino im Literarischen Quartett im ZDF am 24. August 1995.

14 Monika Fludernik spricht in diesem Zusammenhang von einer »vagueness of the we reference« (Fludernik 2018: 178; Hervorh. i.O.).

15 »Grass schreibt hier nach wie vor gegen die mit der Wende gleichzeitig herbeigesehnte Verdrängung der Vergangenheit, denn er sieht die Wende keineswegs als eine neue Epoche, sondern als ein Musterbeispiel des absurden Geschichtsprozesses, in dem sich nichts ändert.« (Etaryan 2017: 106)

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