»andere zeiten«
Griechische Zeitkonzepte bei Stefan George
AbstractThis article deals with issues of time in the works of Stefan George (primarily in Der Siebente Ring and Jahr der Seele). Thereby, the critical approach to time is not limited to a cultural-critical look at present time, but also includes a critique of the linear, progress-oriented concept of time in the strict sense. Against this background, George’s reception of antiquity is analyzed, with a regard to his cross-temporal aesthetic translation of ancient Greek concepts of time (particularly in Plato and Pindar) into modern poetry, aiming at a qualitative transformation of the perception and sense of time.
Title»different times«. Ancient Greek Concepts of Time in Stefan George
KeywordsStefan George (1868-1933); time poems; ancient Greek concept of time; cultural translation between the times; the aesthetic potential of strangeness
Wiewohl sich Stefan George insbesondere mit seinem Gedicht Komm in den totgesagten park und schau einen festen Platz in der Literaturgeschichte erworben hat und die herausragende Qualität seiner Lyrik unumstritten ist, erregt er heute doch vor allem als skurrile Figur Aufsehen, als Meister der Selbstdarstellung, der sich als lorbeerbekränzter Cäsar, Dante oder Platon inszenierte, im Rahmen des ominösen George-Kreises seine Adepten um sich versammelte und einen Jüngling zum Gott erklärte. Eine qualifizierte Auseinandersetzung mit seinen Gedichten scheint dagegen einem Kreis von Eingeweihten vorbehalten. Generell ist ohnehin in der kulturwissenschaftlich orientierten wie auch speziell in der interkulturellen Germanistik die Beschäftigung mit Lyrik eher die Ausnahme als die Regel, und sicher würden wohl die wenigsten im Kontext interkultureller Fragestellungen an Stefan George, den Dichter des Geheimen Deutschlands, denken1 – allenfalls im Hinblick auf seine Beeinflussung durch den französischen Symbolismus.2 Interkulturelle Themen scheinen hier vordergründig nicht auf der Hand zu liegen. Verschiebt man den Fokus jedoch auf diachrone Phänomene literarischer Interkulturalität (vgl. Wiegmann 2018; auch 2017), sieht die Sache anders aus. Aus dieser Perspektive ist insbesondere ein Blick auf Stefan Georges Antikenrezeption überaus lohnend, gerade dann, wie im Folgenden gezeigt werden soll, wenn man den Fokus auf eine interkulturelle Rezeption von Zeitkonzepten und ihre poetische Übersetzung legt.
1. Der Dichter als Übersetzer zwischen den Zeiten
Literaturgeschichtlich lässt sich Stefan Georges Werk dem Symbolismus bzw. der Neuromantik3 zuordnen. Geistesgeschichtlich kann man sein Werk im Kontext der Kulturkritik um 1900 verorten.4 Das ›Unbehagen in der Kultur‹ (Freud) und die zeitgenössische Sprachskepsis verbinden sich in Georges Wortkunst mit einer avantgardistischen Bestrebung, die unbedingt das Neue, nicht aber das Moderne im engeren Sinne sucht.5 Die moderne Zeit in ihrer materialistisch-positivistischen Grundverfassung scheint dabei im Horizont einer kulturkritischen Weltsicht als ›entseelte‹, kunst- und menschenfeindliche Gegenwart. Dieser Aspekt zeigt sich u.a. in Georges Zeitgedichten, die den 1907 erschienenen Gedichtband Der siebente Ring eröffnen. Sie machen, der lyrischen Gattung der Zeitgedichte entsprechend, ihre »zeitgeschichtliche Bedingtheit« (Stadler-Altmann 2001: 6) zum Thema und sind als unmittelbare »Reaktion auf ihre Gegenwart« (ebd.: 7) zu verstehen.6 Wie Jan Endres gezeigt hat, werden hier in einem »allegorisch-symbolischen Verfahren […] die bedichteten Personen und Orte« zu poetischen »Gegenbilder[n]« (Endres 2006/2007: 48) der Zeit erhoben. Darüber hinaus lässt sich auch auf einer formalen Ebene die zyklische Gestalt des Siebenten Rings – wie schon in zeitgenössischen Rezensionen geschehen – als »Hinwendung« Georges »zur Zeitkritik« (Aurnhammer 2017: 336) deuten. Mit der Erfahrungswelt der Gegenwart werden indes auch schon in der Vorrede zu den Büchern der Hirten- und Preisgedichte von 1895 explizit »andere zeiten und örtlichkeiten« (George 1991: 7) konfrontiert. Aspekte der Zeitkritik bestimmen im antikisierten Gewand der radikalen Antimoderne zudem auch die ästhetizistische Gegenwelt eines cäsarischen Roms im Algabal von 1892. Während aber Algabal auf eine bestimmte Gegenzeitlichkeit beschränkt bleibt, verdichten sich in den Zeitgedichten des Siebenten Rings in einem überaus heterogenen Tableau auf personaler wie auf spatialer Ebene ganz unterschiedliche historische Referenzpunkte zu einem symbolischen Gegenbild, das nicht nur eines zur aktuellen Gegenwart ist, sondern darüber hinaus auch ein Geschichtsverständnis zur Anschauung bringt, welches einem prozessual-fortschrittsorientierten Geschichtsdenken entgegensteht. Was sich hier verdichtet findet, ist die Idee von Geschichte als einer simultanen Verbindung großer Geister über Zeiten und Räume hinweg, die – im Sinne von Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben – unabhängig vom Zeitlauf »immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass […] geben und Kräfte […] verleihen.« (Nietzsche 1999: 317) Aus dieser Perspektive erscheint das Vergangene nicht unweigerlich als etwas in der geistesgeschichtlichen Entwicklung Überwundenes, sondern birgt in sich eine individuelle Qualität, die immer wieder zum Bezugs- und Ausgangspunkt eines Neuen werden kann – einer qualitativen Erneuerung der Dichtkunst ebenso wie einer der Kultur. Die Zeitgedichte benennen einige Bezugspunkte, denen George eine besondere poietische Potenz zuzuweisen scheint: Dante, Goethe, Nietzsche, Böcklin, die Porta Nigra in Trier, Mallarmé, Papst Leo XIII., verschiedene Könige und Kaiser des deutschen Mittelalters bzw. ihre Gräber im Dom zu Speyer, Pente Pigadia in Griechenland, Pindar, Sophie von Alençon, Elisabeth von Österreich, Clement Harris, Carl August Klein. Einige der Referenzpunkte, die für Georges eigene neue Wortkunst wichtig sind, spiegeln sich dabei auch in seiner Selbstinszenierung als Cäsar, Dante oder Platon. Sie entspricht einem dichterpriesterlichen Selbstverständnis als okkultem Medium, das in einen Dialog mit den »Geistern der Vergangenheit« tritt und »zum allgemeinen Wohl« einen »Kontakt mit der transzendenten Welt der Vergangenheit« (Assmann 2010: 179) herstellt. Demnach wird erst in seiner Person ein »Zusammenwirken« (Nietzsche 1999: 317) der Zeiten und die Erhebung des Vergangenen zum gegenwärtigen Kulturfaktor möglich. Weniger esoterisch ausgedrückt und vom Duktus des Kosmischen abstrahiert, wird der Dichter zum Übersetzer.7 Er übernimmt damit – ähnlich wie es Friedrich Schlegel in seinen Überlegungen zur Aufgabe der Philologie beschreibt – »eine Scharnierfunktion« zwischen den zeitlich getrennten »Welten« (Günther 2011: 264), insbesondere zwischen der Antike und der Moderne. Dabei bildet er »eine Art von Brücke« (Nietzsche 1999: 317) über die Zeiträume hinweg, welche ein produktives Zusammenwirken und die ästhetische »Reinkarnation« (Assmann 2010: 219) des Vergangenen, seiner Werte, seines Lebensgefühls und seiner Weltsicht unter den Bedingungen der Moderne ermöglichen.
Zeitkritik bleibt bei George nicht auf eine zeitgeschichtliche Dimension beschränkt, sondern bezieht sich auch auf das moderne Zeitkonzept im engeren Sinne. Nicht nur in den Zeitgedichten des Siebenten Rings, sondern auch in zahlreichen anderen Gedichten werden unterschiedliche Zeitwörter verwendet und wird ›Zeit‹ in verschiedensten Bedeutungszusammenhängen zur Sprache gebracht. Das Wortfeld erstreckt sich vom momentanen Augenblick, über Stunden, Tages- und Jahreszeiten bis hin zu epochalen Zeiträumen und Zeitenwenden. ›Zeit‹ steht dabei im Spannungsfeld zwischen subjektiver Zeitwahrnehmung und objektiven, an Sterne und Planetenkonstellation gebundenen Zeitläufen, die von entgegengesetzten Seiten eine Kritik der geschichtlichen Zeit bzw. der kulturgeschichtlichen Gegenwart erlauben. Dabei bleibt die Zeitkritik jedoch nicht inhaltsbezogen, sondern spiegelt sich in der formalen Gestaltung als Ästhetisierung einer alternativen Zeitkonzeption.
2. Das innovative ästhetische Potential einer ›fremden‹ Antike
Auf der Suche nach einer Alternative, etwas Anderem bietet sich ganz grundsätzlich immer ein Blick in die Fremde oder auf das Fremde an. Im Gegensatz zu der gängigen »Unterstellung eines Strebens nach ästhetischer Autonomie« besteht insofern gerade in Bezug auf die Inspirationslehren der historischen Avantgarde die Notwendigkeit einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung dessen, was man sich von »ästhetische[r] Heteronomie« (Schüttpelz 2013: 25) versprach. Im Kontext eines Epochenumbruchs, wie man ihn um 1900 konstatieren kann, bietet die Übernahme von kulturellen Praktiken bzw. symbolischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern anderer Kulturen die Möglichkeit einer Transformation des »Kanon[s] symbolischer Ausdrucksformen einer Kultur« (Gutjahr 2010: 36) sowie neue »Möglichkeiten, etwas ›zur Sprache‹ zu bringen« (Blumenberg 1976: 20). Fremdbezüge sind in diesem Zeitraum insofern in allen Kunstformen gehäuft anzutreffen und bilden oftmals den Ausgangspunkt für ästhetische Innovationen.8 In diesem Sinne hat auch Stefan George als »Neu-Seher und -Sager« (Gundolf 1921: 37), wie Friedrich Gundolf schreibt, am »Fremden […] sein Eigenes sagen gelernt« (ebd.: 51). Stilistisch prägend ist für George zunächst der französische Symbolismus, insbesondere Mallarmés und Verlaines (vgl. hierzu u.a. Zanucchi 2016). George, der neben Deutsch und Französisch auch Italienisch, Spanisch, Niederländisch, Dänisch, Polnisch, Latein und Altgriechisch beherrschte, rezipierte aber darüber hinaus auch eingehend fremdsprachige Lyrik unterschiedlichster Epochen. Im Allgemeinen ist dabei sein Interesse an europäischer Literatur weniger weltanschaulich bestimmt, sondern konzentriert sich auf »Sprache als […] sinnliche[s] Element« (Gundolf 1921: 50). Eine Sonderstellung nimmt die Antikenrezeption ein. Dabei spielen die zeitliche Distanz und definitive Abgeschlossenheit dieser Epoche der Menschheitsgeschichte eine entscheidende Rolle. Diese macht sie zu etwas Anderem, Fremden, das im Rahmen eines imaginativen Gegendiskurses funktionalisiert und zum Symbol des aus der modernen Gegenwartskultur »Ausgegrenzten« gemacht wird. Darüber können, gemäß Hubert Zapf, »oppositionelle Wertansprüche […] mit besonderer semiotischer Intensität zur Geltung« gebracht werden. »[Z]ugleich« trägt die Spannung zwischen Eigenem und Fremdem »entscheidend zur ästhetischen Produktivität der Texte« (Zapf 2008: 34) bei.
George schreibt sich diesbezüglich in die nichtklassische Rezeptionslinie Hölderlin – Kleist – Nietzsche9 ein, in deren Folge das antike Griechenland vermehrt nicht mehr nur einverleibter Traditionsbestand ist, sondern auch als Fremdkultur rezipiert und als Komplement der Gegenwart aufgerufen und ästhetisiert wird. Dabei erweist sich die Akzentuierung kultureller Differenz gerade im Hinblick auf sprachliche und kulturelle Erneuerung als von grundlegender Relevanz. Folgt man der Argumentation Roland Barthes’, dann entsteht erst aus der Differenz »die Möglichkeit […] einer Mutation, einer Revolution im Charakter der Symbolsysteme.« (Barthes 2014: 14) In diesem Sinne heißt es etwa in Georges Jahrhundertspruch: Ein Sechster: »Nur aus dem fernsten her kommt die erneuerung – / So braust der grosse sang zur frühlings-trift ..« (George 1986: 183).
In der europäischen Geistesgeschichte bildet die griechisch-römische Antike außerdem einen stabilen Referenzpunkt zur Neukalibrierung von Wertvorstellungen, wenngleich anzumerken ist, dass diese kein »Arsenal fragloser Faktizitäten« (Böhme 2011: 8) darstellt, sondern im diachronen Rezeptionsprozess durchaus sehr unterschiedliche Bedeutungsfacetten zeigt. Auch in der Entgegensetzung zu einer fortschrittsorientierten Gegenwart hat die Antike spätestens seit den Querelle des anciens et des modernes Tradition. Als feste normative Bezugsgröße, die geistesgeschichtliche »Epocheneinschnitte überdauern« (ebd.: 21) und kontinuierlich ästhetisch fruchtbar gemacht werden konnte, bildet die ›Antike‹ insofern nicht nur bei George den Gegenpol zur unsteten Entwicklungsdynamik der technischen Moderne. Die kulturkritische Antikenrezeption um 1900 kann tendenziell verstanden werden als zeittypischer Versuch, »in der Flut moderner Aktualitäten intellektuelle Fixpunkte aufzurichten,« die »Überblick, Verständnis, Widerstand und Kritik« (Sloterdijk 1995: 310) ermöglichen. Stefan Georges Antikenrezeption schreibt sich dabei in die von Nietzsche geprägte kulturkritisch-antimoderne Rezeptionslinie ein – auch und gerade wo es um Zeitkritik und alternative Zeitkonzepte geht. Nietzsche, dem das vierte Zeitgedicht im Siebenten Ring gewidmet ist, bildet gewissermaßen auch die Hintergrundfolie für die eingehende Platon-Lektüre und die produktive Rezeption antiker Dichter wie Pindar.10 Zeit- und Kulturkritik stehen dabei in einem engen, kaum zu lösenden Zusammenhang.
3. Ästhetisierung des Augenblicks
Mit ›Zeitkritik‹ ist an dieser Stelle nicht nur eine Kritik an der zeitgeschichtlichen Gegenwart gemeint, sondern am modernen, linearen und fortschrittsorientierten Zeitkonzept, dem eine »zentrale Bedeutung […] für die Moderne« (Assmann 2013: 23) zukommt. Mit der fortschrittsorientierten Dynamisierung sämtlicher Entwicklungsprozesse steht dabei das Gegenwärtige immer schon im Ruch des Vergänglichen. Das Zeiterleben in der Moderne ist mithin geprägt von der »Erfahrung des Flüchtigen und Vorübergehenden« (ebd.: 24), des permanenten Verfalls. »Der Jetztpunkt der Gegenwart ist«, wie Aleida Assmann schreibt, »ein reiner Übergang«, auf dem »nichts aufbauen« (ebd.: 33) kann.
Ausgehend von der »Aufhebung des Zeitbewußtseins als Erfahrung von Kontinuität« (Bohrer 1981: 49) identifiziert Karl Heinz Bohrer »Plötzlichkeit« als »zentrale Anschauungskategorie des modernen Bewußtseins«, weshalb die für literarische Moderne »so zentrale Kategorie […] radikaler Verzeitlichung […] keine exoterische Chiffre, sondern konkret und elementar beziehbar« (ebd.: 21) sei. Eine »Darstellung des ›Augenblicks‹ in einem zusammenhanglos und undeutbar gewordenen Kontext« (ebd.: 55) im Sinne des »ästhetischen Wahrnehmungsmodus des ›Plötzlichen‹« (ebd.: 21) zeigt sich indes bei George nicht. Während etwa bei Hofmannsthal, wie Bohrer schreibt, »[n]ur noch einzelne ›Augenblicke‹ […] die Illusion nähren, ihre sprachliche Erfassung sei adäquat« (ebd.: 55), geht es George gar nicht allein um eine sprachliche Erfassung von Welt, sondern vielmehr – ganz avantgardistisch – um eine umfassende Transformation der Wahrnehmung mit ästhetischen Mitteln. Die Rezeption antiker Zeitkonzepte erfüllt in diesem Sinne eine zentrale ästhetische Funktion im Hinblick auf die Reformation der Zeitwahrnehmung. Das altgriechische Verständnis von Zeit, wie es sich aus Philosophie und Dichtung – selbstverständlich nur annäherungsweise – rekonstruieren lässt, bietet dabei einen Gegenentwurf zur modernen Zeiterfahrung: Sie ist keinem zukunftsgerichteten Fortschrittsdenken verpflichtet, »sondern das Denken verweilt«, wie Ernst Cassirer schreibt, »in der reinen Betrachtung des ewig sich selbst gleichen Grundgesetzes des Alls. In diesem Gegenwartsgefühl ist das Ich dem Augenblick hingegeben, ohne doch an ihn verhaftet zu sein: es schwebt gleichsam frei in ihm« (Cassirer 2010: 161). Dabei ist »Gegenwart in diesem griechischen Sinne […] nicht der ständig gleitende Übergang« (Wendorff 1985: 55), in dem das Ich sich nicht verorten kann. Statt der in einzelne Zeitpunkte zersplitterten Erfahrung in der Moderne, die das Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit mitführt, dominiert in der antiken Zeitwahrnehmung ein, wie Cassirer schreibt, »reine[s] und volle[s] Bewußtsein in der zeitlichen Gegenwart« (Cassirer 2010: 157).
»Ausdruck des griechischen Zeitgefühls ist«, wie Rudolf Wendorff darlegt, »aus der Zentrierung auf die Gegenwart heraus […] der Kairos, der günstige Augenblick einer positive Chancen in sich bergenden Gegenwart« (Wendorff 1985: 55). Zugleich ist der Kairos nicht ein aus dem Lauf der Zeit herausgesprengter Moment, vielmehr sind in ihn Vergangenheit und Zukunft integriert. Im Kairos-Denken ist, wie Susanne Kaul schreibt, »der Augenblick […] nicht ein Jetztpunkt, der von seinem Vorher und Nachher abgetrennt ist, sondern er holt beide Zeitmomente in sich hinein, um so erst Bedeutsamkeit zu erlangen und ein qualifizierter Augenblick für eine bestimmte Handlung werden zu können.« (Kaul 2008/2009: 9)
Dieses altgriechische Verständnis des Augenblicks unterscheidet sich also grundlegend vom modernen. Erlebt sich das Ich in der Moderne als dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Zeit ohnmächtig ausgeliefert, so bietet das Kairos-Konzept einen Gegenentwurf und eine Möglichkeit der Umwertung der Augenblickserfahrung, in der sich das Individuum wieder als handlungsfähig erleben kann. Friedrich Gundolf schreibt in diesem Sinne, dass es eine der herausragenden Leistungen Georges sei, dass er die »antike Urgewal[t]« des Kairos »erneuert habe« (Gundolf 1921: 40).
Dabei kommt indes nicht nur eine theoretische Rezeption altgriechischer Zeitvorstellungen zum Tragen. Vielmehr zeigt sich in der Umwertung der Augenblickserfahrung im Zeichen des Kairos George deutlich inspiriert von den »schöpferischen Umdeutungen« der Zeitbegriffe in der Lyrik Pindars,11 »die an ihnen ein bis dahin verborgenes Potential aufdecken.« (Theunissen 2002: 11) Der Rückbezug auf das altgriechische Kairos-Denken ist insofern zu verstehen als dichterischer Gegenentwurf zu der in Augenblicke zersplitterten Erfahrungswelt der Moderne. Die Ästhetisierung des Augenblicks als qualitativ erfüllter Zeitmoment etabliert im Sinne des griechischen Zeitverständnisses, wie es »sich vor allem in der griechischen Dichtung entfaltet, […] gegenüber der Allgewalt des Schicksals einen neue[n] Sinn und eine neue Kraft des Ich« (Cassirer 2010: 156). Als fruchtbarer, existentielle wie poetische Entfaltungsmöglichkeiten bergender Moment12 findet sich der Kairos verschiedentlich in Georges Werk. Im Gegensatz zu der unter der Prämisse des modernen Zeitkonzepts sinnentleerten Wahrnehmung des Augenblicks, die bei Baudelaire paradigmatisch als »fragmentier[t], flüchtig und zersplittert« (Assmann 2013: 27f.) beschrieben wird, repräsentiert Georges am Kairos-Konzept orientierte Augenblickserfahrung einen Moment der »zeiten-fülle« (George 1993: 12). Er ist gleichsam ein sinnstiftender »Schicksalsaugenblick« (Gundolf 1921: 137), in dem die Determination durch eine unbarmherzig ablaufende physikalische Zeit durchbrochen und die Zeit durch den Menschen gestaltet werden kann.13 In diesem Sinne wird er etwa im Eingangsgedicht zum Jahr der Seele (vgl. auch Kaul 2008/2009), im XI. Vorspiel zum Teppich des Lebens und verschiedentlich im Siebenten Ring aufgerufen – besonders prägnant in dem Kairos betitelten Gedicht im Zyklus Tafeln:
Der tag war da: so stand der stern.
Weit tat das tor sich dir dem herrn …
Der heut nicht kam bleib immer fern!
Er war nur herr durch diesen stern. (George 1986: 166)
4. Poetisierung gestalttheoretischer Zeitvorstellungen
Neben der Umwertung der konkreten Augenblickserfahrung durch Rückbezug auf den antiken Kairos-Begriff wird dem linearen, zukunftsgerichteten Konzept von Zeit bei George die antikische Vorstellung von »Zeitrhythmik« entgegengesetzt. Diese ist nicht abstrakt gedacht, sondern orientiert sich an der konkreten Erfahrung naturzeitlicher Zyklen. Zeit ist nach dieser Vorstellung, die ihren philosophischen Niederschlag in Platons Timaios gefunden hat, durchaus auch gegliedert und zählbar, aber »[i]m Unterschied zur abstrakten leeren quantitativen Zeit handelt es sich« im Falle natur- und lebenszeitlich bestimmter Zyklen »um konkrete, gefüllte, qualitativ gegeneinander abgegrenzte Zeitformationen.« (Gloy 2008: 21) Dabei erfolgt die Einteilung der Zeit nicht nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten, sondern die einzelnen Phasen werden nach qualitativen Kriterien voneinander abgehoben. Im Gegensatz zur »Quantifizierung der Zeit«, die nach Ernst Cassirer zuletzt ganz im »Begriff der reinen Zahl […] aufzugehen« scheint, ist Zeit in einer noch mythisch geprägten Weltsicht »als ein eigentümliches ›Quale‹ gegeben« (Cassirer 2010: 140; Hervorh. i.O.). In der für Georges Antikenrezeption zentralen Philosophie Platons steht diese »Qualifizierung der Zeit« (ebd.) in engem Zusammenhang mit der ›Seele‹, die in der kulturkritischen Zeitdiagnostik der Jahrhundertwende nicht nur aus der modernen Zeitauffassung abstrahiert wurde, sondern aus der von einer materialistischen Weltsicht geprägten Moderne überhaupt. Die technisierte Gegenwart wird in dem Zeitgedicht Böcklin entsprechend mit dem Terminus der »kalte[n] zeit« (George 1986: 15) belegt,14 aus der, wie es im darauffolgenden Zeitgedicht Porta Nigra heißt: »Das edelste […] verloren« (ebd.: 17) ging.15
Als Gegenkonzept zur abstrakten Zeitvorstellung als reiner, sinnentleerter Form fungiert die griechische Zeitauffassung, in der, nach Plotin, »Zeit […] Leben der Seele« (Plotin 2010: 67) ist. Wie Cassirer schreibt, ist das »konkret[e] mythisch-religiös[e] Zeitbewußtsein« durchdrungen von »eine[r] bestimmte[n] Dynamik des Gefühls – eine verschiedene Intensität, mit der das Ich sich der Gegenwart, der Vergangenheit oder Zukunft hingibt und sie, im Akt dieser Hingebung und durch ihn, zueinander in ein bestimmtes Zugehörigkeits- oder Abhängigkeitsverhältnis rückt.« (Cassirer 2010: 141)
Insbesondere die jahreszeitlichen Zyklen des Gedichtbandes Das Jahr der Seele (Nach der Lese, Waller im Schnee und Sieg des Sommers) können in diesem Sinne gelesen werden als Poetisierung antiker Zeitvorstellung. Der zyklische Ablauf der Naturvorgänge erscheint hier nicht als von menschlicher Erfahrung unabhängiger Zeitverlauf, sondern ist untrennbar verbunden mit innerem Erleben. Natur, Zeitlichkeit und Seele stehen auch in dem Zyklus Traumdunkel des Siebenten Rings in enger Beziehung zueinander: »Der Wechsel der Landschaften, der häufig auch innerhalb eines Gedichts stattfindet, ist« hier »eng mit dem Wechsel von Dunkelheit, Dämmerung und Helligkeit verknüpft.« (Kaufmann 2012: 179)
Diese Verbindung von seelischem Erleben und Zeiterleben ist indes nicht als radikale Subjektivierung der Zeiterfahrung zu lesen. Wie Gundolf schreibt, gehe es George hier nicht darum, »die Natur zu ver-ichen« (Gundolf 1921: 130), vielmehr seien »Landschaft, Mensch und Geschehen […] nur drei Dimensionen desselben Seins.« (Ebd.: 131) Wenn Gundolf betont, dass es so etwas »vor George noch nicht« (ebd.) gegeben habe, ist das allerdings nicht ganz richtig. Die enge Bindung von Form und Inhalt, von menschlichem, natürlichem und geschichtlichem Werden ist vielmehr, wie Karen Gloy schreibt, »[c]harakteristisch« für gestalttheoretische Zeitvorstellungen, wie die des antiken Griechenlands (Gloy 2008: 21). Und als solche finden sie auch ihren Niederschlag in der antiken Dichtung. »Was Fränkel am Epos hervorhob: daß es zeitliche Inhalte mit in die Zeit selbst legte, das kennzeichnet«, nach Michael Theunissen, »genauso die gesamte frühgriechische Lyrik bis hin zur Dichtung Pindars: ›Die Zeitbegriffe bei Pindar umfassen den Inhalt des Geschehens in der Zeit mit.‹« (Theunissen 2002: 10; Theunissen zitiert hier Gundert 1935: 114)
An theoretischen Konzepten rezipiert George insbesondere die Zeitphilosophie Platons, die objektive und subjektive Zeitwahrnehmung miteinander verbindet und deshalb in der Philosophiegeschichte als Übergangstheorie verstanden wird (vgl. Gloy 2008: 37). Die Zeit wird im Timaios zum einen kosmologisch fundiert, »indem sie an die Planetenbewegungen, […] gebunden wird«, wodurch »sie als reales, objektives Geschehen« erscheint. Zum anderen hat die Zeit hier auch »eine genuine Beziehung zur Seele«. D.h., objektive Zeitbetrachtung und subjektives Zeiterleben sind nicht getrennt voneinander gedacht. Zeit existiert sowohl »außerhalb des Subjekts« als auch »innerhalb des Subjekts.« (Ebd.: 8) Damit bietet sich hier gewissermaßen ein Zeitkonzept an, das die Subjekt-Objekt-Spaltung dialektisch aufhebt, zumal hier im Begriff der Seele noch sinnliche und verstandesmäßige Aspekte verwoben sind.
Was sich in der rein theoretischen Betrachtung dem modernen Bewusstsein nur noch schwerlich erschließt, lässt sich nach Georges ästhetischer Überzeugung in der künstlerischen Darstellung erfahrbar machen. In diesem Sinne schließt er sich in dem Zeitgedicht Nietzsche dessen Selbstkritik an, wenn es heißt: »sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!« (George 1986: 13; vgl. hierzu auch Immer 2009: 68f.) Anders als der Theoretiker kann der Dichter, nach Walter Benjamin, mit seinem »mimetische[n] Vermögen ein spezifisches Weltverhältnis darstell[en]«, das »eine strikte Subjekt-Objekt-Dichotomie unterläuft.« (Dommaschk 2019: 87f.) Dabei wird die Ästhetisierung der zyklischen Zeitgestalt, die von der »Bindung der Form an den Inhalt, der die spezifische Auftrittsweise und Internstruktur der Zeitgestalt bestimmt« (Gloy 2008: 21), auch auf der formalen Ebene der Gedichte unterstützt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen handelt es sich bei den Jahreszeitenversen im Jahr der Seele, die dem Herbst (Nach der Lese), dem Winter (Waller im Schnee) und dem Sommer (Sieg des Sommers) zuzuordnen sind, um jambische Fünfheber mit meist drei je vierzeiligen Strophen, die »regelmäßig gebaut und mit weiblicher Kadenz gereimt« sind. »Der hierdurch erzeugte, gleichmäßig getragene Ton entspricht der inhaltlichen Abgeschlossenheit und Rundung der drei Abschnitte, die von Verdichtung und Verinnerlichung geprägt sind.« (Storck 1989: 228)
In der Architektur der Jahreszeitenverse spiegelt sich mithin die oben skizzierte Zeitgestalt. Insofern kann hier von einer Ästhetisierung antikisierter Zeitwahrnehmung in einer verdichteten Form gesprochen werden, die – nach dem prophetischen Selbstverständnis Georges – darauf angelegt ist, mit den Mitteln der lyrischen Wortkunst die moderne Zeiterfahrung zu transformieren und zu humanisieren.
Während in der Vorrede zum Buch der Hirten- und Preisgedichte noch davon die Rede ist, dass die »seele […] vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist und sich dort gewiegt hat« (George 1991: 7), wird mit dem Abschlussgedicht im Jahr der Seele die kulturelle Erneuerung im zyklischen Verlauf der Zeit thematisiert, wobei das Abschlussgedicht von Waller im Schnee »den Übergang zum Frühling markiert, der in der Zeitenfolge fehlt« (Oelmann 2012: 141), und damit den Anbruch einer neuen Zeit bzw. eines neuen Zeitzyklus als ›ewe‹,16 so Georges Bezeichnung im Jahrhundertspruch. Die dem zyklischen Denken entsprechende Idee der Zeitenwende, der »zeitenkehr« (George 1984: 29), wie es im Vorspiel zum Teppich des Lebens heißt, meint dabei keinen quantitativen Wechsel, wenngleich die zahlensymbolisch markierte Epochenschwelle 1900 Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist. Adressiert ist eine qualitative Zeitenwende, die nach Georges Auffassung nicht mit gesellschaftspolitischen Mitteln zu erreichen ist, sondern nur über eine subtile Transformation der Wahrnehmung mit den Mitteln der Kunst. Friedrich Wolters urteilt in diesem Sinne über den Band Das Jahr der Seele: »[V]ielleicht ist niemals in der Menschengeschichte, so weit wir blicken können, die Angel der Zeit mit leiserem Finger gedreht worden als durch dieses Werk« (Wolters 1930: 133).
Im Hinblick auf die wertorientierte, inhaltliche Wende der Zeit kommt dem Dichter nach Georges Selbstverständnis eine Schlüsselrolle zu. Seine Aufgabe ist es, der im Siebenten Ring beklagten »Gestaltlosigkeit« der modernen »Zeit« (Kaufmann 2012: 177) wieder Gestalt zu geben bzw. das abstrakte sinnentleerte Zeitkonzept der Moderne in eine ›volle zeit‹ (vgl. George 1986: 62) zu transformieren.
Während die Umdeutung des Augenblickserlebnisses durch Rückbezug auf das griechische Kairos-Konzept durchaus tragfähig ist, bleibt die sinnstiftende inhaltliche Füllung der neuen Zeit allerdings fragwürdig. Der zyklische Gedichtband Der siebente Ring kreist um die Kunstfigur Maximin als neuen Gott, der sich nicht durch einen neuen handlungsleitenden Wertekosmos, sondern durch seine Konstruiertheit auszeichnet. Den im Prozess der Säkularisierung »leer« gewordenen »Platz der Wahrheit« lässt George letztlich »unbesetzt« (Konersmann 2008: 132). Seine »Poesie der leeren Mitte« (Osterkamp 2010), wie Ernst Osterkamp sie nennt, bewegt sich in zyklischen Kreisen allein um das konstruktive Wesen von Kunst und Kultur. Insofern erweist sich auch die zeitkonzeptuelle Verkopplung von ›Seele‹ und Kosmos, von Inhalt und Form als eine Spielart lyrischer Selbstreferentialität. Im Rahmen symbolistischer Poetik verbleibend, erfüllt die Rezeption der antiken Zeitgestalt also in letzter Konsequenz vor allem eine ästhetische Funktion jenseits inhaltlicher Bestimmtheit.
Anmerkungen
1 Eine Ausnahme bildet der Aspekte der Mehrsprachigkeit fokussierende Beitrag Dirk Weissmanns Le paradoxe Stefan George poète cosmopolite plurilingue et prophète de la renaissance nationale allemande (Weissmann 2015).
2 Exemplarisch genannt sei hierzu zuletzt Zanucchi 2016.
3 Theodore Ziolkowski weist darauf hin, dass der Begriff ›Neuromantik‹ »irreführend« sei. »Neuromantik hieß alles, was nicht als Realismus oder Naturalismus galt. Das Wort dient also eher zur negativen Abgrenzung als zur positiven Bestimmung.« (Ziolkowski 1969: 30)
4 Kulturkritik wird hier verstanden als »Reflexionsmodus der Moderne«, der den Zugang zu dem »Laboratorium einer gleichermaßen ideengeschichtlich wie mentalitätsgeschichtlich bedeutenden Wissens- und Sinnbildungsproduktion« eröffnet (Bollenbeck 2007: 9f.).
5 Dabei hatte seine Dichtung durchaus auch einen Vorbildcharakter für expressionistische Autoren wie Gottfried Benn (vgl. seine Rede auf Stefan George, 1931) oder Carl Einstein, der 1910/11 schreibt: »der dichter st<efan> G<eorge> ist uns (darum) wertvoller und bedeutsamer als andere litterarische erscheinungen – nicht nur weil er besonders gute gedichte macht – sondern weil sein werk und seine person einen stil darstellen und er werte fand – die über die eigenen dichtungen hinaus verpflichtend sind.« (Einstein 1992: 105)
6 Das Zeitgedicht entsteht wie der Zeitroman in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beide Formen entwickeln sich im Kontext eines ausgeprägten literarischen Geschichts- und Zeitbewusstseins. Jürgen Wilke zufolge findet der Begriff ›Zeitgedicht‹ erstmalig Verwendung bei Johann Wilhelm Ludwig Gleim (vgl. Wilke 1974: 165; siehe auch Stadler-Altmann 2001: 13). In Bezug auf den zeitkritischen Impetus sei etwa verwiesen auf Heinrich Heines Zeitgedichte.
7 U.a. Doris Bachmann-Medick tritt dafür ein, »Übersetzung nicht mehr hauptsächlich räumlich zu denken, das heißt als Überschreiten sprachlicher und geographischer Grenzen«, sondern auch zeitlich (Bachmann-Medick 2017: 23). Zu ›Übersetzung‹ als einem Modus der Transformation der Antike sowie von Auseinandersetzungen mit Geschichtlichem an sich vgl. Böhme u.a. 2011. Für Georges Lyrik und die Ausprägung seines spezifischen Stils ist dabei die dichterische Übersetzungspraxis auch im engeren sprachlichen Sinne nicht zu unterschätzen.
8 Diese Annahme liegt insgesamt dem an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angesiedelten Habilitationsprojekt der Verfasserin, Ästhetische Interkulturalität in diachroner Perspektive. Zum Innovationspotential zeitübergreifender Kulturdifferenzen in der Literatur, zugrunde.
9 Auch wenn in der Lyrik Georges »[v]on Dionysos« im engeren Sinne »keine Spur« (Braungart 2002: 271) zu finden ist, wird doch eindeutig im nietzscheanischen Sinne eine grundlegende Differenz zwischen deutscher und altgriechischer Kultur ästhetisch fruchtbar gemacht.
10 Zu George und Pindar im engeren Kontext des Hymnischen vgl. Moser 1979.
11 Die Pindar-Rezeption lässt sich m.E. keineswegs einfach unter die Hölderlin-Rezeption subsumieren, wie Christian Oestersandfort unter Bezugnahme auf Norbert v. Hellingraths Entdeckung der Hölderlin’schen Pindar-Fragmente meint (vgl. Oestersandfort 2012: 652). So erfolgt der deutliche Hinweis auf Pindar als Leitstern im Siebenten Ring (1907) vor der Entdeckung der Pindar-Fragmente im November 1909. Es muss berücksichtigt werden, dass Pindar durchaus zum humanistischen Bildungskanon gehörte. Klopstock, Herder und Goethe leiteten die Rezeption Pindars im deutschen Sprachraum ein, der darüber hinaus schon ab dem 16. Jahrhundert im Humanismus als lyrisches Vorbild galt (1515 brachte Zacharias Kallierges die erste gedruckte Pindar-Ausgabe heraus).
12 Zur Unterscheidung von poetischem und existentiellem Kairos vgl. Kaul 2008/2009.
13 »Sein Kairos ist nicht der Einbruch der Weihe in den Unbereiten, sondern ihr Ausbruch in dem immer Bereiten. Ein neuer Raum, nicht ein neuer Inhalt war mit dem Ton gewonnen – Stimme, nicht Worte.« (Gundolf 1921: 62)
14 Vgl. den von Ferdinand Tönnies 1887 geprägten Begriff der ‚kalten Gesellschaft‘ (Tönnies 1926).
15 Als Gegenzeit im zeitgeschichtlichen Sinne wird dabei in Porta Nigra explizit die antike Welt beschworen, allerdings nicht die griechische, sondern die römische, da das Gedicht dem Rom-Enthusiasten Alfred Schuler gewidmet ist.
16 »George […] glaubt […] nicht an ein endgültiges Ziel der Geschichte am Ende der Zeiten im christlichen Sinne, sondern an eine zyklische Wiederkehr verschiedener, in der Zukunft möglicher ›ewen‹.« (Dörr 2007: 333)
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