Dante
Zum Gedenktag: 600 Jahre und 11 Tage nach seinem Tode
Berühmte Männer würden, unbeschadet ihrer Berühmtheit, den Blicken der Nachwelt allzubald schattenhaft verfließen, wenn nicht das Dezimalsystem wäre. Dieses öffnet ihnen alle hundert, zweihundert, usw. Jahre für einen Tag die Türe des Hades und heißt sie, ihre Werke unterm Arm, sich wieder einmal dem Publikum zeigen. Für vierundzwanzig Stunden flammt die Lichtspur des berühmten Mannes am Firmament, alle Gebildeten sagen »Ah!« – dann kehren sie wieder zu ihrer Beschäftigung zurück und der berühmte in seine heuteferne, farb- und tonlose Unsterblichkeit. Es ist nicht mehr die Rede von ihm, bis das Dezimalsystem wieder für einen Tag seinen Schatten an die Oberfläche zitiert.
So erschien jetzt der große Dante, ich glaube, am 14. September, an dem es genau 600 Jahre nach seinem Tode waren (Gott, wie die Zeit vergeht!). Er wurde mit allem Lob und Pomp empfangen, die so ehrwürdigem Gast aus dem Grabe gebührt, die exquisitesten Zeitgenossen führten den Bücklingsreigen, und keine Rotationspresse der Welt warf am 14. September ein Blatt aus, das nicht ein Lorbeerkranz für den großen Epiker gewesen wäre. Er war Held und Thema des Tages; gern hätte auch ich zu diesem Thema ein bescheidenes Marginalchen gesetzt[,] wenn da nicht meine Unfähigkeit, zu lügen, mit dem geistigen Zeremoniell, das jene Feierstunde der Literatur gebot, in Widerstreit geraten wäre[.] Ich erinnere mich also Dantes etwas später als die Kulturwelt an einem Tag, auf den er keinen kalenderischen Anspruch hat, und an dem eine pathosfreie, werktagsmäßige Betrachtung gestattet ist. An einem Datum, das von Geburt oder Tod des berühmten Mannes um eine durch hundert teilbare Zeitspanne entfernt, müßte derlei Betrachtung taktlos und störend empfunden werden, etwa wie ein Hausrock unter lauter Fräcken. Jedenfalls dürfte kaum eine von all’ den vielen schönen und tiefen Dante-Würdigungen, verfaßt zur sechshundertsten Wiederkehr des 14. September 1321, die hier (zur sechshundertsten Wiederkehr des 25. September 1321) versuchte an Redlichkeit übertreffen.
Ich kann nicht ohne Bewunderung und Teilnahme der Kollegen gedenken, die am Dante-Tag ihren Segen über den Dichter zu sprechen hatten. Solcher Tag verpflichtet; und Dante ist keine Kleinigkeit. Vor ihn darf der Literat nur in höchster Gala treten. Wieviel Weihe, wieviel Ergriffenheit – gebunden in edle Diktion – fordert der Feierdienst vor solcher Erscheinung, wieviel priesterliche Haltung, welch’ säkuläres, ja millenäres Pathos, welch’ keusche Fülle von Wort und Wendung, welches Ineinander von Sprach-Prunk und -Askese, welche hochwertigen Vokabeln von schlackenloser Würde und sublimster Saftigkeit! Solches und nicht Geringeres mußte der Schriftsteller, der etwas auf sich hält, wenn er zum 14. September das geschwellte Wort nahm, leisten. Und leistete es. Was dann vor dir lag, Leser, war nichts Geringes, sondern Endergebnis einer anstrengenden Gehirn-Peristaltik, deren Schmerzhaftigkeit noch im fertigen Produkt fühlbar nachzitterte. Hauptmanns Wort, der armen Rose Berndt geltend, drängt sich ins Gemüt: »Was müssen die gelitten haben!«
Am Tage 600 Jahre und 11 Tage nach des großen Mannes Tode schreibt es sich viel leichter über ihn. So unfestliches Datum erfordert nicht verschleiernden Hall von Harfen und Zymbeln, sondern nur den Ton gemeiner Aufrichtigkeit. In diesem legen wir, o Bruder Durchschnittsmensch, namens Abermillionen Brüder das Bekenntnis ab, daß unsere Stellung zum Phänomen Dante eine ziemlich gedrückte und distanzierte ist. Als Dichter, dessen Verse am Rande numeriert sind, von 5 zu 5 Zeilen, war er uns immer ein wenig unheimlich, und in die Ehrfurcht vor seinem gewaltigen Werk mengte sich Mitgefühl mit der italienischen Schuljugend, die an diesem steilen Monumentalbau wohl die schwierigsten grammatikalischen und metrischen Kletterübungen machen muß; für die, mit einem Wort, Dante »obligatorisch« ist. Obzwar wir uns – zumal angesichts der am 14. September manifest gewordenen Tatsache, daß selbst in der geringsten Redaktion ein mit Dante ganz vertrauter Mann sitzt, der ohne divina commedia, vita nuova und rime in der Tasche keinen Schritt vors Haus tun möchte - obzwar wir uns also schämen, müssen wir doch gestehen, daß wir uns nur selten und nur zögernden, bald erlahmenden Schrittes in dem Labyrinth der dreimal dreiunddreißig Gesänge uns ergangen haben. Der Weg wurde (»die Wahrheit, die Wahrheit, sei sie auch Verbrechen!« heißt es in der Zauberflöte) bald zu ermüdend oder zu langweilig.
Natürlich wissen wir trotzdem um die Schönheit der erhabenen Terzinen und unvergeßlich haften die Schreckensbilder aus dem Inferno im Gedächtnis. Vom Purgatorio und dem dritten Reich ist ihm weniger haften geblieben. Vermutlich, weil es dort nicht so dramatisch und wildphantastisch hergeht, wie im Höllentrichter. Wir können auch zitieren: sogar im Originaltext, z.B.: »Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!«, das bekannte Motto zur divina commedia. Es warnt Neugierige, in das dunkle Gedicht einzutreten, da jede Anstrengung, sich bis zu dessen Ausgangspunkt durchzulesen, hoffnungslos scheitern müsse.
Dennoch gibt es Leute, die – tollkühne esoterische Hochtouristen, an stämmiges literarisches Pflichtbewußtsein angeseilt, mit wasserdichter Gelehrsamkeit, unzerreißbarer Geduld und doppelt genagelter Ambition ausgerüstet – das Riesenmassiv der göttlichen Komödie bewältigt haben. Sie wußten, weshalb sie’s taten, denn um solche Probe lektorischer Leistungsfähigkeit kommt keiner herum, der das hohe Zeichen ganz erlesener Belesenheit verdienen will. Welcher Leser mittlerer Qualität aber scheute, eben weil er um die unerschöpfliche Schönheit, Tiefe und Großartigkeit des Dante’schen Werkes weiß, nicht davor zurück, sich durch die Fülle an Köstlichem durchzuringen? Ich kann solche Scheu verstehen. Mir war kein Märchen unheimlicher, als das vom Schlaraffenland. Der Berg von süßem Muß, durch den man sich durchfressen mußte, verdarb mir jeden Appetit, und die Vorstellung eines Tunke-Baches, in dem gebratene Fische schwimmen, war eine richtige Angstvorstellung, Bach wie Fisch verleidend.
Was ist dem Leser, dem Menschen dieser Zeit (zumal jenem deutscher Nation) das Dantewerk? Ein museales Prunkstück von erhabener Gestorbenheit. Ein Wunder artistischer Fügung, vor dem er kalten Herzens seine Andacht verrichtet. Eine Fülle gewaltigster Visionen, deren Starrheit zu lösen die Chemie heutiger Geistigkeit kein Mittel hat. Kein lebender Strang führt von unserer Welt zur Welt, die der Dichter sah, und dem Auge, mit dem er sah, entspricht kein Auge, das heute sieht. Freilich, ich und ihr, meine unwissenden Brüder, die wir niemals das unsterbliche Gedicht in seiner Gänze durchgeackert haben, wissen zu wenig von ihm, als daß wir mitreden dürften, wenn Dante gehuldigt wird. Aber was bestimmt die Magie eines Dichters, seine überzeitliche, mystische Geltung? Nicht das, was wir von ihm wissen, sondern das, was er von uns weiß. Die Bibel weiß von uns, das Drama der Griechen weiß von uns, Shakespeare weiß von uns. Von welcher Stelle der »göttlichen Komödie« fühlst du, Mensch meiner Zeit, dich ins Herz getroffen, erlöst, deine Abgründe aufgerissen, an welcher Stelle werden Deine Fragen gefragt, wird deine Not durchschaut, von welcher fühlst du dich aus deinen Schlupfwinkeln hervorgeholt, aus deinem Wirrsal befreit, welche führt dich durch deine Hölle in deinen Himmel?
Nun, wahrscheinlich gibt es hunderte solcher Dantestellen; Man müßte ihn nur lesen. Aber das werden die Menschen jetzt wahrscheinlich nicht tun bis zum Mai 1965, da werden sie ihn lesen, weil sie zu seinem siebenhundertsten Geburtstage über ihn schreiben müssen.
Wenn die Kulturmenschen ehrlich wären …
Aber dann wären sie keine Kulturmenschen.