Fenster in eine andere Zeit: temporale Alteritätserfahrungen und audiovisuelle Medien
Ein medienkulturtheoretischer Versuch mit Fallanalysen aus Film, Fernsehserie und Videospiel
AbstractThis essay explores the relationship between temporal alterity and audiovisual media, building on case analyses of select works in film, television series and video game. Sketching a notion of audiovisual windows and starting, among others, from Deleuze’s idea of cinematic time crystals, the paper designs a media culture theory of temporal alterity that is split between alienation (aesthetic experience of time) and absorption (anaesthetic experience of time). Central to this venture is an attempt to outline six fundamental forms of temporal otherness in audiovisual media while, on a thematic level, the ultimate quest for the absolute other of human time leads to imaginations of celestial phenomena like astral or angelic time and instruments of intertemporal communication like time portals.
TitleWindows to Another Time: Experiences of Temporal Alterity and Audiovisual Media. A Venture in Media Culture Theory with Case Analyses in Film, Television Series and Video Game
Keywordstemporal otherness; audiovisual windows; aesthetic time; anaesthetic time; media culture theory
Dieser Beitrag möchte der medialen Qualität von Konstruktionen einer anderen Zeit auf den Grund gehen. Dazu scheint ein medienkulturwissenschaftlicher Ansatz vielversprechend (vgl. dazu Schmidt 1991 u.a.), der hier zu einem medienkulturtheoretischen Versuch erweitert werden soll. Gefragt wird nach Zusammenhängen zwischen temporalen Alteritätserfahrungen und audiovisuellen Medien. Theoretische Vorüberlegungen skizzieren zunächst die Begriffe audiovisueller Fenster (1.1) und filmischer Zeitkristalle (1.2), bevor eine Theorie temporaler Alteritätserfahrung formuliert wird, die zwischen Alienation als ästhetischer Zeiterfahrung und Absorption als anästhetischer Zeiterfahrung in der medialen Audiovision gespalten ist (1.3). Einem Streiflicht zur Kopplung von alternativer Raumzeit und Anderwelt im Bezirk der Videospiele (2) folgt ein erster struktureller Systematisierungsversuch, der sechs Grundformen temporaler Alteritätserfahrungen im Kontext audiovisueller Medien erfassen soll (3). Auf der Suche nach dem absolut Anderen menschlicher Zeiterfahrung richtet sich der Blick schließlich auf einige ausgewählte Themenaspekte audiovisueller Imaginationen: einerseits auf so unterschiedliche Himmelserscheinungen wie stellare Zeiten (4.1) und Zeit-Engel (4.2), andererseits auf irdischere Instrumente intertemporaler Kommunikation wie Zeit-Portale (4.3).
1. Theoretische Vorüberlegungen
1.1 Audiovisuelle Fenster
Wenn audiovisuelle Medien im Folgenden als leuchtende und tönende Fenster in eine andere Zeit beschrieben werden, so handelt es sich hierbei um eine ganz spezielle Art ›Fenster‹: Sie sind ausdrücklich nicht als bloß passive Mittler zu denken, sondern als Akteure, die maßgeblich an der Hervorbringung der Phänomene mitwirken, die in ihnen zu sehen und zu hören sind; audiovisuelle Fenster sind Co-Konstrukteure der Realität, die sie wahrnehmbar werden lassen. Eines der wichtigsten Werkzeuge elektronischer Datenverarbeitung der letzten Jahrzehnte trägt den exemplarischen Namen ›Windows‹. Durch die Fenster dieser Rechnerprogramme blickt man nicht nur auf eine resolut andere Zeit, man lauscht auch ihren Klängen: Es sind Bilder und Töne einer virtuellen Welt, die als aktuelle Schemen keinen materiellen Ort jenseits der Computersimulationen besitzen und erst innerhalb der Fensterflächen selbst entstehen.
1.2 Der Film und die Zeitkristalle (Deleuze)
Anschlusspotenziale bietet die Filmtheorie von Gilles Deleuze, deren zweiter Band dem Zeit-Bild gewidmet ist (vgl. Deleuze 1985). Dort spricht Deleuze von kinematografischen Zeitkristallen, die auf kristallinen Bildern beruhen, welche wiederum aus zwei unterschiedlichen, aber ununterscheidbaren Seiten bestehen: einer aktuellen und einer virtuellen (vgl. ebd.: 94f.). Der bekannteste Fall solcher kristallinen Bilder ist der Spiegel: Im Sinne Deleuzes ist das Spiegelbild virtuell als Abbild eines anderen vor dem Spiegel, aktuell als Eigenbild seiner selbst im Spiegel (vgl. ebd.). Ähnliches gilt für den Film: Das kinematografische Zeit-Bild ist immer zugleich Konservierung von Vergangenheit (virtuell) und sich abspielende Gegenwart (aktuell). Im ersten Zustand kristalliner Zeit, d.h. im perfekten Kristall, sieht man laut Deleuze die Zeit selbst, die bereits abgelaufen ist, während sie sich zugleich gespalten hat (vgl. ebd.: 112). Sie folgt nämlich der doppelten Bewegung, einerseits Gegenwarten vorbeiziehen zu lassen, andererseits alle Vergangenheit aufzubewahren (vgl. ebd.: 116).
1.3 Perturbierte Zeiten: temporale Alteritätserfahrungen zwischen Alienation (ästhetischer Zeiterfahrung) und Absorption (anästhetischer Zeiterfahrung)
Geht man von Deleuzes Theorie aus, um nun auf einen eigenen theoretischen Apparat hinzuarbeiten, so würde im Prinzip jedes Kinoerlebnis, im Grunde sogar jede Rezeption audiovisueller Medien eine mehr oder weniger ausgeprägte, mittelbare oder unmittelbare Erfahrung einer anderen Zeit bedeuten. Darin liegt eine erste, ästhetische (d.h. auf einer alternativen Wahrnehmung beruhende) Möglichkeit temporaler Alteritätserfahrungen. Sie kann hier als temporale Alienation bezeichnet werden. Diese wird verstanden als Produktion einer resolut anderen, von der gewöhnlichen Wahrnehmung abweichenden (divergenten) Zeit.
Hinzu kommt eine zweite Möglichkeit. Sie ist mit der ersten untrennbar verbunden, im Gegensatz zu dieser soll sie hier aber nicht als ästhetische, sondern umgekehrt als anästhetische Zeiterfahrung bezeichnet werden. Der Begriff bezieht sich auf die Anästhesie der Bilder und Töne, die vielfach narkotische Wirkung medialer Audiovisionen. Die anästhetische Zeiterfahrung beruht auf dem immersiven Charakter audiovisueller Medienrezeption. Sie ließe sich mit dem vergleichen, was Bauer (2017: 32) als eine Art »vorübergehende Irrealisierung« bestimmt hat: Beim Konsum audiovisueller Medien können Rezipierende temporär die reguläre Zeiterfahrung ihrer gewöhnlichen Umgebung verlassen und in eine andere Zeit eintauchen, in die Zeit des Mediums. Dieser besondere Aspekt einer medienrezeptiven Immersivität soll hier als temporale Absorption bezeichnet werden. Sie beschränkt sich keineswegs allein auf die Nutzung audiovisueller Medien, ist dort aber noch stärker ausgeprägt als etwa bei der Rezeption printmedialer Schriftprodukte, wo unter anderem schon der auditive Sinneskanal fehlt, der zu einer Amplifikation zeitlicher Immersion bei der Rezeption audiovisueller Medien beiträgt.
Die ästhetische und die anästhetische Wendung temporaler Alteritätserfahrungen (temporale Alienation und temporale Absorption) bergen prinzipiell das Potenzial einer Irritation ›normaler‹ Zeiterfahrungen und könnten dadurch in gewissem Maße auch auf die eigene Weltwahrnehmung einwirken. Für Norbert Elias dient Zeit den Menschen grundsätzlich zur Orientierung in einem ebenso unbändigen wie unaufhörlichen Strom sozialer und naturaler Prozesse: »Zeit ist ein Ausdruck dafür, daß Menschen Positionen, Dauer von Intervallen, Tempo der Veränderungen und anderes mehr in diesem Flusse zum Zwecke ihrer eigenen Orientierung zu bestimmen suchen.« (Elias 2017: XLVII) Ist diese ordnende Kraft außer Funktion gesetzt, besteht die Möglichkeit eines zumindest temporären Orientierungsverlusts.
2. Zum Einstieg: willkommen in der ›Warp Zone‹. Von Raumzeit-Röhren und Kreaturen aus der Anderwelt
Zum Einstieg ins Thema kann, rein exemplarisch betrachtet und nur flüchtig angedeutet, ein medienhistorischer Archeget neuerer Videospiele dienen: das 1985 vom japanischen Hersteller Nintendo für die stationäre Konsole NES (Nintendo Entertainment System) veröffentlichte Spiel Super Mario Bros. Darin gibt es eine verborgene Area zwischen den Welten, die sich ›Warp Zone‹ nennt. Eine erste solche ›Warp Zone‹ liegt in der Welt 1-2. Sie enthält drei Röhren, von denen aus Mario entweder direkt in eine der drei nächsten Welten 2, 3 und 4 springen oder über einen speziell auszuführenden Glitch1 in die ›Minuswelt‹ gelangen kann.2
Die ›Warp Zone‹ ermöglicht multiple Sprünge in der Raumzeit. Sind Mario und sein Bruder Luigi als italienischstämmige Klempner ohnehin in mannigfacher Weise mit einer Anderwelt aus dem Untergrund der Stadt verbunden, indem sie durch Röhren reisen und über die Kanalisation mit wunderlichen Wesen und kuriosen Kreaturen in Kontakt geraten, so kann die Zone selbst als Prototyp eines potenzierten Alteritätserlebens in Raum und Zeit verstanden werden, das nicht nur unmittelbar in eine räumlich differente Welt im Videospiel führt, sondern auch Abkürzungen des Spielverlaufs im Sinne raffender Zeitsprünge ermöglicht. Es konfrontiert die Spielenden insofern mit einem anderen Raum und mit einer anderen Zeit.
3 Grundformen temporaler Alteritätserfahrungen
Im Folgenden sollen zum Zweck eines ersten Systematisierungsversuchs sechs Grundformen temporaler Alteritätserfahrungen im weiten Kontext audiovisueller Medien theoretisch entwickelt und durch je ein Fallbeispiel analytisch erschlossen werden. Besondere Berücksichtigung finden dabei die Bereiche Film und Fernsehserie.
3.1 Segmentierte Zeit
Die basalste Form temporaler Alteritätserfahrungen im Horizont audiovisueller Medien ist die segmentierte Zeit. Im Prinzip basiert jeder Film auf einer solchen segmentierten, buchstäblich zerschnittenen Zeit: Im Wortsinn des Segments (von lat. segmentum, zu secare: ›zerschneiden, zerlegen‹) sind Filme de facto Schnitte in der Zeit. Mittels der Aufteilung in kleinere und größere Einheiten (Einstellungen, Szenen, Sequenzen) zergliedert sich filmische Zeit in einzelne Zeitabschnitte, Zeitportionen oder Zeitsegmente, die einerseits isoliert im Zeitgefüge des Films auftauchen, andererseits in Kommunikation mit anderen Zeitsegmenten des Films treten, beispielsweise mit den sie umgebenden, den vorangehenden oder nachfolgenden.3 Zeitbrüche, also die Bruchstellen zwischen den Zeitsegmenten bzw. die jeweiligen Ränder der Zeitinseln im Zeitarchipel des Films können sich an völlig unterschiedlichen Orten befinden: an Sequenzgrenzen oder Szenengrenzen ebenso wie an Einstellungsgrenzen.
Dass segmentierte Zeit ein Grundprinzip audiovisueller Medien im Allgemeinen, im Besonderen des Kinofilms und im Speziellen seiner elementaren bildtechnischen Komposition und Konstitution darstellt, illustriert bereits ein Urdokument des bewegten Bildes: Eadweard Muybridges Fotoserien The Horse in Motion (1878), in denen die Bewegung des Pferdes einerseits in einzelne Bildsegmente zerlegt, diese Bildsegmente andererseits in eine rotierende Reihe eingebracht und so die Bewegung des Pferdes optisch simuliert wird – ein Initialereignis des späteren Kinofilms. Muybridges serielle Fotografien verdeutlichen exemplarisch, was der Kinofilm grundsätzlich ist: Simulation eines kontinuierlichen Zeitablaufs anhand einer Serie vereinzelter Zeitsegmente, d.h. bloßer Einzelbilder.4 Schließlich beruht das ganze Geheimnis der Kinematografie auf einer optischen Täuschung: Ab einer Abspielgeschwindigkeit von circa 16 Bildern pro Sekunde nimmt das menschliche Auge die aneinandergereihten Einzelbilder als fortfließende Bewegungsabläufe wahr und missinterpretiert die segmentierte Zeit damit als eine kontinuierlich dahinströmende Zeit. Um reibungslose Abläufe zu simulieren, liefern die meisten Kinofilme heute 24 Bilder pro Sekunde, in manchen Fällen mehr.
So gesehen, sind Zeiten des Anderen ein strukturelles Konstituens jeder Filmanalyse. Verfahren der Segmentierung reichen vom filmischen Einzelbild über die jeweilige Einstellung bis hin zu größeren Bildzusammenhängen wie Szenen oder ganzen Sequenzen, ja letztlich sogar zum gesamten Film, der selbst nichts anderes darstellt als einen Ausschnitt aus der Zeit einer darüber hinausreichenden Wirklichkeit.5 Als eine erste Grundform temporaler Alteritätserfahrungen in und anhand von audiovisuellen Medien beschränkt sich die segmentierte Zeit weder allein auf die reine filmtechnische Ebene des Schnitts6 noch ausschließlich auf den Medienzusammenhang des Films. Stattdessen berührt sie zugleich die vielfältigsten Formen zeitlicher Serialisierung: Fernsehserien, Textserien (z.B. periodisch publizierte Fortsetzungsromane) oder auch serielle Filmproduktionen (Prequels, Sequels etc.).
Mit der oben dargelegten Segmentierung der Bildebene ist allerdings erst die eine, visuelle Hälfte audiovisueller Medienkonfigurationen beschrieben. Die andere, auditive Hälfte kommt ins Spiel, wenn man die Segmentierungen auf der Tonebene mitberücksichtigt. Diese können mit der Segmentierung der Bildebene sowohl korrespondieren als auch kontrastieren. Letzteres ist beispielsweise der Fall im vorgezogenen Ton bei größeren filmischen Sequenzwechseln, der gerade über die Segmentierung der Bildebene hinwegtäuschen, den Übergang glätten, den Umbruch überdecken soll. Hier dient die Tonarbeit gerade nicht der Verdeutlichung, sondern umgekehrt der Kaschierung visueller Segmentierung, sodass diese vielfach gar nicht ins Bewusstsein dringt. Unabhängig davon, wie die Bild- und die Tonebene im Einzelfall auch miteinander ringen mögen, bleiben beide in ihren elementarsten Grundlagen jedoch gleichermaßen auf Verfahren segmentierter Zeit zurückbezogen.
3.2 Suspendierte Zeit
Einen besonders ausgeprägten Fall segmentierter Zeit bildet die suspendierte Zeit. Zwar ist grundsätzlich jede Segmentierung zugleich auch eine Suspendierung von Zeit: Das suspendierte Zeitfragment entspricht der Lücke zwischen den einzelnen Segmenten, dem temporalen Abgrund, der in der Transition von einem Zeitsegment zum anderen verborgen liegt und übersprungen wird, dem unerzählten Rest im Interstitium insularer Augenblicke als dem Jenseits audiovisueller Darstellung. Doch ist die Leere zwischen den einzelnen Zeitsegmenten im Fall der suspendierten Zeit so gewaltig und so unübersehbar, dass sie einen eigenen Namen verdient. Die suspendierte Zeit ist eine graduelle Steigerung des Nichts, das zwischen den Segmenten überbrückt wird (i.S.v. lat. suspendere: ›aufhängen‹, ›in der Schwebe lassen‹).
Einen der wohl bekanntesten und der mit Abstand größten Sprünge zwischen zwei Zeitsegmenten in der Filmgeschichte bietet Stanley Kubricks Weltraumepos 2001: A Space Odyssey (GB/USA 1968).7 Die Odyssey wird gleichzeitig zu einer Oddyssey: zu einer Seltsamfahrt, einer Erkundung des Absonderlichen, einer Etüde in Eigenartigkeiten. Sie beginnt mit dem Grauen des Menschen (»The Dawn of Man«). In prähistorischer Zeit bevölkern affenähnliche Vorfahren des menschlichen Geschlechts die wüsten Ebenen der Erde und fristen dort ein karges Dasein, bis sie schließlich unter den Auspizien des kosmischen Monolithen in einem Knochen das Werkzeug für sich entdecken, auf dem die gesamte weitere Menschheitsgeschichte beruht: die Mordwaffe, die den Menschen erst zum Menschen macht.
Nachdem der andere erschlagen ist, schleudert der Menschenaffe den Knochen in die Höhe. Es folgt einer der empörendsten und berühmtesten Schnitte der Kinogeschichte: Auf eine Großaufnahme des in der Luft fliegenden Knochens folgt unvermittelt das analoge, morphologisch und semantisch mit dem Knochen assoziierte Bild eines im luftleeren Weltall schwebenden Raumschiffs. Auch dieser Schnitt ist ein Schnitt in der Zeit, und zwar ein gewaltiger: Übersprungen wird zwischen dem einen Bild und dem anderen ein Zeitabgrund der Jahrmillionen, suspendiert wird die gesamte Evolutionsgeschichte von der dunkelsten Vorzeit des Menschen zur technologisch realisierten Reise durch die Weiten des Weltraums. Kubricks Schnitt in der Zeit demonstriert zudem noch etwas anderes: Die Entdeckung des Werkzeugs bzw. der Waffe durch den Menschenaffen bedeutet zugleich die Entdeckung des Mediums. Aller medientechnologischer Fortschritt geht auf diesen ersten, uranfänglichen Mord zurück.
3.3 Permutierte Zeit
Auf dem primären Prinzip der Segmentierung baut neben der suspendierten Zeit gleichfalls eine dritte Grundform temporaler Perturbation auf: die permutierte Zeit. Wo die ersten beiden die Kontinuität des Zeitverlaufs angreifen, da zielt temporale Permutation auf die Reihenfolge einzelner Zeitsegmente: Sie de- und reorganisiert deren Chronologie, indem sie Platzwechsel vornimmt, Positionen vertauscht und insgesamt zwischen der Zeit der Ereignisse und der Zeit der Darstellung statt chronologischer Anordnung eine chronologische Um- oder Unordnung schafft. Temporale Permutation bedeutet kurz, dass die Geschehnisse in einer anderen Reihenfolge dargestellt werden als derjenigen, in der sie sich ereignet haben sollen.
Eine leichte Form von permutierter Zeit verkörpern im Bereich der audiovisuellen Medien bereits die klassischen kinematografischen Techniken der Rückblende (Flashback) und der Vorausblende (Flashforward) als Realisierungsmöglichkeiten einer retrospektiven und einer prospektiven Zeit im Film: Sie bewirken, dass ein Geschehenssegment an einem anderen (entweder späteren oder früheren) Punkt in der zeitlichen Abfolge dargestellt wird als demjenigen, an dem es sich ereignet hat. Eine andere Form von permutierter Zeit liefert das Prequel im Sinne einer Filmfortsetzung, die im Unterschied zum Sequel nicht nach, sondern vor den Ereignissen des früheren Films spielt, indem sie im Nachhinein dessen Vorgeschichte entfaltet. Ähnlich permutierte Fortsetzungsverfahren zeigen sich auch in der Fernsehserie.
Ein schönes Beispiel bietet Noah Hawleys ›Seasonal Anthology‹-Serie Fargo (bislang 41 Episoden in vier Staffeln, USA 2014-2020). Sie basiert auf dem gleichnamigen Film von Joel und Ethan Coen (GB/USA 1996), die auch als ausführende Produzenten an der Serie beteiligt sind. Hier kommt es nicht allein zu einem konstitutiven Kippspiel zwischen ikonischen und metaphorischen Bildern als Ort des Umschlags von einer nichtsprachlichen zu einer sprachlichen Gewalt (dazu Küpper 2020), hier manifestieren sich darüber hinaus mannigfaltige temporale Permutationen. Bereits die Chronologie der jeweiligen Staffeln lässt eine permutierte Zeitstruktur erkennen: Staffel 1 (2014) spielt im Jahr 2006, Staffel 2 (2015) im Jahr 1979, Staffel 3 (2017) um den Jahreswechsel 2010-2011, Staffel 4 (2020) in den 1950er Jahren. Zugleich überdauert und überbrückt (suspendiert) die Zeit die rezeptive, wie festgefrorene Leere zwischen dem Film und der Serie, die ihrerseits temporal verkettet sind: Im Film von 1996 wird ein Schatz im Schnee verborgen, der in der ersten Serienstaffel von 2014 schließlich gehoben und geborgen wird.
Auch innerhalb einzelner Staffeln und Episoden gerät die Chronologie der seriellen Ereignisse jedoch in Unordnung. In S2E7 werden mehrere Splitscreens eingesetzt,8 die zum Teil zeitversetzte Geschehensabläufe zeigen, während Mike Milligan (Bokeem Woodbine) einerseits noch betont, die Reihenfolge (der Morde) spiele keine Rolle, andererseits aber meint, die Vergangenheit könne ebenso wenig die Zukunft (der großen Unternehmen) sein wie die Zukunft die Vergangenheit. Die darauffolgende Episode S2E8 spielt teils zeitgleich mit, teils kurz vor den Ereignissen der vorangehenden Episode, womit sie erst die Vorgeschichte und die Deutungsgrundlage des in S2E7 geschilderten Geschehens nachliefert und insofern einen idealtypischen Fall permutierter Zeit in der Fernsehserie darstellt.
3.4 Akzelerierte und deakzelerierte Zeit
Eine vierte Grundform temporaler Perturbationen im Bezirk audiovisueller Medien liegt in den technischen Möglichkeiten einer akzelerierten (beschleunigten) Zeit sowie ihres Gegenstücks, einer deakzelerierten (verlangsamten) Zeit. Wo segmentierte sowie suspendierte Zeit die temporale Kontinuität erschüttern und permutierte Zeit die Chronologie zersetzt, da bedeuten Vorkommnisse akzelerierter oder deakzelerierter Zeit eine Perturbation der Geschwindigkeit des gewöhnlichen Zeitverlaufs. Im filmtechnischen Bereich werden Formen akzelerierter und deakzelerierter Zeit durch zwei charakteristische kinematografische Verfahren realisierbar: den Zeitraffer (Fast Motion) und die Zeitlupe (Slow Motion). Während die Zeitlupe es den Rezipierenden ermöglicht, Bewegungen in einer Detailliertheit zu beobachten, die das Tempo des normalen Zeitverlaufs nicht erlauben würde, veranschaulicht der Zeitraffer gewissermaßen den Flug der Zeit selbst: den rasanten Ablauf der Augenblicke, das Verstreichen und Verschwinden uneinholbarer Momente flüchtiger Vergangenheit und Gegenwart hin zu den Horizonten einer rasenden Zukunft. Sowohl der Zeitraffer als auch die Zeitlupe illustrieren und inkorporieren auf ihre je eigene Weise den Wandel der Zeit selbst.
In Bryan Singers Film X-Men: Days of Future Past (dt. X-Men: Zukunft ist Vergangenheit; USA/GB/Kanada 2014) aus dem Marvel-Multiversum wird auf vielen Ebenen mit der Zeit gespielt. Während Blink (Bingbing Fan) temporäre Teleportationsportale öffnet, die einem gigantischen, sich kurzzeitig auftuenden magischen Auge oder Fenster in einen anderen Raum gleichen, durch das Materie, Personen oder Objekte an einen anderen Ort in der Raumzeit gelangen können – eine Art mobiles teleportatives Pendant zur ›Warp Zone‹ aus dem Videospiel –, vermag es Kitty Pryde (Elliot Page) dank ihrer mutantischen Gabe, das Bewusstsein von Logan/Wolverine (Hugh Jackman) ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit zurückzuversetzen, nämlich ins Jahr 1973, um dort den Start des Sentinel-Programms zu verhindern und damit einen ausweglosen Krieg gegen einen übermächtigen Feind zu beenden, bevor er überhaupt begonnen hat.
Zu einer Kollision der Geschwindigkeiten zwischen akzelerierter und deakzelerierter Zeit kommt es schließlich durch den Mutanten Peter/Quicksilver (Evan Peters). Er ist kein Teleporter, sondern schlicht unfassbar schnell. Peter spielt mit sich selbst Tischtennis und kann sich in einer Geschwindigkeit fortbewegen, die für das Auge kaum noch wahrnehmbar ist. Seine Interventionen werden im Film überwiegend anhand extremer Zeitraffer-Effekte visualisiert und als bloße Bewegungsspuren im Sichtfeld inszeniert. De facto lebt Peter in einer völlig anderen Welt als alle übrigen Personen: Er ist allein in seinem eigenen ultraschnellen Universum – zumindest dann, wenn er seinem individuellen Tempo folgt. Eine knapp anderthalbminütige Szene nach rund einem Drittel der Filmlaufzeit exemplifiziert die ungeheure Kluft zwischen den beiden temporalen Lebenswelten und kehrt die Wahrnehmung dabei bezeichnenderweise um: Zu den melancholischen Klängen von Jim Croces Song Time in a Bottle (1972) über das Vergehen und die Unaufhaltsamkeit der Zeit, den der Junge über seine Kopfhörer rezipiert, folgen wir diesmal dem Tempo Peters, d.h. sämtliche anderen Figuren und Gegenstände bewegen sich für die Filmzuschauenden in extremer Zeitlupe, während sich Peter in einer für ihn und nun auch für uns normalen Geschwindigkeit fortbewegt.
Bei aller situativen Komik lassen die Figur Peter und die ihn umringenden Szenen zugleich etwas von der Einsamkeit eines Jungen erahnen, der aufgrund seiner singulären Fähigkeit in seinem ganz eigenen Kosmos lebt: einem Sein ultrahoher Geschwindigkeit, umgeben von einer Welt unendlicher Langsamkeit. An der Zeitthematik entfaltet sich damit auch ein geheimes Grundthema der Filmreihe um die mutantischen X-Men: Es ist die profunde Einsamkeit einer außergewöhnlichen Begabung.9 Daneben lassen sich die verschiedenen Zeitebenen des Films in technischer Hinsicht selbst bis in die Kameraarbeit hinein verfolgen (als ›Director of Photography‹ agiert Newton Thomas Sigel): Die im Film eingesetzten Kameras reichen von einer historischen Bolex bis hin zu der digitalen Hochgeschwindigkeitskamera Phantom v642 Broadcast, die bis zu 5850 Bilder pro Sekunde aufzeichnen kann und die hier für die Ultra-Slow Motion verwendet wurde. Jede Sekunde lässt sich mit ihrer Hilfe in Tausende technische Teile zerlegen.
3.5 Revertierte Zeit
Eine fünfte Grundform ist die revertierte Zeit. Darunter ist eine Richtungsumkehr des Zeitverlaufs zu verstehen. Ein prägnantes Beispiel liefert Christopher Nolans Film Memento (USA 2000). Hier wird der Zeitpfeil in mehr als einer Hinsicht umgekehrt. Der größere Teil des Filmmaterials wird in einer Reihe von Farb-Sequenzen präsentiert, die jeweils wenige Minuten dauern und in umgekehrter Chronologie aufeinanderfolgen, also sequenzweise rückwärts in der Zeit verlaufen. Unterbrochen werden diese Farb-Sequenzen von einer Serie kürzerer Schwarz-Weiß-Sequenzen, die deren unmittelbare Vorgeschichte erzählen, d.h. in der Zeit insgesamt vor den Farb-Sequenzen liegen, aber im Gegensatz zu diesen in gewöhnlicher Chronologie aufeinanderfolgen. Gegen Ende des Films kehren sich indessen nicht nur die Längenverhältnisse zwischen Farb- und Schwarz-Weiß-Sequenzen vorübergehend um. Zum Schluss nähern sich auch die beiden Erzählstränge einander in temporaler Hinsicht an, bis die letzte, längere Schwarz-Weiß-Sequenz schließlich nahtlos in die letzte Farb-Sequenz übergeht, sodass die beiden Zeitstränge zur Deckung kommen und der Zeitpfeil quasi umgebogen wird.
Bei den Farb-Sequenzen aus Memento handelt es sich um den besonderen Fall einer sequenzierten revertierten Zeit im Film. Hier überträgt sich der klinische Gedächtnisverlust, an dem der Protagonist Leonard (Guy Pearce) leidet, gleichermaßen auf die Rezipierenden des Films: Angesichts der chronologisch rückläufigen Zeitsegmente, die just so lange dauern wie Leonards Kurzzeitgedächtnis anhält, fehlt den Zuschauenden wie dem Protagonisten stets das erforderliche Vorwissen einer neuen Sequenz.10 Ein Zeitexperiment im Zeitexperiment vollführt dabei die erste, farbige Sequenz des Films, die vollständig rückwärts abgespielt wird: Der Mord an Teddy (Joe Pantoliano) und dessen Aufnahme auf Polaroid-Foto laufen in umgekehrter Richtung vor unseren Augen ab. Die Fotografie wird mit der Zeit eben nicht deutlicher oder satter, sondern verblasst immer mehr und stellt damit ein bildmediales Äquivalent der rasch verblassenden Erinnerungen des Protagonisten wie der Rezipierenden des Films dar.
Lange vor den Milliardenerfolgen späterer Filme Nolans, die auf ihre Weise Aspekte von Temporalität thematisieren, liefert sein Memento ein Experiment mit der Kognition von Zeit sowie mit den Nöten, in die der Mensch ohne die gewohnte Zeitwahrnehmung gerät. Genau wie der Protagonist suchen die Zuschauenden nach Orientierungspunkten in der Zeit. Um nicht im temporalen Strom zu versinken, wird nach Rettungsankern wie den Artefakten von Schrift und Bild gegriffen: etwa Leonards beschrifteten Polaroid-Fotografien oder seinem über und über mit Hinweisen und Spuren tätowierten Körper. Der beschriftete Körper des Protagonisten fungiert als eine Art exteriorisiertes Gedächtnis. Eines seiner unzähligen Tattoos lautet: »Memory is Treacherous«. Genau das führt der Film allerdings auf vielen Ebenen vor. Er handelt vom Trug der Erinnerungen wie der Bilder, von der Unzuverlässigkeit der Erzählungen wie der Menschen, vom Fehl der Fiktionen wie der von Leonard viel beschworenen »Fakten«. Am Ende dieses Films, der zugleich sein Anfang ist, sind der Täter und das Ich, von dessen Suche die Geschichte handelt, unterdessen längst schon ein anderer geworden.
3.6 Repetierte Zeit
Eine sechste Grundform ist die repetierte Zeit. Sie betrifft weder die Kontinuität (wie die ersten beiden) noch die Reihenfolge (wie die dritte) noch die Geschwindigkeit (wie die vierte) noch die Richtung (wie die fünfte), sondern die Linearität als unikale Qualität der Zeit. Anhand von Wiederholung wird die Zeitlinie zum Zeitkreis, zur Zeitschleife oder zur Zeitspirale. Als exemplarisch für die repetierte Zeit kann Doug Limans Film Edge of Tomorrow (dt. mit dem Untertitel Live. Die. Repeat; USA/Kanada 2014) angesehen werden. Es handelt sich um eine Verfilmung von Hiroshi Sakurazakas Roman All You Need is Kill (Tokio 2004) und nicht etwa um die Adaption eines Videospiels. An ein solches erinnern jedoch weite Teile der Handlung, Armaturen und Figuren ebenso wie die martialische Ästhetik und die Zeitstruktur des Films.
In einer nicht allzu fernen Zukunft landet ein Alien-Organismus mit unzähligen Kriegern (»Mimics«) auf der Erde und vereint die Nationen der Welt zum Kampf in einer globalen Gemeinschaft der »United Defense Forces«. Major William Cage (Tom Cruise) ist aufgrund einer Kontamination mit Alien-Blut dazu verdammt, denselben Tag in einem aussichtslosen Gefecht gegen die Spezies immer und immer wieder neu zu durchleben: Nach seinem Tod in der Schlacht erwacht er stets an derselben Stelle wieder, bis er schließlich auf Sergeant Rita Vrataski (Emily Blunt) stößt, die nach ihrem Sieg in Frankreich »The Angel of Verdun« genannt wird (ein erster Zeit-Engel also) und inzwischen als »Full Metal Bitch« berühmt ist. Gemeinsam mit ihr gelingt es Cage zuletzt, den Feind allen Fährnissen und Unbilden zum Trotz zu besiegen.
Markant ist nicht nur die hierarchische, nach kolonialem Muster aufgebaute Struktur des fremden Organismus, der aus einem Heer von Drohnenkämpfern, mehreren Häuptern (»Alpha«-Kriegern) und einem neuralen Kontrollzentrum (»Omega«) besteht, dessen Lokalisierung und Zerstörung erst den Sieg bedeuten. Frappant ist auch das Eindringen Major Cages in die interne Logik und das Zeitbewusstsein der Alien-Technologie, nachdem er mit dem fremden Blut in Berührung gekommen ist: Genau wie bei einem »Alpha«-Krieger stellt sich in seinem Fall die Zeit zurück, sooft er in der Schlacht stirbt. Darin manifestiert sich einerseits eine strukturelle Analogie zur Videospielästhetik mit ihrem Design iterativen Sterbens und Wiedererwachens als unablässigen Auferstehens im Zeichen eines repetierten Neuversuchs: Die Repetition überträgt sich schließlich in fast schon provokanter Weise auf die ästhetische Struktur des Films selbst, sodass die Erfahrung repetierter Zeit des Helden zugleich zu einer Erfahrung der Rezipierenden vor der Kinoleinwand bzw. vor dem Bildschirm wird. Andererseits findet Cage sich, seinem Namen ganz entsprechend (sprichwörtlich wie in einem Käfig), zugleich wenigstens temporär in der Zeitschleife einer Alien-Technologie gefangen, die ihn in einem allzu buchstäblichen Sinn in eine Zeit des Anderen hineinsaugt, absorbiert.
4. Imaginationen anderer Zeiten
In Ergänzung zu den hier entwickelten Grundformen temporaler Alteritätserfahrungen seien im Folgenden zumindest einige ausgewählte Grundthemen audiovisueller Imaginationen anderer Zeiten skizziert. Zeitreisefiktionen in audiovisuellen Medien sind so zahlreich und so ubiquitär, dass jede Aufzählung beliebig scheint. Sie umfassen, um einmal allein im Bereich der neueren Science-Fiction zu bleiben, Elemente aus so unterschiedlichen Filmen wie James Camerons Terminator (GB/USA 1984) samt Fortsetzungen, Robert Zemeckis’ Filmreihe Back to the Future I-III (USA 1985, 1989, 1990), Peter Hyams’ Timecop (USA/Japan 1994), Simon Wells’ The Time Machine (USA/VAE 2002) nach dem gleichnamigen Roman von H.G. Wells (Erstdr. London 1895), Rian Johnsons düsterem Looper (USA/China 2012) etc. Zu denken ist ferner an jüngere Fernsehserien wie Simon Barrys Continuum (42 Episoden in vier Staffeln, Kanada 2012-2015), Brad Wrights Travelers (34 Episoden in drei Staffeln, Kanada/USA 2016-2018), Eric Kripkes/Shawn Ryans Timeless (27 Episoden in zwei Staffeln, USA 2016-2018) u.v.m. Angesichts solcher Fülle und Vielgestaltigkeit kann die folgende Auswahl an Themen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Außerdem gestehen die ›Imaginationen‹ (als Verwandte der ›Imago‹) schon vom Begriff her eine gewisse Präponderanz der Bilder gegenüber den Tönen ein. Dennoch sollen dabei auch klangliche Aspekte angedeutet werden.
4.1 Vorspiel am Firmament: zum Sternenhimmel als Fenster in eine andere Zeit
Zunächst lässt sich der Blick zum Himmel richten. Die künstlerische Imagination menschlicher Weltraumreisen mag wie ein historisch jüngeres Phänomen anmuten. Sie ist es nicht. Schon der Dichter aus Dantes Göttlicher Komödie (frühes 14. Jahrhundert) schaut im 22. Gesang des Paradieses, als er beinahe bis an das Kristallgewölbe – den neunten Himmel von Gottes Universum – emporgehoben ist, noch einmal aus solch herrlicher Höhe des Alls zurück auf die ferne Erdenkugel, klein und kläglich: »Den Blick kehrt ich dann ab vom Sterngebild / Und sah durch sieben Sphären diesen Globen: / Ein Lächeln zwang mir ab sein elend Bild« (Dante Alighieri 2010: 409). Den »Raumfahrtcharakter der Dichterreise durch die luminose Sphärenwelt« betont bereits Sloterdijk (1999: 482). Hinzu kommt eine temporale Komponente. Sie äußert sich nicht allein in der von irdischen Raumreisenden als absolut anders erfahrenen Zeit in den Weiten des Weltalls, sondern auch schon in der Umkehrkonstellation: im viel alltäglicheren Blick des Menschen von der heimatlichen Erde aus ins All.
Jeder Blick in den Himmel öffnet ein Fenster in eine andere Zeit. Das Schauspiel der Sterne erreicht die Betrachtenden auf der Erde nicht allein mit einer zeitlichen Verzögerung (zugleich Inbild einer verzögerten medialen Übertragung), die so gewaltig ist, dass manche der stellaren Gebilde längst verschwunden sind, während wir sie beobachten. Zudem präsentiert jeder Blick in den Sternenhimmel einen Ausschnitt aus einer optisch vermittelten Wirklichkeit, die so nie existiert hat: Die Sterne, die von der Erde aus betrachtet nebeneinander zu bestehen scheinen, stammen in Wirklichkeit aus völlig unterschiedlichen Räumen und Zeiten.
Claude Lévi-Strauss vergleicht die Anthropologie mit der frühen Astronomie, was ihre Distanz vom eigenen Beobachtungsgegenstand betrifft: Unter dem Namen von Konstellationen unterschieden unsere Vorfahren ihm zufolge Gruppen am Nachthimmel, die jeder physischen Realität entbehren und die allesamt aus Sternen gebildet sind, die das Auge auf derselben Ebene wahrnimmt, obwohl sie sich in fantastisch ungleichen Entfernungen zur Erde befinden (vgl. Lévi-Strauss 2011: 18). Yoko Tawada fügt dem »Sternenhimmel, der in unseren Augen wie eine homogene Fläche aussieht«, die Dimension einer divergenten Zeit hinzu: »In Wirklichkeit stammt jeder Stern aus einer anderen Zeit. Wie ist der dunkle Raum zwischen zwei Sternen, den unser Blick mühelos überquert, zu verstehen?« (Tawada 2017: 136) Auf einer ganz anderen Ebene mag dieser »dunkle Raum zwischen zwei Sternen« dem Abgrund entsprechen, der in audiovisuellen Medien wie Filmen zwischen zwei Bildern klafft und den der menschliche Blick so mühelos überschreitet, dass er ihn in den rasenden Bilderfolgen übersieht.
Der Sternenhimmel kann als das ultimative Andere menschlicher Zeit- und Raumwahrnehmung begriffen werden. Zugleich ist er als eine Zeichenordnung lesbar: »Als mythische Grenzfläche zwischen der Immanenz und einer jenseitigen Sphäre trägt der Himmel traditionell nicht nur die Gravur der Sternenschrift, sondern ist selbst Zeichen des ganz Anderen, das ihn beschriftet« (Hunfeld 2004: 3). Dass Weltraumreisen gerade die filmischen Imaginationen seit ihren frühen Tagen beschäftigt haben, belegt bereits Georges Méliès’ Voyage à travers l’impossible (Frankreich 1904). Bei den hier präsentierten Reisen durch Raum und Zeit lässt sich zuletzt ebenso grundlegend an das Konzept einer diachronen Interkulturalität anknüpfen (vgl. Wiegmann 2018) wie eine eigene Vorarbeit weiterführen (vgl. Küpper 2018).
4.2 Zeit-Engel
In jüngerer Zeit ist in den Geisteswissenschaften verschiedentlich eine Gestalt beleuchtet worden, die mit zu den ältesten Imaginationen der Menschheit zählt, bis dato aber nur selten wissenschaftlicher Aufmerksamkeit für würdig befunden wurde: die Gestalt des Engels.
Michel Serres legt eine Assoziation der Engel als einstigen Boten des Universums (griech. ággelos: ›Bote‹) mit den globalen Kommunikationsnetzwerken unserer Tage nahe und unterscheidet dabei drei zeitlich aufeinanderfolgende Klassen von Arbeit: erstens die herkulische oder atlantische, die mit soliden Formen arbeitet; zweitens die prometheische, die sich auf Transformationen oder Genesen durch die Kraft des Feuers verlegt; drittens schließlich die hermetische oder angelische, die sich auf das komplexe und volatile, vermittels der Botennetze gewobene informationelle Universum bezieht, das die Orte zum Globalen verbindet, von technischen Wundern und künstlicher Intelligenz kündet und Transformation durch Information ersetzt hat, sodass wir Serres zufolge heute arbeiten wie die Engel – in relationalen Netzwerken der Kommunikation, Interferenz, Passagen, Übersetzung, Distribution, Abfangung, Parasitage, Transmission und Boten (vgl. Serres 2009: 39-50). Giorgio Agamben vergleicht die Legionen der Engel aus den drei großen monotheistischen Weltreligionen mit den Streitkräften einer machtpolitischen Bürokratie und verweist auf tief wurzelnde Korrespondenzen zwischen den Apparaturen göttlicher und weltlicher Macht, den Hierarchien der angelischen und administrativen Heerscharen, den wohlgehüteten Geheimnissen von Mysterien und Ministerien (vgl. Agamben 2007). Sybille Krämer versteht die Engellehre aus den monotheistischen Religionen »als eine Medientheorie ›avant la lettre‹« (Krämer 2008: 122-138, hier 137) und betrachtet Engel als die »ortlosen Mittler zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen« (ebd.: 122), die »durch ihre Übermittlungstätigkeiten einen intermediären Raum« herstellen (ebd.: 123). Eingeschrieben in die »Textur des grenzüberschreitenden Wegenetzes, das in den Botengängen der Engel Gestalt gewinnt«, sind sie ihr zufolge zugleich »heimat- und ortlos.« (Ebd.: 124) »Engel sind die Spur Gottes in der menschlichen Wirklichkeit. Sie besiedeln eine Zwischenwelt« (ebd.: 126). »Diese Ortlosigkeit und die Fähigkeit zum Entzug prädestinieren Engel dazu, Grenzgänger zu sein, die zwischen Positionen vermitteln können, ohne selbst Heimat zu nehmen oder zu haben.« (Ebd.: 127) Als Hybridwesen werden Engelsboten so zu einer wörtlichen Verkörperung des Mediums, »hält der Engel also buchstäblich die Mitte, er ist Mittler, soweit er ein Mittelglied ist.« (Ebd.: 131; Hervorh. i.O.)
Bisher wurde jedoch eine Dimension angelischer Imaginationen ausgespart: die Dimension der Zeit. Gewiss erinnert Georges Poulet unter Verweis auf Thomas von Aquin an die angelische Zeit des christlichen Mittelalters: Nur das Denken des Engels konnte ihm zufolge von Idee zu Idee und von Augenblick zu Augenblick fortschreiten ohne eine zeitliche Mitte, die diese verband oder trug; einer solchen – der späteren kartesischen Zeit sonderbar ähnelnden – Diskontinuität der angelischen Zeit stand die Kontinuität der menschlichen Zeit gegenüber (vgl. Poulet 1976: 9). Derweil harrt die Verbindung von temporalen und angelischen Imaginationen allerdings in vielerlei Hinsicht noch weiterer Erkundung.
Schon im Lukasevangelium (seinerseits eine angelische ›gute Botschaft‹, griech. euaggélion) erscheint der Erzengel Gabriel zugleich als Verkünder der Zukunft und des göttlichen Gebots, besteht Gabriels Botschaft an die Jungfrau Maria doch gleichermaßen aus Verbalisierungen der futurischen Verheißung (»wirst«) und des Auftrags (»sollst«): »Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben.« (Lk 1,31; Hervorh. i.O.) Engel sind auch Agenten der Zeit, Emissäre der Zukunft. Gegenüber dem Menschen repräsentieren sie eine resolut andere Zeit. Im Folgenden soll auf eine spezifische Gestalt aus der Vorstellungsregion der Engel eingegangen werden, die gerade in audiovisuellen Medien innerhalb der letzten Jahre vielfach begegnet: die Gestalt der Zeit-Engel. Aus dem Bereich neuerer Fernsehserienproduktionen seien zwei exemplarische Fälle solcher Zeit-Engel untersucht.
Das erste Beispiel stammt aus dem derzeit jüngsten Star Trek-Ableger: Bryan Fullers und Alex Kurtzmans Star Trek: Discovery (bislang 42 Episoden in drei Staffeln, USA 2017-2021). Der imaginative Entwurf der Serie umfasst nicht allein multiple Begegnungen mit fremden Welten, Kulturen, Lebensformen, sondern auch mit voneinander abweichenden Ich-Versionen: Der Klingone Voq wird in den menschlichen Körper von Ash Tyler (beide Shazad Latif) umgewandelt und damit eine in mehrfacher Hinsicht zerrissene Interspezies geschaffen; der Kelpianer Saru (Doug Jones) überlebt das Vahar’ai, verliert seine Angst-Ganglien und erlangt so eine völlig neue Persönlichkeit; im terranischen Imperium des parallelen Spiegeluniversums werden die Besatzungsmitglieder der Discovery mit alternativen Ichs konfrontiert, die Varianten der eigenen Identität vorführen; im Holoprogramm auf dem Dilithiumplaneten im Verubin-Nebel werden die Crewmitglieder als eine je andere Spezies visualisiert etc.
Sprünge durch den Raum werden durch den Sporenantrieb möglich, denn mit seiner Hilfe kann die Discovery quer durch das kosmische Myzeliennetzwerk springen, statt unter Warp zu fliegen. Daneben kommt es auch zu mannigfaltigen Manipulationen der physikalischen Zeit. S1E7 (»Magic to Make the Sanest Man Go Mad«) liefert ein Paradebeispiel repetierter Zeit: Der menschliche Ganove Harry Mudd (Rainn Wilson) gelangt im Bauch eines Weltraumwals an Bord der Discovery und lässt die Zeit genauso wie den Ablauf der Episode selbst anhand eines Zeitkristalls in Endlosschleifen laufen. In S3 sind die Xeno-Anthropologin Michael Burnham (Sonequa Martin-Green) und die Crew der Discovery durch ein Wurmloch um 930 Jahre in die Zukunft gereist. Die wichtigste Figur in dem Zusammenhang aber ist »Der Rote Engel«, nach dem mit S2E10 (»The Red Angel«) auch eine eigene Episode benannt ist.
»Der Rote Engel« tritt zunächst in Gestalt von Michaels Mutter, Dr. Gabrielle Burnham (Sonja Sohn), auf. Sie hat einen Raumanzug konstruiert, mit dem sie durch die Zeit reisen kann und als technoider roter Engel am Himmel erscheint. Später (in S2E14, »Such Sweet Sorrow: Part 2«) benutzt Michael selbst den Anzug, um nun erst als der neue »Rote Engel« die Signale quer durch Raum und Zeit zu setzen, denen die Discovery bis hierhin gefolgt ist, was einer temporalen Schleife gleichkommt. »Der Rote Engel« aus Star Trek: Discovery ist eine zeitreisende Gestalt, die an den Himmeln des Universums erscheint und dort Zeichen aus der Zukunft anbringt, um den Lebenden Botschaften zu senden und mit ihnen durch die Zeit hindurch zu kommunizieren. Gewollt oder ungewollt schreibt sich dieser imaginative Entwurf in eine angelologische Struktur ein: Es ist eine neue Variante des angelischen Typs, wie er aus allen drei monotheistischen Weltreligionen bekannt ist. Nicht von ungefähr gemahnen die Vornamen von Mutter Gabrielle und Tochter Michael Burnham an die Erzengel Gabriel und Michael, die hier in weibliche Figuren verwandelt sind. War Ersterer Gottes großer Verkünder der heilsgeschichtlichen Botschaft, so wird Letzterer zum finalen Bezwinger des apokalyptischen Widersachers, durch dessen Hand der Teufel laut Johannesoffenbarung »auf die Erde gestürzt« wird, »und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.« (Joh 12,9)
Eine deutlich dunklere Variantere dieses Typs liefert ein anderes Beispiel: Travis Ficketts und Terry Matalas’ Fernsehserie 12 Monkeys (47 Episoden in vier Staffeln, USA 2015-2018). Aufbauend auf dem gleichnamigen Film von Terry Gilliam (USA 1995), handelt die Serie von den verzweifelten Versuchen, eine letale Bedrohung globalen Ausmaßes mittels Zeitreisen zu bannen. Im Vergleich zum Film verschiebt sich die Natur der Bedrohung dabei unaufhörlich weiter: von der weltweiten Pandemie eines tödlichen Virus in S1 über die temporalen Stürme in S2 zum Leben und Sterben des Zeugen in S3 bis hin zur Existenz des neuen Zeugen und des roten Waldes in S4. Die zeitlichen Grundfiguren der Serie sind Zyklen, Kreise, Schleifen. Verschiedene Bilder stehen dafür ein: Die Zahl der Affen entspricht dem Ziffernkranz der Uhr, die Katze jagt ihrem eigenen Schwanz nach, die Schlange verschlingt sich selbst. James Cole (Aaron Stanford), Dr. Cassandra Railly (Amanda Schull) und Konsorten schaffen mit ihren Zeitreisen überhaupt erst die Probleme, die sie mit deren Hilfe zu lösen versuchen. Sie produzieren mit ihren Antworten allererst die Fragen.
Das Handlungsgeflecht von 12 Monkeys wimmelt nicht allein von unzähligen selbst- sowie zeitreflexiven Verschlingungen, die Serie steckt zugleich voller medienrekursiver Schleifen und Bezüge. Nicht zufällig erinnert die Strahlungslinse der Zeitreisevorrichtung optisch an eine Kombination aus Filmprojektor und Kameraobjektiv, der dazugehörige Sitz an eine Mixtur aus Zahnarztstuhl und Kinosessel. Nicht zufällig auch wird der »Splinter«-Vorgang (so heißt das Initiieren des Zeitreiseprotokolls) mit filmtechnischem Vokabular als »Sequenz« bezeichnet. Was hier entsteht, ist ein Zitatenkabinett der Kulturproduktion, das sich selbst quer durch die Zeit bewegt: von Edgar Allan Poe bis Quentin Tarantino und von H.G. Wells bis P!nk. Jennifer Goines (Emily Hampshire) gibt in S4E6 (»Die Glocke«) eine freie Adaption von U + Ur Hand (2006) vor hochrangigem Nazipublikum inklusive Führer zum Besten: »I’m not here for your entertainment«. Das ist diachrone Interkulturalität einmal anders. Hinzu gesellt sich eine Tonarbeit, die einiges von dem ausschöpft, was momentan fernsehtechnisch möglich ist: Im Postsound abgemischt auf über 260 Spuren in 5.1 (vgl. Walden 2015), schlägt eine akustische Gewalt aus den Lautsprechern, die auf gewöhnlichen Endgeräten kaum noch rezipierbar ist und die ein Heimkino erfordert, um alle ihre klanglichen Dimensionen zu entfalten.
Entsprechend düster fällt die Variante des postapokalyptischen Zeit-Engels aus, die 12 Monkeys aufbietet. Hier ist nicht von einem ›Engel‹, sondern von einem »Zeugen« die Rede, der die Zeit selbst vernichten will. Dieser trägt messianische Züge, zugleich jedoch alle Merkmale eines Zeit-Engels, diesmal allerdings eines dunklen: In eine schwarze Kutte gehüllt und mit einer Pestmaske versehen, bedient sich der Zeuge der Reise durch die Zeit, um in die Vergangenheit einzugreifen, Botschaften zu senden, Anweisungen zu geben und die Zukunft nach seinem Willen zu gestalten. Der Zeuge aus 12 Monkeys ist eine weniger explizite, aber sinistrere Version des Zeit-Engels, zugleich ein finsteres Gegenstück zum roten Engel, wie er in Star Trek: Discovery begegnet. Es scheint fast, als sei der Antichrist nach der Apokalypse zurückgekehrt, um die Welt mithilfe seiner dunklen Scharen in ein Nichts der Zeit zu stürzen.
4.3 Zeit-Portale
Auf der entgegengesetzten Seite der Science-Fiction liegt die Beziehungsgeschichte als Familien- und als Liebesdrama. Hier findet sich ein irdischeres Korrektiv zu den kosmischen Fantasien angelischer und anderer astraler Zeitreisen: die audiovisuelle Imagination von Zeit-Portalen. Wo die futuristische Science-Fiction in Form von (inter-)galaktischen Reisen durch Raum und Zeit die Zukunftshorizonte einer allgewaltigen Technik und ihrer Machbarkeitsfantasien oder ihrer Bedrohungsängste ausbeutet, da schöpft die Beziehungsgeschichte ihr narratives Potenzial zum einen aus der trennenden und zerklüftenden Gewalt der Zeit, insbesondere aus der Entzweiung und dem Verlust der Geliebten, zum anderen aus der Sehnsucht, den unerbittlichen Verlauf der Ereignisse umzuwenden, um so schließlich durch die Schwere der Zeit hindurch zu den geliebten Menschen zurückzufinden.
Ein Beispiel für ein solches Familiendrama samt kriminalistischem Einschlag ist Gregory Hoblits Film Frequency (USA 2000), in dem ein Sohn über Amateurfunk Kontakt mit seinem Vater aufnimmt, der sich dreißig Jahre früher in der Zeit befindet und inzwischen längst verstorben ist. Hier fungiert das Amateurfunkgerät als ein kommunikationstechnisches Zeit-Portal in die Vergangenheit, das gleichermaßen den drohenden Tod wie die generationale Zerklüftung zu überbrücken vermag. Als der Sohn den Vater warnt und ihm so das Leben rettet, zieht das jedoch folgenschwere Veränderungen in der Zeitlinie nach sich, die Vater und Sohn über alle einstigen persönlichen Differenzen wie aktuellen temporalen Distanzen hinweg parieren und den sich daraus entspinnenden Kriminalfall gemeinsam lösen müssen. Seriell aufgefrischt wird das Handlungsgeschehen dieses Films in Jeremy Carvers darauf beruhender Fernsehserie Frequency (14 Episoden in einer Staffel, USA 2016-2017), die eine ähnliche Intrige entfaltet: Eine Polizistin kommuniziert über Amateurfunk mit ihrem Vater, der zwanzig Jahre früher lebt und inzwischen ebenfalls verstorben ist; als sie sein Leben rettet, hat das eine Serie kriminalistischer Ereignisse im Familienumfeld zur Folge, die in der ursprünglichen Zeitlinie nicht vorkamen und die es nun zu korrigieren gilt etc.
Auffällig ist in beiden Fällen die antiquarische Natur der medialen Vorrichtung, über die eine Verständigung mit der Vergangenheit erreicht wird: Das Amateurfunkgerät ermöglicht nicht allein die intertemporale Kommunikation, es gehört als Medienapparatur selbst bereits zur Zeit von Hoblits Film weitgehend der Vergangenheit an und hat in erster Linie einen mediennostalgischen Wert für Funkliebhaber, die über das Gerät eine analoge Gemeinschaft suchen. Die Antiquiertheit des Medienrequisits hat zum einen zweifelsohne eine dramaturgische Funktion, schließlich muss die Technologie auf beiden Zeitebenen existieren, um eine apparative Verständigung intertemporaler Art zu plausibilisieren. Zum anderen gehört die Verwendung medienarchäologischer Antiquitäten und technologischer Relikte zum rekurrenten typologischen Grundbestand einer Imagination kommunikativer Zeit-Portale.
Zu einer melodramatischen Beziehungsgeschichte verdichtet sich diese Konfiguration in Alejandro Agrestis Kinoromanze The Lake House (dt. Das Haus am See; USA 2006), einer Adaption von Lee Hyun-seungs Film Il Mare (Südkorea 2000), in der das Familiendrama um ein Liebesdrama erweitert wird. Hier ist es ein konventioneller Briefkasten, der eine Kommunikation mit der Vergangenheit ermöglicht und dadurch ein ganzes Gefühlsmelodram in Gang setzt: Als Dr. Kate Forster (Sandra Bullock) im Jahr 2006 aus dem titelgebenden Haus am See auszieht, hinterlässt sie ihrem Nachmieter Alex Wyler (Keanu Reeves) einen Brief, der diesen im Jahr 2004 erreicht. Es folgen eine Reihe personaler und emotionaler Verstrickungen, eingebettet in ein Geflecht familialer Konflikte wie problematischer Vater-Kind-Relationen, zuletzt hinauslaufend auf die unvermeidliche Liebesintrige. Auch hier geht es um die Trennung der Liebenden durch die Zeit, um bittere Entzweiungen sowie um eine Rettung vor dem Tod, doch bleibt die Existenz des Zeit-Portals an sich (als Ort einer intertemporalen Kommunikation mit der Vergangenheit) demgegenüber ebenso unmotiviert wie andere Teile der Filmhandlung.
Ein letztes Beispiel liefert Ronald D. Moores populäre, auf der Romanreihe von Diana Gabaldon (Erstdr. New York ab 1991) basierende Fernsehserie Outlander (bislang 68 Episoden in sechs Staffeln, USA 2014-2020). Hier begegnet eine andere Art von Zeit-Portal, das nicht nur wie in den vorangehenden Beispielen eine intertemporale Kommunikation im Austausch von mündlichen oder schriftlichen Nachrichten, sondern die physische Transportation der Person selbst in eine andere Zeit ermöglicht: Die Krankenschwester Claire Randall (Caitriona Balfe) fällt nach der Berührung mit einem mythischen Steinkreis in den schottischen Highlands über zwei Jahrhunderte durch die Zeit und wird aus dem Jahr 1945 ins Jahr 1743 befördert. Von dort aus entwickeln sich eine Reihe amouröser und anderer Abenteuer, wobei wie beiläufig auch die schottische Geschichte umgeschrieben werden soll.
Aufschlussreich ist die Natur des Zeit-Portals: Der uralte Kreis aus Steinstelen in den schottischen Highlands bildet mit seiner okkulten Herkunft unter naturreligiöser Überformung nicht allein ein Amalgam aus Mysterium und Magie. Er stellt überdies ein archaisches Medium dar, gehören Steine im Sinne von Innis (vgl. 2008: 33) doch zu denjenigen Kommunikationsmedien, die aufgrund ihrer Schwere und Dauerhaftigkeit eher einer Verbreitung von Wissen über die Zeit als über den Raum dienen. Der Konnex verleiht dem Begriff der Medienarchäologie (vgl. z.B. Zielinski 2002) gewissermaßen eine neue Bedeutung. Zugleich handelt die Serie mit dem sprechenden Titel Outlander von der Fremdheit des Eigenen wie des Anderen. Claire Randall fühlt sich als Engländerin aus dem 20. Jahrhundert im Schottland des 18. Jahrhunderts nicht allein in doppelter Hinsicht fremd: verschlagen an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Auch das Eigene wird in Outlander fremd, das Eine gleicherweise zum Anderen: Der Historiker Frank Randall, Claires erster Ehemann auf der ursprünglichen Zeitebene, und dessen Urahne auf der früheren Zeitebene, der Dragoner-Captain Jack Randall, wegen seiner Grausamkeit auch als »Black Jack« berüchtigt, repräsentieren zwei entgegengesetzte Figurationen derselben Person, die unterschiedlicher kaum ausfallen könnten (beide Tobias Menzies). Im Widerstreit der Zeitebenen entstehen zwei konfligierende Ich-Entwürfe, die noch einmal vorführen, wie sich eine Andersheit des Einen in der audiovisuellen Imagination darstellen kann.
Anmerkungen
1 Bei einem Glitch handelt es sich im Prinzip um eine Störung, die beim Programmieren in den Quellcode eingeschrieben wurde und die sich im gegebenen Fall zu einem bestimmten Effekt nutzen lässt.
2 Vgl. dazu ausführlicher https://mario.fandom.com/de/wiki/Warp-Zone [Stand: 1.10.2021].
3 Die Gleichzeitigkeit von Isolation und Kommunikation legt hier einen Begriff und eine Logik der ›Zeitarchipele‹ nahe. Vgl. zu ›archipelogischen‹ Techniken im Film in anderer Hinsicht bereits Küpper 2017.
4 Als die kleinsten diskreten Einheiten des Films entsprechen diese Einzelbilder in etwa dem, was Umberto Eco in seiner semiotischen Analyse des kinematografischen Codes als »Photogramme« beschreibt, die er »synchronisch isoliert aus dem diachronischen Fluß der sich bewegenden Bilder.« (Eco 1994: 250-262, hier 257). Unter gewissen Gesichtspunkten ist das einzelne »Photogramm« an sich aus der Bewegung und damit aus der Zeit herausgenommen: »Das Photogramm wäre also als ein photographisches Syntagma zu betrachten, das für die diachronische Gliederung des Kinematographen (welcher kinesische Figuren und Zeichen kombiniert) als Element der zweiten Gliederung gilt, das keine kinesische Bedeutung hat.« (Ebd.: 261)
5 Zumindest der erste und der letzte Fall segmentierter Zeit, d.h. die Segmentierungen auf den Ebenen des Einzelbilds und des Gesamtfilms, treffen auch auf die ganz frühen kinematografischen Werke zu, in denen ansonsten keine segmentierte, sondern in der Tat eine kontinuierliche Zeit in einer einzigen Kameraeinstellung vorgeführt wird, so beispielsweise in der ersten Spielfilminszenierung der Kinogeschichte, in Auguste und Louis Lumières Kurzfilm Der begossene Gärtner (Alice Guy, Louis Lumière [Regie]: L’arroseur arrosé. Frankreich 1895), in dem eine circa einminütige Einzelszene ohne jeden weiteren, über die beiden genannten Ebenen hinausgehenden zeitlichen Schnitt präsentiert wird.
6 Deleuze (vgl. 1985: v.a. 50f.) spricht vom Schnitt als mittelbarer Repräsentation von Zeit im klassischen Kino, während er das gesamte moderne Kino als unmittelbare Repräsentation von Zeit deutet (vgl. ebd.: 58f.).
7 Werkverweise im Text nennen hier und im Folgenden neben Titeln, Produktionsländern und Erscheinungsjahren lediglich die Verantwortlichen für die Regie von Filmen und für die Idee von Serien.
8 Einzelnachweise zu Serien folgen hier und im Weiteren dem gängigen Muster: ›S‹ für Staffel, ›E‹ für Episode, dahinter die jeweilige Nummer.
9 Für die Einsamkeitshypothese sprechen im Übrigen nicht nur Peters solitäre Beschäftigungen in insularer Zurückgezogenheit auf sich selbst, sondern ebenso seine Isolation innerhalb der Familie wie sein Hang zur Delinquenz im Allgemeinen, zur Kleptomanie im Speziellen. Das wird im Film bereits an Peters Zimmer sichtbar: Die Akkumulation serieller, dem Kreislauf ökonomischer Warenzirkulation entnommener Objekte dient ihm nicht zuletzt der Substitution interpersonaler Bindung. Mehr als zu anderen Menschen kann Peter offensichtlich Beziehungen zu den von ihm entwendeten, dadurch ihrerseits dem kapitalistischen Zusammenhang entrissenen Massenwaren aufbauen. Produktiv verknüpfen ließe sich der Komplex von Einsamkeit und Zeit auch mit der von Levinas (1979) unternommenen Analyse der Zeit als Verhältnis zum Anderen im Rahmen einer Ontologie der Einsamkeit.
10 Dass dieses Zeitexperiment rein filmtechnisch auf der Ebene des Schnitts umgesetzt wird (verantwortlich für das ›Editing‹ zeichnet Dody Dorn), verdeutlicht nachdrücklich die »Special Edition« auf der Doppel-DVD von 2002, die unter anderem eine alternative Filmfassung in ›korrekter‹, linear vorwärtslaufender Chronologie enthält.
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