Editorial
Das vorliegende Heft schließt an den Schwerpunkt des Heftes 2/2020 über das Meer als Erinnerungsraum an, insofern nun mit ›Zeit‹ die komplementäre Dimension kultureller Zusammenhänge in den Blick genommen wird. Die von Eva Wiegmann betreute und mit einer Einführung versehene Schwerpunktausgabe Zeit(en) des Anderen thematisiert die Relativität von Zeitkonzepten in ihren kulturellen Bezugssystemen und die damit verbundenen und vielfach unterschätzten Alteritätserfahrungen. Die insgesamt zehn Beiträge rücken das bislang kaum erschlossene interkulturelle Potential von ›anderen Zeiten‹ an unterschiedlichen Stellen der Literatur-und Mediengeschichte, vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in den Vordergrund. Zusammen mit der Herausgeberin hoffen wir auf produktive Lektüren.
Dem diesjährigen 700. Todestag Dante Alighieris – zweifelsohne einer der Ahnherren von Interkulturalität – ist der Beitrag in der Rubrik Aus Literatur und Theorie gewidmet. Schon vor 100 Jahren hatte Alfred Polgar an die Gedenkrituale erinnert, nach wie vor hält er uns den Spiegel vor: Verehrung ist das eine, aber – Hand auf’s Herz – wer, außer einigen »tollkühnen esoterischen Hochtouristen« sowie denjenigen, die das italienische Schulwesen durchlaufen haben, hat die Divina Commedia auch gelesen?
Im Forum drucken wir einen Essay des in Luxemburg tätigen Publizisten Henning Marmulla ab, der das aktuelle Phänomen der sog. ›Cancel Culture‹ zum Thema hat. Marmullas mit Verve entwickelte Überlegungen zu diesem »neuen Kulturkampf« sind überwiegend an Fallbeispielen aus den Bereichen Kunst, Literatur und Medien außerhalb des akademischen Betriebs orientiert. Wir haben uns im Anschluss daran zu fragen, wie der universitäre Raum zu dem im Essay beschriebenen Strategien der Abgrenzung vom Gegenüber als prinzipiell Anderem, zu Praktiken der Nicht-Benennung, zu einer neuen Ideologisierung von und durch Theorie steht. Mit diesem Beitrag hoffen wir eine dringend notwendige Debatte über die Auswirkungen der ›Cancel Culture‹ auf die Sache der Interkulturalität, auf Sprache und Literatur, anstoßen zu können. Im Forum wird zudem über eine ›Exotismus‹-Tagung in Tokyo und über eine Diskussionsveranstaltung (Migration und Literatur) in Wien berichtet. In den Rezensionen geht es um einen Sammelband zu Jenseitsvorstellungen im Mittelalter sowie um das Rotwelsch als Sprache der Vagabunden. Das Heft 2/2021 endet wie gewohnt mit Informationen aus der GiG.
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg
Bayreuth und Esch-sur-Alzette im Dezember 2021