Interkulturalität und Temporalität in Robert Musils Grigia
AbstractThe paper aims at revealing the interconnection between cultural and temporal alterities in Robert Musil’s novella Grigia published in 1924. The protagonist’s name, Homo, is read as an indicator of his unwillingness to recognize cultural heterogeneity, especially diachronic interculturality and, at the same time, as a critique of the hegemonic universalism which was wide-spread in Western Europe and in Robert Musil’s Kakanien and Post-World-War-One Austria. Homo’s disrespect for the plurality of time and cultures leads to his end, by which the novella reveals the questionability of exploitative capitalism, colonial reason, hegemonic masculinity, and exact sciences such as Geology. At the same time, the factuality of the manyfold world, of diverse and untamable cultural and temporal ways of being, becomes evident.
TitleInterculturality and Temporality in Robert Musils Grigia
Keywordsinterculturality; temporality; primitivism; Robert Musil (1880-1942); ethnical and gender asymmetries
Michael Gamper und Helmut Hühn haben die Interdependenz zwischen dem Wissen über die Zeit und der spezifischen Zeitlichkeit der Darstellung zu den aus literaturwissenschaftlicher Sicht bedeutsamen temporalitätsbezogenen Erkenntnisinteressen gerechnet, denn »jede Darstellung produziert durch ihre Zeitlichkeit ein Wissen von Zeit« (Gamper/Hühn 2014: 15). Auch in Bezug auf Robert Musil scheint diese Heuristik vielversprechend zu sein, insbesondere in Verbindung mit den in die Textgestaltung eingelassenen Reflexionen über die europäische Gesellschaft und die conditio des wissenschaftlich vorgeprägten Subjekts am Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel der Erzählung Grigia, die Teil des 1924 erschienenen Zyklus Drei Frauen ist, wird hier darüber hinaus dem Konnex zwischen der Darstellung von Zeitlichkeit und von Interkulturalität nachgegangen. Dabei wird die Frage erörtert, inwiefern bei Robert Musil »Subjekt-Objekt-Verbindungen« (ebd.: 12), speziell solche, die interkulturell codiert sind, die Qualität des Zeiterlebens verändern. Gerade angesichts der Tatsache, dass interkulturelle Alteritätsmomente ihrerseits synchron oder diachron aufgefasst und dargestellt werden können, ist der Zusammenhang zwischen dargestellter Interkulturalität und Temporalität nicht nur untersuchungsbedürftig, er verspricht Aufschluss über die Erkenntnis-, Subjekt- und Diskurskritik der klassischen literarischen Moderne. Ziel ist es dabei weniger, in einer Erzählung Bausteine für ein »integrales kulturelles Wissen von Zeit« (ebd.: 13) zu suchen, sondern vielmehr herauszustellen, inwiefern diese Erzählung dem Diskurs ihrerseits einen eigenzeitlichen Stempel aufdrückt, indem sie anderenorts nicht auffindbare Reflexionen über die Abhängigkeit des Zeiterlebens von kulturellen und sozialen Einbettungen des Subjekts verdichtet.
Musils Erzählung Grigia beginnt mit einer unbelegbaren Aussage über die Zeit. Die Erzählerstimme setzt unvermittelt mit dem Axiom von der gelegentlichen Verlangsamung des Lebensflusses ein, der mit einem Richtungswechsel oder jähen Ende einhergehen könne, da es wahrscheinlich sei, dass einem »in dieser Zeit ein Unglück zustößt« (G: 234)1. Die gedehnte Zeit, so das Eingangsaxiom, gehe mit Vulnerabilität einher. Eine unerklärliche Veränderung der Beschaffenheit von Zeit sei die Ursache für das Unglück, das dem Protagonisten Homo, einem promovierten Geologen, am Ende tatsächlich zustößt. Die Erzählerstimme lässt die Leserinnen und Leser an Homos Erleben und Tun allerdings so teilhaben, dass die Hypothese naheliegt, die Ursache des Unglücks liege nicht in der Eigendynamik der Zeit, sondern bei Homo selbst. Ein vulnerabler Zustand unbekannten Ursprungs kann das Individuum dazu veranlassen, die Zeit anders als sonst, nämlich verlangsamt, stockend und wie nach einem Richtungswechsel verlangend, zu erleben. Dieses offene Spannungsverhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen wird bis zum Ende des Textes aufrechterhalten. Zwar bestätigt sich das Eingangsaxiom am Schluss, indem Homo wahrscheinlich stirbt, eigentliche Gründe dafür werden aber nur indirekt, unverbindlich und optional ins Spiel gebracht. Zudem lässt sich feststellen, dass die Passivität Homos kontinuierlich zunimmt; seine Zeiterfahrung ist mehr und mehr pathisch (vgl. Busch/Därmann 2007) bis dahin, dass Temporalität als Agens erscheint, indem sie wie ein Widerfahrnis auf ihn einwirkt. Unterschiedlichen Zeitqualitäten und -relationen begegnet Homo aufnehmend, kontemplativ, bis dahin, dass er nicht einmal seinen eigenen Tod als ereignishaft empfindet, so als komme es nur auf eine radikal andere Zeit an, sei es jene der Pflanzen- und Tierwelt, sei es jene der Erde oder jene der Ewigkeit, nicht aber auf seine individuelle Zeit.
In vielerlei Hinsicht verhält sich Homos Erleben kultureller Differenzen analog dazu: Sein Selbstverständnis als ›zivilisierter Europäer‹ verflüchtigt sich allmählich zugunsten eines vom ›Primitiven‹ her fremdbestimmten Ich; Homo betreibt zunehmend Selbstauflösung. Dennoch lässt sich die Erzählung nicht im engeren Sinne als primitivistisch bezeichnen (vgl. Gess 2012), eher leistet sie eine Dekonstruktion jener Ich-Verfasstheit, die auf das ›Primitive‹ angewiesen ist und es diskursiv herstellt. Eine auktoriale Einschätzung der zeitlichen und kulturellen Differenzen bleibt in der Erzählung aus, und deutliche Textsignale stellen die Zuverlässigkeit der Perspektive Homos infrage; trotz überwiegender interner Fokalisierung ist die Erzählerstimme nicht deckungsgleich mit dem inneren Erleben Homos: »[V]ielleicht traf er sie in diesem Acker auch gar nicht zur Zeit der Heuernte, es lebte sich alles so durcheinander« (G: 249). Selbst die zyklischen Zeitabläufe bäuerlicher Verrichtungen dienen Homo nicht (mehr) zur Orientierung; damit löst sich in seiner Wahrnehmung auch die Singularität der Ereignisse auf. Die rhetorische Figur des Hysteron-Proteron, auf deren Bedeutung für den Roman Der Mann ohne Eigenschaften Alexander Honold bereits hingewiesen hat, ist auch für diese Erzählung tragend, denn hier spielen »demonstrative Sofortkorrekturen, unbehaftbare Vorausdeutungen, deiktische oder temporale Paradoxa eine prominente Rolle« (Honold 2015/2016: 7), deren Funktionen es ebenso näher zu untersuchen gilt wie ihren Zusammenhang mit Interkulturalität.
I.
Analog zur zeitlichen Verfasstheit bleibt es auch bei der kulturellen offen, welche Dynamiken und Differenzen unabhängig von Homos Wahrnehmungen, Imaginationen und Projektionen Bestand haben. Jedenfalls fällt auf, dass zeitliche und kulturelle Alterität miteinander verschränkt sind, wie recht bald im Handlungsverlauf durch Formulierungen wie jene von den ›Wilden‹ in Bezug auf die Bevölkerung des Tals der Mocheni augenscheinlich wird. Damit legt die Erzählung eine falsche Spur aus – jene Spur, die im Handlungsverlauf Homo selbst in die Irre führt. Denn es trifft nicht zu, dass der Protagonist aus einer linear-teleologischen Zeit der europäischen Zivilisation in eine zyklisch-orientalische von ›Primitiven‹ übertreten würde, wie es manche Textstellen nahelegen; vielmehr macht er sich selbst vor, »unter Wilden« (G: 249) zu sein. Im Gegenteil verfügen die Bewohner dieses Tals über ein hohes Maß kultureller Vielfalt; interkulturelle Transfers und diachrone Interkulturalität2 sind ihnen selbstverständlich und haben sich in ihren alltäglichen Sprachgebrauch eingeschrieben. Die Bewohner des Hochtals an der alpinen Grenze zwischen Romania und Germania sprechen in einer überwiegend italienischsprachigen Umgebung einen alten deutschen Dialekt aus den Zeiten Luthers. Französische und sonstige internationale Einschläge sind ebenfalls gebräuchlich, was mit früherer und in der erzählten Zeit gegenwärtiger Migration zusammenhängt: Wurden früher französische Bergknappen dorthin gerufen, müssen die Männer den Winter über als Arbeitsmigranten ihr Geld in ganz Europa verdienen oder für ein paar Jahre nach Amerika auswandern. Solchen, wenn auch prekären, so doch ökonomisch lohnenden, zyklischen Migrationen, die mit interkulturellen Prozessen einhergehen, steht die Bergbauunternehmung entgegen, der Homo angehört. Diese erfolgt im Zeichen homogener, hegemonialer Technikkultur, die vordergründig einem linear-teleologischen Zeitverständnis verpflichtet ist, sich aber auf den zweiten Blick in selbstbezogenen Pendelbewegungen und Arabesken verliert, ohne zu einem Bewusstsein der eigenen Grenzen und Unzulänglichkeit zu gelangen.
Einiges spricht dafür, dass das den Talbewohnern zugeschriebene ›Wilde‹ in Wahrheit nichts Fremdes ist, sondern in der Erzählung gerade (uneingestanden) dem Eigenen zugehört. Damit geht einher, dass die ›tote‹, ahistorische Zeit ebenfalls nicht den kulturell fremden ›Primitiven‹ eignet, sondern den ›zivilisierten‹ Europäerinnen und Europäern
Linear verläuft hauptsächlich eines: Homos zunehmende Selbstaufgabe zugunsten einer heteronormen Determination durch zeitliche und kulturelle Entitäten, die er grundsätzlich verkennt. Homo unterstellt den Menschen im Tal der Mocheni, sie kennten kein Individuationsprinzip. Vielmehr ist er es, der Anerkennung von Individualität verweigert, indem er sie stereotypen Kollektiven zurechnet und sie je nach Gelegenheit wahlweise »Neger« (G: 239), »Japanerinnen« (G: 239), »Wilde« (G: 249) oder »Aztekin« (G: 250) nennt. Dabei offenbart sich die Unfähigkeit Homos, mit kultureller Diversität, aber auch mit der internen Heterogenität eines jeden Individuums umzugehen. Die protestantischen Vorfahren der »merkwürdigen Leute« (G: 237), die in dem Bergdorf auf sechzehnhundert Metern Höhe leben, »waren zur Zeit der tridentinischen Bischofsmacht als Bergknappen aus Deutschland gekommen, und sie saßen heute noch eingesprengt wie ein verwitterter deutscher Stein zwischen den Italienern« (G: 237). Homo betrachtet diese Lebensweise als durch die Zeitläufte fremdbestimmt, denn während die Wildbäche nach und nach den Boden unter den Häusern wegschwemmten, »spülte ihnen die neue Zeit allerlei ärgsten Unrat in die Häuser. Da gab es billige polierte Schränke, scherzhafte Karten und Öldruckbilder, aber manchmal war ein Kochgeschirr da, aus dem schon zur Zeit Martin Luthers gegessen worden sein mochte« (G: 237). Die kulturelle Heterogenität, das im Laufe der Jahrhunderte im Grenzraum zur Romania veränderte Selbstverständnis fasst ›Homo‹ als groteske Verirrung auf; die feinen Nuancen und graduellen Unterschiede sind dem Ingenieur, der binäre Kategorien gewohnt ist, unheimlich. So befremden ihn die großen bunten Tücher, die von den Frauen getragen werden,
Kattundruck moderner Fabrikmuster, aber durch irgend etwas in den Farben oder deren Verteilung wiesen sie weit in die Jahrhunderte der Altvordern zurück. Das war viel älter als Bauerntrachten sonst, wie es nur ein Blick war, verspätet, durch all die Zeiten gewandert, trüb und schwach angelangt, aber man fühlte ihn dennoch deutlich auf sich ruhn, wenn man sie [die Tücher; I.-K.P.] ansah (G: 238).
Offenkundig denkt Homo kulturelle Alterität und Heterogenität mit Diachronie zusammen; die Mischung der Kulturen geht mit einer Mischung der Zeiten einher, die sein Temporalitätsdenken überfordert, ja aus den Angeln hebt. So wie er im weiteren Handlungsverlauf versucht, Dichotomien wie ›zivilisiert‹/›primitiv‹ über seine kulturellen Erfahrungen zu legen, verfällt er zunehmend auf ›ewig‹/›tot‹ hinsichtlich seiner Zeiterfahrung. Ihm droht eine Null-Zeit. Diese kündigt sich an in einer Redensart Grigias von der »extrige[n] Sküß« (G: 247), mit der sie andeutet, dass Homos Worte und Gedanken weder ernst gemeint noch ernst zu nehmen seien und Ausreden gleichkämen. Das Wort ›Sküß‹ führt Homo dabei einerseits auf einen interkulturellen Zusammenhang zurück und deutet es als Lehnwort aus der Zeit, in dem »französische Bergknappen« das Fersenatal mitbewohnten, so dass es »einmal vielleicht excuse geheißen habe«, andererseits vermutet er schon richtig, dass es »auch etwas Seltsameres sein« könnte. (G: 248) In der Tat ist ›Sküß‹ eine Bezeichnung für die Tarotkarte ›Der Narr‹ mit der Zahl Null. Das Blatt zeigt einen jungen Mann, der über die Welt wie über eine Wunderkammer der Natur staunt, ohne etwas von ihr zu verstehen, als habe er sie zum ersten Mal betreten. Unübersehbar ergeht es Homo genauso: Er nimmt selbst eine Birke, ein Feuer und ein Schwein »zum erstenmal in seinem Leben« (G: 243) wahr und empfindet alles wie einen ewigen ersten Tag. Demzufolge stockt sein Erleben in einer Art Null-Zeit. Interkulturelle Vielfalt und Geschichte, das lebendige Wechselspiel zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ im Fersenatal überfordern Homos Wahrnehmungs-, Verständnis- und Responsivitätsfähigkeit. Deshalb antwortet er auf diese Erfahrungen zur Hälfte mit »Grauen vor der Natur« (G: 245), und zur anderen Hälfte, die heterogen-interkulturellen Erscheinungen betreffend, mit einem »nimmermüde[n] Staunen« (G: 246). Dabei sind beides, Grauen und Staunen, in seinem Fall Indizien des Versagens: Die Erkenntniskategorien des Technikers, des Ingenieurs, sind viel zu grob, um etwas in der wirklichen Welt zu treffen. Sie führen eine tote Zeit, eine Null-Zeit herbei, in der kulturelle Transfers, diachrone interkulturelle Entwicklungen, Menschen und Naturerscheinungen auf ein leb- und bedeutungsloses Schema übertragen werden, ohne Entwicklung, Anfang oder Ende. Am Schluss des Textes appliziert sich dieses Denken auf Homo selbst, wenn ihn Grigia weg von der mannigfachen, farbigen Welt ins dunkle Erdreich führt, als wolle sie die bunte Welt vor ihm beschützen, und dabei sagt: »Das Blaue am Himmel lassen wir lieber hübsch oben, damit es schön bleibt« (G: 251).
Homos Haltung kehrt sich wie ein Bumerang gegen ihn selbst. Die Realität kultureller und individueller Vielgestaltigkeit setzt sich durch und pulverisiert ›Homo‹ – ein Name, mit dem Musil andeutet, dass der Protagonist in dem Wahn lebt, die ganze Menschheit zu vertreten. Aufgrund dieses Wahns glaubt er, den Facettenreichtum der Welt über ein homogenisierendes Regelsystem zu kategorisieren, das für Anderes, Alterität und Diversität keinen Platz hat. Das ebenfalls im Namen angedeutete Prinzip der Homo-Logie kommt an ein Ende. Der Versuch, abstrakte Gesetze auf die Vielfalt (kultureller) Räume, die Vielfalt erlebter Zeitlichkeit, auf soziale Heterogenität und das Zusammenspiel all dieser Differenzen im Individuum anzuwenden, scheitert. Homo, der Geologe, geht in seinen Untersuchungsgegenstand, die Erde, über. Zugleich verweist der Name auf Fallstricke europäisch-patriarchalischer Universalanthropologien. Der Name Homo, »deutlicher Hinweis auf die anthropologische Dimension dieser literarischen Versuchsanordnung« (Honold 2005: 262), entlarvt implizit die Projektion eines hegemonialen ›Ich‹ auf die ganze Welt, unter Missachtung aller Alteritäten. In diesem Sinne ließe sich die Erzählung auch als Kritik an Kakanien auffassen (vgl. Bickenbach 2019), da die »Unaussprechlichkeit des von einer höchst fragilen Konstruktion zusammengehaltenen Staatsgebildes […] nichts anderes als ein Problem des Eigennamens« (Honold 2009/2010: 143) sei. Kakanien – jener Großstaat, der sich homogen gibt und interne Heterogenität als Kuriosum abwertet – ist damit in gewisser Weise nicht nur in Bezug auf den Mann ohne Eigenschaften ein »kollektives Double« (ebd.; Hervorh. i.O.), sondern auch in Bezug auf Homo.
Denn die kulturellen Sammelkategorien, die Homo, augenscheinlich überfordert, auf die Bewohnerinnen und Bewohner des Mocheni-Tals bezieht, helfen nicht nur wenig weiter, sie sind irreführend und entlarven seine Kategorisierungsversuche als gescheitert. Die Kollektivzuschreibungen zielen an den Gegebenheiten vorbei, denn es steht außer Frage, dass Homo es weder mit »Japanerinnen« (G: 239), einer »Aztekin« (G: 250), noch mit »Neger[n]« (G: 239) zu tun hat; auch ist er nicht »unter Wilden« (G: 249). Schon die Verschiedenartigkeit der Bezugsräume, die Homo beliebig bemüht, um zu bezeichnen, was er offenbar nicht erfassen kann, zeugt von seiner Hilflosigkeit. Afrika, Lateinamerika und Asien, Hochkulturen und ›Primitives‹, alte und neue Zeiten meint er in dem Bergdorf vorzufinden.
All das, was nicht in sein wissenschaftlich-homogenes Europa-Bild passt, verbannt er gleichsam vom Kontinent. So repräsentativ dieses Vorgehen für den normierend-hegemonialen Zugriff auf Europa und die übrige Welt ist, so deutlich wird in der Erzählung, dass dynamische kulturelle Heterogenität (auch) in Europa der eigentliche Normalzustand ist. Auffällig ist, dass Homo seine Konfusion nicht bemerkt. Als promovierter Geologe und Bergbauingenieur – übrigens war Musil Maschinenbauingenieur – ist es Homo gewohnt, auf Modelle zurückzugreifen, für die es in der Welt der Erze, der Baumaschinen und mathematischen Berechnungen unweigerlich eine Entsprechung gibt. Mit der Welt tatsächlicher Erscheinungen konfrontiert, versagt sein Vermögen, zwischen Abstraktem und Konkretem zu vermitteln. Wenn er an den bevorstehenden doppelten Ehebruch mit Grigia denkt, fühlt er sich »steif in den Beinen […], als stäken seine Schuhe schon etwas im Boden« (G: 247), er kommt sich »von allem Irdischen frei« (G: 248) vor und liegt im Heu »schräg, und fast senkrecht wie ein Heiliger, der in einer grünen Wolke zum Himmel fährt« (G: 249). Hier wird sehr deutlich, dass die Ver-Rückung ins Metaphysische, die Homo vornimmt, lauter Trugbilder hervorbringt und ihn vom Leben entfernt: Er sinkt förmlich in die Erde ein, während er phantasiert, in einer Aureole zum Himmel aufzusteigen oder einem Lahmen zu gleichen, »der plötzlich seine Krücken fortwirft und wandelt« (G: 248). Aber dies ist ebenso wenig der Fall, wie ihm auch kein »Wunder bewiesen« wird, in dem »Grigia nur ein Teil der Sendung war, die ihn mit seiner Geliebten [seiner Ehefrau; I.-K.P.] in Ewigkeit weiter verknüpfte« (G: 247). Es gehört zu den Verwechslungen, denen Homo unterliegt, dass er meint, in der »Bauernfrau« (G: 246) eine leibliche Erscheinungsform seiner als ›ewig‹ gesetzten Liebe zu seiner Ehefrau zu erkennen. Am Ende wird ihm etwas ganz anderes bewiesen, nämlich die Grenzen seiner Allmachtsgefühle. Noch in dem Schacht, wie in einer Grabkammer eingeschlossen, kann »er, der gebildete Mensch«, sich der »Ungläubigkeit« (G: 251) nicht erwehren, »daß wirklich etwas Unwiderrufliches geschehen sein sollte« (G: 251f.) Dass sein bevorstehender Tod tatsächlich jenes Ereignis in der Zeit ist, das die bedeutsamste und unumstößliche Differenzmarkierung in seinem Leben ist, kränkt ihn, der als ›Homo‹ den Anspruch hatte, als Deutungsinstanz der alle Zeiten einschließenden Transzendenz zu fungieren, maßlos. Dennoch bleibt es dabei: Dieses Ende stellt sich ein. Dazu passt einer der warnenden Gedanken, die Homo nicht beachtet, dass nämlich Sexualität und Liebe verbunden sind. Die Ausschließlichkeit einer Zweier-Beziehung könne nicht von Dritten gestört werden, das rekapituliert Homo gedanklich, kein zweiter Mann dürfe das Geschlecht einer Frau sehen, »wenn er nicht sterben sollte, nur einer« (G: 240). Dass dies das tatsächliche – da lebbare – »Wunder« (G: 240) sei, verwirft er aber gleich wieder und findet es »so wundervoll unsinnig und unpraktisch« (G: 240), dass er an ihm nicht festhält, sondern die Briefe seiner Frau nicht mehr beantwortet und beschließt, eine fremde Frau gleichsam wie ein Zeichen seiner eigenen zu betrachten und zu behandeln. Dies ist natürlich nur im Modus radikaler Nichtanerkennung möglich. So staunt Homo darüber, dass Grigia, die er eher als Tier betrachtet, »so sehr einer Frau glich« (G: 246). Die Erzählung legt offen, wie Homo Sexualität als mechanischen Vollzugsvorgang von anderen Empfindungen abspaltet; die Instrumentalisierung Grigias wendet sich gegen Homo selbst, da sie seine Depersonalisation fördert. Der Geologe scheitert gerade nicht an zu gewagten Grenzüberschreitungen oder daran, dass er das »die Grenzen tilgende abenteuerliche Leben« (Zeller 2001/2002: 199) nicht integrieren könnte, sondern daran, dass er seine eigenen kulturellen, anthropologischen und auch geschlechtlichen Grenzen negiert und selbst ›alles‹ sein will.
II.
Der Geologe versucht, die Welt mittels der gewerteten Dichotomien Natur-Kultur, männlich-weiblich, zivilisiert-primitiv, europäisch-außereuropäisch und menschlich-tierhaft zu bestimmen. Aber diese Kategorien versagen alle angesichts kultureller Vielfalt und Diversität. Dieses Versagen geht mit einem Kollaps geordneter Temporalität einher. Anstelle der Achtsamkeit für Partikuläres in den je spezifischen Mischungsverhältnissen stellt sich bei Homo jenes Schwanken zwischen Allmacht und Ohnmacht, zwischen Ewigkeit und ›totgeschlagener‹ Zeit ein, die zu seinem Tod führt.
Der Ingenieur sieht sich als überlegenen Vertreter der ›richtigen‹ Zivilisation und maßt sich nicht nur die Deutungshoheit, sondern auch Verfügungsgewalt über die ›Primitiven‹ an, die er nicht nur als kulturell Fremde betrachtet, sondern auch auf einer imaginären Zeitleiste der Entwicklungsstufen der Menschheit in der Vergangenheit verortet. Als Wissenschaftler soll er exakte physikalische Bestimmungen vornehmen und vor Ort den teleologisch imaginierten Fortschritt voranbringen; als Investor soll er Profit aus dem Vorhaben schlagen, einen alten Silberstollen wieder in Betrieb zu nehmen; als zivilisierter Zentraleuropäer meint er ein Anrecht zu haben, die Bergbewohner als ›Menschenmaterial‹ auszubeuten, das für das Bergbauunterfangen »verwendet wurde« (G: 251); zudem erwartet er seitens der Frauen sexuelle Verfügbarkeit. Vielsagend ist es, dass er den Ehemann Grigias zum ersten Mal wahrnimmt, als dieser sich anschickt, Homo zu töten, indem er einen Felsblock vor den Schachteingang wälzt.3 Homos Allmacht erweist sich jedoch als phantasmatische Erweiterung des eigenen Egos. Schon auf der Handlungsebene der Erzählung greifen diese Größenphantasien ins Leere: Homo arbeitet nicht wissenschaftlich, sondern gibt sich den Eindrücken der Fauna und Flora, der Topographie und der Menschen im Tal rückhaltlos und kontemplativ hin. Die Bergbewohner – Männer wie Frauen – arbeiten zwar hart im Auftrag der Unternehmer, aber sie werden gut entlohnt, während das Unterfangen selbst wegen »Vergeblichkeit« (G: 252) eingestellt wird – zufälligerweise wohl im Augenblick des Todes Homos. Der Text exponiert geradezu, dass Homo vollständig blind für seine eigene Verblendung ist. Schon Kurt Krottendorfer hebt hervor, dass Homo »Ausbeutung, Degradierung der Frauen zu Lasttieren und Korrumpierung der Bewohner durch den Reichtum der Goldsucher« (Krottendorfer 1995: 126) schlichtweg nicht sehe und stattdessen einen ausbeuterischen Kapitalismus vertrete. Es liegt somit nahe, dass diese Blindheit mit ursächlich dafür ist, dass er förmlich aus der Zeit fällt.
Homo übersieht fast auf Schritt und Tritt Warnzeichen wie beim Einzug ins Tal den Gesang der »wenn nicht hundert so doch zwei Dutzend Nachtigallen« (G: 235) – ein Gesang, der mit Brentanos Der Spinnerin Nachtlied Trennung und Verlust beklagt und mit dem Märchen Jorinde und Joringel an die Einmaligkeit von Liebe erinnert. Homo geht aber, in ein Spiegelkabinett seines Begehrens versunken, fremd und verliert dabei nicht nur seine Frau, die er »noch sehr liebte« (G: 234), sondern auch sich selbst; mehr noch: Er »fühlte an irgend etwas, dass er bald sterben werde« (G: 248). In diesem Sinne fasst auch Inka Mülder-Bach den Text als Anti-Odyssee auf (vgl. Mülder-Bach 2018: 278) und deutet das Interesse Homos an der Geschichte des betrügerischen Heimkehrers aus Amerika, der vorübergehend von mehreren Talbewohnerinnen als rechtmäßiger Ehemann anerkannt wird, zu Recht als eines der Kernstücke der Erzählung, weil die »Übertragung« (ebd.: 279) große Faszination auf Homo ausübt, zumal er damit eine Potenzierung seiner Möglichkeiten verbindet. Der Clou des Musil’schen Textes liegt jedoch gerade darin, dass Homo, indem er glaubt, alle sein zu können, niemand ist.
Homo wird einerseits durch Beruf, Status, Geschlecht und ökonomische Überlegenheit dazu verleitet, von der eigenen Allmacht auszugehen, er empfindet aber zunehmend das Gegenteil: vollkommene Ohnmacht bis hin zur Selbstaufgabe. Die Bergunternehmer »walteten wie die Götter« (G: 236); »man fand Liebe, weil man den Segen gebracht hatte; […] sie war überall wie ein frisches Gastbett bereitet, […] aber manchmal, wenn man an einer Wiese vorbei kam, vermochte auch ein alter Bauer dort zu stehn und winkte mit der Sense wie der leibhafte Tod« (G: 237).
Seine Verfügungsmacht lebt Homo gegen Vulnerable rücksichtslos aus. So sagt »Doktor Homo« einem »reizenden vierzehnjährigen Mädel« unverblümt: »Komm ins Heu«; eine »große Bäurin« fragt er, ob sie noch Jungfrau sei und er »wirklich alles« von ihr bekommen könne – und dies »wieder nur so, weil Scherze doch etwas Mannsgeruch haben sollen« (G: 239). Die Frauen antworten auf seine Possen mit »Theaterechtheit« und weichen seinen schablonenhaften Übergriffen ebenfalls schablonenhaft mit den Mitteln der »komischen Oper« aus (G: 239). In dem Maß, in dem er scheitert, die sozialen und kulturellen Zusammenhänge im Fersenatal anzuerkennen, verliert er sukzessive seine eigene Lebenskraft, als werde ihm seine Haltung mit gleicher Münze heimgezahlt.
Der Selbstverlust Homos wird von der Erzählerstimme ausführlich eingeleitet, begleitet und kommentiert. Homos Grundsätze hätten sich »vielleicht eben etwas gelöst […], als er reiste, dann kann es geschehen, daß diese fremden Lebenserscheinungen Besitz von dem ergreifen, was herrenlos geworden ist« (G: 248). Damit werden Reise- und Fremdheitserfahrungen in Zusammenhang mit dem Selbstverlust Homos gebracht. Im Handlungsverlauf spricht einiges dafür, dass alle ›Lebenserscheinungen‹ Homo recht fremd sind; die Begegnung mit eindrucksvollen Landschaften und unbekannten Menschen in einem interkulturell geprägten Raum überfordern ihn; er setzt sich etwas aus, worauf er gänzlich unvorbereitet ist, weil seine Wissenschaft, die Geologie, ihn offenbar weg von der Erde, vom Mundanen, von der Vielfalt der Lebenserscheinungen geführt hat. Auch die Zeitadverbien ›als‹ und ›dann‹ betonen die durative, unbestimmte Eigenschaft von Zeitfeldern, denen Homo passiv ausgesetzt bleibt. Diese Passivität schließt auch und gerade die Selbstwahrnehmung Homos mit ein, der sich – auch in diesem Text auf der Höhe von Musils gestalttheoretischen Reflexionen – zunehmend als Medium einer von anderen Kräften eingelassenen Form fühlt.
Das ›Erleiden‹ der Zeit (im Sinne pathischer Zeiterfahrung) geht einher mit dem ›Erleiden‹ von Fremdheits- und Diversitätserfahrungen, die Homo nicht angemessen verarbeiten kann. Interkulturelle Erfahrungen sprengen die analytischen Kategorien, die seinem früheren Handeln zugrunde liegen. Homo ist unfähig, interkulturelle Erfahrung als Chance zur Dynamisierung, Erweiterung und Selbsttransformation zu begreifen und nutzt sie daher auch nicht. Deshalb lebt er in einer ›toten Zeit‹. Vielmehr bleibt das Ich gefangen in jener »Einheitsmasse von Seele: Europa«, in der es sozialisiert wurde und von der es annimmt: »[E]s war überall die gleiche« (G: 244). Nun widerlegt allein die Tatsache, dass Europa nicht überall ist, diese Aussage.
III.
Der Protagonist Homo ist mit seiner Ich-Verfasstheit und der damit einhergehenden Weltsicht nicht allein: Im Herrencasino tauchen mehrere Exemplare der Gattung Homo in einen selbstverliebten Bilderreigen ein, ohne »miteinander« (G: 243) zu sprechen. »[E]in Privatgelehrter, ein Unternehmer, ein ehemaliger Strafanstaltsinspektor, ein Bergingenieur, ein pensionierter Major« (G: 243) evozieren den »astralen Geruch von Puder, Gaze, ein[en] Nebel von fernem Varieté und europäischer Sexualität« (G: 244), allerdings sind sie dabei keine im Dialog befindlichen Subjekte, sondern, wie sich zeigt, Nichts und Niemand. Der vielleicht zentrale Absatz der Erzählung lautet:
Sie sprachen in Zeichen – mochten das trotzdem auch Worte sein: des Unbehagens, des relativen Behagens, der Sehnsucht –, eine Tiersprache. Oft stritten sie unnötig lebhaft über irgendeine Frage, die keinen etwas anging, beleidigten einander sogar, und am nächsten Tag gingen Kartellträger hin und her. Dann stellte sich heraus, daß eigentlich überhaupt niemand anwesend gewesen war. Sie hatten es nur getan, weil sie die Zeit totschlagen mussten, und wenn sie [die Zeit; I.-K.P.] auch keiner von ihnen je wirklich gelebt hatte, kamen sie sich doch roh wie die Schlächter vor und waren gegeneinander erbittert (G: 244; Hervorh. I.-K.P.).
Obwohl die Ausführungen zum Herrencasino im Vergleich zum Gesamtumfang der Erzählung recht lapidar ausfallen, bilden sie ein Gegengewicht zur ethnographischen Irrfahrt Homos. Denn unterliegen seine Wahrnehmungen des Fremden offenkundig falschen Schemata, so sind die Aussagen, die die Erzählerstimme hier über ›Homo‹ als Gattungswesen wie auch als Einzelexemplar trifft, ebenso offenkundig wahr: Sie lassen sich an der Beschaffenheit der ethnographischen Fehlschlüsse, die der Protagonist zieht, mühelos verifizieren.
Damit werden die Untiefen des ›Eigenen‹ offengelegt. Am wichtigsten im Zusammenhang der Fragestellung dieses Aufsatzes ist sicherlich die Feststellung, keiner dieser zivilisierten europäischen Herren habe je die Zeit gelebt, sondern die Zeit totgeschlagen. Diesem androzentrischen Kollektivsubjekt ›Europas‹, das diese Herren verkörpern, sind wichtige Unterscheidungen entfallen, allen voran die Unterscheidung zwischen Liebe und Sexualität auf der einen Seite und Mord und Krieg auf der anderen. Dieser Irrtum spricht aus dem Schlager »Rosa, wir fahr’n nach Lodz, Lodz, Lodz« (G: 244), der aus dem Grammophon im »Pfarrhaus, in dem sie ein Zimmer als Kasino gemietet hatten« (G: 243), ertönt: In dem Lied überlegt ›Franzl‹, wohin die Hochzeitsreise mit seiner Braut Rosa gehen soll; Rosa ist aber, wie sich herausstellt, ein Geschütz, mit dem er in den Krieg ostwärts nach Lodz zieht. Auch die Oper Tosca, die der Major auf dem Grammophon abspielt, verschränkt vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege in Italien Liebe mit (Selbst-)Mord. Zieht man mit in Betracht, dass Musil selbst in der Gegend, in der die Handlung verortet ist, während des Ersten Weltkriegs im Einsatz war und lebensbedrohliche Situationen durchlebte, sich aber dennoch phasenweise wie ein Tourist vorkam,4 wird auch eine selbstkritische, autofiktionale Dimension der Erzählung erkennbar. In Grigia agieren die Goldgräber wie Eroberer. Die Machtasymmetrien zu den Bewohnerinnen und Bewohnern des alpinen Tals werden hyperbolisiert: Die Bergbauunternehmer, die in ihrer hegemonialen Männlichkeit entlarvt werden, markieren insbesondere Frauen, durchaus aber auch Männer aus der Gegend als Subalterne und behandeln sie wie Tiere. Es ist unübersehbar, dass die Einheimischen – insbesondere die Frauen - nicht als Trägerinnen und Trägern von Menschenrechten, sondern als formbares Material behandelt werden:
Es war ein schönes Leben, das da seinen Anfang nahm. […] Aus den Männern bildeten sie Arbeitspartien und verteilten sie auf die Berge, aus den Weibern formierten sie Trägerkolonnen, welche ihren Werkzeugsatz und Proviant auf kaum wegsamen Steigen nachschafften. Das steinerne Stuhlhaus ward in eine Faktorei verwandelt, wo die Waren aufbewahrt und verladen wurden; dort rief eine scharfe Herrenstimme aus den schwatzenden Weibern eins nach dem andern vor, und es wurde der große leere Rückenkorb so lang befrachtet, bis die Knie sich bogen und die Halsadern anschwollen. War ein solch hübsches junges Weib beladen, so hing ihm der Blick bei den Augen heraus und die Lippen blieben offen stehen; es trat in die Reihe, und auf ein Zeichen begannen diese stillgewordnen Tiere hintereinander langsam in langen Schlangenwegen ein Bein vor das andere bergan zu setzen. (G: 237)
Es ist offenkundig, dass das »Goldgräberleben« (G: 241) totale Verfügungsmacht über die menschlichen ›Ressourcen‹ wie auch über die Bodenschätze bedeutet. Die investierten Geldmittel, vor allem die Löhne, die an Männer und Frauen gezahlt werden, versetzen die Teilhaber des neu zu eröffnenden Bergwerks in einen Omnipotenzrausch. Gerade damit hängt das Verhängnis Homos zusammen. Denn die Abkehr vom linearen Zeitempfinden, die Entgrenzung in Bezug auf zivilisatorische und kulturelle Unterscheidungen, das rauschhafte und nicht individuelle Erleben von Sexualität schreibt er den ›Wilden‹ im Fersenatal zu. Nicht den ›Fremden‹, Unterlegenen kommen jedoch diese Eigenschaften zu, sondern gerade dem ›Eigenen‹. Das im Allmachtsrausch entgrenzte Selbst hebt phantasmatisch die Grenzen des eigenen Lebens aus den Angeln und treibt demzufolge auf den eigenen Tod zu.
Die Erzählung lässt sich demzufolge als weitreichende Kultur- und Zivilisationskritik auffassen, die sich gegen das ›Eigene‹ richtet, auf dessen Seite sich Musil selbst verortet, und nicht gegen das ›Fremde‹ in seinen diversen und dynamischen Erscheinungsformen. Auch konterkariert die Erzählung das Klischee, laut dem die zyklische, rauschhafte Zeit den ›Primitiven‹, ›Exoten‹ oder ›Orientalen‹ näherstünde als den ›zivilisierten‹ Europäern. Rausch, sinnentleertes Pendeln und die Unfähigkeit, den Zeitverlauf durch Interaktion zu beleben, sind vielmehr auf der Seite Homos verortet. Der Rausch geht sogar so weit, dass dem Geologen »die Bindung an das Lebendigseinwollen, [das] Grauen vor dem Tode« (G: 241) abhandengekommen sind und er in seiner Ego-Ausweitung über alle Unterscheidungen hinweg auch jene zwischen lebendig und tot auslöscht.
Dabei ist diese Disposition dem Europäer und Wissenschaftler intrinsisch. Teil dieses Wahns ist die Allmacht, mit der Homo sich zum Herrscher über die Bodenschätze – über all das, was im Schoß der Erde liegt – erhebt. Deshalb überhöht er auch diesen »irdischen Schatz« zu einer »für ihn bestimmte[n] Zauberwelt« und spürt »den Boden mit Gold und Edelsteinen unter seinen Füßen« (G: 241). Es handelt sich hierbei unverkennbar um eine Kolonialimagination; Homo legt eine Konquistadorenmentalität an den Tag und wähnt sich in einem El Dorado, das in jeder Hinsicht als Selbstbedienungsladen vor ihm liegt. Aber die Herrschaftsgeste, mit der er die Erde samt ihren Schätzen beherrschen will, verkehrt sich im Handlungsverlauf in ihr Gegenteil. Am Ende obsiegt die Erde gleich zweimal, denn Grigia, deren Name die graue Erde konnotiert, überlebt im Gegensatz zu Homo, der in einer Grotte unter dem Boden, in einem aufgelassenen Schacht, zu Tode kommt. Damit unterliegt der Wissenschaftler, wie bereits angedeutet, endgültig seinem Untersuchungsgegenstand – eine Niederlage, die sich an verschiedenen Stellen des Textes andeutet, ebenso wie die Umkehrung der Machtasymmetrien. Bezeichnend hierfür ist Grigias Mann, den Homo lediglich zu ›verwenden‹ meint, und der ihm am Ende nicht als Objekt, sondern als Subjekt entgegentritt und Homo tötet.
Schon zuvor deutete sich die Erschütterung von Machtasymmetrien in der Episode von den angekauften Hunden an, die – auch dies im Zeichen der Maßlosigkeit und Überschätzung des eigenen Tuns – in der ganzen Umgebung aufgekauft und wahllos zu mehreren Tieren zusammengebunden werden, »an Stricken geführt ohne Halsband« (G: 242), so dass die Edleren unter ihnen die Nahrung verweigern, während ein anderer dem vermeintlichen Wohltäter, dem Koch, der ihm Nahrung reichen will, einen Finger abbeißt. Diese Unduldsamkeit vonseiten derer, die im Selbstverständnis der ›Herren‹ zu ›Knechten‹ bestimmt sind, wiederholt sich auch im Verhältnis zwischen Grigia und Homo. Homo spricht Grigia ihr Menschsein ab, indem er sie so nennt, wie sie ihre Kuh ruft: die Graue.
Der rationalistische Weltzugang Homos verleitet ihn dazu, die Unterscheidung zwischen Leben und Tod zu ignorieren. Zunehmend macht er die Erfahrung, dass er dieser Unterscheidung passiv ausgesetzt ist und er sie nicht herbeiführen oder verschieben könnte, selbst wenn er es versuchte. Über die Zeit des Lebens und des Sterbens verfügt er nicht. Wenn er seinem Ende entgegensieht, als beträfe es ihn gar nicht, »sein Inneres schon seltsam damit vertraut gemacht, wie Erde berührt« (G: 249), weicht er dieser innerlich schon vollzogenen Einsicht aus. Die Erzählerstimme legt die Selbsttäuschung Homos offen: Er wähnt sich in einer unendlichen linearen Zeit des Fortschritts, durch die interkulturellen Begegnungen macht sich die Endlichkeit seiner individuellen Lebenslinie ebenso bemerkbar wie die plurale, zyklische Zeit aller lebendigen Materie. Der Text legt auch offen, dass Homo durch sein eigenes epistemisches Dispositiv daran gehindert wird, zu dieser Einsicht zu gelangen. Es bleibt dabei, dass er in der Zeit nicht »je wirklich gelebt hatte«, sondern nur »Zeit totschlagen« (G: 244) konnte. »Töten, und doch Gott spüren; Gott spüren, und doch töten?« (G: 245), fragt er sich und spürt, wie er die Grenze zwischen Leben und Tod nicht kontrollieren kann, ohne daraus Schlüsse zu ziehen.
IV.
Ganz anders als in Thomas Manns Tod in Venedig5 hängen erstarrte Zeit und Tod gerade nicht mit dem Fremden oder mit einer Anfälligkeit des Europäisch-Eigenen für (vermeintlich) Primitiv-Südländisches zusammen. Während bei Thomas Mann das ›Dionysische‹ dem kulturell Fremden, Südländischen und Unmännlichen zugeschrieben wird und von dort aus als krankhafte Verfallserscheinung den männlichen Schriftsteller, den Ingenieur des Geistes, befällt, gehören in Musils Grigia all diese Eigenschaften zu den (hegemonial männlich gedachten) Logikern, Offizieren und Ingenieuren. Sie sind in der ›Natur‹ wie auch unter Bedingungen dynamischer kultureller Vielfalt lebensunfähig und bringen umgekehrt Krieg und Verderben in den Süden.
Die Erzählung lässt fast keinen Zweifel daran, dass das Verderbliche dem Eigenen genuin ist. Die Männer zeigen keine Wertschätzung für das eigene Leben oder jenes der andern; als ein Einheimischer beschuldigt wird, Wein gestohlen zu haben, spielt »der Werkführer« (G: 241) wollüstig mit einem Strick vor dem Bezichtigten, der am ganzen Leib zittert, weil er befürchtet, gehängt zu werden. Diese Szene setzt Homo gleich mit der unregelmäßigen Verteilung einer Pferdegruppe und diese wieder mit den »kleine[n] grünen, blauen und rosa Häuser[n] unter dem Selvot« (G: 242). Homos Wahrnehmungskategorien sind derart unscharf, dass sie den Erscheinungen, die ihm begegnen, nicht einmal annähernd gerecht werden. Seine Kategorien sind nicht nur für die Unterscheidung zwischen Lebendigem und Leblosen unsensibel, sondern auch für (drohende) Gewalt, für Grausamkeit und Mord. So fällt ihm alles, was nicht geometrisch angeordnet ist, als unregelmäßig und ›primitiv‹ auf, ohne dass er weitere Unterscheidungen vornähme; Tod und Tötung rühren ihn nicht, vielmehr schaut und hört er ganz bewusst, aber teilnahmslos zu, wie eine Fliege stirbt und wie ein junges Schwein abgestochen wird:
Am Ende der Brücke hatte schon einer nach der Hacke gegriffen und schlug es mit der Schneide gegen die Stirn. Von diesem Augenblick an ging alles viel mehr in Ruhe. Beide Vorderbeine brachen gleichzeitig ein, und das Schweinchen schrie erst wieder, als ihm das Messer schon in der Kehle stak […]. Das alles bemerkte Homo zum erstenmal in seinem Leben (G: 243).
Die Schlachtung ist für ihn eine ähnliche »Abwechslung« (G: 243) wie eine Sprengung im Stollen, ein unerwarteter Regenfall, ein unter einer Birke brennendes Feuer oder ein Mann, der sich ein Bein gebrochen hat und von zwei weiteren gestützt wird. Dass er all dies zum ersten Mal bewusst wahrnimmt, bestätigt, dass er bis dahin nicht in der Zeit gelebt hat, sondern in einer weltleeren Abstraktion unter ›toten‹ selbsterlassenen Gesetzen.
Der Text legt offen, dass die Vorstellung des ›zivilisierten‹ Mannes Homo von seinem Kontinent eine eingeschränkte ist: Die Einheitsmasse ist definitionsgemäß homo-gen. Damit ist nicht unbedingt tatsächliche Einheitlichkeit gemeint, sondern die Unfähigkeit, mit kultureller Diversität umzugehen. Dieser europäische Einheitsgeist erhebt den Anspruch, jeden Winkel des Kontinents – und der Welt – semantisch erschlossen und kategorisiert zu haben. Wenn aber (inter-)kulturell alles erschlossen ist, steht die Zeit still. Die Lebens- und Erfahrungs-Zeit weicht einer Zeit des Erleidens und des Todes; bleibt die Auseinandersetzung mit Fremdem aus, gibt es nichts mehr zu erschließen, zu begreifen oder zu bestaunen. So betrachtet, hängt die Auflösung von Grenzen aller Art, die Homo erlebt, damit zusammen, dass der sich selbst allwissend setzende europäische Wissenschaftler, statt tatsächliche Grenzen wahrzunehmen, sich eingestehen müsste, dass er ein künstliches System errichtet hat, dessen Allmachtsversprechen nicht eingelöst wird. Statt Fehlerdiagnose zu betreiben, erstarrt Homo aber in einem Zeitkontinuum, das ebenso künstlich und lebensfern ist wie die Kategorien, die er auf das Fremde erfolglos anzuwenden versucht. Die Scheidelinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerrinnen in dem Maße, wie jene zwischen Eigenem und Fremdem sich auflösen: »[T]rotz der Sehnsucht nach Zukunft [hatte er] das Gefühl, daß er da, zwischen Anemonen, Vergißmeinnicht, Orchideen, Enzian und dem herrlich grünbraunen Sauerampher, tot liegen werde. Er streckte sich am Moose aus.« (G: 240)
Die »Einheitsmasse von Seele: Europa« (G: 244), und die »europäische Sexualität« gehen einher mit Megalomanie und todbringender Gewalt:
Homo fühlte, es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr unterscheiden kann –, ach, es war nicht mehr Wollust, es war Abenteuersucht –, nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem Himmel niederfahrendes Messer, ein Würgengel, Engelswahnsinn, der Krieg? (G: 244)
Es scheint somit, als vollzöge Homo erste Schritte zu der Einsicht, dass technischer Fortschrittsglaube, europäische Überheblichkeit und toxische Männlichkeit Gewalt generieren. Wenn er seine Sprache, die in diesem Denkhorizont befangen bleibt, als »Tiersprache« (G: 243) durchschaut, schließt dies die Erkenntnis mit ein, dass die analytischen Begriffe, die er kennt, der Welt nicht gerecht werden, sondern vielmehr das eigene Begehren (»Sehnsüchte«, G: 243) externalisieren. So lässt sich auch erklären, weshalb die Erzählerstimme am Beginn des Textes darauf hinweist, dass Homo »Selbstsucht« und »Selbstauflösung« (G: 234) nicht voneinander zu unterscheiden vermag. Homo entzieht sich der Verantwortung gegenüber seiner Frau und dem kranken Sohn. Er will sich lieber den Sommer über um sich selbst, um seine »Bücher« und »Pläne« (G: 234) kümmern. Diese erweisen sich aber als ephemer, denn Homo sucht und findet schon auf der Reise zum Bergwerk in einem Gasthaus bei jeder Gelegenheit Zyklisches, Pendelbewegungen, Ornamente und symbolisch aufgeladene Objekte, die an das Sterben erinnern, etwa weil sie Särgen ähneln:
Betten von einer unsagbar kühlen Weichheit in schöner Mahagonischale. Eine Tapete mit einem unsagbar wirren, geschmacklosen, aber durchaus unvollendbaren und fremden Muster. Und ein Schaukelstuhl aus Rohr; wenn man sich in diesem wiegt und die Tapete anschaut, wird der ganze Mensch zu einem auf- und niederwallenden Gewirr von Ranken, die binnen zweier Sekunden aus dem Nichts zu ihrer vollen Größe anwachsen und sich wieder in sich zurückziehen (G: 235).
Den Hang zu den Pendelbewegungen zeigt und den verborgenen Wunsch, in Rankenmustern aufzugehen, hegt Homo von Anfang an, er wird nicht etwa von den interkulturellen Begegnungen dazu verleitet; er scheint selbst eine Veränderung der Zeitqualität vom Linearen ins Stagnierend-Pendelnde zu suchen.
V.
Schon in der früheren Musil-Forschung wurde erkannt, dass sich in der Novelle »der Widerruf abendländischer Aufklärung (episteme), abendländischer Kultur und Religion in mehr als einer (unmittelbar kulturkritischer) Hinsicht« (Pott 1984: 68) andeutet. Dies lässt sich im Licht der Analyse von Interkulturalität und Temporalität noch verstärken. Denn alle Spielarten des ›Zivilisierten‹ und ›Gebildeten‹ im Sinne homogener ›abendländischer‹ Kultur scheitern. Wenn man die Figuren Mozart Amadeo Hoffingott und Homo als Brüder im Geiste auffasst,6 verkörpern sie zwei Spielarten des Scheiterns, eine aktivische und eine passivische: Mozart, der Leiter des Unterfangens, muss wie alle Teilhaber die »Erfolglosigkeit aller Anstrengungen und die Vergeblichkeit des Unternehmens« (G: 252) einsehen, dem Berg lässt sich trotz des großen Kräfte- und Kapitaleinsatzes kein Gold entreißen. Und Homo liegt entkräftet, dem Tod nah, im verlassenen Bergstollen, in den ihn die Frau geführt hat, deren Name selbst »wie Selvot oder Gronleit oder Malga Mendana« (G: 245), wie Bergnamen also, klang. Das Licht in der Höhle ist am Ende ebenfalls wie der Name dieser Frau: dunkelgrau. Dies alles nimmt Homo aber nicht wahr. Möglicherweise vollzieht sich um ihn herum ein Mysterium, von dem er nichts weiß, obwohl er daran teilhat. Schon die ältere Forschung (vgl. Kaiser/Wilkins 1962) weist darauf hin, dass Grigia stellenweise mit dem Skarabäus gleichgesetzt wird (vgl. ebd.: 112), wenn eine weibliche Gestalt ein riesiges Heubündel (Sonne, Gold) formt und rollt, um es fortzubewegen, wie der »Pillendreher, jener Käfer« (G: 248), und Homo fragt: »[O]der war das nicht Grigia?« (G: 249) Sowohl der Stoff um die Königin der Nacht7 als auch die Anspielungen auf die Isis-Mysterien8 durch Grigia als Erscheinungsform der gehörnten Isis, zu der Sonne und Mond gehören, weisen darauf hin, dass sich noch etwas anderes außerhalb von Homos Wahrnehmung vollzieht. Zudem wird Grigia des Öfteren mit der grauen Erde in Verbindung gebracht, etwa wenn sie mit bloßen Schenkeln und dem nackten Geschlecht unter ihren Röcken auf einem Kartoffelacker kauert (»die Erde, die durch ihre schlanken, rauhen Finger rann, berührte ihren Leib«, G: 249), oder wenn Homo beim Geschlechtsakt nicht die Frau spürt, sondern Erde: »Noch einmal rann Grigia wie weich trockene Erde durch ihn« (G: 251).
Es deutet sich, vermittelt über die diachrone Interkulturalität der Einflechtung altägyptischer Erzählungen und Bilder, eine mystische Zeit an, wobei Temporalität und Interkulturalität abermals miteinander verwoben werden: Die mystische Zeit scheint nur vermittelt über die Immersion in altägyptische Mythen auf. Freilich bleibt das, was in dieser Zeit gemessen werden könnte, im Dunkeln. Musil vollzieht gestalterische Arbeit am Mythos, ohne von seinem Wiedereintreten im Sinne einer Bewahrheitung auszugehen. Es finden sich zu wenig Indizien für ein lediglich »symbolisches Begrabenwerden« (Kaiser/Wilkins 1962: 115) und eine Wiederauferstehung als Eingeweihter, denn Homo ist gerade der Mensch, der keineswegs versteht, dass er als ›Narr‹ so weit entfernt von dem aurum nostrum der Alchemisten ist als möglich. Dass das »bunte schlanke Menschlein« (G: 249), bei genauerem Hinsehen so harmlos nicht ist, sondern womöglich als Isis und/oder Skarabäus agiert, wird immer deutlicher. Homo ahnt dies vielleicht bereits, wenn er Grigia scherzhaft mit einem giftigen Pilzlein vergleicht – ein Teil der lebendigen Natur, der über seine Lebenszeit entscheiden kann. Durch seine »Ungläubigkeit« als »gebildete[r] Mensch« (G: 251) verweigert er der »Ordnung der Natur« (G: 251) ihre plural-zyklische Zeit. Dadurch, dass er am Ende, vermittelt über die interkulturellen Begegnungen, mit dem Rückblick aus der Höhle auf Felder und Sonne eindeutig in die zyklische Ordnung der Natur eingeht, wird deren Überlegenheit gegenüber dem technizistisch-fortschrittsgläubigen monokulturellem Selbstverständnis deutlich. Wenn Mozart Amadeo Hoffingott ein »alter ego Homos« (Pott 1984: 51) ist, dann insofern, als sie beide die ›Sonnenscheibe‹ der Isis entreißen wollen, durch ihre Goldsuche im Erdreich wie durch die männliche Monopolisierung von Logik und Technik. Deshalb könnte es auch nahe liegen, dass in Grigia eine Tochter der Königin der Nacht einen Abkömmling Sarastros – Homo – tötet.9 Sollte es ein ›Erwachen‹ für ihn geben, dann dank einer Kraft, die nicht die seine ist und in die er nicht initiiert wurde. So betrachtet, lässt sich Musils Arbeit am Mythos als Hommage an die lebendige plurale Zeit des interkulturell, geschlechtlich und epistemisch Fremden auffassen.
Anmerkungen
1 Die Sigle G bezeichnet Musil 1978.
2 Eine übergreifende Systematisierung der Spielarten und Implikationen diachroner Interkulturalität hat Eva Wiegmann entworfen (vgl. Wiegmann 2018). In diesem Text wird diachrone Interkulturalität erzählt und reflektiert, indem die Folgen von Migrationen, die vor Jahrhunderten stattgefunden haben, intradiegetisch in der Sprache, teilweise auch in Haltung und Lebenseinstellung – auch in der Bereitschaft zur Arbeitsmigration – wirksam sind.
3 »Er hatte noch nie an diesen Menschen gedacht, der bei den Arbeiten verwendet wurde« (G: 251).
4 Die Bedeutsamkeit der Aufzeichnungen Musils während seines Aufenthalts an der österreichisch-italienischen Grenze in der Zeit des Ersten Weltkriegs für die Erzählung Grigia wurde von Rosemarie Zeller belegt und ausgewertet (vgl. Zeller 2001/2002).
5 Jost Hermand hat bereits 1962 angeregt, in Grigia eine literarische Antwort auf diese Novelle Thomas Manns zu sehen, ohne den Gegensatz zwischen beiden so stark herauszustellen (Hermand 1962).
6 Dafür spricht die von Pott beschriebene ›Begegnung‹ Musils mit Mozart vermittelt über E.T.A. Hoffmann, wobei die Zauberflöte, insbesondere die Gestalt der Königin der Nacht, Fluchtpunkt des Interesses war (vgl. Pott 1984: 51).
7 Neben dem Namen Mozarts beschreibt die Erzählerstimme die Gegend, in die sich Homo begibt, als Reich der bestirnten Nacht, denn »in dem Aussehen dieser Gegend, das so fremd vertraut flackerte wie die Sterne in mancher Nacht« (G: 235), meint Homo eine Verheißung zu erkennen.
8 Musil hatte sich auch im Zuge seiner Novalis-Rezeption intensiv mit der Figur der Isis befasst (vgl. Patrut 2021); in diesen Zusammenhang gehört das für sein Werk bedeutsame Gedicht Isis und Osiris.
9 Im Zusammenhang des Zyklus Drei Frauen betrachtet, in dem auf Grigia noch Die Portugiesin und Tonka folgen, fällt auf, dass Homo der am wenigsten lernfähige männliche Protagonist ist, der auf seinem okkupatorisch-homogenisierenden Weltbezug bis zum Schluss beharrt; dies könnte seinen Tod motivieren, in dem Sinne, dass er mit einer Null-Zeit für die Nichtanerkennung kultureller und weiterer Alteritäten gestraft wird.
Literatur
Bickenbach, Matthias (2019): Robert Musils Kakanien und die Psychotechnik der Nationen als Identitätskonstruktion. In: Walter Pape/Jiří Šubrt (Hg.): Mitteleuropa denken: Intellektuelle, Identitäten und Ideen. Der Kulturraum Mitteleuropa im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin, S. 373-389.
Busch, Kathrin/Därmann, Iris (2007): Einleitung. In: Dies.: »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld, S. 7-31.
Gamper, Michael/Hühn, Helmut (2014): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Hannover, S. 7-23.
Gess, Nicola (2012; Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin.
Hermand, Jost (1982): Robert Musils Grigia. In: Monatshefte 54, H. 4, S. 171-182.
Honold, Alexander (2005): Das andere Land. Über die Multikulturalität Kakaniens. In: Gunter Martens/Clemens Ruthner/Jaak DeVos (Hg.): Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Berlin u.a., S. 259-276.
Ders. (2009/2010): Fremdheit, Feindschaft. Österreichische Ökumene bei Musil und Handke. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 31, S.140-159.
Ders. (2015/2016): Hysteron proteron. Zur Verschränkung von Krieg und Roman im Mann ohne Eigenschaften. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 34, S. 5-29.
Kaiser, Ernst/Wilkins, Eithne (1962): Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart.
Krottendorfer, Kurt (1995): Versuchsanordnungen. Das experimentelle Verhältnis von Literatur und Realität in Robert Musils Drei Frauen. Wien.
Mülder-Bach, Inka (2018): Rückkehrer, Umkehrer und »angenommene Hausgenossen«. Figurationen der Heimkehr bei Musil. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 92, H. 2, S. 269-286.
Musil, Robert (1978): Grigia. In: Ders.: Gesammelte Werke in 9 Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 6: Prosa und Stücke. Reinbek b. Hamburg, S. 234-252.
Patrut, Iulia-Karin (2021): Musils ›Portugiesin‹ liest Novalis. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12, H. 1, S. 41-59.
Pott, Hans-Georg (1984): Robert Musil. München.
Wiegmann, Eva (2018): Einführung. Zu einer diachronen Interkulturalitätsforschung. In: Dies. (Hg.): Diachrone Interkulturalität. Heidelberg, S. 9-26.
Zeller, Rosemarie (2001/2002): Grenztilgung und Identitätskrise. Zu Musils Törleß und Drei Frauen. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 27, S. 189-209.