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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen: Gesellschaften und ihre Zeitformen (Karen Gloy)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen

Gesellschaften und ihre Zeitformen (Karen Gloy)

Gesellschaften und ihre Zeitformen

Karen Gloy

Abstract

Since the oldest times, humans have been dealing with the phenomenon of time, as the experience of time is a fundamental element both of human existence and of the sciences, of art, of religion, indeed of culture anyway. However, there is no common idea of what time is. The conception of time varies according to the society-specific mode of perception. To trace down the connection between time and society, the purpose of this study is to analyse different types of time (boss time, cyclical time, linear time, accelerating time) in the societal context and to investigate in how far they follow any ›natural structure‹ given in the world or in how far they are intellectual constructs becoming manifest by different ideas of time. In this context, also aspects of the subjective experience of time and possibilities of time-related acting are discussed.

Title

Societies and Their Kinds of Time

Keywords

kinds of time; experience of time; chronotypes; multitemporality; deceleration

1. Einheit der Zeit – Vielheit der Zeiten?

Seit Urzeiten beschäftigen sich Menschen mit dem Phänomen der Zeit, da die Zeiterfahrung ein Grundbestandteil menschlicher Existenz ist wie auch der Wissenschaften, der Kunst, der Religion, der Kultur überhaupt. Der Mensch scheint sein Dasein und seine Stellung in der Welt nur erhellen zu können, wenn er sich Rechenschaft gibt, was Zeit und zeitliche Existenz ist.

Was bedeutet Zeit? Geht man dieser Frage im Rückblick auf die Geistes- und Kulturgeschichte nach wie auch im Überblick über die gegenwärtig herrschenden, global expandierten Wissenschaften, so wird man verblüfft feststellen, dass es die Zeit nicht gibt, vielmehr nur eine Vielzahl heterogener kulturspezifischer und wissenschaftsspezifischer Zeitkonzepte. Angesichts ihrer Pluralität kann man Zweifel hegen, ob sich ein genereller Oberbegriff ›Zeit‹ überhaupt finden lässt, unter den die heterogenen Auffassungen subsumierbar sind. Wir müssen Abschied nehmen von der uns so lieb gewonnenen und kulturell tief eingeschliffenen Vorstellung einer Fließzeit, die wir nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auffächern. Diese Zeitvorstellung in ihrer wissenschaftlichen Form, nämlich als potenziell unendliche, kontinuierliche, homogene Zeit ist erst neueren Datums. Sie geht auf den Physiker Newton (1642-1726) zurück, der sie zusammen mit dem potenziell unendlichen, kontinuierlichen, homogenen Raum in seiner Physik benötigte, um eine gradlinig gleichförmige Bewegung, die durch keine äußeren Kräfte von ihrer Bahn abgelenkt wird, erklären zu können. Auf diese Weise versuchte Newton, so heterogene empirische Bewegungen wie den Fall eines Apfels und die Gravitation unter einen Hut zu bringen.1

Wir müssen uns klarmachen, dass nicht alle Völker und alle historischen Epochen unsere triadische Zeitauffassung teilen, sondern teilweise dualistische Konzepte haben wie die Hopi, eine indigene Bevölkerungsgruppe in Arizona, die Vergangenheit und Gegenwart zu einer einzigen Form zusammenzieht, da beide Faktisches enthalten: Vergangenes, das einmal eingetreten ist und weiter existiert, zumindest in der Erinnerung, und real Gegenwärtiges; ein Futur, das aus Wünschen, Erwartungen oder Befürchtungen hervorgegangen ist, wird ergänzt. Ebenso gibt es Völker, die nur eine monistische Präsenzzeit, ein Hier und Jetzt, kennen, was vor allem bei Naturethnien wie bspw. den Korrowai, Kombai oder Tauze der Fall ist, und schließlich auch solche, die überhaupt keine Tempora kennen und benutzen, sondern sich ausschließlich für Aktionsarten und Aspekte interessieren. Das gilt z.B. für unsere Nachbarvölker, die nicht der indogermanischen Sprachfamilie angehören, vielmehr finnougrische und slawische Sprachen sprechen. Und auch in unserer eigenen Geschichte gab es – dem Indogermanisten Wilhelm Streitberg zufolge – eine Frühzeit, die sich nur für das, was wir heute Aspekte nennen, interessierte, ob ein Vorgang imperfektiv, also unvollendet, oder perfektiv, also vollendet ist, oder nur Interesse an Modi (Aktionsarten) hatte wie durativ (dauernd), ingressiv (beginnend), resultativ (beendend), effektiv (bewirkend), iterativ (wiederholend) usw. (vgl. Streitberg 1891). Relikte solcher Auffassung begegnen noch heute sprachlich in dem Unterschied von blühen, einem durativen Vorgang, und erblühen, einem haptisch-effektiven Vorgang, oder steigen (z.B. einen Berg kontinuierlich hinaufsteigen) und ersteigen, d.h. einen Gipfel erklimmen. Die Meinung, es gebe nur eine einzige Zeitauffassung und diese sei unsere heutige vulgäre, beruht auf einem Vorurteil und befördert allenfalls einen Eurozentrismus, der nicht nur einer interkulturellen Verständigung im Wege steht (vgl. Gloy 2012: 26-32), sondern auch einer vorurteilsfreien wissenschaftlichen Erklärung der Welt.

Ich möchte in diesem Beitrag auf einige verschiedene Zeittypen eingehen, und zwar

  • erstens auf die sogenannte Buckelzeit, die ein Auf und Ab, ein Entstehen und Vergehen bedeutet,
  • zweitens auf die zyklische Zeit, die durch eine sich in den Schwanz beißende Schlange (Uroboros) symbolisiert wird,
  • drittens auf den geradlinigen Zeittyp, die Linearzeit, unter der wir unsere gewöhnliche potenziell unendliche, homogene, kontinuierliche Zeit verstehen,
  • viertens auf die akzelerierende, sich beschleunigende Zeit, wie sie die Gegenwart bestimmt und zwei Auswege zulässt, entweder das Weitermachen um jeden Preis und dann zu Zeitprogrammen der KI-Forschung führt oder die Entschleunigung der Zeit, die Ruhe und Stille zur Folge hat wie in kontemplativen Religionen, vor allem im Buddhismus.

Methodisch werde ich so vorgehen, dass ich zunächst die einzelnen Zeittypen philosophisch-schematisch analysiere und dann jeweils daraufhin untersuche, inwiefern sie einer in der Welt gegebenen ›natürlichen‹ Struktur folgen bzw. inwieweit sie geistige Konstrukte sind, die sich kulturspezifisch in unterschiedlichen Zeitvorstellungen manifestieren. Dabei werden auch Aspekte des subjektiven Zeiterlebens und Möglichkeiten zeitbezogenen Handelns diskutiert.

2. Die Buckelzeit und archaische Gesellschaften

Mit der Bezeichnung ›Buckelzeit‹ ist einer der ältesten Zeittypen gemeint, der dem pflanzlichen und tierischen Werden und Vergehen mit seinem Auf- und Abstieg und der Klimax als Wendepunkt, dem sogenannten Buckel, abgeschaut ist. Der locus classicus dieses Zeittyps findet sich im Alten Testament im Buch Kohelet (Der Prediger Salomo).

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.

Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,

würgen und heilen, brechen und bauen,

weinen und lachen, klagen und tanzen,

Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen,

suchen und verlieren, behalten und wegwerfen,

zerreißen und zunähen, schweigen und reden,

lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit. (Prediger 3,1-8)

In acht Versen werden hier unterschiedlich erlebte Zeitabschnitte einander konfrontiert, die durch gegensätzliche Ereignisse und Handlungen des alltäglichen Lebens charakterisiert sind. Positive Zeiterlebnisse stehen negativen gegenüber und schlagen ineinander um. Im Unterschied zu der uns zumeist bekannten und gebräuchlichen Zeit, der gradlinig homogenen, die wir in beliebige Abschnitte einteilen und mit beliebigem Inhalt füllen können, handelt es sich hier um eine vom Inhalt her bestimmte Zeit, die als Subjekt selbst, das handelt und Ereignisse hervortreibt, verstanden wird. Es ist die Zeit selbst, die bestimmt, wann etwas an der Reihe ist, sei es als Entstehen oder Vergehen, Werden oder Verschwinden, sei es als Freude oder Trauer, Verbinden oder Trennen, Lachen oder Weinen, Frieden oder Streit, kurzum, als Auf und Ab des Lebens. Die Orientierung an Lebens- und Naturprozessen zwingt dazu, hier nicht nur von einem Reifen und Vergehen in der Zeit, sondern von dem Reifen und Vergehen der Zeit selbst zu sprechen, wobei die Zeit als ein Seiendes unterstellt wird, das als solches dem Werden und Vergehen unterliegt. Relikte dieser Zeitauffassung finden sich in noch immer gängigen deutschsprachigen Redewendungen: ›die Zeit reift‹ oder ›die Zeit ist noch nicht reif‹, ›die Zeit lässt Wunden heilen und macht vergessen‹, ›die Zeit ist gekommen, wenn die Pfirsiche im Schatten platzen‹ u.Ä. In diesen Fällen stellt die Zeit nicht eine bloße Form für ein Geschehen dar, sondern ist selbst das Geschehen, so wie das Korn auf dem Felde reift und bei Reife verdorrt oder geschnitten wird oder ein Prozess, der von Verwundung bis zu Heilung reicht.

Diese Eigenart legt zugleich das Verhältnis des Menschen zu dieser Zeit fest. Der Mensch ist in das Zeitgeschehen integriert; so dass sich damit die ethische Aufforderung verbindet, das Zeitgeschehen als etwas Natürliches zu akzeptieren und sich ihm zu überlassen, nicht dagegen anzugehen und aufzubegehren, wie dies der moderne Mensch tut, der Herr über die Zeit zu sein vermeint, gemäß dem cartesischen Motto des maître et possesseur de la nature. Der moderne Mensch in der globalisierten Welt lebt wider die natürliche Zeit und ihre Rhythmik. Er teilt sie willkürlich nach seinem Belieben ein, positioniert seine Arbeiten und Verpflichtungen darin, häuft sie beliebig an, drängt sie zusammen oder zieht sie in die Länge. Er macht die Nacht zum Tag durch künstliche Beleuchtung; er arbeitet rund um die Uhr zum Zwecke der Produktionssteigerung; er macht Trockenzeiten durch künstliche Berieselung der Felder zu fruchtbaren Zeiten. Auch wenn die spezifischen Zeiten gegen ihn und seine Anliegen sprechen, setzt er sich über die natürlichen Zeitstrukturen hinweg, nimmt Stress und Hetze mit allen damit verbundenen physischen und psychischen Krankheitserscheinungen auf sich. Der moderne Mensch opponiert gegen die Zeit, die dann oft nicht für ihn, sondern gegen ihn spricht. Einen konträren Umgang mit Zeit beschreiben die Verse des Alten Testaments, die dem Menschen raten, sich dem natürlichen Rhythmus der Zeit zu überlassen und sich in das Geschehen der Natur einzufügen, kurzum, Gelassenheit im Umgang mit der Zeit zu üben, was – entgegen dem heutigen zeitökonomischen Denken – kein Plädoyer für Faulheit ist, sondern eine Aufforderung, naturgemäß zu leben, zu gegebener Zeit auch zu genießen und die Seele baumeln zu lassen, um neue Kraft zu schöpfen.

Bei diesem Zeittyp dürfte es sich um einen der ursprünglichsten handeln, da er an der Natur und dem natürlichen Leben selbst orientiert ist. Er ist charakteristisch für archaische Völker, so dass es nicht zufällig ist, ihn im Alten Testament, in einer Zeit ca. 500/600 Jahre v. Chr. zu finden.

3. Zyklische Zeit und Agrargesellschaft

Achtet man nicht nur auf das Auf und Ab mit Kulminations- und Tiefpunkt, sondern auf den Rhythmus, die Wiederkehr dieses Auf und Ab, demzufolge nach jedem Aufschwung, Wachsen und Gedeihen ein Abfall erfolgt, wie auch umgekehrt auf jeden Abfall und Untergang ein Neuanfang und neuer Aufstieg, also ein Stirb und Werde, dann gelangt man zur Vorstellung einer zyklischen Zeit, bei der das Ende ein neuer Anfang und der Anfang zugleich das Ende ist und die Zeit somit ständig in sich selbst kreist. Man würde diese Zeit, die, mit Friedrich Nietzsche zu sprechen, eine ewige Wiederkehr des Gleichen ist, gründlich missverstehen, wenn man die Kreise nummerieren und zählen wollte, da dies die Einordnung in eine Linearzeit voraussetzte. Für sich genommen ist ein Zyklus, ob es sich um den Jahreszeitenzyklus oder Tageszeitenzyklus oder um ein anderes rhythmisches Geschehen handelt, von kürzerer oder längerer Dauer, in sich geschlossen und wiederkehrend, ohne dass vorhergehende oder nachfolgende Zyklen mit in den Blick genommen werden müssten. Aus dem Grundphänomen eines Jahresablaufs oder eines sonstigen wiederkehrenden Zyklus folgt nicht, wie viele solcher Jahre oder Zyklen vorangegangen sind oder folgen werden, woraus sich im Prinzip die Möglichkeit einer endlosen Vergangenheit und Zukunft wie ebenso einer in sich stehenden Gegenwart ergibt.

Zyklische Zeitgestalten treten vorwiegend im Naturbereich auf. Sie sind uns aus dem täglichen Leben bekannt, aus der Atmung, Systole und Diastole, aus dem Wechsel von Tag und Nacht, aus dem Rhythmus der Jahreszeiten von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wir beobachten sie an unserem eigenen Körper als Temperaturschwankung, Wach- und Schlafrhythmus, als Wechsel von Konzentration und Erschlaffung. Auch für die Psyche, das Gemüt und den Geist des Menschen sind sie konstitutiv. Es gibt Zyklen von extremer Kürze wie Millisekunden bei Cilien, von Sekunden wie dem Herzschlag, von Stunden, Tagen, Wochen, Monaten wie dem zirkadianen Rhythmus oder dem siebentägigen Sexualrhythmus, dem Monatszyklus, und Zyklen von extremer Länge wie dem elfjährigen Populationszyklus von Tierarten.

Diese Zeitgestalten sind seit mehr als 50 Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung und haben zur Etablierung einer neuen Wissenschaft, der Chronobiologie, geführt. Im 20. Jahrhundert begannen deutsche Forscher die innere, sogenannte zirkadiane Uhr mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen. So wurden von Jürgen Aschoff und Rütger Wever ab Mitte der 1960er Jahre Experimente mit Versuchspersonen angestellt, die sich freiwillig in eine unterirdische Höhle begaben ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt und ohne jegliche Konstatierungsmöglichkeit des Tag- und Nachtwechsels. Ziel der Experimente war die Isolierung der inneren Uhr des Menschen ohne Beeinflussung durch die objektive Weltzeit (vgl. u.a. Aschoff/Wever 1981).2 Dabei zeigte sich, dass die meisten Versuchspersonen in zeitlicher Abschottung von der Außenwelt längere Tage erlebten als die gewöhnlichen. Für die meisten dauerte ein Tag 25, nicht 24 Stunden, bei manchen sogar bis zu 50, ohne dass die Versuchspersonen den mehr oder weniger großen Abstand zum 24-Stunden-Rhythmus bemerkten. Ein Doktorand, der in der selbst gewählten Isolation seines unterirdischen fenster-, fernseher- und telefonlosen Bunkers seine Dissertation innerhalb von acht Wochen schreiben wollte und sich nur bemerkbar machen sollte, wenn die Einsamkeit für ihn unerträglich würde, stellte bei Anklopfen des Versuchsleiters erstaunt fest, dass die Zeit bereits um sei, da nach seiner eigenen Zählung erst sechs der acht Wochen vergangen waren. Die zirkadiane Uhr von 24 bis 25 Stunden beim Menschen dürfte genetisch bedingt sein und sich im Laufe von Jahrtausenden oder Jahrmillionen der Evolution in Adaptation an die Umwelt gebildet haben.

Sie wechselt von Individuum zu Individuum. Wir alle kennen Frühaufsteher, sogenannte Lerchen, wie auch Morgenmuffel, die daher auch Nachteulen heißen. Eilen die Ersteren dem Tag voraus, so hinken die Letzteren ihm hinterher. Das Wissen um die verschiedenen Chronotypen und ihr richtiger Einsatz in der Arbeitswelt hätte beträchtliche Auswirkungen, was die Regelung der Arbeits- und Freizeit, z.B. Nachtschichten, Wochenendarbeiten u.Ä. betrifft. Die Berücksichtigung in der Arbeitszeitplanung könnte zumindest in großen Betrieben dazu führen, dass die Arbeitenden nicht ständig gegen ihre biologische Uhr verstoßen müssten, was sich nicht nur positiv auf die Gesundheit, sondern auch auf die Produktivität auswirken würde (vgl. Weidner 2014).

Bezüglich des Menschen kennt man 150 Rhythmen wie Pulsschlag, Blutdruck, Körpertemperatur, Rhythmen von unterschiedlicher Länge, von extremer Kürze im molekularen Bereich, von größeren Zeiträumen, was die Lebensabschnitte betrifft. Die Synchronisation dieser Rhythmen mit den externen Zeitgebern wie dem Wechsel von Hell und Dunkel, dem Wechsel der Außentemperatur, dem Nahrungsangebot usw. muss täglich neu hergestellt werden, wobei eine gewisse Elastizität besteht, die dem Menschen Reisen über Zeitzonen hinweg ermöglicht ohne Jetlag. Diese Flexibilität ist allerdings begrenzt. So hat der amerikanische Psychologe Martin Moore-Ede in seinem Buch Die Nonstop-Gesellschaft nachgewiesen, dass die Atomkatastrophen von Harrisburg und Tschernobyl, die Giftgaskatastrophe von Bhopal, die Kollision des Öltankers Exxon Valdez, die alle mitten in der Nacht geschahen, auf Konzentrationsmangel durch Übermüdung der Verantwortlichen zurückgingen (vgl. Moore-Ede 1993).

Während naturnah lebende archaische Völker – dasselbe gilt für die Vorneuzeit und die Agrargesellschaften mit ihrer regelmäßigen Feldbestellung, der Vorbereitung der Felder, dem Säen und Jäten, dem Ernten und der Überwinterung des Getreides oder der Beachtung der Fertilitätszyklen der Tiere bei Tierhaltung – weitgehend in Übereinstimmung mit den natürlichen Rhythmen wie dem Tag- und Nachtzyklus, dem Jahreszeitenzyklus, den Rhythmen von Nahrungsüberfluss und Nahrungsmangel leben, hat unsere gegenwärtige Kultur und Zivilisation diese inhärenten Systemzeiten außer Kraft gesetzt – z.B. mit der Aufhebung der Ladenschlusszeiten, der Flexibilisierung der Arbeitszeit usw. mit der Folge von Gesundheitsschäden für Leib und Seele. Die bei Kleinkindern zu konstatierenden Schäden einer in den natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus massiv eingreifenden Zeitökonomie, die sich nach dem Arbeitsrhythmus der Eltern richtet, waren in einem früheren amerikanischen Wahlkampf eines der großen Themen. Naturgemäß zu leben, den Eigenzeiten zu folgen, würde zweifellos zur Entlastung des modernen Menschen und seiner Gesunderhaltung, damit auch zur Einsparung von Krankenkassenbeiträgen beitragen; das Gegenteil ist jedoch der Fall in der gegenwärtigen westlichen Highspeed-Gesellschaft.

4. Linearzeit und gegenwärtige Gesellschaft

Unsere gängige Zeitauffassung, wie sie dem Alltag wie auch der physikalischen Wissenschaft zugrunde liegt, ist die fließende Zeit, die durch den Zeitpfeil repräsentiert wird. Mathematisch exakt definieren wir sie als potenziell unendliche, homogene, kontinuierliche Zeit, die teilbar ist in immer wieder Teilbares, so dass alle Teile gleich strukturiert und relativ sind. Im Unterschied zu den im Vorangehenden diskutierten inhaltlich bestimmten qualitativen Zeiten, die von Ernst Cassirer auch ›Zeitgestalten‹ (vgl. Cassirer 1987: 133) genannt werden, handelt es sich hier um eine rein formale, inhaltslose, quantifizierbare, metrisierbare Zeit, die nicht an einen spezifischen Inhalt gebunden ist, also nicht qualitativ ist, sondern ein quantitatives Messinstrument in der Hand des Menschen darstellt, um Abläufe und Dauern zu bestimmen. Einem Gradnetz gleich werfen wir sie über die Wirklichkeit, um diese einzufangen und messbar zu machen. Diese Zeit ist ein Instrumentarium zur Zeitbestimmung und Beherrschung der Natur und aller kulturellen Vorgänge, mit dem Exaktheit, Präzision und Pünktlichkeit verbunden sind.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass diese Zeitauffassung eine reine Hypothese darstellt. Obwohl sich schon die antiken Philosophen und Mathematiker mit der Einteilung der Zeit befassten, war es doch erst Newton, der in der Neuzeit diese Zeitauffassung theoretisch prägte, um eine gradlinig gleichförmige Bewegung, die nicht durch irgendwelche äußeren Kräfte aus ihrer Bahn abgelenkt wird, erklären zu können. Hierzu benötigte er sowohl eine einheitliche Zeit wie einen einheitlichen Raum als Weltschachteln, in die alle Dinge, Ereignisse und Prozesse eingeordnet werden können, um sie in ubiquitärer Gleichzeitigkeit überschauen zu können. Newton war allerdings ehrlich genug, sich einzugestehen, dass diese Konstruktion keine endliche, menschliche, sondern eine absolute, göttliche ist, die ein transzendentes Wesen auf einem archimedischen Standpunkt außerhalb der Zeit voraussetzt, von dem aus sich alles in ubiquitärer Gleichzeitigkeit überschauen lässt. So bezeichnet Newton Raum und Zeit denn auch in seiner Optik als »Sensorium Gottes« (Newton 1964: 262). Das bedeutet im Blick auf die Zeit, dass sie extern, nicht intern betrachtet wird. Die hier als Fluss vorgestellte Zeit wird in ihrem gesamten Ablauf von einem auswärtigen festen Standpunkt überblickt; denn solange man sich im Fluss befindet und gleichgeschwindig mit ihm schwimmt, bemerkt man das Fließen nicht. Dieses wird erst konstatierbar, wenn man sich aus dem Fluss herauskatapultiert hat ans feste Ufer und von dort den Strom als ganzen überblickt. Während sich Newton Raum und Zeit noch als objektive Behälter dachte, werden sie bei Kant zu subjektiven Anschauungsformen, unter denen wir die Dinge der Welt erkennen gemäß unserem menschlichen Erkenntnis- und Vorstellungsvermögen.

Dieses Zeitkonzept hat uns viele Vorteile gebracht und uns unseren Reichtum und gegenwärtigen Wohlstand beschert. In ein bestimmtes Zeitquantum, das sich als Arbeits- und Geschäftszeit fixieren lässt, können wir ein bestimmtes Quantum an Produktivität und eine bestimmte Menge an Produkten packen, was sowohl dem Auftraggeber wie dem Produzenten wie auch dem Arbeiter Übersicht, Ordnung, Exaktheit und Präzision in der Arbeitseinteilung ermöglicht, ohne dass irgendwelche Zeit verschwendet wird. Aufgrund dieser Zeiteinteilung können wir Termine für Treffen oder Produktionsabschlüsse einhalten, für die Zukunft prognostizieren und vor­ausberechnen, wie viel an Produkten aller Wahrscheinlichkeit nach hervorgebracht werden und verteilt werden kann, insofern sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit auf die Erwartungen in der Zukunft schließen lässt.

Allerdings sind inzwischen auch die Nachteile dieses Herrschaftswissens und Herrschaftsinstrumentes über die natürlichen Abläufe sichtbar geworden. Die negativen Aspekte zeigen sich insbesondere, wenn dabei, wie gegenwärtig zu beobachten, nicht mehr an einer homogenen, gleichartigen Zeitvorstellung festgehalten wird, sondern von einer akzelerierenden Zeit ausgegangen wird, bei der in immer kleinere Einheiten immer größere Mengen an Produktivität und Produkten gesteckt oder erwartet werden, deren Folge eine Mehrproduktion ist. Diese hinwiederum gibt Anlass zu einer erneuten Beschleunigung der Zeit in Zukunft und so in infinitum nach dem Motto ›immer schneller‹, ›immer mehr‹. Unter dieser Tempoversessenheit und ihrer Produktionsauffassung leiden wir gegenwärtig. Beim Kauf eines neuen Computers steht bereits fest, dass er veraltet ist und in Kürze zu einem Neukauf motiviert. Nach dem Moore’schen Gesetz, welches allerdings kein Naturgesetz, sondern eine empirische Faust- und Erfahrungsregel ist, verdoppelt sich die Packungsdichte auf Computerchips im Mittel alle 20 Monate (manche sprechen auch von 18 Monaten). Die Turbo-Entwicklung unserer modernen Gesellschaft führt dazu, dass Maschinen, ohne dass sie verbraucht sind, durch eine neue Generation ersetzt werden. Über diese Entwicklung, die nicht auf den technisch-ökonomischen Bereich beschränkt ist, gibt es Statistiken. So hat beispielsweise Derek J. de Solla Price gezeigt, dass seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Zahl der Publikationen in den Wissenschaften exponentiell zugenommen hat, wobei im Durchschnitt alle 14 Jahre eine Verdoppelung erfolgte, d.h. in zwei Jahrhunderten ihre Zahl auf etwa 215 angestiegen ist (vgl. de Solla Price 1975). Medizinische und physikalische Ergebnisse, die in Nature publiziert werden, sind am Tage ihrer Publikation bereits überholt. In der gleichen Periode ist die Zahl der Wissenschaften etwa 28 größer geworden. In jedem Wissenschaftsbereich arbeiten im Durchschnitt etwa 10³ Wissenschaftler in der Scientific Community.

Die akzelerierte Entwicklung der Zeit ist jedoch noch nicht alles, hinzu kommt zu dieser Linearentwicklung eine Breitenentwicklung in den Raum hinein durch das sogenannte Multitasking, das die Fähigkeit des Menschen oder eines Betriebssystems beschreibt, mehrere Aufgaben (Tasks) zur gleichen Zeit, quasi nebenläufig auszuführen und die Produktivität somit nicht nur in der Zeit, sondern auch in den Raum hinein auszubreiten. Der Grundgedanke dieser Optimierung ist die vollständige Auslastung. Bei einem durchschnittlichen Computer bleibt gewöhnlich ein minimaler Teil der Rechenzeit ungenutzt, weil häufig auf verhältnismäßig langsame externe Ereignisse gewartet werden muss, beispielsweise auf den nächsten Tastendruck des Benutzers. Um die Wartezeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, ist man auf die Idee gekommen, die Wartezeit zwischen zwei Prozessen durch gleichzeitige, simultane Arbeit zu nutzen. Der Mensch weist gegenüber Maschinen zwar nur eine begrenzte Kapazität für Multitasking auf, kann diese aber, wie Experimente gezeigt haben, steigern, d.h. zugleich mit Verstand einen Text lesen, ein klassisches Musikstück hören, ein Telefonat führen und Notizen niederschreiben. Das Telefonieren bei Steuerung eines Autos, das zwar verboten ist, ist inzwischen bereits zur Alltagsgewohnheit geworden.

Diese Möglichkeit führt zu ganz anderen Zeitmodellen wie z.B. zu dem der Multitemporalität, das im Folgenden anhand der Novelle Garten der Pfade, die sich verzweigen (El jardín de senderos que se bifurcan) des argentinischen Romanciers Jorge Luis Borges demonstriert werden soll. In dieser fantastischen Erzählung wird das abgründige Zeitproblem und insbesondere der neue Typ der Multidimensionalität und -temporalität durch das Symbol des Labyrinths der sich verzweigenden Pfade zur Anschauung gebracht.

Der Inhalt der nicht nur zeittheoretisch, sondern auch interkulturell angelegten Novelle (die Handlung bewegt sich in einem chinesisch-deutsch-englischen Spannungsfeld und läuft auf eine tödliche Konfrontation des chinesischen Protagonisten Yu Tsun mit dem Sinologen Dr. Stephen Albert hinaus) besteht darin, dass das Universum ein unendliches Labyrinth ist, nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Art. Der Garten der sich verzweigenden Pfade ist das Symbol einer sich verästelnden Zeit, wobei jeder Pfad Ausgangspunkt weiterer Verzweigungen ist. Manchmal streben die Pfade des Labyrinths auseinander, manchmal zusammen, manchmal laufen sie parallel. Es ist ein unendliches »Schwindel erregendes Netz auseinander und zueinander strebender und paralleler Zeiten«, ein Webmuster, das »alle Möglichkeiten« (Borges 2000: 172) umfasst, wobei Multitemporalität und Multiperspektivität einander überlagern. Während in der gewöhnlichen Linearzeit ein Mensch angesichts verschiedener Alternativen sich für eine bestimmte entscheiden muss und damit die anderen übergeht, entscheidet er sich in der Labyrinthzeit gleichzeitig für alle, obwohl er auch hier nur im Bewusstsein einer Welt lebt. Der Widerspruch zwischen fiktiver multitemporaler Labyrinthzeit und realer linearer Normalzeit löst sich dadurch, dass der Mensch zwar in beiden Zeiten lebt, unbewusst in der Labyrinthzeit, bewusst in der realen Zeit, in der er auch die Konsequenzen seiner Entscheidung zu tragen hat.

Ein zweites Beispiel stammt aus der Malerei. Während die verbale, sukzessiv verfahrende Literatur die Gleichzeitigkeit mehrerer Zeitverläufe über deren Synthesis oder Schichtung zu erreichen sucht, verfährt die nonverbale, an sich schon räumliche Malerei so, dass sie die zeitlichen Phänomene gleichzeitig präsentiert. Das ist seit etwa 1880 der Fall in der Malerei Cézannes, van Goghs, Picassos, Severinis und anderer. In seinen Landschaftsgemälden von Sainte-Victoire in der Provence führt Cézanne die Mehrperspektivität ein, indem er das feste Gebirgsmassiv, die soliden Häuser und Bäume in Farb- und Gestaltflecke auflöst und unter ständig wechselnden Perspektiven zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten wieder zusammensetzt, überlagert, übereinanderschichtet und so die Morphologie der Landschaft, die Gesteinsschichten, den Aufbau der Häuser, die Baumschichten transparent werden lässt. Bei Picasso findet sich ein ähnlicher Malstil auf den Profil-en-face-Simultanbildern wie dem Porträt Dora Maar, Le Marin, Femme assise dans un fauteuil. Die Dislozierung von Augen, Nase und Mund hat ihren Grund in der Simultaneität, der gleichzeitigen Präsentation von Frontal- und Seitenansicht, die man normalerweise nur im sukzessiven Herumgehen erblickt und die hier synoptisch präsentiert werden, was den Raum transparent macht. Zur Höchstform gesteigert findet sich diese Darstellungsweise bei Gino Seve­rini in einem Bild mit dem Titel Ballerina ossessiva von 1911, das eine Tänzerin in allen Posen des Tanzes, vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, zeigt und in der Zusammennahme der Fragmente den Eindruck des Herumwirbelns erzeugt, wodurch der Raum und die Zeit durchsichtig werden. Es ist eine universelle Momentaufnahme von Bewegung, von Multiperspektivität und Multitemporalität.

5. Auswege

Was ist die Konsequenz der Turborasanz einerseits in zeitlicher Hinsicht, andererseits in räumlicher Ausbreitung? Das Limit, der Grenzwert, kann nur ein Zusammenfall aller Zeiten und Räume und aller Tätigkeiten und Ereignisse in ihnen sein, ein allgemeines Rauschen, da der Mensch nur zur Aufnahme einer gewissen Quantität präziser, exakter Daten imstande ist und viele Individuen unserer spätmodernen Gesellschaft die Unmöglichkeit und natürliche Unfähigkeit zur vergrößerten Kapazitätsauffassung im Burnout dokumentieren. Die Technik, die einst dem Menschen zur physischen und psychischen Entlastung diente, gewinnt in der Gegenwart die Rolle eines Selbstzwecks, dem der Mensch dient und dem sich dieser anzupassen hat, nicht umgekehrt. Die Konsequenz dieser Entwicklung hat in aller Schärfe Martin Heidegger in dem berühmt-berüchtigten postum publizierten Interview vom 23. September 1966 dargelegt: Eine Korrektur oder gar Umkehr von diesem verhängnisvollen, schicksalhaften Weg, eine ›Rettung‹, werde zunehmend unwahrscheinlicher, sie sei weder der Philosophie noch der Technik selbst zuzutrauen, der Ersteren deshalb nicht, weil sie in Gestalt der abendländischen Metaphysik diese Herrschaft selbst eingeleitet hätte, der Letzteren deswegen nicht, weil sie nicht zu einer Selbstaufhebung fähig sei. In jenem postum erschienenen Spiegel-Interview, in dem die Journalisten Heidegger immer wieder zu konkreten Ratschlägen drängen, heißt es:

Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen. (Heidegger 1976: 209)

Muss die Konsequenz der abendländischen, auf Platons Theorie vom Verfügungswissen zurückgehenden Metaphysik Selbstzerstörung und Weltuntergang sein? Meines Erachtens gibt es zwei Auswege, einmal die Weiterentwicklung der Technik zur KI-Forschung und zu KI-Programmen entweder in Verbindung mit dem Menschen zum Maschinenmenschen oder zur Ersetzung des Menschen durch ein KI-System. Der andere Ausweg ist die Totalentschleunigung, die Regression des Zeittempos.

Um Heideggers Analysen und Bewertungen richtig einzuschätzen, muss man sie im Horizont seiner Prämissen sehen. Sie setzen das christliche Weltverständnis vor­aus, die Vorstellung von Gott und dem Sein als geschaffenem und dem Menschen als Krone der Schöpfung. Im Hintergrund steht die Anthropozentrik der christlichen Welt mit ihrer Verherrlichung des menschlichen Lebens. Befreite man sich davon und sähe wie amerikanische Informatiker und KI-Forscher wie Douglas Hofstädter »die menschliche Rasse alles in allem nicht [als] das Wichtigste im Universum« (Weizenbaum 1990: 41) an, dann wäre die Vorstellung eines posthumanen, postbiologischen, durch künstliche Intelligenz und andere Techniken bestimmten Zeitalters weder etwas intellektuell Erschreckendes noch etwas moralisch Anstößiges.

Die andere Möglichkeit des Auswegs läuft auf eine Entschleunigung hinaus, auf eine Regression des Tempos bis hin zum Zeitstillstand und Ausstieg aus unserem gewöhnlichen gesellschaftlichen Wettlauf und Konkurrenzverhalten. Möglich ist dies, da die Zeit bzw. Zeiterfahrung nichts objektiv Vorgegebenes, sondern ein subjektives Erleben ist, das sowohl in der Kurzweil beliebig gekürzt wie in der Zeitdehnung beliebig gelängt werden kann. Das muss nicht unbedingt auf einen negativ zu konnotierenden Zustand wie Langeweile hinauslaufen oder auf Zeiterstarrung und Daseinsengung, wie sie Nietzsche anhand von Zuständen der Depression, Trauer, Verzweiflung, der namenlosen Angst und Ausweglosigkeit schildert, bei denen alles in einem Nichts versinkt, das Ich erstarrt und damit auch seine Fähigkeit zum Zeiterleben. Wenn es in Nietzsches Gedicht Der geheimnisvolle Nachen lautet:

Eine Stunde, leicht auch zwei,

Oder war’s ein Jahr? – da sanken

Plötzlich mir Sinn und Gedanken

In ein ew’ges Einerlei,

Und ein Abgrund ohne Schranken

Tat sich auf: – da war’s vorbei! (Nietzsche 1999: 644)

so gibt es doch auch die gegenteilige Wirkung der Ruhe und Stille, der Selbstbesinnung, des Zu-sich-Kommens und -Seins, worauf die ostasiatische Yoga- und Meditationspraxis abzielt, in der alle äußere und innere Bewegtheit, Unruhe und Hetze, alle Empfindungs-, Gefühls- und Gedankenflüsse abstrahiert werden und nichts bleibt, was gleichwohl nicht nur als Nichts empfunden wird, sondern als Fülle. Es ist der Zustand sogenannter Manie, Verzückung oder Ekstase, der mit einem ungeheuren Glücksgefühl, mit Levitation, Licht und Helle, mit einer Daseinserweiterung einhergeht, bei der sich die Zeit zum Raum weitet und mit diesem zusammenfällt. Der Stillstand ist hier ewige Präsenz. Die transzendente, mystische Augenblickserfahrung ist im klerikalen Kontext auch Bestandteil der christlichen Welt (erinnert sei an die visio beatifica mittelalterlicher Mystiker und Mystikerinnen wie Angelus Silesius, Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen). Sie hat jedoch – anders als im ostasiatischen Raum – keinen Eingang in die Alltagswelt gefunden. Auch die Antike kannte die »Epiphanie der ewigen Gegenwart« (Picht 1969), in der die Ewigkeit in einem Moment kontrahiert. Im Rahmen der Griechenlandbegeisterung der Weimarer Klassik hat diese Form des kontrahierten Zeitempfindens einen Niederschlag in der deutschen Literatur gefunden. Ein berühmtes Zeugnis findet sich in Goethes Faust II. Am Ende seines Lebens, als Faust die Vision eines dem Meer abgerungenen Landes hat, das glückliche Menschen bebauen, heißt es: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.« (Vers 11585; Goethe 61962: 348). Im Aufscheinen dieses inneren Bildes fallen die Tempora Zukunft und Gegenwart zusammen.

Auch wenn es sich bei der Zeiterfahrung in der ostasiatischen Meditationstradition um einen Extremzustand handelt, der in den Bereich mystischer und transzendentaler Erfahrung gehört, ist dieses Zeitgefühl auch unabhängig von spiritueller Übung im Alltag zugänglich. Jeder kann sich zumindest eine Ahnung davon verschaffen, wenn er auf einer Bahnfahrt, zurückgelehnt ins Fauteuil, die Landschaft an sich vor­übergleiten lässt, so dass die Konturen und festen Umrisse verschwimmen und alles in einen wohligen Dämmerzustand hinübergeleitet. Östliche Systeme wie der Buddhismus haben Stufenwege zu seiner Erreichung erfunden und praktiziert. Auch wenn es sich hier um einen selten erreichbaren Idealzustand handelt, verschafft Entschleunigung dem Menschen mehr körperliche und geistige Entlastung, Ruhe und Befreiung von Angstzuständen, denen er sich sonst ausgeliefert sieht angesichts der Erfahrung einer seit dem Umbruch zur technischen Moderne unaufhaltsamen Beschleunigung. Die im Kontext ostasiatischer Tradition entwickelten Praktiken der Entschleunigung sind insofern alles andere als unzeitgemäße Übungen; sie haben das Potenzial, dem Menschen in der von ökonomischer Zeitauffassung geprägten globalisierten Wirtschaftswelt der Gegenwart Wohlbefinden und innere Harmonie zu verschaffen sowie die Fähigkeit, in Einheit mit der Natur zu leben. Insofern nimmt es nicht wunder, dass die konzentrierte Augenblickserfahrung gegenwärtig unter dem Schlagwort der Achtsamkeitserfahrung (gewissermaßen als säkularisierte, westliche Variante buddhistischer Meditation) sich immer größerer Beliebtheit erfreut.3 Folgt man der Argumentation Ansgar Nünnings, der Literatur als »Medium der Entschleunigung« (Nünning 2016: 172) ins Visier nimmt, dann ist insbesondere die »Erzählkunst« dazu »geeignet […,] ein solches ›Achtsamkeitstempo‹ auszuprägen« (ebd.: 168) und in der fokussierten Lektüre eine andere Zeiterfahrung zu ermöglichen.4 In diesem Sinne kann Literatur durchaus als »Korrektiv zu den von der Zeitsoziologie detailliert herausgearbeiteten Mechanismen des Akzelerationszirkels der sozialen und technischen Beschleunigung fungieren« (ebd.: 174).

6. Einheit der Zeit oder Vielheit von Zeiten?

Zum Abschluss möchte ich auf die schwierige Frage nach dem Status der verschiedenen Zeittypen eingehen.

Die Darstellung der verschiedenen Zeittypen wirft uns auf die Anfangsfrage zurück, was Zeit sei und wie sich die verschiedenen, überaus heterogenen Zeitmodelle miteinander in Einklang bringen lassen. Fest steht, dass es einen Oberbegriff ›Zeit‹ nicht gibt, unter den die anderen als Unterbegriffe fallen, sowenig wie es eine ausgezeichnete Zeitvorstellung gibt, der gegenüber die anderen als Entwicklungs- oder Dekadenzstadien interpretiert werden können. Damit ist auch klar, dass Zeit, in welcher Form auch immer, keine anthropologische Konstante ist, die durchgängig allen Menschen inhäriert, die angeboren ist und in der alle Menschen übereinstimmen. Der Versuch, ein spezifisches Kriterium, etwa das Fließen, als ein zeittypisches ausfindig zu machen, scheitert, da es etliche Zeitkonzepte gibt wie die Allpräsenz, das nunc stans, den Zeitstillstand, die Zyklik, die auf eine Ständigkeit weisen und letztlich mit dem Raum zusammenfallen.

Um das totale Auseinanderbrechen der diversen Zeitvorstellungen in selbständige, inkomparable Konzepte zu verhindern, hat man nach Vereinigungsmodellen Ausschau gehalten, z.B. ein genealogisches Modell angeführt, das eine Bewusstseins- und Entwicklungsgeschichte der Menschheit mit unterschiedlichen Stadien der Zeitentwicklung unterstellt, wie dies Jean Gebser getan hat (vgl. Gebser 1999). In Betracht käme auch die Überlegung, ob es sich bei den Zeittypen um kulturspezifische und kulturhistorische Erscheinungsweisen handle. Es könnte ja sein, dass die Sinnesdaten gänzlich undeterminiert wären und erst durch die nachträgliche kognitive Verarbeitung die jeweilige Zeitstruktur erhielten. Da bekanntlich die kognitive Verarbeitung von Interessen, Wünschen, Absichten, ethnischen, geographischen, klimatischen und anderen Eigenheiten abhängt, könnte es sich bei den jeweiligen Zeitvorstellungen um kulturspezifische epistemische Verarbeitungsweisen eines an sich indifferenten Datenmaterials handeln. Diese Vermutung gewönne dann Plausibilität, wenn sich analoge Verhältnisse auch auf anderen Gebieten der Wissenschaft, Kunst, Religion, Sprache usw., fänden.

In diesem Falle hätte man es nicht nur mit verschiedenen Zeittheorien psychologischer, physikalischer, biologischer, mathematischer Art zu tun, sondern mit Zeitparadigmen, was in die Richtung von Denkformen wiese – um mit Hans Leisegang zu sprechen –, in die Richtung von kulturbedingten Welterschließungsweisen (vgl. Leisegang 1928). Ob die Welt als ein Auf- und Abstieg erfahren wird wie von archaischen Völkern oder zyklisch wie von Völkern der Agrarstufe oder fließend gemäß der zeitlichen Abfolge wie in der Neuzeit oder akzelerierend, multitemporal und multidimensional wie in der Gegenwart, jede Erfahrung erfolgt aufgrund unterschiedlicher Deutungsmuster der Wirklichkeit, ist letztlich nicht objektiv vorgegeben, sondern subjektiv konzipiert und in das individuelle und gesellschaftliche menschliche Vermögen gestellt.

In diese Richtung zielen meine eigenen Forschungen, wie ich sie in verschiedenen Büchern, z.B. Zeit. Eine Morphologie (2006), Kulturüberschreitende Philosophie. Zum Verständnis unterschiedlicher Denk- und Handlungsweisen (2012) oder Denkformen und ihre kulturkonstitutive Rolle (2016) dargelegt habe. Ich meine, dass in den diversen Zeitparadigmen mindestens drei verschiedene Stadien der Weltsicht aufweisbar sind, wobei ich letztlich nicht entscheiden möchte, ob es sich um historische Stadien oder einfach um andersartige kulturelle Weltinterpretationen handelt, wovon die moderne Ethnologie ausgeht, um Diskriminierungen zu vermeiden und nicht einem Eurozentrismus zu erliegen, der Entwicklungsstufen annimmt und die westliche technisch-technologische für die fortgeschrittenste hält.

  1. a. In den gestalttheoretischen Zeitformen, dem Auf und Ab und der Zyklik dokumentiert sich eine Seinseinstellung des Menschen, nach der dieser noch eins ist mit der Natur und deren Rhythmen im lebendigen Umgang mitvollzieht. Es ist noch keine Subjekt-Objekt-Spaltung, noch keine Distanzierung des Menschen vom Sein eingetreten, vielmehr ist der Mensch integriert in die Lebens- und Naturvorgänge, die er lebend und erlebend mitvollzieht. Sein Leben spielt sich noch in der unmittelbaren Präsenz der Gegenwart ab, allenfalls mit kurzen Rückblicken auf Vergangenes und Vorblicken auf Zukünftiges wegen der Vorsorge für die Zukunft. Noch steht er mit dem Rücken zur Zukunft. Damit mag zusammenhängen, dass sprachgeschichtlich und grammatikalisch das Futur in den meisten Sprachen die jüngste aller Sprachformen ist und sich archaische Sprachen nicht der Zeitmodi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedienen, sondern der Aktionsarten und Aspekte wie des Durativen oder des Inchoativen, Ingressiven, die entweder ein dauerhaftes Sein, ein Beharren, oder die Bewegung des Ergreifens und den Abschluss einer Handlung ausdrücken oder die Art und Weise von Handlungen interpretieren.
  2. b. Mit der Homogenität der Linearzeit und der Akzeleration der beschleunigten Zeit sind formale Zeitstrukturen erreicht, die vom Inhalt abgelöst sind und zur Strukturierung desselben dienen. Sie machen deutlich, dass es sich bei ihnen nicht mehr um natürliche Formen handelt, sondern um Mittel in der Hand des Menschen, die als Maßstab der Zeiteinteilung fungieren. Die Einheit von Subjekt und Objekt sowie der direkte Mitvollzug des Subjekts mit den an sich seienden Natur- und Lebensvorgängen ist zerbrochen; das Subjekt hat sich aus der Umklammerung mit dem Sein gelöst, ist dem Objekt gegenübergetreten und hat sich von ihm distanziert. Mit Descartes zu sprechen: Das Ich hat sich zum maître et possesseur de la nature aufgeschwungen und die Natur unterworfen, wie es der neuzeitlichen Wissenschaftshaltung im Unterschied zur antiken und mittelalterlichen Lebenseinstellung entspricht. Das Subjekt betrachtet die Dinge nicht mehr intern, sondern nur noch extern, nicht mehr als Dinge an sich, sondern in ihrer Erscheinungsweise.
  3. c. Mit den Kunstformen der Superbeschleunigung in der KI-Forschung und der Totalentschleunigung im Buddhismus treten übermenschliche, transhumane Zeitformen auf den Plan, wenngleich in unterschiedlicher Gestalt, in technisch-technologischer in der KI-Forschung, in religiöser im Buddhismus.

Wie die Analysen gezeigt haben, ist die Zeitauffassung nicht definitiv festgelegt. Weder ist sie eine angeborene, natürliche noch eine apriorische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, wie Immanuel Kant meinte, vielmehr handelt es sich um bewusstseinstheoretische, kulturell bedingte Sicht- und Interpretationsweisen, nicht anders, als man sie auch beim Raum finden würde, dessen kulturelle Prägung noch offensichtlicher ist als bei der Zeit.

Anmerkungen

1 In ihrer Vulgärform mit Akzentuierung der Vergänglichkeit ist diese Zeitauffassung allerdings schon älter und findet sich bereits bei Aristoteles.

2 Aktuelle Forschungen zum Zeitgefühl operieren inzwischen mit Virtual Reality, so etwa das derzeit am Forschungszentrum Jülich durchgeführte Kooperationsprojekt »VirtualTimes – Exploring and Modifying the Sense of Time in Virtual Environments« (vgl. https://www.fz-juelich.de/portal/DE/Presse/beitraege/2020/2020-01-13-virtualtimes/artikel.html?nn=2297174 [Stand: 1.10.2021]).

3 Hierzu gibt es inzwischen ein geradezu inflationäres Angebot von Trainings, Workshops usw., woran Psychologen wie Arbeitsmediziner gleichermaßen beteiligt sind.

4 Erinnert sei an Romane, welche diese Entschleunigung schon im Titel tragen, etwa Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit oder Milan Kunderas Die Langsamkeit (La lenteur) (vgl. hierzu Nünning 2016: 168).

Literatur

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Gloy, Karen (2006): Zeit. Eine Morphologie. Freiburg/München.

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Picht, Georg (1969): Epiphanie der ewigen Gegenwart: Wahrheit, Sein und Erscheinung bei Parmenides. In: Ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien. Stuttgart, S. 36-86.

Streitberg, Wilhelm (1891): Perfective und imperfective Aktionsart im Germanischen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Bd. 15, S. 70-177.

Weidner, Ingrid (2014): Arbeiten nach der inneren Uhr. In: Zeit online, 16. September 2014; online unter: https://www.zeit.de/karriere/beruf/2014-09/arbeiten-nach-der-inneren-uhr [Stand: 1.10.2021].

Weizenbaum, Joseph (1990): Absurde Pläne. In: Zeit Magazin v. 16. Mai 1990, S. 38-41.

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