Tagungsbericht: »Exotismen in der Kritik«
Workshop am 27. und 28. März 2021 an der Nihon University
»Exotismen in der Kritik« nahm ein internationaler Workshop der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsgruppe Kultur-Kontakte am 27. und 28. März 2021 an der Nihon University Tokyo in den Blick, der pandemiebedingt digital stattfand. In der Forschungsgruppe engagieren sich japanisch- und deutschsprachige Forschende; für diesen Workshop der Gruppe hatte sich federführend Thomas Schwarz eingesetzt. Auf dem Workshop sollten einerseits klassische Arbeiten zum Exotismus einer Relektüre unterzogen und andererseits neue und aktuelle Perspektiven eröffnet werden.
Die Konferenz und das erste Panel zum »Ethnologischen Schreiben« eröffnete Rolf Parr (Duisburg-Essen) mit seiner Keynote zur »Einfachheit als Schnittstelle von Exotismus und Strukturalismus« in den Traurigen Tropen von Lévi-Strauss. Dessen ethnologisches Schreiben berühre einen Exotismus der Einfachheit. Den Exotismus beschrieb Parr über eine raumzeitliche Achse (dort-hier und früher-jetzt), die über weitere Dichotomien erweiterbar sei. Lévi-Strauss unterlaufe, so Parr, mit seinen Schreibverfahren exotistische Perspektiven und suche über eine ›Archäologie des Raums‹ das Exotische kritisch zu rekonstruieren. Gleichwohl reexotisiere Lévi-Strauss in einer Art Nebeneffekt die von ihm bereisten ›traurigen‹ Tropen und zeichne als Rousseauist die Tropen im Stadium des Verfalls. Diese auseinanderlaufenden Perspektiven von kritischer Rekonstruktion einer- und Reexotisierung andererseits führe Lévi-Strauss nicht wieder zusammen, auch nicht im Bildband Afrikanisches Album von 1994. Maria Cornelia Zinfert (Montréal) wendete sich anschließend »Projekt, Programm [und] Praxis« in Victor Segalens Ästhetik des Diversen zu. Segalen, von Hause aus Arzt, erhob seine Reisen durch China – wo er etwa den Grabhügel des ersten chinesischen Kaisers mitentdeckte – zur Grundlage seines literarischen und essayistischen Programms. Sein zu Lebzeiten nicht veröffentlichter Essay sur l’exotisme erschien zunächst anonym. Wie sehr diese Ausgabe das Manuskript Segalens entstellte und auf ein Drittel zusammenkürzte, offenbare erst eine 2021 erschienene vollständige Ausgabe der ursprünglichen Essay-Skizze, die Segalen selbst als ›scénario‹ bezeichnete. Mit ihr werden die eingehende Auseinandersetzung mit Kant und Segalens Parodie seines eigenen Schreibens ein erstes Mal zugänglich. Angelika Jacobs (Hamburg) beschloss das Panel mit ihrem Beitrag zu »Hubert Fichtes Kritik am Paradigma literalen Fremdverstehens«. Sie zeichnete Fichtes ethnopoetische Schreibstrategien – etwa in Xango – nach und zeigte anhand von Fichtes Ketzerischen Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen, wie sehr Fichte das Ziel einer bloß vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität durch die Verschriftlichung seiner Erfahrungen und eine Transgression literarischer und faktenbezogener Sprache ersetzte: In Fichtes Poetik fänden Dichter und Wissenschaftler zusammen. Insgesamt oszilliert, schloss Jacobs, Fichtes Forschungstätigkeit zu Voodoo und Trance zwischen Faktischem und Fiktivem.
Das zweite Panel nahm »Japanische Vexierbilder des Eigenen und Fremden« in den Blick. Mechthild Duppel-Takayama (Tokyo) stellte mit der »Geschichte der japanischen Nationalliteratur von Okazaki Tōmitsu« eine »Fallstudie zur Selbstexotisierung in der Wissenschaft« vor. Tōmitsu entstammte der Oberschicht, promovierte in Leipzig zu japanischer Literatur und schrieb seine japanische Literaturgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts für den deutschen Markt. Duppel-Takayama hob hervor, dass Tōmitsu damit die erste japanische Literaturgeschichte auf Deutsch vorlegte. Jedoch bleibe der Text etwa hinter den Materialfüllen der wenige Jahre später erschienenen Monographien von W.G. Aston und Karl Florenz zurück; Tōmitsu habe sein Buch zudem im Geiste eines nationalistischen japanischen Literaturbilds verfasst und kulturelle Anpassungen vorgenommen, japanische Literaturformen in deutsche Gattungsbegriffe eingepasst und die rund acht Millionen Kami zur altjapanischen Gottheit Kami singularisiert. Für diese Translationen und Transformationen schlug Duppel-Takayama den Begriff der Selbstexotisierung vor. Anschließend untersuchte Eriko Hirosawa (Tokyo) »Hisakatsu Hijikata und seine ethnographischen Forschungen in Mikronesien«. Hijikata unternahm schon in jungen Jahren Reisen nach Taiwan, bevor er von 1929 bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst lange in Palau und dann zwei Jahre in Borneo lebte. Sein literarischer Reisebericht Treibholz unterscheide sich vom Blick eines Paul Gauguin erheblich. Dessen Reisebericht habe Hijikata zwar gelesen, jedoch anders als der Spätimpressionist Gauguin keine geheimnisvolle Wiedergeburt erzählt, sondern die eigentümlich tiefe Kluft zwischen sich, den Menschen und der Natur auf Palau betont. Hijikatas spezifischer Blick auf Palau zeichne sich durch die Zugehörigkeit zur kolonialistischen herrschenden Klasse Japans wie durch seinen künstlerischen Blick aus. Michael Fisch (Jerusalem) schließlich widmete sich »Exotismen in der Religion« und zeichnete historische Entwicklungslinien eines »Islam in Japan« nach. Den Beginn einer Geschichte des Islams in Japan setzt Fisch in den 1930er Jahren an mit dem Bau erster Moscheen und der Gründung islamwissenschaftlicher Institute. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe erst Toshihiko Izutsu in den 1960er Jahren wieder islamwissenschaftlich geforscht. Während in den ersten Jahrzehnten vor allem Türken, Tataren und teils auch japanische Konvertiten prägend für den Islam in Japan gewesen seien, engagierte sich seit den 1980er Jahren vor allem Saudi-Arabien, und verstärkt lebten Muslime etwa aus Bangladesch in Japan. Gesicherte Zahlen über Muslime in Japan existierten nicht.
Den ersten Tag des Workshops schloss eine Sektion zu »epistemologischen Ordnungen des Fremden in europäischen Reiseberichten« ab. Thomas Schwarz (Tokyo) verfolgte in seinem Beitrag zur »exotischen Ordnung der Dinge in der Südsee« die südostpazifische Reiseroute von Carl Friedrich Behrens, die ›Blutspur‹ der Expedition, als deren Teil Behrens sich 1722 eingeschifft hatte, den Reisebericht, den Behrens zunächst in Alexandrinern und dann als Prosatext verfasste und die aufklärerisch-exotistischen Wahrnehmungsraster des Berichts. Detailreich stellte er Behrens’ Schilderungen sexueller Hospitalität sowie kämpferischer Konflikte auf Makatea, Samoa und anderen Inseln vor. Abschließend rückte Schwarz die Ambivalenz der polynesischen Reisebeschreibung von Behrens in den Mittelpunkt. Das kriegerische Verhalten der Expeditionen stehe der Utopie eines friedlichen Zusammenlebens entgegen. Fermin Suter (Krems/Basel) wendete sich einem Knotenpunkt europäischer Asienreisen zu und untersuchte am Beispiel von Reisebüchern aus Indonesien nach 1900 das »Emotionswissen im Exotismus«. Nach der Jahrhundertwende entwickelten sich die Reiseerzählungen aus Bathavia/Jakarta zu einem eigenen kolonialistischen Genre und zum Austragungsort innereuropäischer Nationalismen, wie Suter am Beispiel von Willi Seidels Himmel der Farbigen (1930) und Richard Katzʼ Heitere Tage mit braunen Menschen (1929) vorstellte. Seidel und Katz grenzten nicht bloß den deutschen Exotismus positiv vom französischen ab, sondern erklärten trotz verbrämender Rhetorik auch ›den Fremden‹ zum kolonialen Besitz. Andere Formen kolonialer Blicke fänden sich in John Hagenbecks Kreuz und quer durch die indische Welt (1922), in dem Hagenbeck unverhohlene Bewunderung für die holländische Kolonialverwaltung äußere, und beim Ethnologen Karl Helbig, der wie viele andere von Amokläufen und spontanen Gewalttaten in Indonesien berichtete. Manuel Kraus (Tokyo) setzte diesen wichtigen kritischen Blick auf den deutschen Exotismus der 1930er Jahre und der NS-Zeit fort. Er widmete sich in seinem Beitrag »Zwischen Kamera und Jagdwaffe« den rassistischen und nazistischen Reiseberichten von Ernst Schäfer (Geheimnis Tibet, 1943) und Otto Schulz-Kampfhenkel (Rätsel der Urwaldhölle, 1938) aus dem Himalaya und aus Brasilien. Beide Reisen verfolgten ähnliche Strategien und folgten der eurozentristischen Idee, das Fremde könne authentisch erfahren und besessen werden. Diese Vorgehensweise war bereits zuvor von Karl von den Steinen als »rassistische Methode« bezeichnet worden. Trotz des schon zeitgenössisch unwissenschaftlichen Vorgehens sind, betonte Kraus abschließend, beide Autoren bis in die Gegenwart als historische Figuren präsent, sodass deren rassistische Perspektiven leider gelegentlich weiter perpetuiert werden.
Den zweiten Workshoptag und die Sektion »Zur sinnlichen Wahrnehmung des Anderen« eröffnete Andreas Michel (Terre Haute, Indiana) mit einem Vortrag, der Baudrillards Konzept einer radikalen Alterität und Derridas Begriff der Gastfreundschaft aufgriff und der dem Verhältnis von »Exotismus und Gastfreundschaft« gewidmet war. Zum einen sei der Mensch dem Exotismus ausgeliefert, zum anderen realisiere sich dieser in der Begegnung mit dem radikal Anderen. Michel vollzog nach, wie der Exotismus von seinen »geographischen Konnotationen« gelöst werden und an seine Stelle ein ›theoretischer Exotismus‹ treten kann, der in der Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit und dem reinen, körperlichen Genuss des Anderen bestehe. Shizue Hayashi (Tokyo) untersuchte unter dem Titel »Die Kreuzung der Medien und die Entdeckung eines unversöhnlichen Selbstbildnisses« Metapherngebrauch und Intertextualität in Marcel Beyers Gedichtzyklus Don Cosmic. Im Gedicht werde intertextuell auf den Briefwechsel zwischen Benn und Oelze verwiesen, insbesondere auf Oelzes Briefe von 1939 aus Jamaika und seine akustischen Wahrnehmungen, sowie auf den jamaikanischen Ska-Musiker Don Drummond, dessen Leben im Gedicht kurz thematisiert und auf dessen Stücke mehrfach angespielt werde. Dabei verschränke Beyer Eigen- und Fremdblick und charakterisiere den Ska gegenüber einer metaphysisch aufgeladenen westlichen Musik als körperliche Musik des scheinbar Authentischen bzw. des Widerstands.
Tobias Schickhaus (Bayreuth/Kyoto) eröffnete das Panel »Moderne Kritiken« und befasste sich am Beispiel von Carl Einsteins Negerplastik (1915) mit den »künstlerisch-kulturellen Feldern des Exotismus«. Einstein habe einen verdienstvollen interkulturellen Beitrag zur Anerkennung der Gleichwertigkeit afrikanischer Kunst geleistet. Die »Nichtachtung« afrikanischer Kunst entspringe vor allem dem europäischen »Nichtwissen«. Dieses Nichtwissen, das sei Einstein bewusst, verhindere etwa fundierte historische Einordnungen afrikanischer Plastiken. Insgesamt kritisiert Einstein: »Exotismus ist oft unproduktive Romantik«. Der Fremdheit des vermeintlich Primitiven wolle Einstein literarisch etwas entgegenstellen. Leena Eilittä (Helsinki) nahm die »Wiener Moderne und den Exotismus« in den Blick. Aus dem Kreis der Schriftsteller, die Stellung zum ›Exotismus‹ bezogen haben, griff Eilittä Richard Beer-Hofmann heraus und blickte auf das Verhältnis von Traum, Exotismus und jüdischer Identität in dessen Roman Der Tod Georgs. Träume und allgemein die Geschichten und Mythen exotischer Zeiten und Kulturen wiesen auf kulturelle Erfahrungen hin, die mit C.G. Jung archetypischen Charakter besäßen und mit denen der Protagonist Paul zu einer eigenen, vermeintlich authentischen jüdischen Identität zu finden vermöge. Thomas Pekar blieb mit seinem Vortrag der österreichischen Literatur verpflichtet und widmete sich »Exotismuskritik und inversem Exotismus in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften«. Der Vortrag setzte Soliman ins Zentrum, einen knapp siebzehnjährigen »Mohrenknaben« – Zitat Musil –, dem als Romanfigur der historische Angelo Soliman als Vorlage zugrunde liegt. Im Roman wird Soliman von Arnheim zwar adoptiert, diene jedoch vor allem zur exotistischen Ausstaffierung von dessen großbürgerlichem Auftreten. Soliman wiederum phantasiert sich einen exotischen Vater herbei und befriedigt damit die Erwartungen seiner Wiener Umwelt, was Pekar mit Hijiya-Kirschnereit als ›Selbstexotisierung‹ bezeichnete. Musil selbst sei für das rassistische Stereotyp verantwortlich, dass er Soliman gegenüber den anderen Romanfiguren als sexuell aktiver zeichne und ihn immer wieder als ›Affe‹ metaphorisiere.
Die abschließende Sektion »Exotismus und Medien« eröffnete Michael Wetzel (Bonn) mit seinen Ausführungen »Exotisch oder esoterisch. Zu Chris Markers Mythisierung Japans in seinem Essay-Film Sans Soleil«. Zum einen ging Wetzel auf die Montage von Fotos ein, mit denen der Film von 1983 vor allem arbeite und die durch Zooms u.a.m. den kinematographischen Prozess ausstellten. Zum anderen widmete er sich dem Versuch Markers, sich über das Geheimnis einer jungen Japanerin, die französisch spricht, der japanischen Kultur zu nähern. Dabei rufe Marker den traditionellen japanischen Kulturschatz auf wie das Kopfkissenbuch Sei Shōnagons (um 1000 n.Chr.), verfremde kulturelle Traditionen und Praktiken zugleich aber wiederum stark, sodass ein filmisch inszeniertes Spiel mit der Fremd- und Selbstwahrnehmung in der japanischen Kultur entstehe. Im Anschluss untersuchte Andreas Becker »Exotismus und Selbstexotisierung bei Rammstein«. Die in Berlin gegründete Band Rammstein, weltweit noch erfolgreicher als in Deutschland, verstärke in ihren Liedern und Videos einen ›Exotismus des Anderen‹ und sie beziehe sich immer wieder spielerisch auf das verabsolutierte Subjekt im Expressionismus, auf die Bildsprache Leni Riefenstahls oder, wie in Sehnsucht, das Eichendorff aufruft, auf romantische Motive. Dieses Spiel könne durchaus misslingen oder sich wie im Song Waidmanns Heil sowohl musikalisch wie im Video als problematisch erweisen. In anderen Fällen glücke es aber auch, etwa in Deutschland, wo das Model Ruby Komé als farbige Germania auftritt. Zum Abschluss der Konferenz bezog Shiori Kitaoka (Osaka) noch einmal ein weiteres Medium mit ein: das Theater. In ihrem Vortrag »Ein neuer Exotismus auf der Bühne? Flüchtlinge in zeitgenössischen deutschen öffentlichen Theatern« ging sie anhand von Inszenierungen von Jelineks Schutzbefohlenen und Gardners Ich bin nicht Rappaport auf Blackfacing und Flüchtlingsdarstellungen auf deutschen Bühnen ein, was auch dann nicht immer unproblematisch sei, wenn damit Phänomene kultureller Appropriierung ausgestellt werden sollen.
Insgesamt war der Workshop trotz der digitalen Umstände von einer sehr guten Stimmung getragen. Dazu trug der Berliner Florian »Don’t DJ« Meyer bei, der bereits im November 2020 das eintägige »Intro« der Gruppe zu ihrem derzeitigen Forschungsschwerpunkt musikalisch bereichert hatte. Er legte im Videokonferenzfoyer Vinylplatten mit exotistischen Bezügen auf, sorgte so für die musikalische Begleitung des Workshops und erläuterte musikgeschichtliche Hintergründe der Produktionen. Mit der thematischen, historischen und medialen Breite sowie den unterschiedlichen Zugriffen der Vortragenden hat der Workshop neue Perspektiven auf Exotismen eröffnet, die in der Zusammenstellung dazu beitragen, das Gesamtbild auf Exotismen in der Forschung weiter zu konturieren. An Revisionen bisheriger Positionen zum Exotismus und einem schärferen Gesamtbild wird die Forschungsgruppe Kultur-Kontakte im Rahmen einer Konferenz vom 3. bis 6. Juni 2022 an der Sophia Universität Tokyo intensiv weiterarbeiten.