»Alles aus Liebe zum Orient geläufig«
West-östliche Lesespuren in Ludwig Tiecks Des Lebens Ueberfluß
Recent literary criticism has largely regarded Ludwig Tieck’s late novella Des Lebens Ueberfluß (1837) as a piece on writing and reading. In this perspective, the notion of orientalism (in Edward Said’s terms) plays an important role: The orient features as a topos of wealth, such as a wealth of meaning. It’s intertext reveals how Tieck’s novella advocates the limitation of meaning as well as the exclusion of wealth. Ultimately, the rhetoric of the text (in a deconstructive sense) has the last word, in form of the return of the excluded.
Wer sich mit dem literarischen Orient beschäftigt, kommt an Edward Saids 1978 erschienenem Buch Orientalism nicht vorbei; es erweist sich als immer noch wirkmächtig, wird noch immer kontrovers diskutiert und dabei zuweilen zum bloßen Schlagwort verdichtet. Dabei kann man sich bereits von Saids Einleitung auf eine falsche Fährte locken lassen: »There was nothing in Germany to correspond to the Anglo-French presence in India, the Lavant, North Africa«, heißt es da (Said 2003, 19). Der deutsche Orient nämlich sei ein gelehrter oder zumindest klassischer Orient gewesen, Gegenstand von Gedichten und Romanen, aber nie konkret (»never actual«). Signifikant sei, so Said, dass die beiden angesehensten deutschen Werke über den Orient nicht aus tatsächlichen Erfahrungen schöpften: Goethes West-östlicher Divan basiere auf einer Rheinreise, Friedrich Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier auf Bibliotheksaufenthalten in Paris. Wenn dies aber als Aufforderung verstanden wird, den Orient der Deutschen vom Verdacht des Orientalismus pauschal freizusprechen, dann wird dabei das Folgende überlesen: dass es nämlich doch eine und zwar eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen dem deutschen Zugriff auf den Orient und demjenigen Englands, Frankreichs und später der USA gebe: »a kind of intellectual authority over the Orient within Western culture« (ebd.). Das aber – also ›intellektuelle Autorität‹ über den Orient, der konstruiert wird aus Interesse an einer abgrenzenden Selbstdefinition und nicht etwa aus interesselosem Wohlgefallen am orientalischen Phänomen – macht ja einen zentralen Aspekt von Saids Begriff des ›Orientalismus‹ aus.
Dass Friedrich Schlegels Text in Pariser Bibliotheken entstanden ist und nicht etwa auf einer Reise durchs Land der »Indier«, ist richtig; dass Goethes Divan in gleichem Sinne auf einer Rheinreise basiere, ist eine flache Pointe – und eigentlich falsch. Denn zwar stimmt das Faktum, auf das Said – auf erstaunlich bildungsbürgerliche Weise – anspielt: Goethe hatte die Ausgabe der frisch erschienenen Hafis-Übersetzung von Joseph von Hammer (der 1835 unter dem Namen von Hammer-Purgstall in den Freiherrenstand erhoben wurde), mit der dann alles begann, von seinem Verleger Cotta anlässlich einer Reise in die Rhein- und Main-Gegenden geschenkt bekommen. Aber diese Episode zeigt eben: Auch Goethes Orient ist als Effekt von Lektüre entstanden. Ganz grundsätzlich besteht der Verdacht, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen,1 der deutsche Orient, metonymisch gesprochen, immer in der Bibliothek entsteht. Das aber unterscheidet den Orient der deutschen Literatur nicht von deren anderen Gegenständen; denn zuletzt entsteht alle Literatur, mindestens in großen und wesentlichen Teilen, in der Bibliothek.
Und in der Bibliothek, durch intertextuelle Beziehungen also, oder zuweilen noch konkreter durch textuelle oder gar persönliche Kontakte, schreiben sich auch innerhalb ›gelehrter‹ Beziehungen politische Haltungen fort; denn, auch das kann man bei Said nachlesen (vgl. Said 2003, 123ff.): Orientalistische Forschungen, besonders des 19. Jahrhunderts, sind alles andere als unpolitisch. Wenn etwa Friedrich Schlegel bei eben dem Louis Mathieu Langlès Persisch studiert, auf dessen Vorschlag die École spéciale des langues orientales vivantes eingerichtet worden war, die ihrerseits »in engem Zusammenhang mit Napoleons gezieltem Orient-Interesse stand« (Fuchs/Sumiyoshi 1984, 51), dann hat man es spätestens in zweiter Potenz mit Orientalismus im engeren Sinne zu tun.
Sowohl das Lesen als auch die Literatur spielen in Ludwig Tiecks später Novelle Des Lebens Ueberfluß (1837) eine ausgesprochen prominente Rolle. Im Falle des Orients scheint das anders zu sein – aber: Es scheint eben nur so. Die Novelle erzählt die Geschichte der Mesalliance der adligen Clara mit dem bürgerlichen Gesandtschaftsangehörigen Heinrich. Beide sind vor Claras Vater geflohen und fristen unter Pseudonymen eine armselige Existenz in einer Dachkammer. Völlig mittellos, gehen die Liebenden, um über den Winter zu kommen, schließlich dazu über, zunächst das Geländer der zu ihrer Kammer führenden Treppe zu verfeuern und schließlich die Treppe selbst – was deswegen möglich ist, weil sie das Haus sowieso nie verlassen. Geradezu notwendigerweise lässt sich dieser Knoten nur durch einen Deus ex machina lösen (vgl. Bachmaier 1981, 77), der sich hier aber als Deus ex oriente erweist: Auf dem Gipfel des Streites mit dem Vermieter, der verständlicherweise für den Verlust seiner Treppe entschädigt werden will, kehrt der lange verschollene und längst tot geglaubte Freund Andreas zurück und verkündet, gleich einer profanierten Fee aus dem Morgenlande, seinem in Bedrängnis geratenen Freund Heinrich: »Dein Kapital, welches Du mir damals bei meiner Abreise anvertrautest, hat in Indien so gewuchert, daß Du Dich jetzt einen reichen Mann nennen kannst; Du kannst also jetzt unabhängig leben, wie und wo Du willst.« (Tieck 1854, 67f.)
Bezieht man den Titel Des Lebens Ueberfluß auf die materiellen Verhältnisse der Protagonisten, wird man also sagen können: Der Überfluss kommt aus dem Orient. Dabei deuten die Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der der Text das Kapital Heinrichs ausgerechnet in Indien hat ›wuchern‹ lassen, darauf hin, dass eines für den Text offenbar gar nicht erläuterungsbedürftig ist: dass man sich im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Kolonialismus, auch als Deutscher einen Platz an der Morgensonne verschaffen konnte – etwa auf dem Umweg über England. Auch wenn ihre Präsenz derjenigen Englands und Frankreichs nicht ›korrespondierte‹: Wirtschaftliche Beziehungen oder genauer: kolonialistische Verstrickungen, die Kapital ›wuchern‹ lassen konnten, bestanden seitens der Deutschen allemal. Und tatsächlich hat auch der Freund Andreas ganz persönlich den Umweg über eine echte Kolonialmacht gemacht; denn er kommt nicht direkt aus dem Orient zurück, sondern aus London (der Stadt, in der die Britische Ostindische Kompanie ihren Sitz hatte), wo er auch seinem Freund Heinrich auf die Spur gekommen ist – und dies mittels Literatur. Doch dazu später mehr.
Als Motivation, die Andreas in den Orient geführt hat, wird jedoch eine ganz andere, eher ›gelehrte‹ vorgestellt. In der Erzählung von Andreas’ vorübergehendem Verschwinden, mit der Heinrich ihn Clara ebenso vorstellt wie dem Leser der Novelle, heißt es:
Als wir in die Residenz zurückkehrten, faßte er [Andreas] den Plan, nach Ostindien zu gehen; denn er war ganz unabhängig. Nach jenen Ländern der Wunder zog ihn sein Herz; dort wollte er lernen, schauen und seinen heißen Durst nach Kenntnissen und der Ferne sättigen. (Ebd., 16)
Heinrich sollte ihn, so hatte Andreas gewünscht, begleiten – allein, Heinrich »konnte die Leidenschaft [s]eines Freundes nicht theilen; auch hatte [er] alle jene Kenntnisse nicht gesammelt, die Sprachen nicht gelernt, was ihm [Andreas] Alles aus Liebe zum Orient geläufig war« (ebd., 17).
Zunächst mag paradox erscheinen, dass Heinrich deswegen nicht mit Andreas zusammen »Kenntnisse« sammeln mag, weil er nicht bereits »Kenntnisse […] gesammelt« hat. Aber dies reflektiert zum einen natürlich die epistemologische Tatsache, dass sich ohne Kenntnisse keine Kenntnisse gewinnen lassen – oder: dass es ohne vorausgehende Theorie keine Empirie zu gewinnen gibt (vgl. Popper 2002, 71). Zum anderen aber stiftet es auch einen Verdacht: Dass man nämlich womöglich auch in den Orient reist, um Kenntnisse zu erhalten, über die man, aus der Lektüre, bereits verfügt; dass man die Empirie sucht, um seine Vorurteile bestätigt zu bekommen. Und dass es sich bei Ostindien um »Länder der Wunder« handelt, weiß man nun wirklich schon aus der Literatur. Über die Figur Andreas werden also zwei Momente miteinander verschränkt: literarisch vermittelte Wunder und ökonomischer Reichtum. Andreas aber hatte, schon vor seiner Reise in den Orient, »an allem Ueberfluß« – und damit, indem er also nicht nur an des Lebens, sondern auch, wenn der Kalauer erlaubt ist, an des Lesens Überfluss teilhat, fungiert er als scharfer Kontrast zu Heinrich; diesen nämlich konnte nicht nur bereits sein Vater bloß »mäßig unterhalten« (Tieck 1854, 16), sondern er selbst leistet auch in der erzählten Handlung der Novelle auf beides Verzicht: auf luxuriöses Leben und überflüssiges Lesen. Doch auch dazu später mehr.
Für die Verknüpfung von ökonomischem Reichtum und textuellem Überfluss mit dem Topos des Orients gibt es ein prominentes Vorbild: Goethes West-östlichen Divan. Tieck lässt in seinem 1828 entstandenen Kunstgespräch Goethe und seine Zeit die Figur des sogenannten »Paradoxen« auftreten, der – wohl stellvertretend für seinen Autor – über den Divan ›predigt‹, er habe, wie viele andere Leser auch, »dieses Entfliehen oder diesen Rückzug aus Deutschland«, den die »orientalischen oder halborientalischen Gedichte« darstellen (Tieck spielt hier deutlich auf das Divan-Mottogedicht Hegire2 an), »weniger verstanden«. Den »historisch-kritischen Anhang« hingegen, also die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans, finde der »Paradoxe« schwer zu beurteilen, weil er das Bild des von ihm – und seinem Autor Tieck – höher geschätzten »früheren Goethe« ›verdunkele‹. In direktem Anschluss daran wirft er Goethe dann vor, was für Andreas gerade nicht gilt: Goethe nämlich habe
niemals das Bedürfniß gehabt, […] in der Poesie, die Grenzen, den Umfang, die Zeiten und das gegenseitige Verhältniß der mannichfaltigen großen Erscheinungen zu ergründen, oder nur kennen zu lernen. Gerade hier, wo man meinen sollte, alles habe das meiste Interesse für ihn, hat er es fast dem Zufall überlassen, welche Kenntniß ihm würde. (Tieck 1848, 233)
Tieck bescheinigt Goethe also alles andere als einen »heißen Durst nach Kenntnissen«. Bemerkenswert ist dabei: Die Goethe unterstellte Ignoranz besteht nicht gegenüber dem faktischen Orient; Tieck wirft Goethe nicht vor, dass er nicht – wie sein Andreas – in den Orient gereist sei. Vielmehr wirft er ihm mangelnde systematische Erkundung der Poesie in der Lektüre vor.
Ebenfalls interessant mag nun ein Bezug sein, der zunächst womöglich etwas weit hergeholt scheint: In den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des west-östlichen Divans charakterisiert Goethe es als prototypisch,
daß dem Orientalen bey allem alles einfällt, so daß er, übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung Widersprechendes aus einander herzuleiten kein Bedenken trägt (Goethe 1994, 197).
Bemerkenswert ist, dass Goethe hier geradezu gegen den sogenannten ›Poststrukturalismus‹ zu argumentieren scheint, denn genau dies: Bedenkenlosigkeit gegenüber Herleitungen von Abgelegenem, wenn nicht Abseitigem, aus dem Material der Sprache, macht ja einen der Hauptvorwürfe gegenüber ›poststrukturalistischen‹ Lektüren aus. Umberto Eco etwa charakterisiert in seinem Versuch, Grenzen der Interpretation aufzuzeigen, solche Lektüren folgendermaßen: Sie huldigen dem Glauben,
daß jedes Ding – wenn man nur die richtige rhetorische Verknüpfung findet – auf jedes andere Dinge verweisen kann […], daß jedes Ding mit jedem anderen durch ein labyrinthisches Netzwerk wechselseitiger Verweisungen verbunden ist (Eco 1992, 426).
Dieses Prinzip nennt Eco »Hermetische Semiose«: weil es auch das Grundprinzip des Corpus Hermeticum ist, also jener dem Hermes Trismegistos zugeschriebenen Texte, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert den Status einer »uralten«, »exotischen« Weisheit gewannen: als Antwort auf eine Krise des klassischen Rationalismus, der sich anderen Göttern zuwenden musste, denen der »Weisen des Orients, die unbekannte Sprachen redeten« (ebd., 63). Was hier auf den Plan tritt und seine Anziehungskraft auf einen ermüdeten Rationalismus bis heute beweist: das Prinzip, das »in jedem Text, so wie im Großen Text der Welt, die Fülle der Bedeutung und nicht deren Fehlen feststellt« (ebd., 426) – dieses Prinzip des Überflusses des Lesens, des semiotischen Luxus stammt also, Eco zufolge, aus dem Orient.
Nach diesem kurzen Ausflug ins »labyrinthische Netzwerk wechselseitiger Verweisungen« aber zurück, wenn noch nicht zu Tiecks Novelle, so doch zu Goethe; denn ebenso bemerkenswert wie Goethes Charakterisierung dessen, was Eco »unbegrenzte Semiose« nennt, als orientalisch ist der Gedanke, den die Noten und Abhandlungen im Fortgang entwickeln: »Hier sieht man daß die Sprache schon an und für sich productiv ist und zwar, in so fern sie dem Gedanken entgegen kommt, rednerisch, in so fern sie der Einbildungskraft zusagt, poetisch.« (Goethe 1994, 197) Dass die Sprache in ihrer Materialität »productiv« ist, gehört doch, mitsamt der Engführung von Poetizität und Rhetorizität, zu den Grundhypothesen der Dekonstruktion. Festzuhalten bleibt, dass (auch) Goethe, wenn auch in einer produktionsästhetischen Wendung, diejenige Auffassung von poetischer Sprache als ›orientalisch‹ charakterisiert, die prototypisch für poststrukturalistische Modelle von Textualität ist.
Bei aller Skepsis Tiecks gegenüber den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans – in einem Punkt trifft er sich mit Goethe: in der Hochschätzung von Jean Paul. Über ihn heißt es in den Noten und Abhandlungen, seine Werke zeugen »von einem verständigen, umschauenden, einsichtigen, unterrichteten, ausgebildeten und dabey wohlwollenden, frommen Sinne« (ebd., 202). Ist schon diese Kaskade von ornamentierenden Epitheta auffällig (nicht zuletzt, weil sie aus der Feder von Jean Pauls »lebenslangem literarischen Antipoden« [Birus 1986, 1] Goethe stammt) – um so mehr ist es die weitergehende Charakterisierung:
Ein so begabter Geist blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt daß ein geheimer ethischer Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird. (Goethe 1994, 202)
Dass Jean Paul mit der Wendung »seltsamste Bezüge« treffend charakterisiert ist, leuchtet unmittelbar ein; ebenso, dass er damit, obwohl orientalische Poesie in seinem »sonst so polyhistorischem geistigen Haushalt kaum auch nur die geringste Rolle gespielt« hat (Birus 1986, 1), in dem eben definierten Sinne als ›orientalisch‹ apostrophiert werden kann. Dies ist übrigens keine genuine Erfindung Goethes, sondern, wie sein gesamter Orient, angelesen und zitiert; denn der Hinweis auf das Orientalische Jean Pauls stammt von dem ersten Gewährsmann für Orientalisches imDivan: vom Hafis-Übersetzer Joseph von Hammer.3 Entscheidend ist aber Folgendes: In einer Engführung von Ethik und Ästhetik unter dem Rubrum der bienséance, des Angemessenen und Schicklichen, wie sie für Goethes Klassizismus charakteristisch ist, wird Jean Paul eine Ethik zugeschrieben, ein »geheimer ethischer Faden«, der dem »Ganzen« eine (ästhetische) Einheit garantiert.4 Damit beweist Jean Paul das, was dem Orientalen abgeht: »Geschmack«, die »Sonderung nämlich des Schicklichen vom Unschicklichen«, wovon in der »orientalischen Poesie« »gar nicht die Rede seyn könne« (Goethe 1994, 197). Dies korrespondiert wiederum einer Kritik, die Tieck seine Figur des Paradoxen an Goethe anbringen lässt: Diesem nämlich wirft er die indifferente Einstellung gegenüber der deutschen Nationalliteratur vor, sein »schwankendes Herumtasten«, das aus »zu großer Reizbarkeit« resultiere, weil ihm ein »unerschütterlicher Mittelpunkt« gefehlt habe. Goethe also fehlt, so Tieck, das, was Goethe wiederum (anders übrigens als Tieck) Jean Paul zu-, dem ›Orientalen‹ aber abspricht: eine einheitsstiftende Ethik.
Es zeigt sich, dass der Weimarer Klassizismus tatsächlich die Verklammerung von ästhetischer und ethischer Autonomie (wie sie sich bereits in den Gründungsurkunden des ästhetischen Autonomie-Diskurses, Kants Kritik der Urteilskraft und Über die bildende Nachahmung des Schönen von Karl Philipp Moritz zeigt) auch in eher romanti(zist)schen Ausprägungen wie Goethes Divan fortschreibt; und sie wird auch, dann unter bürgerlichem und nicht höfischem Primat, im 19. Jahrhundert weiter fortgeschrieben werden. Jean Paul erscheint als ein ›edler Wilder‹, als ein ›guter‹, weil domestizierter Orientale; er ist nicht mehr, wie noch in Goethes gleichnamigem Spottgedicht von 1796, der »Chinese in Rom«, ein pathologisierter »Schwärmer« (Goethe 1987, 706), sondern nun ein »Araber« in Weimar – ein Araber, der aber eben nicht die »Spur des Rechten und Lobenswürdigen« verliere und sich vor »baarem Unsinn« zu hüten wisse (Goethe 1994, 197f.).
In entsprechendem Sinne, als Chiffre für den Gegensatz zum »Geschmack«, der das »Schickliche« vom »Unschicklichen« abzusondern hilft, gebraucht auch Tieck den Topos des Orients. In Goethe und seine Zeit (1828) verwendet er sogar explizit den Terminus »Orientalismus« zur Bezeichnung der inkommensurablen Fremdheit von (zitiertem) Textmaterial: »Orientalismus« wird dort, mit Blick auf Klopstock, den bereits der junge Herder des Orientalischen bezichtigte (vgl. Lohmeier 1968, 16), bestimmt als »eine Darstellung und Sprache […], die in allen seinen Gedichten […] nicht in unsere Sitte, Weise und Gesinnung hineinklingen« (Tieck 1848, 240f.). Und dass das orientalische Fremde durch Formen des semiotischen Überflusses, etwa eine »Üppigkeit bildlicher Phantasie«, charakterisiert sei, das ist wiederum ein weit verbreiteter Topos – er findet sich auch etwa in Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier (vgl. Schlegel 1975, 313).
Festgehalten werden kann, dass – für Goethe wie für Tieck – der Orient eine Chiffre für Fremde ist, vor allem für eine Fremde des sprachlichen Materials. Eine genauere Betrachtung der Dichotomie Orient versus »Geschmack« resp. »Sitte« erregt aber den häufig angebrachten Verdacht, dass das Eigene das ist, von dem man hofft, dass es übrigbleibt, wenn man das Fremde ausschließt. Denn weder bestimmt Goethe »Geschmack« noch Tieck die »Sitten« positiv; sie bestimmen sich negativ aus der Ausschließung des Orientalischen – und Ähnliches gilt auch für Ecos Grenzen der Interpretation, deren Ausschluss der Hermetischen Semiose (also die Ausgrenzung der Grenzenlosigkeit) erheblich konkreter ist als die Berufung auf semiotische Ökonomie und gesunden Menschenverstand – so plausibel diese wiederum auch sein mag. Wirklich eindeutig gesagt wird stets nur, was ausgeschlossen sein soll: der Orient. Und dieses Moment: die Bestimmung des Eigenen durch abwertenden Ausschluss des Fremden ist genau das, was Said zufolge den Orientalismus bestimmt.
Auch wenn es so aussieht, als drohe Verirrung im »labyrinthischen Netzwerk wechselseitiger Verweisungen«: der ›Orientale‹ Jean Paul immerhin ist in Des Lebens Ueberfluß explizit präsent – als Autor des Siebenkäs, der aber keine ethische Orientierung in der Lebenswelt der Protagonisten zu geben vermag: »Du weißt, liebste Clara«, sagt Heinrich bereits auf der zweiten Seite der tieckschen Novelle, »wie sehr ich den Siebenkäs unsers Jean Paul liebe und verehre; wie dieser sein Humorist sich aber helfen würde, wenn er in unsrer Lage wäre, bleibt mir doch ein Räthsel.« (Tieck 1854, 6)5
Die Erwähnung Jean Pauls zu den Orientalismen von Des Lebens Ueberfluß zu zählen, würde allerdings ein zirkuläres Argument voraussetzen, weil es seine methodologische Prämisse, die Lizenz der ›orientalischen‹ Verbindung von Entlegenstem, aus derselben Quelle beziehen würde wie die Charakterisierung von Jean Paul als Orientale – oder kurz: zur expliziten Aufrufung Jean Pauls die implizite von Goethes Divan zu assoziieren, kann nur dann der Intentio operis zugerechnet werden, wenn der Divan und seine Engführung solcher Assoziationen mit Jean Paul ebenso wie mit dem Orient bereits im Horizont des Textes liegen. Die Frage, ob sie das tun, soll hier offen bleiben.
Und auch in einem anderen Punkt soll offen gehalten werden, ob es sich ›tatsächlich‹ um einen Rekurs auf die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans handelt: Wenn Heinrich den Verlust der zwischen ihm und Clara gewechselten Briefe, die sie auf ihrer Flucht zurücklassen mussten, als Resultat einer »Omarschen Verfolgung« charakterisiert (Tieck 1854, 23), dann spielt dies wohl auf eine Episode des frühen Kalifats an, die auch Goethes Noten erzählen: Es geht um den Untergang der Sassaniden, einer »Dynastie […] welche die altpersische Religion gehegt und einen seltenen Grad der Kultur verbreitet hatte«: »Die Araber« aber, unter Omar I.,
stürmten sogleich auf alle Bücher los, nach ihrer Ansicht, nur überflüssige oder schädliche Schreibereyen; sie zerstörten alle Denkmale der Literatur, so daß kaum die geringsten Bruchstücke zu uns gelangen konnten. (Goethe 1994, 161)
Dass als Resultat im Falle Heinrichs »Schreibereyen« vernichtet sind, macht das Tertiurm comparationis der Metapher aus. Damit wird die Vernichtung textueller Substanz, an der Heinrich selbst scheitern wird, als ›orientalisches‹ Moment ausgewiesen – ein Moment, das zugleich erlaubt, ›den‹ Orient zu differenzieren: zwischen den überbordenden Wundern Indiens und der vorgeblichen Buchstabenfeindlichkeit Arabiens. In Goethes Erzählung der Omar-Episode aber kehrt das Ausgeschlossene wieder (wie sich zeigen wird: in Analogie zur Pointe der tieckschen Novelle):
Doch auch hier überwog die Bildung des Überwundenen nach und nach die Rohheit des Überwinders und die Mahometanischen Sieger gefielen sich in der Prachtliebe, den angenehmen Sitten und den dichterischen Resten der Besiegten. (Ebd.)
Goethe hingegen, der für Tieck wie kein anderer Zeitgenosse als Spiegelfigur, als Vor- wie Gegenbild fungierte, ist auch in dieser Novelle mehrfach unausgesprochen, aber unverkennbar anwesend: als Autor des Götz von Berlichingen6 ebenso wie der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795).7 Die Frage, ob damit auch zugleich der Autor des West-östlichen Divans im Text präsent ist, führt auf eine der grundsätzlichsten der Intertextualitätstheorie: Was bedeutet eigentlich »effektive Präsenz« eines Textes in einem anderen (Genette 1993, 10), wenn es sich, wie meist in den interessanten Fällen, um implizite Erwähnungen handelt?
Eines aber macht der Text der Novelle recht explizit: Er legt seine (und seines Autors?) Quellen von Kenntnissen über den Orient offen – oder zumindest einen Teil davon. »Wie kein anderer Text Ludwig Tiecks ist Des Lebens Überfluß vollgestopft mit Zitaten, Anspielungen und Reminiszenzen, die Heinrich als einen Leser von enzyklopädischem Traditionsbewußtsein ausweisen.« (Brecht 1993, 224) Und wenigstens in zweien dieser Texte spielt auch der Orient eine Rolle: Es sind die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht – und Geoffrey Chaucers Canterbury Tales. Sie, die Heinrich als kostbare Inkunabel besessen,8 aber inzwischen zur Sicherung des Lebensunterhalts versetzt hat, sind nicht nur ein erzähltes Gesellschaftspanorama Englands im 14. Jahrhundert; sie stiften auch topische Bezüge zum Orient. So führt die Erzählung des Rechtsgelehrten (The Man of Law’s Tale) Händler aus Syrien ein, die mit den prototypischen Schätzen des Orients handeln: mit Seide nämlich, mit Goldbrokat und Gewürzen. Diese Geschichte erzählt von der per Heiratsvertrag geregelten Konversion eines ganzen Hofstaats zum Islam; sie geht an der Intrige einer bösen muslimischen Schwiegermutter zuschanden, die einfach alle ermorden lässt und deswegen wohl zu Recht »Semiramis die Zweite« genannt wird (Chaucer 1969, 157). Topisch hieran ist die Verkopplung des Orients mit dem Motiv der Frau als Versucherin, auf die etwa Said hinweist;9 dass das Weib eigentlich des Teufels ist, dass Satan »noch stets die Weiber nach Belieben« lenkt (Chaucer 1969, 157), scheint für den Orient in besonderem Maße zu gelten.
Dass es auch Orientalen gibt, gegen deren moralischen Wert wenig spricht – außer eben, dass sie Orientalen (oder genauer: Muslime) sind –, zeigt Chaucers Erzählung des Junkers (The Squire’s Tale), die fragmentarisch gebliebene Geschichte von König Cambuscan, dem »nichts [gebrach], was einen König ehrt, / Als daß in anderm Glauben er geboren« (ebd., 472). Topisch hier sind die ihm von »Arabiens König, Indiens Herr« (ebd., 474) zugedachten Geburtstagsgeschenke: ein »Roß von Erz«, das große Entfernungen im Flug zu überbrücken vermag; ein Zauberspiegel, der in die Zukunft zu blicken erlaubt (besonders in diejenige untreuer Liebender); ein Ring, der die Sprache der Vögel verstehen lässt; schließlich ein unbezwingbar mächtiges Zauberschwert, das die Wunden zu heilen vermag, die es schlägt. Diese Inventarliste von magischen Geschenken aus Indien könnte auch von Wilhelm Hauff stammen – oder eben aus der anderen bei Tieck genannten unerschöpflichen Quelle von Orientalismen: aus Tausendundeiner Nacht. Das hat seinen Grund wohl darin, dass die indisch-arabisch-persisch-ägyptische Sammlung und Chaucer die Motive letztlich aus denselben (arabischen) Quellen schöpfen – Chaucer wohl über mittelfranzösische Umwege (vgl. Heffernan 2003, 65; Lynch 1995, 539).
Kurz vor dem »Wendepunkt«, dem Punkt also, »von welchem aus sie [die »Geschichte«] sich unerwartet völlig umkehrt, und doch natürlich, dem Charakter und den Umständen angemessen die Folge entwickelt« (Tieck 1829, LXXXVI),10 kurz bevor die Tatsache, dass Heinrich die ins Idyll führende Treppe verfeuert hat, vom zurückkehrenden Vermieter entdeckt wird, resümiert Clara:
Wir leben eigentlich […] ein Mährchen, leben so wunderlich, wie es nur in der Tausendundeinen Nacht geschildert werden kann. Aber wie soll das in der Zukunft werden; denn diese sogenannte Zukunft rückt doch irgend einmal in unsre Gegenwart hinein. (Tieck 1854, 54)
Der Gegensatz, den Clara hier aufbaut: zwischen der ungewissen Zukunft und damit einem Leben, das sich der Literarisierung widersetzt, und Tausendundeiner Nacht als einem eher orientalistischen denn orientalischen Textkorpus,11 dieser vermeintliche Gegensatz zwischen Leben und Lesen geht freilich nicht auf. Denn auch der scheinbare Einbruch des Lebens in die durch und durch papierene Idylle ist, wie zu zeigen sein wird, ein Einbruch von Text in die Textualität.
Claras Reflexion fügt sich in eine Beobachtung, die von der Forschung zuletzt mehrfach gemacht worden ist: Zu seiner geradezu notorischen Intertextualität tritt eine romantisch zu nennende »selbstreflexive Qualität« (Brecht 1993, 120) des Textes. So stellt etwa Robert Gould im Blick auf Tiecks Text fest: »Thoughts, events, and persons are presented mediated through several layers of consciousness and language, and the act of narration is pushed into the foreground.« (Gould 1990, 239) Das Resultat sei »a self-conscious novella about writing which also reveals that much of what it contains is only writing – words indeed, evocative and powerful, but not ›reality.‹« (Ebd., 253) Und an die Lesart Goulds anknüpfend, hat Imke Meyer vor wenigen Jahren eine Lektüre der Novelle vorgelegt, die deren Protagonisten Heinrich als »Ironisierung des Novellenerzählers« deutet, der eigentlich kein »unerhörtes Ereignis« erzähle, sondern vielmehr vom Erzählen selbst: als einer Setzung von Sinn. Der Erzähler suche »den Fortbestand der narrativen Fiktion dadurch zu sichern […], daß er das vorgefundene Erzählmaterial radikal ummontiert und zerlegt«. Die »narrative Ökonomie der Geschichte«, so Meyer, dürfe
nicht durch »Überflüssiges« beeinträchtigt werden. Ein Bedrohtwerden des Idylls soll verhindert werden: solange nicht erfaßt wird, daß die Basis des Idylls ebenso fragil wie fiktiv ist, ist diese Basis nicht bedroht. (Meyer 2001, 198)
Heinrich nämlich habe »vor Clara die Tatsache verstecken wollen, daß er das vermeintlich statische Dachkammeridyll ironischerweise nur mit Hilfe eines Tricks aufrechterhalten konnte« – eines Tricks, der »im bildlichen wie wörtlichen Sinne an den Grundfesten dieses Idylls selber rüttelt« (ebd., 199).
Dass das Idyll nicht durch »Überflüssiges« bedroht werden dürfe, bezieht sich darauf, wie Heinrich die Verbrennung der Treppe gegenüber dem Vermieter rechtfertigt: indem er die Treppe »zu den Ueberflüssigkeiten des Lebens, zum leeren Luxus, zu den unnützen Erfindungen« zählt (Tieck 1854, 60f.). Zwar scheint in dem Moment, als Heinrich nach dem Geländer auch noch die Treppe selbst zu verfeuern beginnt, die papierene, märchenhafte Idylle bis an ihre »Basis« von der Zukunft bedroht, aber eine genaue Allegorese des Bildes von der Treppe zeigt doch: Preisgegeben wird hier nicht die materielle Basis, also etwa das ›Leben‹ als mimetische Grundlage des novellistischen Erzählens (vgl. hingegen Meyer 2001, 198f.); aufgegeben werden, so Heinrich, kann die Treppe, weil sie bloß »ein Bedingtes […], eine Vermittelung« sei (Tieck 1854, 56) – also: ein Medium. Wenn die erzählte Idylle hier also ihre Grundlage aufzuzehren droht, so weniger ihre materielle Basis – denn Heinrich verbrennt ja nicht die Dielenbretter, auf denen jene gründet – als vielmehr ihren medialen Bezug zu etwas außerhalb ihrer selbst. Versucht wird also nichts anderes, als die Welt des Textes (oder, weil es sich um so sehr reflexives Erzählen handelt: den Text der Welt des Textes) von etwas Äußerem abzuschneiden. Dieses Äußere aber ist, genau besehen, nicht die Welt, sondern die Bücherwelt; denn Heinrich rechtfertigt sein Verheizen der Treppe dem Vermieter gegenüber damit, dass sie sowieso nur zwei »Gesellen« dienlich gewesen sei, die ihm »bittre Erfahrungen« bereitet haben: dem betrügerischen Verleger, der ihm sein Manuskript ›abgeschwatzt‹, und dem Buchhändler, der ihm den Chaucer ›abgedrungen‹ habe (ebd., 59f.). So schneidet also der Verlust der Treppe das erzählte Idyll vom Intertext ab. Seine übrigen Bücher hatte Heinrich bereits lange zuvor versetzt und das einzige, was er nun noch liest, ist sein eigenes Tagebuch. Auf dem Höhe- und Wendepunkt also liest Heinrich, und damit Tiecks Text, in einer virtuell endlosen Rekursion nur noch sich selbst – ein Sinnbild reflexiver Textimmanenz.
Gleichviel, ob das Verfeuern der Treppe buchstäblich-materiell als Versuch der Lebenserhaltung der Protagonisten oder als Verzehrung des Erzählmaterials oder als Versuch der Abschottung des Textes gegen intertextuelle Bezüge verstanden wird – eines macht der weitere Verlauf deutlich: Der Versuch scheitert, auch wenn die Protagonisten selbst, zumindest auf der basalen Ebene der Erhaltung ihres Lebens, nicht scheitern – im Gegenteil.
Der am Ende erscheinende Deus ex machina Andreas bringt nicht nur Heinrichs »Kapital« zurück, das »in Indien […] gewuchert« hat; er bringt auch die frohe Botschaft von der zwischenzeitlich erfolgten Wiederaufnahme Heinrichs und Claras in die Gesellschaft, aus der sie geflohen waren, um gegen die Konventionen ihre Liebe zu leben. Mit der finanziellen und der gesellschaftlichen Restitution aber kehren die intertextuellen Bezüge wieder, denn Andreas führt Heinrichs kostbare Chaucer-Ausgabe mit sich, die er in einem Londoner Antiquariat gefunden hatte – samt einem Hinweis auf den Aufenthaltsort Heinrichs. »Dies Buch«, so Andreas, »ist wunderbarerweise die Treppe, die uns wieder zueinander geführt hat« (ebd., 68). Wenn aber das Buch die Treppe ist, so darf doch die Treppe in reverser Metaphorisierung als Zeichen für das Buch gelten.
Sinnfällig wird also: Nicht nur die Abschottung nach Außen durch (Selbst‑)Vernichtung des Mediums gelingt nicht; was ebenfalls nicht gelingt, ist die Trennung von handlungsrelevantem Nutzen einerseits und labyrinthischer Semiose andererseits. Zwar kommt am Ende des Textes aus Indien nicht die eingangs befürchtete »ungeheure Empörung«, die »sich […] gleich der Cholera nach Europa herüberwälzen werde, um allen Brennstoff in lichte Flammen zu setzen« (ebd., 6); vielmehr kommt aus Indien der ausgeschlossene Luxus: als Befriedigung notwendiger Bedürfnisse – im semiotischen wie ökonomischen Sinne.
Die befürchtete Empörung des Orients aber bleibt textuell: Der ökonomisch ausgebeutete und semiotisch ausgeschlossene Orient, der immer schon Zitat ist, kehrt durch und in den Canterbury Tales als Zitat der Ausschließung zurück: In Chaucers Text, der wie wenige andere emblematisch für die Engführung von Weltpanorama und Intertextualität steht, erscheinen Indien und der Orient so wie in den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht und im 19. Jahrhundert fast immer: brutal, weiblich, lasziv – und luxuriös (vgl. Lynch 1995, 532). Dieser Orient ist doppelt medial vermittelt, aber eine Rückkehr erlebt er allemal. Die Ausschließung entlegener Bezüge kapituliert also schließlich vor dem Ausgeschlossenen.
Tiecks Text reflektiert in außergewöhnlich hohem Maße die Entstehung seiner Fabel aus dem Erzählen und aus dem Zitat. Es scheint aber, als falle er, zumindest was ›den‹ Orient betrifft, am Ende hinter sich selbst zurück: Die Wirklichkeit, die mit Andreas’ Rückkehr gegen die literarisch-topische Idylle ihre alten Rechte einfordert, besteht – und zwar, ohne dass dies ebenfalls reflektiert würde – auch nur aus Literatur. Der Orient, der als ökonomischer Garant des Lebens eingesetzt wird, macht höchstens implizit darauf aufmerksam, dass er eine nur textuell vermittelte Größe ist. Der Orient, der doch bloß ein Orient ist, wie er im Buche steht, erweist sich mithin als blinder Fleck der Self-consciousness des Textes.
Der Text der Novelle also weiß nicht um diese – im Sinne Edward Saids – orientalistische Qualität ›des‹ Orients, wohl aber der Leser, der sich zum Fürsprecher des Orients machen kann. Als solcher kann er etwa darauf hinweisen, dass der ausgeschlossene Orient: die, mit Goethe gesprochen, Verknüpfung des Fernsten und Unverträglichen, nicht weniger bezeichnet als das Funktionsprinzip von Literatur. Damit spricht dann der ausgeschlossene Orient nicht für sich ›selbst‹; aber er kann ja auch nicht selbst in die Subjekt-Position rücken, weil es ihn nicht gibt. Auch der subalterne Orient kann nicht sprechen, und ›subalterner Orient‹ ist, folgt man Said, sowieso ein Pleonasmus. Aber immerhin macht das Ausgeschlossene den Leser zum Komplizen einer perpetuierten Revision der Ausschließung. Dies wird einem nur dann als geringe Leistung erscheinen, wenn man eine tiefere Einsicht in historische Formen der Zuschreibung von Bedeutung für einen geringen Ertrag hält. Das ist sie nicht – im Gegenteil.
Anmerkungen
1 Zu den Ausnahmen wäre etwa Ida Hahn-Hahn zu zählen, deren Orientbeschreibungen (auch) auf tatsächlichen Erfahrungen beruhen.
2 »Nord und West und Süd zersplittern, / Throne bersten, Reiche zittern, / Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten, / Unter Lieben, Trinken, Singen / Soll dich Chisers Quell verjüngen.« (Goethe 1994, 12)
3 Geschichte der schönen Redekünste Persiens, Wien 1818, 27; vgl. dazu Birus 1986, 8f.
4 Hendrik Birus bezieht das Prädikat »ethisch« im Sinne der aristotelischen »Poetik« auf »den Charakter und die Sinnesart des Autors«, die bei Goethe als dem Autor von »Dichtung und Wahrheit« tatsächlich die Rolle einer Instanz spielt, die in Zeiten divergierender Leserkreise noch die Einheit des Werks garantieren soll (Birus 1986, 23).
5 Das Rätsel hat seinen Grund darin, dass die im »Siebenkäs« vorgeführte »Ichverdoppelung«, die »einen Tod in der prosaisch-bedürfnisbeherrschten Welt und eine Auferstehung in der poetisch-idyllischen Welt [ermöglicht]« (Oesterle 1983, 242), hier nicht mehr funktioniert. – Als »novel about the destruction of a marriage« liest den »Siebenkäs« Robert Gould (1990, 241).
6 Wenn Heinrich seiner Gattin gegenüber im Zustand der Belagerung durch Vermieter und Polizei die Hoffnung auf einen »Sickingen« formuliert, der »kommt, uns zu erlösen« (Tieck 1854, 65). Dies freilich verweist auf den »früheren Goethe«.
7 Vgl. dazu und zum Konzept der »Schonung«, das Goethes »Unterhaltungen« entstammt, Oesterle 1983, 251.
8 Es handelt sich offenbar um die Ausgabe von William Caxton (1474); vgl. dazu Gould 1990, 250.
9 So etwa, am Beispiel von Flaubert: Said 2003, 187f.
10 Zur Kritik an der »Fahndung nach Wendepunkten«, die sich meist »nur unter allerlei Verrenkungen« auffinden ließen, und ihrer »unheilvollen Rolle« in der Forschung vgl. Brecht 1993, 182f.
11 Orientalistisch sind die Märchen, weil es in ihrer französischen Kodifizierung zu einer Rückkopplung mit dem französischen Zaubermärchen gekommen ist: als Reaktion auf den Erwartungshorizont des Lesers. Im Anschluss an Said lässt sich die Leistung der deutschen Übersetzung dann als »imaginativer Orientalismus aus zweiter Hand« charakterisieren, weil es sich um eine Übersetzung der französischen Übersetzung handelt (Bosse 1997, 55).
Literatur
Bachmaier, Helmut (1981): Nachwort. In: Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluß. Novelle. Stuttgart, S. 67–79
Birus, Hendrik (1986): Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls. Stuttgart
Bosse, Anke (1997): Orientalismus im Frühwerk Ludwig Tiecks. In: Walter Schmitz (Hg.): Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext der Zeit. Tübingen, S. 43–62
Brecht, Christoph (1993): Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks. Tübingen
Chaucer, Geoffrey (1969): Die Canterbury Tales. Nach der Ausgabe von Adolf von Düring, 1883–86, bearb. und eingel. von Lambert Hoevel. Köln
Eco, Umberto (1992): Grenzen der Interpretation. München/Wien
Fuchs-Sumiyoshi, Andrea (1984): Orientalismus in der deutschen Literatur. Untersuchungen zu Werken des 19. und 20. Jahrhunderts, von Goethes »West-östlichem Divan« bis Thomas Manns »Joseph«-Tetralogie. Hildesheim
Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M.
Goethe, Johann Wolfgang (1987): Gedichte 1756 – 1799. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt a.M. [Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 1]
Ders. (1994): West-östlicher Divan. Teil 1. Hg. v. Hendrik Birus. Frankfurt a.M. [Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 3/1]
Gould, Robert (1990): Tieck’s »Des Lebens Überfluß« as a Self-Conscious Text. In: Seminar 26, S. 237–255
Heffernan, Carol F. (2003): The Orient in Chaucer and Medieval Romance. Cambridge
Lohmeier, Dieter (1968): Herder und Klopstock. Herders Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit und dem Werk Klopstocks. Bad Homburg v.d.H. u.a. [Ars poetica. Studien 4]
Lynch, Kathryn L. (1995): East Meets West in Chaucer’s Squire’s and Franklin’s Tales. In: Speculum 70, S. 530–551
Meyer, Imke (2001): Ludwig Tiecks »Des Lebens Überfluß«. Zur Dekomposition eines narrativen Zeit-Raumes. In: Seminar 37, S. 189–208
Oesterle, Ingrid (1983): Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluß. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart, S. 231–267
Popper, Karl (2002): Logik der Forschung. ND der 10., verb. u. verm. Aufl. Tübingen
Said, Edward W. (2003): Orientalism. London
Schlegel, Friedrich (1975): Ueber die Sprache und Weisheit der Indier [1808]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 8: Studien zur Philosophie und Theologie. Eingel. und hg. v. Ernst Behler und Ursula Struc-Oppenberg. München u.a., S. 105–433
Tieck, Ludwig (1829): Vorbericht zur dritten Lieferung. In: Ludwig Tieck’s Schriften. Eilfter Band: Schauspiele. Berlin, S. VII-XC
Ders. (1848): Goethe und seine Zeit [1828]. In: Kritische Schriften. Zum erstenmale gesammelt und mit einer Vorrede hg. von Ludwig Tieck. Bd. 2. Leipzig [Schriften 32], S. 171–312
Ders. (1854): Des Lebens Ueberfluß. In: Ludwig Tieck’s gesammelte Novellen. Vollständige auf’s Neue durchges. Ausg. Bd. 10. Berlin [Schriften 26], S. 3–70