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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 3. Jahrgang, 2012, Heft 2: Poetik des fremden Worts – Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur (Esther Kilchmann)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 3. Jahrgang, 2012, Heft 2

Poetik des fremden Worts – Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur (Esther Kilchmann)

Poetik des fremden Worts

Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur

Esther Kilchmann

Abstract:

In occidental Poetics, deviation from linguistic norms has always been considered as constitutive of literary language. Moreover, it is, as Šklovskij states, always marked by alienation and can therefore even appear as a ›foreign‹ language. Taking this as a starting point, the article analyses poetic techniques and topoi in contemporary heterolingual literature. This, it will be argued, programmatically establishes a poeticity of foreign language. Taking up devices of experimental literature, those texts focus on the transition between individual languages, and use it systematically to produce effects of alienation, and deautomatization. Thus, it is also aimed at establishing a firm link between poetic language and cultural criticism.

Wenn wir die Klanggestalt und den Wortbestand, die Wortstellung und die semantischen Konstruktionen der dichterischen Sprache untersuchen, stoßen wir überall auf dasselbe Merkmal des Künstlerischen: […] es ist ›kunstvoll‹ konstruiert, damit die Wahrnehmung bei ihm anhält […]. Die dichterische Sprache erfüllt diese Bedingungen. Nach Aristoteles soll sie fremdartig und überraschend wirken; in der Praxis ist sie oft eine fremde Sprache. (Šklovskij 1984: 22)

Dass der Sprache der Literatur immer auch ein ›fremdartiger‹ Charakter eigne, gehört ebenso zum Konsens abendländischer Poetiken wie die dichterische Abweichung von sprachlichen Normen und der bewusste Verstoß gegen grammatische und orthografische Regeln (vgl. Fricke 1981). Dennoch wurde die Einmischung von ›fremden‹ (i.e. von der Standardsprache abweichenden Varietäten bzw. von anderen ›natürlichen Sprachen‹ oder ›Nationalsprachen‹) Wörtern oder grammatischen Strukturen spätestens seit den Poetiken des 17. Jahrhunderts im Bereich der deutschen Literatur als problematisch erachtet.1 Hierin wurde weniger ein innovativ-poetisches Potenzial als ein falscher und somit schädlicher Sprachgebrauch vermutet. Prinzipiell scheint sich dies erst mit der Theoretisierung der poetischen Sprache im Umkreis des Formalismus zu ändern, der Sprachmischung als eine Möglichkeit der für die poetische Sprache als grundlegend erachteten Verfremdung und Normabweichung (vgl. Šklovskij 1984: 22) bzw. Erzeugung von Vielstimmigkeit in der Prosa berücksichtigt (vgl. Bachtin 1979: 166ff.).2

Ausgehend von der Verbindung zwischen poetischer Sprache, Abweichung und Verfremdung soll im Folgenden der Topos von der ›Fremdheit‹ der poetischen Sprache umgedreht und die These von der Poetizität der Fremdsprache aufgestellt werden, genauer: gezeigt werden, dass mehrsprachige Literatur eine Strukturähnlichkeit von poetischer und fremder Sprache erzeugt.3 Am Beispiel deutscher Gegenwartsliteratur4 wird »heterolinguales« (Sternberg 1981: 222) Schreiben bzw. »textinterne Mehrsprachigkeit« (Kremnitz 2004: 14) als literarische Technik untersucht und der Gebrauch einer fremden Sprache als Grundform poetischer Verfremdung umrissen. »Das Fremdwort widersteht – und darin ist es Vorbild für das poetische Wort schlechthin – dem reibungslosen, scheinbar selbstverständlichen Gebrauch.« (Schmitz-Emans 1997: 96)

Dabei bringt gerade die Frage nach einer spezifischen Poetik des heterolingualen Textes ebenso wie der Fokus auf die Sprache der Literatur den Rückgriff auf ältere Theorieansätze formalistischer Provenienz mit sich, die literatur- und sprachwissenschaftliche Ansätze verbinden. Zugleich scheint die heterolinguale Literatur an sprachexperimentelle Strömungen, an die Literatur der Avantgarde, an Gattungen wie »Unsinnspoesie« oder »konkrete Poesie« anzuschließen (vgl. Schmitz-Emans 1997; Bruera/Meazzi 2011).5 Mit dieser These soll heterolinguale Literatur allerdings nicht, wie in älteren literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, als »Unterart« dieser Strömungen begriffen werden (vgl. Liede 1992: 205–214) noch das Sprachspiel als eine von vielen heterolingualen Praktiken (vgl. Kaputanoğlu 2010: 254–259). Stattdessen ist die These zu verfolgen, dass die Aufnahme experimenteller Praktiken für die heterolinguale Gegenwartsliteratur konstitutiv ist, wobei sie das Spiel mit sprachlichen Grenzbereichen auf den Übergang zwischen Einzelsprachen verschiebt und diesen systematisch zur Hervorbringung von Verfremdung und Entautomatisierung nutzt. Auch heterolinguale Gegenwartsliteratur widmet sich dabei immer wieder der Materialität der Schrift, des Wortes, der einzelnen Buchstaben und Laute. Auf diese Weise werden Bedeutungsgenerierungen (sprach)kritisch reflektiert.6 Auch unterhalten, wie noch zu zeigen sein wird, heterolinguale Texte Korrespondenzen zu schriftmagischen Vorstellungen ebenso wie zu Kindersprache und Techniken des (witzigen) Sprachspiels.

Elke Sturm-Trigonakis hat zu Recht betont, dass die Besonderheit gegenwärtiger heterolingualer Literatur gegenüber älteren Formen der Sprachmischung nicht nur in ihrer unübersehbaren Quantität liegt, sondern auch darin, dass heterolinguale Verfahren bewusst programmatisch eingesetzt und darüber hinaus systematisch von poetologischen Reflexionen zu Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit begleitet werden (vgl. Sturm-Trigonakis 2007: 160ff.). Tatsächlich scheint die Literatur seit den 1990er Jahren selbst jenen ›linguistic turn‹ weg von der Motivgestaltung hin zur Sprache nachzuvollziehen – und der Literaturwissenschaft gleichzeitig aufzuweisen –, den Carmine Chiellino einst zu Zeiten der Diskussionen um ›Migrationsliteratur‹ und ›Gastarbeiterliteratur‹ einforderte (vgl. Chiellino 1989). Herta Müller, Ilma Rakusa, Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada, Marica Bodrožić, Zsusanne Gahse und José F.A. Oliver sind hierfür einschlägige Namen, die für die vorliegende Untersuchung beigezogenen wurden. So divergent sie im Einzelnen auch sein mögen, verbindet diese Autoren, dass sie ihre deutsche Literatursprache explizit aus der intimen Kenntnis einer anderen Sprache und deren experimentellem Aufeinandertreffen mit dem Deutschen gewinnen. Dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller selbst in der Regel in den eingesetzten Sprachen vollständig bewandert sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Sprachmischung in ihren Texten nicht um eine realistische oder im linguistischen Sinne korrekte Abbildung von Mehrsprachigkeit bzw. fremden Sprachen handelt. Vielmehr ist die literarische Mehrsprachigkeit Ergebnis eines artifiziellen Prozesses, eine »stylized mimesis of form […] an interpretive hypothesis accounting for verbal tension, deviance and incompatibility within a given unilingual discourse.« (Sternberg 1981: 228) Die Übergänge zwischen Sprachmischung im linguistischen Sinne und poetischer Sprachinvention werden bei dieser »translingualen Fortschreibung« (Ette 2005: 181) der deutschen Literatur verwischt. Ebenso werden Grenzen zwischen den »natürlichen Sprachen« ins Fließen gebracht. Heterolinguale Texte zeichnen sich gerade dadurch aus, diese Grenzen sprachschöpferisch produktiv werden zu lassen.7 In der Konfrontation und Überblendung verschiedener Sprachen wird eine dem (impliziten) deutschen Leser fremde Sprache (wie Japanisch, Rumänisch, Spanisch) poetisch so aufbereitet, dass sie sinnlich erfahrbar scheint, während im Gegenzug das Deutsche verfremdet wird, sodass es seinerseits dem fremden Wort ähnelt. Auf Seite der Autoren wird der Sprachwechsel dezidiert als »künstlerische[r] Stimulus« (Rakusa 2005: 10) und das Schreiben in einer fremden Sprache als »künstlerisches Experiment« (Tawada 1998: 10) in Szene gesetzt.

In Interviews, Essays und Poetikvorlesungen werden Fragen des Sprachwechsels, des Schreibens in einer Zweitsprache umfassend hinsichtlich ihrer textimmanenten ebenso wie hinsichtlich produktionsästhetischer und sozio-kultureller Bedeutung reflektiert. Bei den hier untersuchten Autoren tritt so zu den praktizierten Techniken heterolingualen Schreibens und ihres künstlerischen Innovationscharakters der dezidiert methodische Anspruch an dieses Verfahren. Nicht zuletzt ist dadurch auch eine ausgesprochene Nähe dieser Literatur zum literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Diskurs zu konstatieren. Auffällig viele der Autoren sind selbst Philologen und arbeiten überdies durchgängig mit intertextuellen Verweisen. Auf dem Feld der literarischen Mehrsprachigkeit scheinen sich literarischer und theoretischer Diskurs in besonderem Maße zu verschachteln und gegenseitig zu inspirieren. Die hier interessierende Literatur ist somit weniger in sich geschlossener und gültig vermessbarer »Gegenstand« der Literaturwissenschaft als vielmehr Dialogpartner im Nachdenken über literarische Mehrsprachigkeit. In diesem Sinne wird im Folgenden auch mit den Texten gearbeitet. In dem so entstehenden Querschnitt kann es selbstverständlich nicht darum gehen, auf die einzelnen Texte und ihre Autoren umfassend einzugehen. Stattdessen sollen Grundstrukturen der heterolingualen Literatursprache herausgearbeitet und von ihr erzeugte Topoi aufgezeigt werden, die im Einzelnen einer detaillierten Untersuchung erst noch bedürfen.

Betont sei an dieser Stelle, dass es mit dem Augenmerk auf ästhetische Verfahren und dem Rückgriff auf literaturwissenschaftliche Theorien zu poetischer Sprache und Experiment selbstverständlich nicht darum geht, die untersuchten Texte einer sozio-kulturellen und politischen Lesart zu entziehen. Vielmehr wird, wie sich in der Forschungsliteratur inzwischen breit durchgesetzt hat (vgl. Konuk 2001; Ette 2005; Yildiz 2012), von einer engen Verschränkung von Sprachgestaltung und Kritik an kulturellen Zuordnungsmustern ausgegangen. Die an Übergängen von Kulturen und Sprachen agierende Gegenwartsliteratur zeigt sich so als Knotenpunkt politisch-sozialer Bedeutung und Poetizität, indem sie jenseits nationalliterarisch geprägter ästhetischer Normvorstellungen für Migrations- und Fremdheitserfahrungen »revolutionary experimentations in language and style« (Seyhan 2001: 107) erprobt. Gerade hier werden Fragen der Sprachgestaltung (wieder) unmittelbar mit politisch-sozialer Bedeutung und Kritik verknüpft. Im Experimentieren mit Sprache(n) geht es um die Findung von im emphatischen Sinne anderen Sprachen, Sicht- und Darstellungsweisen. Gleichzeitig soll dadurch auch bei den ›anderen‹ – i.e. den deutschen Lesern – die Vorstellung fester Zugehörigkeit und unbedingter Verfügbarkeit einer (Mutter-)Sprache unterminiert werden. Wenn, wie Šklovskij schreibt,

»[i]n der Kunst […] die Befreiung der Dinge vom Automatismus mit verschiedenen Mitteln erreicht wird« (Šklovskij 1984: 14), so lässt sich im Folgenden zeigen, dass eines dieser Mittel – ein äußerst wirksames – textinterne Mehrsprachigkeit ist. Sie gibt als experimentelles Verfahren und spezifische Variante einer poetischen Sprache durch Techniken der Verschiebung und Verfremdung dort neu zu sehen, wo die Alltagssprache Bedeutungen automatisiert und somit der Reflexion entzieht. In diesem Sinne will der vorliegende Aufsatz mit der Anknüpfung an Theorien experimenteller Literatur und poetischer Sprache einen Beitrag zur Methodologie textinterner Mehrsprachigkeit leisten.

Reihensitzchen: Entautomatisieren

Bei der Darstellung und Schaffung von Fremdheit haben heterolinguale Verfahren eine doppelte Funktion. Erstens gilt:

Kein erzählerisches oder dramatisches Mittel scheint effizienter, um einen Fremden als Fremden zu charakterisieren, als ihm Fremdsprachliches in den Mund zu legen; kaum eine Erfahrung wird in so plausibler Weise zum Gleichnis des Gefühls, selbst ein Fremder zu sein, wie die, nicht die Sprache der jeweiligen Umwelt zu verstehen. (Schmeling/Schmitz-Emans 2002: 16)

In der »Umwelt«, in diesem Falle also dem in einer bestimmten Sprache verfassten Text, exponiert der Gebrauch einer fremden Sprache den Fremden als grundlegend verschieden, als unverständlich für die Leser. Zweitens wird aber durch heterolinguale Verfahren diese Erfahrung auf den deutschen Leser selbst zurückgedreht, der sich in einem Text ›seiner‹ Sprache plötzlich selbst fremd fühlt angesichts fremdsprachlicher Wörter, aber auch der Verfremdung deutscher Wörter in der verfremdeten Wahrnehmung über einen anderen Muttersprachler. So ist »Gah’tawaita« (Oliver 2007: 96) oder »Wonaym« (Özdamar 1998: 93) dem Leser zunächst ähnlich fremd wie dem es artikulierenden spanischen »Gastarbeiter« oder den türkischen Wohnheimbewohnerinnen. Das ungewohnt bzw. falsch verschriftlichte deutsche Wort erscheint, als gehöre es nicht zur standarddeutschen Textsprache, und kann erst nach genauerem Hinsehen und Wiederlesen eingeordnet werden. Vielleicht mehr noch als fremdsprachliche Wörter im engeren Sinn markiert es so eine ultimative Entfremdungserfahrung. Dass sich Sprache in Mund und Schrift des anderen bis zur Unkenntlichkeit wandeln kann, zielt letztlich auf die Erschütterung der Vorstellung einer verlässlich besessenen Muttersprache. Für den Leser wird Alterität so »während des Leseprozesses erfahrbar, denn er liest nicht über Alteritätserfahrungen, sondern er liest Alterität« (Sturm-Triagonakis 2007: 163) – sowohl in Form fremdsprachigen Vokabulars als auch verfremdeten Deutschs. Diese sprachliche Alteritätserfahrung, die sprachliche Gestaltung des Fremden gibt dabei zugleich das Fremde nicht als natürlich Gegebenes, sondern als Effekt der Sprache und der sprachlich-literarischen Konstruktion zu denken.8 Neben Narration, Grammatik, Übersetzungsformen (wörtliche u.a.) als Ansätze translingualer Gegenwartsliteratur sind auf morphologischer Ebene ein Merkmal textinterner Mehrsprachigkeit einzelne, ihrem Sprachkontext sichtbar entbundene Wörter. Sie werden als fremde Wörter kenntlich gemacht (oft durch Kursivierung, Übersetzungen, Erläuterungen), wobei es sich sowohl um Ausdrücke aus einer dem impliziten Leser eines deutschen Textes tendenziell unbekannten Sprache handeln kann (z.B. Spanisch oder Japanisch) kann als auch um deutsche Wörter, die über den als fremd inszenierten Blick des Erzählers auch für den impliziten deutschen Leser als Fremdwort konstruiert werden. Für das Erscheinen eines Wortes als Fremdes ist also nicht allein dessen einzelsprachliche Herkunft entscheidend, nicht allein Sprachbiografie und -kenntnisse von Autor und Rezipient, vielmehr ist Heterolingualität ein Effekt, der durch bestimmte poetische bzw. literarische Techniken hergestellt werden muss. Im Folgenden werde ich diese Techniken in Anlehnung an die im Formalismus entwickelte Theorie von Poetizität untersuchen, mithin danach fragen, inwiefern »fremde Wörter« im deutschen Text den Mustern von Verfremdung, Entautomatisierung und Abweichung gehorchen und ihnen somit ein poetischer Charakter eignet.

Herta Müller behandelt in ihrer Poetik-Vorlesung In jeder Sprache sitzen andere Augen die Frage, wie biografische Zweisprachigkeit das Schreiben beeinflusst und welcher (literarische) Mehrwert durch den Blick auf die andere Sprache gewonnen wird. Ähnlich anderen von Haus aus mehrsprachigen Autoren betont sie zunächst, dass sich ihr dank der Zweisprachigkeit gleichzeitig mehrere Bedeutungsaspekte, mehrere Blicke auf eine einzelne Sache eröffneten.9 Müller argumentiert, dass dadurch, dass die Dinge keiner eindeutigen Benennung in einer Sprache zugeführt würden, auch die Signifikate in Bewegung blieben und sich so neue Perspektiven auf scheinbar vertraute Gegenstände erschlössen:

Lilie, crin, ist im Rumänischen maskulin. Sicher schaut DIE Lilie einen anders an als DER Lilie. […] Wenn man beide Sichtweisen kennt, tun sie sich im Kopf zusammen. […] Was wird die Lilie in zwei gleichzeitig laufenden Sprachen? Eine Frauennase in einem Männergesicht […] Man sieht in ihr mehr als in der einsprachigen Lilie. Von einer Sprache zur anderen passieren Verwandlungen. Die Sicht der Muttersprache stellt sich dem anders Geschauten der fremden Sprache (Müller 2009: 25).10

Abzulesen ist an diesem Zitat, dass die Autorin erstens »ihre Zweisprachigkeit positiv als Möglichkeit produktiver Sprach- und Bildimpulse nutzt« (Bozzi 2005: 120). Zweitens wird durch die heterolinguale Gestaltung eines Textes aber das »anders Geschaut[e] der fremden Sprache« auch für den (implizit monolingualen) Leser sichtbar gemacht. Heterolingualität erscheint so als Technik zur Auflösung vereindeutigender Zuschreibungen, zur Schaffung von Polyvalenzen. Als Struktur liege sie all ihrem Schreiben zugrunde, wie Müller betont:

»[S]elbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist.« (Müller 2009: 27) Heißt das nun, man müsste eigentlich Rumänisch können, um ihre Texte ›richtig‹ und ›vollständig‹ zu verstehen? Ich werde im Folgenden argumentieren, dass dies ein Kurzschluss ist und ihr Vorgehen vielmehr als Technik einer literarischen Sprache begriffen werden sollte, die konstitutiv als Entautomatisierung verstanden wird und einem eindeutigen Verstehen entgegenarbeitet. Dass Rumänischkenntnisse für die Entschlüsselung einzelner Wort- und Satzprägungen bei Müller von hohem Nutzen sind (vgl. Hergheligiu 2009), bleibt dabei selbstverständlich ebenso unbestritten wie der offensichtliche Mehrwert heterolingualer Texte, auf die zu engen Grenzen von Nationalliteratur bzw. -philologie zu verweisen und für ihre Überschreitung zu plädieren.

Die Technik der poetischen Aufbereitung eines fremdsprachigen Wortes lässt sich an folgendem Zitat aus Müllers Vorlesung exemplarisch studieren:

Welch anderer Blick auf die Schwalbe im Rumänischen, die rîndunića, die reihensitzchen heißt. Wieviel mehr ist darin als im deutschen Wort. Im Vogelnamen wird mitgesagt, daß die Schwalben in schwarzen Reihen, eine dicht an der anderen, auf dem Draht sitzen. Ich hatte es, als ich das rumänische Wort noch nicht kannte, jeden Sommer gesehen. (Müller 2009: 27)

Die Heterolingualität besteht hier aus dem Zitat eines rumänischen Wortes und seiner anschließenden Überführung in einen deutschen Neologismus durch buchstäbliche Übersetzung,11 schließlich dessen Explikation, in der ein anderer Blick auf den Vogel skizziert wird, der dessen Sitzen in Reihen in den Vordergrund stellt. [R]îndunića benennt so, was am Vogel immer augenfällig war, ohne dass es durch das deutsche »Schwalbe« getroffen worden wäre, das so als vollkommen arbiträre, zum Gegenstand in keiner Beziehung stehende Wortprägung erscheint und durch »Reihensitzchen« ersetzt wird.12 Typografisch wird, wie im Deutschen üblich, das Wort aus der fremden Sprache durch Kursivierung ausgewiesen, der Neologismus anschließend durch Kapitale gekennzeichnet, bevor dann im Fließtext die durch den Blick in die andere Sprache gewonnene Erkenntnis gewissermaßen ›eingedeutscht‹ wird.

Was ist aber laut dieser Passage der Gewinn des Ausflugs in das fremde Vokabular? Es ist ein Bruch der alltäglichen Wahrnehmung, der dazu führt, dass Gegenstände wieder unmittelbarer empfunden werden. Mit dem im Umweg über das Rumänische gebildete »Reihensitzchen« findet Müller dabei ein Wort, das die Anforderung an Kunst erfüllt, wie sie der Formalismus begriffen hat: »Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen.« (Šklovskij 1984: 13) In rîndunića kann also »gesehen« werden, was das Ich immer schon berührte: »Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹« (ebd.: 15).

Analog dazu wird der Einsatz fremder Wörter als Gegenmittel zum Wahrnehmungsautomatismus begriffen, der »zur Folge [hat], daß der Gegenstand (die Form, das Wort oder das Ding) erstarrt und zur Schablone wird« (Lachmann 1970: 227). Die Kunst vermag es hier, eine »Entautomatisierung« auszulösen, indem dem Gegenstand Selbstverständlichkeit und Vertrautheit genommen werden:

Das kann einmal geschehen durch die »sperrige Sprache« […] durch die Einführung unverständlicher Elemente in die Sprache […] und zum anderen durch jegliche Art einer »erschwerten« Form, einer Form, die Widerstand leistet und Wahrnehmung provoziert. (Ebd.)

Fremdsprachige Wörter erfüllen geradezu paradigmatisch diese Bedingungen, bringen sie doch durch ihre Unverständlichkeit den Lesefluss ins Stocken, leisten einem zu glatten Verstehen Widerstand, weichen von der Norm ab.13 Die Benutzung einer fremden Sprache funktioniert als unmittelbare Verfremdung und eben darin liegt ihre strukturelle Verbindung zur Sprache der Kunst.14 Gleichzeitig findet sich darin auch die kritische Funktion heterolingualer Sprachexperimente, die mit den ästhetischen auch die kulturellen Normierungen von Fremdheit und Zugehörigkeit durchkreuzt. Für die heterolinguale Gegenwartsliteratur erweist sich deshalb Roman Jakobsons Kategorie der Poetizität als passgenau, die sich gerade darin manifestiere,

daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen. Doch wozu dies alles? Weshalb ist es nötig, darauf hinzuweisen, daß das Zeichen nicht mit dem bezeichneten Gegenstand verschmilzt? – Deshalb, weil neben dem unmittelbaren Bewußtsein der Identität von Zeichen und Gegenstand auch das unmittelbare Bewußtsein der unvollkommenen Identität notwendig ist; diese Antinomie ist unabdingbar, denn ohne Widerspruch gibt es keine Bewegung der Begriffe, keine Bewegung der Zeichen, die Beziehung zwischen Begriff und Zeichen wird automatisiert, das Geschehen kommt zum Stillstand, das Realitätsbewußtsein stirbt ab. (Jakobson 1979: 79)

Die Bewegung der Sprachen ist in der heterolingualen Literatur ein Widerspruch gegen die ästhetische und sozio-kulturelle Norm der Monolingualität, und sie ist ein Mittel, um die automatisierte Beziehung zwischen Begriff und Zeichen auszuhebeln und so Bewusstsein für neue Realitäten zu befördern. In diesem Sinne ist Heterolingualität weniger stilistisches Mittel als selbst Methode.

Vor dieser Erkenntnis ist auch Müllers Aussage zu lesen, das Rumänische schreibe in ihren Texten immer mit. Sie präsentiert sich so als Hinweis auf eine durchgängige Verfremdungstechnik, mittels derer dem Leseeindruck eines restlosen Verstehens vorgebeugt werden soll. Es geht also bei Müller nicht darum, dass man die Texte ›richtig‹ verstehen würde, könnte man nur Rumänisch. Vielmehr wird in der Kombination verschiedener Sprachen und dem poetischen Effekt, der dadurch erzeugt wird, hervorgehoben, dass die Idee eines vollständigen Verstehens von und einer vollständigen Verlässlichkeit auf Sprache überhaupt ein Trugschluss ist. Heterolingualität ist somit eine Methode Müllers, Unzuverlässigkeit und Unglaubwürdigkeit von Sprache überhaupt zu verhandeln.

In dieser Korrespondenz von fremdem und poetischem Wort ist weniger der linguistisch ›fremdsprachliche‹ Charakter eines Wortes von Bedeutung, entscheidend ist vielmehr das Moment der interlingualen Konfrontation: Es darf wohl angenommen werden, dass auch rîndunića für den Rumänischsprecher automatisiert ist, sodass seine buchstäbliche Bedeutung erst durch den Blick aus einer anderen Sprache wieder hervorgekehrt wird. ›Entautomatisierung‹ als Ergebnis künstlerischer Verfremdung wird im Zusammentreffen der Sprachen befördert. Sie kann dabei auch ein deutsches Wort betreffen, das mithilfe der Einfügung einer heterolingualen Spannung als fremdes inszeniert wird, wobei Bedeutungen und semantische Verbindungen ins Auge fallen, die im automatisierten Gebrauch verschwinden.15

Paseos: Verfremden

José F.A. Oliver arbeitet in seinen Texten durchgängig mit heterolingualen Verfahren. Die deutsche Standardsprache wird hier mithilfe spanischer, andalusischer und alemannischer Einsprengsel verfremdet. Hinzu kommt der Gebrauch von Typografie und Interpunktion als Medium der Verfremdungen: Majuskelsetzung, Trennung von Wörtern mittels Doppelpunkt oder Setzung von Ausrufezeichen nach spanischen Regeln vor den (deutschen) Satz. Oliver trägt so dem Umstand Rechnung, dass Erfahrungen von Fremdheit und Zugehörigkeit nicht in festgelegte Raster passen und somit auch nicht in eine unilinguale Textnorm mit ihren orthografischen und grammatischen Gesetzen: »ich [kann] nicht nur an den dudenkorrekt ausgelegten Richtschnüre [sic!] einer Sprache entlang schreiben« (Oliver 2007: 54). Im Folgenden sollen die in Mein andalusisches Schwarzwalddorf versammelten Essays im Vordergrund stehen, in denen sich Oliver an seine Kindheit als Sohn spanischer »Gastarbeiter«16 im Schwarzwald erinnert. Heterolinguale Verfahren folgen hier den oben untersuchten Mustern von Entautomatisierung und Verfremdung, dabei geht es auch inhaltlich um die spezifische Verhandlung und Darstellung von Fremdheiten qua Sprache sowie um die Überlagerung von Zugehörigkeiten.

Zunächst fällt in Mein andalusisches Schwarzwalddorf der systematische Einsatz einzelner spanischer Wörter auf. So, wenn von den Sonntagen berichtet wird, an denen »sich die andalusischen Spanier aus jenem kleinen Ort im Schwarzwald zusammenfanden, um auf ihren gemeinsamen Ausflügen […] diesen iberisch spazierten paseos die weltverlorenen Meilensteine zwischen Andalusien und dem Schwarzwaldstädtchen […] verwischen zu lassen.« (Ebd.: 24) Dieses Spazieren ist, wie betont wird, von einer unglaublichen Langsamkeit, die »gemeinsamen Ausflüg[e]« sind somit weniger physische Exkursionen in neue geografische Gebiete als vielmehr sprachliche in die Topografien der gemeinsamen Erinnerung. Auf den Sonntagsspaziergängen werden die deutschen Wege zu paseos in die Vergangenheit; das Spazieren dient der Unterhaltung, in der Erinnerungen an das Herkunftsland gepflegt und – dies ist zentral – an die Kinder weiter vermittelt werden. In deren Imagination verbinden sich so wiederum die Schwarzwaldwege mit den Promenierstraßen Barcelonas: »wir Kinder waren immer dabei. […] gingen […] unsere alemannische Ramblas entlang, […] die am Sonntag auf der Prachtstraße der Erinnerungen vor unseren Augen zum Leben erwachte.« (Ebd.)

Die Heterolingualität scheint hier zwei Funktionen zu erfüllen: Zunächst widerspiegelt die markierte Fremdheit der spanischen Wörter im deutschen Text die Fremdheit der spanischen Einwanderer im Schwarzwalddorf. Gleichzeitig wird die einfache mimetische Abbildung einer sozialen Situation in der Sprache in diesem Beispiel aber auch überschritten. Der heterolinguale Text als Ort konkreter sprachlicher Überlagerung verweist so darauf, dass die »paseos« im Medium der Sprache auf die Schwarzwaldwege treffen, nämlich durch die Unterhaltung bzw. das Erzählen. Die Herkunftsgebiete sind dabei längst Topografien des Gedächtnisses geworden, insbesondere für die Kinder, die das Land nur aus der Erzählung kennen, ist »Spanien« sprachlicher Natur.

Formal werden »paseos« und »Ramblas« zunächst durch die im Deutschen für fremdsprachige Wörter übliche Kursivierung auf konventionelle Weise als fremdes Wort markiert und auch in einem Glossar am Ende des Buches für die Leserschaft eingedeutscht. Dieses Verfahren suggeriert auf den ersten Blick eine eindeutige und konventionelle Scheidung der ›fremden‹ von der deutschen Standardsprache, im Verlaufe des Buches wird diese Trennung aber zunehmend unterlaufen. Zunächst sind da die alemannischen Ausdrücke, die ebenfalls kursiviert und zusammen mit den spanischen im Glossar aufgeführt werden. Zwischen »Agria« und »Al-Andaluz« findet sich hier demzufolge »Aktebäbber«, und ein des Spanischen wie Alemannischen unkundiger Leser kann wohl bei bestimmten Wörtern einen Moment unentschieden bleiben, welcher der beiden Sprachen diese zuzuordnen sind (z.B. »fongis« oder »hogar«). Dass die Herkunft der Wörter im Glossar nicht wie sonst üblich mit angeführt ist, scheint dieses Verwischen der Sprachen zu bestärken, die Oliver in all seinen Texten durch die Mischung spanischer, andalusischer und alemannischer Ausdrücke ins Standarddeutsche durchwegs praktiziert. Dass Sprachen gegeneinander abgeschlossene Systeme sind, wird dabei bereits durch die Herauskehrung der inneren Heterogenität einer einzelnen Standardsprache in Zweifel gezogen.

In einem weiteren Schritt werden in Mein andalusisches Schwarzwalddorf auch Wörter kursiviert, die unzweifelhaft der deutschen Standardsprache zuzurechnen sind. So finden sich im Kapitel über das Leben des Vaters und über dessen Sprache die kursiv gesetzten Wörter »Aufenthaltsgenehmigung, Fabriktor, Passkontrolle« (ebd.: 33). Die typografische Heraushebung bewirkt hier jenes Moment des ›Sperrigen‹, ausgerichtet auf einen entautomatisierenden Effekt, der deutlich macht, welch unmittelbar zentrale Rolle diesen Wörtern und den damit bezeichneten Vorgängen für das Leben in der »emigración« zukommen. Gleichzeitig werden auch dem deutschen Leser gegenüber die Fremdwörter markiert, was auch so interpretiert werden kann, dass sie eine diesem fremde Erfahrungen im eigenen Land, in der eigenen Sprache bezeichnen. Letztlich markiert der Text hier einen momentanen Perspektivwechsel insofern, als die Wörter für den Vater Wörter der fremden deutschen Sprache sind, die gleichzeitig seinen Status im Land als Fremder und als Arbeiter markieren.

Schließlich bezeichnen die wenigen klar umrissenen deutschen Wörter Fremdheitserfahrung als Erfahrung von Spracharmut: »Die Emigration war eine Liste simpler Alltagswörter«, heißt es an anderer Stelle angesichts eines vom Vater geschriebenen Einkaufszettels, »Fisch und Fleisch und Brot« (ebd.: 38). Der deutsche Arbeitsalltag ist so (im Unterschied zum oben beschriebenen Wortreichtum des ›spanischen‹ Sonntags) von Mechanik und Kargheit geprägt, die bis in die Sprache hineinreichen. Sei es in dem Sinne, dass mit den spanischen Einwanderern nur das Nötigste gesprochen wird, dass diese selbst die Sprache der neuen Umgebung nur unzureichend beherrschen (ebd.: 106) oder dass das Sprechen (auf Deutsch) nur dort nötig erscheint, wo unmittelbar mit der Arbeit bzw. der basalen Lebensfunktionen in Zusammenhang Stehendes benannt werden muss. Im Kontrast dazu erscheint der Vater in seinem Familienzusammenhang – »daheim im Spanischen« (ebd.: 34) – als passionierter Erzähler, denn der deutschen Kargheit stand nach Feierabend und an Feiertagen eine poetisch-fantastische Erzählfülle entgegen. Wenn Oliver in diesem Zusammenhang bemerkt: »Die Eleganz der Sprache braucht immer auch ihr Gegenteil« (ebd.: 35), so ist hier auch so etwas wie ein poetologisches Programm en miniature zu vermuten, das gerade aus der Situation der Spracharmut – und das bedeutet hier: der reduzierten Kenntnis einer fremden Sprache – Kreativität zu schöpfen vermag. Nicht allein in der ›anderen‹ Sprache, den überbordend-fantastischen spanischen Erzählungen, sondern auch in humoristischen Wortbildungen für die Kinder: »Herr Schluckauf Plump, Frau Matterhorn. Der Meister war die Stechschrittsocke.« (Ebd.: 35) Die erneut kursivierte Dreiheit deutscher Komposita erscheint in diesem Kontext wie ein Echo auf »Aufenthaltsgenehmigung, Fabriktor, Passkontrolle«. Sie zeigen das Potential der fremden Sprache zur spielerischen Verwandlung in Kunst- und Kindersprache und gleichzeitig das Mittel der Komik wie der Poesie als Gegengift zum Gastarbeiteralltag.

»Hinüber in das Land des Buchstabens«. Materialität von Schrift

»Gerade die Erfahrung der Fremdheit und Widerständigkeit von Buchstaben und Texten stimuliert zu reflektierten Schreibweisen und schriftbewussten Lektüren. Ganze künstlerische Strömungen, wie etwa die konkrete Poesie, nehmen hier ihren Ausgang.« (Schmitz-Emans 2012: 274) Im Umkehrschluss scheint auch die Erfahrung kultureller und sprachlicher Fremdheit in besonderer Weise zur Reflexion von Sprache und Schrift anzuregen und das Spiel mit den Zeichen zu befördern. Die heterolinguale Schreibweise trifft sich hier erneut mit einer bestimmten Ausformung der experimentellen, die »den Buchstaben, den Laut als Material auf[fasst] und […] Kunstobjekte aus Sprache her[stellt].« (Jandl 1974: 48) Zeichen und Wörter nehmen materielle Gestalt an und gewinnen damit eine spezifische Dinghaftigkeit: »de[r] Buchstab[e] J, der zu großen Teilen in der Erde lebt« (ebd.: 14); »ein ›d‹, ein Halbkreis mit einer erhobenen Hand, und ein ›u‹, ein leeres Gefäß.« (Tawada 2006: 33) Die heterolinguale Literatur suggeriert, dass, wo der Inhalt nicht verstanden wird und die kommunikative Funktion ausgehebelt ist, Klang und Form der fremden Wörter umso stärker ins Auge fallen: »Eine Sprache, die man nicht versteht, liest man äußerlich. Man nimmt ihr Aussehen ernst.« (Ebd.: 34) Die Wahrnehmung fremder Sprache trifft sich demzufolge einmal mehr mit der künstlerischen Wahrnehmung, bei der nach formalistischer Auffassung ebenfalls die Form im Vordergrund steht (vgl. Löve-Hansen 1996: 70).

In der Entautomatisierung der Buchstaben in interkultureller Konfrontation wird zudem der westlichen Auffassung der eigenen Schrift als neutral und säkular, als für sich selbst genommen vollkommen arbiträres und bedeutungsloses, gleichsam reines Medium der Darstellung widersprochen. Indem das Zeichen in seiner grafischen Form wahrgenommen wird, wird stattdessen darauf hingewiesen, dass auch die westliche Tradition eine Materialität des Buchstabens, etwa in ABC-Illustrationen oder schriftmagischen Vorstellungen kennt. Gerade Tawada, die in ihren Texten teilweise auch mit Ideogrammen arbeitet, spielt mittels dieses Vorgehens systematisch die westliche Einschätzung zurück, andere Schriftsysteme funktionierten »bildlicher« als die Buchstabenschrift und weist diese so nicht als Erkenntnis in den tatsächlichen Charakter der alphabetischen Schrift vs. der Ideogramme aus, sondern vielmehr als Effekt, der sich beim Blick auf fremde Zeichen einstellt. Dass es auch umgekehrt geht, zeigt sie, wenn sie bezüglich der grafischen Formen der lateinischen Schrift das ›S‹ in Ähnlichkeit mit der Schlange oder das ›O‹ als Leerstelle und Durchgang perspektiviert (vgl. Bay 2010; Ivanovic 2010). Tawada leistet so eine sehr spezifische Kritik am abendländischen Schriftkonzept, wenn sie mithilfe interkultureller Konstellationen immer wieder auf Orte und Gattungen verweist, wo auch der westliche Buchstabe eine materielle Form und religiöse oder magische Funktion besitzt (vgl. Kilchmann 2012). Die Grundlagen dazu hat sie in ihrer Dissertation Spielzeug und Sprachmagie erarbeitet (vgl. Tawada 2000: 153–178). In Anlehnung an Walter Benjamin argumentiert Tawada, dass es mit Fibel und ABC-Buch die Orte des institutionalisierten Schrifterwerbs sind, an denen die Buchstaben nochmals in ihrer Materialität inszeniert werden, die dann zugunsten der Entzifferung von Wort- und Textsinn überwunden werden müssen. Den Kindern werde aus pädagogischen Überlegungen heraus »das Alphabet als Spielzeug« (ebd.: 175) angeboten. Ungewollt würde so aber, wie Tawada weiter zeigt, die Fibel zur »Bühne« (ebd.: 157), auf der sich die Buchstaben frei von Einbindung in Sinnzusammenhänge in ihrer ganzen grafischen Pracht präsentierten. Unversehens gerät der Schrifterwerb so auch zur Weiterführung des ›unsinnigen‹ Sprachspiels, oder zur Entdeckung des poetischen Potentials der fremden Zeichen. Was Tawada am ABC-Buch interessiert, ist, dass hier die Schrift in ihrer Materialität und ihrem Eigensinn gefasst werden kann. Wie weiter unten noch zu zeigen ist, besteht dabei eine strukturelle Korrespondenz zwischen dem Erstschrifterwerb und der Aneignung einer weiteren (Schrift-)Sprache.

Wo Buchstaben und Wörter in der heterolingualen Literatur in ihrer Materialität inszeniert werden, durchbrechen sie nicht nur automatisierte Lesevorgänge, sie erinnern auch an jene Fremdheit der Schrift, deren Topos der kindliche Schrifterwerb ist, und die hier generierte (poetische) Spiellust. Im Angesicht einer fremden Sprache blitzt somit die Erinnerung an spielerisch-magische, kindliche Buchstabenerfahrung (wieder) auf: »Welche Vernarrtheit ich im Deutschen entwickele, die Buchstaben zu verdrehen.« (Bodrožić 2007: 137)

»Ich fand nirgendwo so viel Kindheit wie in der deutschen Sprache«: Fremd- und Kindersprache

Tatsächlich wird die Inszenierung fremder Wörter und das sprachschöpferische Potential von Sprachwechsel immer wieder mit kindlicher Spracherfahrung verbunden: Meine Schwester »war damals erst vier Jahre alt und sagte zum Beispiel ›Zahnbrust‹ an Stelle von ›Zahnbürste‹. […] Meine Schwester war für mich eine faszinierende Sprachmaschine.« (Tawada 2006: 118) Marica Bodrožić verknüpft in Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern die Erzählung von Kindheitserinnerungen mit Reflexionen zum Zweitspracherwerb und dem Beginn des Schreibens in der zunächst fremden deutschen Sprache. Zentrales Verbindungsglied ist dabei der Topos der Materialität von Sprache und Schrift, der bereits in der ersten Sprache der Kindheit (Serbokroatisch) durch deren innere Vielheit in Gestalt von Varietäten verstärkt wird:

[V]erschiedene Wörter für Zug gab es, und wenn es das Glück gab, dann weil es viele Wörter für eine Sache gab. Als Kind gefiel mir das serbische Wort voz […] Das kroatische Wort vlak hingegen hatte eine sanftmütige Aura, für mich hört es sich an wie mrak und mlad, eine Mischung aus den Wörtern Dunkelheit und jung, und so auch erlebte ich die erste Zugfahrt meines Lebens, in der Nacht, und jung war ich […]. (Bodrožić 2007: 97)

Ebenso wie bei Müller und Oliver wird hier die Kursivierung zur Markierung des fremden Wortes eingesetzt, wobei diese zugleich das Wortmaterial markiert, aus der anschließend die kleine Geschichte gewonnen wird. Inhaltlich umreißt die Episode zunächst die – sozusagen noch unter dem Dach der Muttersprache stattfindende – Erfahrung von Mehrsprachigkeit als eine glückliche. Darüber hinaus zeigt sie aber auch die Kombination von Wörtern verschiedener Sprachen für dieselbe Sache sowie die Entdeckung des Gleichklangs (unabhängig von der Wortbedeutung) als Generator von Geschichten: Aus ›vlak‹, ›mrak‹ und ›mlad‹ wird so die Erzählung einer Zugfahrt, die die Wörter ›Dunkelheit‹ und ›jung‹ kombiniert. Der zitierte Absatz führt somit vor, wie eine Geschichte nicht aus der Abbildung eines Erlebnisses, sondern aus der Verbindung einzelner Signifikanten gewonnen wird. Dass diese als einzelne überhaupt hervortreten, ist dabei wieder ein Effekt der Heterolingualität. Später werden Wörterbücher als Orte entdeckt, in denen sich die Wörter der neuen Sprache Deutsch als einzelne Signifikanten zeigen und aus denen so auf ähnliche Weise wieder Literatur generiert werden kann. So wird geschildert, wie aus dem Wort »Herbstzeitlose« mittels einer Kette von Entautomatisierungen literarische Texte erzeugt werden:

Allein das Wort Herbstzeitlose warf mich in einen Atlantik der Winde. Daß etwas im Namen an eine Jahreszeit gebunden ist und in der Sprache doch die Karawane der Zeitlosigkeit nach sich ziehen kann, ruft einen ekstatischen Zustand hervor. Hinzu ist das ganze Wortbild auch noch eine Blume, die giftig ist und vielen Gedichten Patin war. […] Ich […] forschte weiter […]. Daraus ist die Erzählung »Der Lilienliebhaber« hervorgegangen. (Bodrožić 2007: 138f.)

Nicht zuletzt zeigt sich in diesem Abschnitt, dass die als Entautomatisierung und Verfremdung kurz beschreibbare Technik gleichzeitig auch Gegenstand immer neuer poetischer Faszination ist, über den gerade in poetologischen Essays zum Sprachwechsel bildreich reflektiert wird und der so zum Generator neuer Geschichten, Wort- und Sinnzusammenhänge (ebenso wie ihrer literaturwissenschaftlichen Erforschung) avanciert. Gleichzeitig scheint die Entautomatisierung aber auch eine körperliche Erfahrbarkeit von Sprache hervorzurufen. Im Falle der »Herbstzeitlose« schreibt Bodrožić von einem »ekstatischen Zustand« und an anderer Stelle spricht sie davon beschreibt, wie die Wörter einer noch fremden Sprache zunächst körperlich erfasst werden: »Ich erlebte Wörter, machte Erfahrungen mit ihnen, ohne ihre Bedeutungen zu kennen.« (Ebd.: 105) Vor diesem Hintergrund würde Müllers zitierte Einschätzung, das Rumänische sei »sinnlicher« (Müller 2009: 27), weniger mit den tatsächlichen Eigenschaften einer Sprache zusammenhängen, denn an die Wahrnehmung einer Fremdsprache geknüpft sein. Die bei Bodrožić und anderen umrissene Hypothese lautet: Das mimetisch-magische Sprachpotenzial, in der Muttersprache durch deren kommunikativen Gebrauch verschüttet, wird über die fremde Sprache wieder zugänglich. Tawada vermutet, dass die Wahrnehmung einer fremden Sprache Strukturähnlichkeiten zur kindlichen Wahrnehmung von Sprache erkennen lässt:

[I]ch fand nirgendwo so viel Kindheit wie in der deutschen Sprache. Schmatzen, schnaufen, schluchzen, schlürfen: Viele deutsche Wörter klingen wie Onomatopoesie. Für die Neugeborenen klingt vielleicht jede Sprache so wie Deutsch für mich. (Tawada 1996: 110)

Die Autorin erklärt damit das Diktum »in einer Fremdsprache ist die Kindheit abwesend« (ebd.) als unzutreffend. Ebenso betont auch Özdamar: »Meine deutschen Wörter haben keine Kindheit, aber meine Erfahrung mit deutschen Wörtern ist ganz körperlich.« (Özdamar 2001: 131) Damit wird der Vorstellung, dass bestimmte intime Erfahrungen mit Sprache an die Muttersprache gebunden sind, nachhaltig widersprochen. Stattdessen haben Muttersprache und andere Sprachen miteinander ihre initiale Unverständlichkeit und Fremdheit gemein. Die Herstellung einer Strukturähnlichkeit von kindlicher Sprachwahrnehmung und fremdsprachlicher Wahrnehmung meint deshalb keine Gleichsetzung des kindlichen Erstspracherwerbs mit dem Erlernen einer weiteren Sprache (von dem er sich ja bereits durch die Reflektierbarkeit des Sprachwechsels unterscheidet). Vielmehr werden hier kulturelle Topoi aufgerufen, an denen die Materialität der Sprache und das damit verbundene Spiel in westlicher Auffassung lokalisiert sind, und diesen ein neuer hinzugefügt: die fremde Sprache. Dabei wird auch nochmals eine Verbindung von der Kindersprache zur Dichtung hergestellt, wie sie auch im Begriff des Spiels enthalten ist.17 Der angebliche Mangel der Fremdsprache wird so zu ihrem poetisch nutzbaren Potential umgedeutet und die Muttersprache ihrer Einzigartigkeit als sinnlich-nahe enthoben. Vielmehr wird gerade in Konfrontation mit einer Fremdsprache der kindliche Blick auf Sprache poetisch reinszenierbar. Damit wird aber zugleich auch wieder an die ursprüngliche Fremdheit von Sprache erinnert, die die Begriffsprägung der »Muttersprache« gerade zu verbergen sucht. Stattdessen erscheint in der heterolingualen Konfrontation jede Sprache immer auch als fremd, unsinnig und komisch.

»Tya«: Komik

Dass Sprachmischung (samt der sich daraus möglicherweise ergebenden Missverständnisse) komisch ist und deshalb bevorzugt in den entsprechenden Gattungen zum Einsatz kommt, gehört zu den ältesten Befunden zur textinternen Mehrsprachigkeit. Am Werke ist hier eine »Verballhornung fremder Wörter« (Liede 1992: 214), die zuweilen auch mit der Ridikülisierung eines Fremden verknüpft wird. In heterolingualen Texten wird diese Bewegung gleichsam umgewendet und auf die »eigene Sprache« zurückbezogen, die in ihrer Entautomatisierung qua heterolingualer Spannung nun ihrerseits komisch sein kann. Wiederum kann dieser Vorgang nun sowohl die Sprache des Erzählers treffen als auch das Deutsch des impliziten Lesers: Die Verschiebung zur ›maccaronischen‹ Komik besteht darin, dass sie nicht das fremde Wort trifft. Beispiele hierfür sind die durch Majuskelschreibung abgesetzten und unkommentiert in die Erzählung eingefügten Zeitungsschlagzeilen bei Özdamar: »JAGD AUF DEN MANN MIT DER AXT. SCHNORRERKÖNIG POLDI HAT AUSGESCHNORRT. EIN DUTZEND LEICHEN OHNE FLEISS KEIN NEUER GLANZ.« (Özdamar 1998: 93) Oder Homophonien, die bei Tawada häufig zur Gewinnung komischer Effekte eingesetzt werden:

Noriko rief »Nasu!«, das bedeutet auf japanisch Aubergine. […] Als Lektor Heinz Schmidt uns sah, rief er uns etwas zu. […] ich hörte nur das Wort »nasu« heraus […]. Was ging es ihn an, wenn zwei Mädchen in einer Regennacht eine rohe Aubergine miteinander teilten? Heute denke ich, dass der Lektor das deutsche Wort »naß« gemeint hatte. (Tawada 2006: 43)

Sprachmischung resultiert hier in einem distanzierenden Effekt zum Wort der je eigenen Sprache und in Komik. Die deutschen Leser lachen dabei über ein Wort ihrer Muttersprache, das plötzlich ›komisch‹ aussieht – was man mit Freud auch als einen Moment der Erleichterung interpretieren könnte: Die angeblich einzigartige und allbeherrschende Muttersprache ist letztlich nicht verschieden von anderen ›lustig‹ klingenden bzw. aussehenden Sprachen. Die Entautomatisierung von Wörtern vermag so jene sprachspielerische und zugleich subversive »Lust am Unsinn« (wieder) hervorzurufen, die Freud beim lernenden Kind beobachtet und die »im ernsthaften Leben allerdings bis zum Verschwinden verdeckt« (Freud 1989: 118) sei. Diese witzig-subversive Wirkung scheint umso stärker, je aufgeladener die Wortbedeutung in emotionaler oder historischer Hinsicht ist. Tawadas »Derrida – Dreirad« (Tawada 2006: 100) und »Muttersprache – Sprachmutter« (Tawada 1996: 9) sind Beispiel hierfür. Ein interessanter Fall ist Zsusanne Gahses »Germ-ane. […] Logisch wäre: Germ-Ahne. Germ ist österreichisch. Sagen wir Hefe-Ahne, Hefevorfahr.« (1993: 4) Hier gerät der witzige Effekt in die Nähe der Erleichterung, die ein Tabu-Bruch hervorruft: Auch Wörter, die fest mit ihrer Bedeutung verknüpft sind, in diesem Fall mit der Verwicklung der deutschen Sprache in die Geschichte der deutschen und österreichischen Nation mit ihren Reinheitsideologien, können von dieser Verknüpfung ›entautomatisiert‹ werden. ›Germane‹ ist dann nichts weiter als eine zum witzigen Sprachspiel geeignete Laut- bzw. Buchstabenfolge. Pathos wird hierbei, so lässt sich argumentieren, ironisch gebrochen. Auf der anderen Seite scheint hier gleichzeitig auch ein problematischer Aspekt in der Rezeption heterolingualer Gegenwartsliteratur auf, der sich als Sehnsucht nach einer ›anderen‹ Literatur deutscher Zunge umreißen ließe, in der ›andere‹ Erinnerungen und Lebensgeschichten erzählt werden, die sich mit der deutschen Geschichte erst nach dem Zweiten Weltkrieg berühren. So gesehen scheint der Reiz an der verfremdeten Niederschrift deutscher Wörter auch darin zu bestehen, dass diese hier jenseits der im Wort angelagerten historischen Bedeutungen wieder einen kindlich-sprachspielerischen Zauber, eine Unschuld gewinnen können. Dass aber weder witziger Effekt noch heterolinguale Schreibformen auf eine so gestaltete ›Neutralisierung‹ deutscher Sprache abheben müssen, sondern sie umgekehrt gerade auch die politische Geschichte der deutschen Sprache mit einbeziehen können, zeigen die Texte Zé do Rocks. In fom winde ferfeelt. welt-strolch macht links-shreibreform hat der Autor die Sprachform »ultradoitsh« geschaffen, die das als zu kompliziert erachtete Deutsch systematisch vereinfacht (Rock 1995). Es folgte der Band Deutsch gutt sonst Geld zuruck mit zwei weiteren Varianten: Erstens »Siegfriedisch«, eine purisitsch inspirierte »auslandifrey (fremdwortfrey) sprache, nur worte von germanish ursprung darf da vorkommen.« (Rock 2002: 13) Zweitens »Kauderdeutsch« bzw. »cowderdoich«, in der eine »Entdeutschung« (ebd.: 25) durch die konsequente Einführung von lateinisch-angelsächsischen Wörtern und grammatischen Regeln vollzogen wird. Zé do Rock parodiert so nicht nur Diskussionen um Fremdwörtergebrauch und Rechtschreibreform, sondern verfremdet in seinen Texten auch die Beschreibung von Behördengängen (»Auslandiamt«; ebd.: 24) oder Diskussionen um das Recht auf Einbürgerung bzw. doppelte Staatsbürgerschaft (»auslandico deutshis«; ebd.). Allein qua abweichenden Sprachgebrauchs wird aus diesen Themen eine komische Wirkung herausgetrieben, zudem werden zugleich inhärente Absurditäten aufgezeigt. Ein weiteres Anwendungsfeld für dieses Verfahren sind nationale Stereotype: »Tya, un dann fare nac Italia unde misse aine entoisciung hinneme, de pizza-turm stete scif. Faule italiena, varum reparire di nix?« (Ebd.: 188) Die Artikulation bekannter deutscher Zuschreibungen – und alter Witze – wird hier durch die Sprache gebrochen, wobei der komische Effekt vom Ziel des stereotypisierten Anderen auf die Position des stereotypisierenden Sprechers zurückgewendet wird. Ein Verfahren, dass vor allem auch da greift, wo die Sprechweise des Anderen als eine von der eigenen abweichende und daher komische dargestellt wird: »Dì grìchon sìnd lèbenslûstig, àber étwas patètis in ìra áusdruxwâise.« (Ebd.) Bei Zé do Rock wird stattdessen das Deutsche als eine (aus Perspektive der Anderen) seinerseits seltsame Sprache markiert. Gerade im beliebten Feld der komischen Inszenierung interkultureller und -lingualer Begegnungen macht die experimentelle Arbeit an der Sprache den entscheidenden Unterschied aus zwischen platter Perpetuierung von Stereotypen, wie sie weitgehend in der sog. Culture-Clash-Kommödie praktiziert wird, und der komischen Brechung dieser Stereotype selbst. So wird in zitiertem Beispiel Zé do Rocks in einer entscheidenden Verschiebung nicht die Sprache des Fremden als komisch wiedergegeben, über die Erzähler und Leser aus ihrer scheinbar ungebrochenen Verfügung über eine neutrale Sprachnorm heraus lachen. Vielmehr wird die Existenz ebendieser neutralen und ›unkomischen‹ Sprachnorm in der Konfrontation von Sprechern verschiedener Sprachen in Frage gestellt, und damit das Kippen ins Komische und Unsinnige als Potential (oder je nach Blickwinkel Gefahr) jeder Sprache begriffen.

Schluss

In der Literatur der Gegenwart unterhält heterolinguales Schreiben eine unmittelbare Nähe zur poetischen Sprache, insofern es von der (unilingualen) Norm abweicht und darüber hinaus systematisch als Methode zur Erzeugung von Entautomatisierung und Verfremdung eingesetzt wird – wobei es Letztere buchstäblich verkörpert. Eignet nach Kremnitz (2004: 14) textinterner Mehrsprachigkeit immer zugleich ein realistisches wie verfremdendes Moment, so scheint die hier untersuchte Literatur deutlich interessierter am verfremdenden Potential. Das gilt auch dort, wo mittels textinterner Mehrsprachigkeit wieder auf sozio-politische Realitäten abgezielt wird. Auch hier gewinnen heterolinguale Texte ihre kritische Funktion in untrennbarer Verbindung mit ihrer Poetizität.

Zentral ist in allen untersuchten Texten, dass der Eindruck der Fremdheit immer wieder auf die Vorstellung einer »eigenen« Sprache zurückgespiegelt wird. Er wird mithin als Charakteristikum von Sprache überhaupt ausgewiesen, in dem sich folglich auch alle Einzelsprachen gleichen. Heterolinguale Texte weichen damit nicht nur von der Muttersprache als Norm literarischen Schreibens ab, sie stellen auch deren Gültigkeit als Konzept in Frage.

Verbunden mit der Sprachreflexion wurde gezeigt, dass heterolinguale Texte der Schrift ein besonderes Augenmerk widmen. Übergreifend werden Topoi aufgesucht, an denen sich die Materialität der Schrift manifestiert, seien es Relikte oder künstlerische Inszenierungen schriftmagischer Vorstellungen oder der kindliche Sprach- und Schrifterwerb mit der Gattung des ABC-Buches. Mit der Fremdsprache bzw. deren Erwerb fügt die heterolinguale Gegenwartsliteratur diesem sample einen neuen Topos hinzu, der poetisch ebenso produktiv gemacht werden kann. Schließlich schließt sie in ihrem sprachspielerischen und -witzigen Verfahren ebenso wie in der engen Verbindung von Poetizität, Sprachkritik und kultureller Kritik an Strömungen experimenteller Literatur an. Die (immer schon internationale) Avantgarde wird hier als dezidiert transkulturelle fortgeschrieben.

Anmerkungen

1 Verwiesen sei hier nur auf das Kapitel von der zuebereitung und ziehr der worte in Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624).

2 Dabei tritt auch in den Blickwinkel, dass der Sprachwechsel eines Autors einen genuin poetischen Wert haben könnte: »Wie weit wäre die Befreiung der russischen Schriftsprache wohl gediehen, wenn nicht der Ukrainer Gogoľ gekommen wäre, der das Russische schlecht beherrschte?« (Jakobson 1979: 68f.).

3 Ich verwende ›Poetizität‹ und ›poetisch‹ dabei im Anschluss an Roman Jakobson (1979) im weiten Sinne einer literarischen bzw. dichterischen Sprache, nicht im Sinne von ›Lyrik‹.

4 Untersucht werden heterolinguale Texte unterschiedlicher Autorinnen und Autoren. Freilich ist es kaum zufällig, dass alle biografisch bedingt (mindestens) bilingual sind, die Diskussion möglicher Zuordnungskategorien wie »interkulturelle Literatur« (Chiellino 2000), »postmonolinguale Literatur« (Yildiz 2012) etc. ist im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht von Interesse. Im Anschluss an Kader Konuk ist zu vermerken, dass die Verschiebung des literaturwissenschaftlichen Interesses auf die Sprache der Texte ohnehin eine Verabschiedung von der Herkunft der Autoren als zentrales Ordnungskriterium für Texte verspricht, indem die Sprache als ein »Ort der Literatur« ins Zentrum tritt, der vielfältig wandel- und unabhängig von biografischer Herkunft gestaltbar ist (Konuk 2001: 116f.).

5 Gleichzeitig besteht auch eine Nähe zu surrealistischen Verfahren oder Techniken wie der écriture automatique (vgl. Brandt 2006 u. Matsunaga 2010).

6 Auf die Verbindung zur Tradition der Sprachkritik kann hier nur am Rande hingewiesen werden. Zur aktuellen Fortschreibung von Sprachkritik im interkulturellen Kontext vgl. Heimböckel 2012.

7 Auf die Verwandtschaft der Arbeit an der Sprache mit der Collage verweist Schmidt (2012) am Beispiel Herta Müllers: 120. Ein häufig anzutreffendes Beispiel für den produktiven Einsatz von einzelsprachlichen Überschreitungen ist die zunächst zufällig erscheinende Gruppierung von Wörtern über Sprachgrenzen hinweg, z.B. entlang von Lautähnlichkeiten, die dann als Ausgangspunkt der Textgenerierung genutzt wird: »Auch ›bin‹ ist ein schönes Wort. Im Japanischen gibt es auch das Wort ›bin‹, das klingt genau gleich und bedeutet ›eine Flasche‹. Wenn ich mit den beiden Wörtern ›ich bin‹ eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz und die Flasche ist leer.« (Tawada 2006: 57)

8 Vgl. dazu die Einschätzung »Das Unbekannte hat ein eigenes Alphabet. Man kann es erlernen« (Bodrožić 2007: 143).

9 Ähnlich auch Oliver: »Die parallele Wahrnehmung zweier Sprachen lässt mich die Dinge und ihre Verhältnisse ständig aus verschiedenen Perspektiven erleben.« (Oliver 2007: 54) Für eine interdisziplinäre Untersuchung eines möglichen Zusammenhanges von Mehrsprachigkeit und (literarischer) Kreativität vgl. Bürger-Koftis 2010.

10 Bemerkenswerterweise greift Müller mit der »Lilie« auf genau jenen Gegenstand zurück, den auch das frühe futuristisch-formalistische russische Manifest zur Illustrierung neuer dichterischer Sprachfindung nennt: »Die Wörter sterben, die Welt bleibt ewig jung. […] Die Lilie ist wunderschön, aber das Wort Lilie ist schrecklich abgegriffen […]. Daher nenne ich Lilie ›euy‹« (Zit. n. Hansen-Löve 1996: 69).

11 Auf die große Rolle, die das Spiel mit Übersetzungen in der heterolingualen Gegenwartsliteratur spielt, kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu Genz 2010.

12 Tatsächlich ist die Etymologie von »Schwalbe« ungeklärt. Mit Blick auf die Schwalbe in der Literaturgeschichte ließe sich allenfalls anmerken, dass im Deutschen eher der Flug als das Sitzen mit dem Vogel assoziiert wird (vgl. Grimm: Bd. 15, Sp. 2182–2186).

13 Vgl. dazu auch die Einschätzung der Autorin Sudabeh Mohafez: »Ich könnte mir vorstellen, dass daher [aus der persönlichen Mehrsprachigkeit; E.K.] so ein bisschen der Mut kommt […], es einfach mal anders zu probieren, als man es gewöhnlich tut.« (Zit. n. Amodeo 2009: 147)

14 Etwa, wenn immer wieder ein Zusammenhang von fremder Sprache und literarischem Schreiben entworfen wird. Vgl. Carmen-Francesca Banciu: »Sicher ist mein Deutsch ein etwas anderes Deutsch als die Sprache eines Muttersprachlers […] Es ist vielleicht ein befremdendes Deutsch, aber es ist vielleicht auch ein literarisches Deutsch. Ich will […] sagen, dass diese Fremdheit vielleicht auch durch den literarischen Stil entsteht. […] Ich […] hatte früher an meiner rumänischen Sprache gearbeitet und sie war auch etwas fremd.« (Zit. n. ebd.: 157)

15 Z.B.: »Heidelberg, was für ein seltsamer Name, ›del‹ heißt auf japanisch ›auftauchen‹, also bedeutet ›Heidelberg‹ der Berg, auf dem ein Hai auftaucht« (Tawada 2006: 44). Zu beobachten ist hier eine Erzählperspektive, die kindliche Naivität suggeriert, was nach Šklovskij als zusätzliche Technik der Verfremdung gesehen werden muss (vgl. Lachmann 1970: 232).

16 Oliver benutzt den Begriff bewusst, um damit eine spezifische historische Realität der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik und die damit zusammenhängenden Erfahrungen zu benennen (vgl. Oliver 2007: 105–108).

17 So fragt Sigmund Freud in Der Dichter und das Fantasieren: »Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es […] die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt.« (Freud 1994: 171) Zur Konzeptionierung von Literatur als Spiel vgl. Anz/Kaulen 2009.

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