Mehrsprachigkeit auf dem Theater
Zum ästhetischen Mehrwert von Frank Wedekinds dreisprachiger Lulu-Urfassung1
Abstract:While the public generally ignores this fact, Wedekind’s Lulu drama was first written as a trilingual play. Thus, Die Büchse der Pandora, the original version of his masterpiece, includes numerous and extensive passages in French and English. Yet a complex process of censorship and self-censorship gradually led to the eradication of the work’s multilingual dimension. This paper aims at analyzing both the aesthetic and political implications of Wedekind’s literary polyglossia. In this way, I argue, Wedekind’s early multilingualism appears as a major factor of his radical modernity around 1900.
I
Im Entwurf eines Kommentars zu seiner 1894 fertig gestellten »Monstretragödie« Die Büchse der Pandora schreibt Frank Wedekind (1864–1918): »Shakespeare hat seinem Heinrich V. bereits einige Scenen in französischer Sprache eingefügt. Wir leben drei Jahrhunderte nach Shakespeare« (KSA 3.2: 978). Es ist anzunehmen, dass der junge Dramatiker seine Kritiker mit diesem Hinweis auf den Umstand aufmerksam machen wollte, dass Mehrsprachigkeit auf dem Theater um 1900 durchaus kein neues Phänomen mehr war. Dabei ging es dem damals noch nahezu unbekannten Wedekind sicherlich nicht zuletzt darum, seinem außergewöhnlichen Unternehmen, ein Stück in drei Sprachen (Deutsch-Französisch-Englisch)2 zu konzipieren, durch den Verweis auf Shakespeare als ›dritten deutschen Klassiker‹ einen historischen Bürgen zu verschaffen und es zu legitimieren.
Dass das Theater keine prinzipiell monologische Gattung ist, wie noch Michail Bachtin behauptete (1985: 22ff.), sondern auch polyphone Formen annehmen kann, zeigt ein Blick in die Literaturgeschichte. Wedekinds textinterne3 Mehrsprachigkeit besitzt dort – neben vielen aktuellen Nachfolgern – eine Reihe illustrer Vorgänger. Die von der Forschung4 zusammengetragenen Zeugnisse reichen bis in das Alte Indien zurück. Im europäischen Rahmen führen die Beispiele für mehrsprachiges Theater von Aristophanes und Plautus über Torres de Naharro, Andrea Calmo und die Commedia dell’Arte, den eben zitierten Shakespeare sowie Lope de Vega, Molière, Goldoni und Tristan Bernard bis in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts hinein, wo unter anderem Zuckmayers Das kalte Licht (1955) zitiert werden kann.5
Ist, wie Leonard Foster (1972: 13) feststellt, der Gebrauch verschiedener Sprachen und Dialekte ein im Theater – insbesondere in der Komödie – häufig verwendetes Mittel zur Figurencharakterisierung, so fußt diese polyphone Ästhetik in der Regel auf der Existenz eines polyglotten Publikums. Im postkolonialen Kontext der letzten Jahrzehnte sind deshalb multilinguale Theaterformen, außer in traditionell mehrsprachigen Ländern wie der Schweiz (vgl. Mimos 2002) und Kanada (vgl. Bovet 2007), vor allem in ehemaligen Kolonien6 wie Indien, Südafrika, den Maghrebstaaten usw. anzutreffen, wie auch innerhalb der Minderheiten Nordamerikas, so z.B. im Chicano-Theater (vgl. Ramirez 2000).
Neuere technische Entwicklungen spielen ebenfalls eine Rolle bei der heutigen Realisierung multilingualer Theaterformen. So können in der Theaterpraxis der Gegenwart potenzielle Sprachbarrieren durch den Einsatz der Übertitelungstechnik herabgesetzt bzw. überwunden werden, wie sie beispielsweise im multimedialen, -kulturellen und -lingualen Theater des Frankokanadiers Robert Lepage zum Einsatz kommt (vgl. Dundjerovic 2007). Gleichzeitig zeigt ein Werk wie das von Lepage jedoch auch, dass Theater in einer globalisierten Welt mit dem Einsatz von Mehrsprachigkeit darauf abzielen kann, sprachliche Differenzen, Schranken bzw. Ausgrenzungen explizit darzustellen und zu problematisieren. Einen solchen Ansatz trifft man ebenfalls in den Stücken von Bernard-Marie Koltès an sowie in der polyphonen Theaterarbeit von Peter Brook oder Ariane Mnouchkine (vgl. Houdart-Merot 2006; Banu 2010). In der deutschen Literatur wäre in diesem Zusammenhang u.a. Yoko Tawada mit ihrem deutsch-japanischen Stück Till (1998) zu zitieren, wo das Nicht-Verstehen der anderen Sprache integraler Bestandteil der Theaterästhetik ist (vgl. Yildiz 2012: 116f.).
II
Rund 100 Jahre vor Yoko Tawadas deutsch-japanischer Bühnensprache scheint Frank Wedekind davon ausgegangen zu sein, dass sein deutsches Publikum den französischen und englischen Passagen seiner Lulu durchaus gewachsen ist. So schreibt er im oben zitierten Kommentar weiter: »Wir leben drei Jahrhunderte nach Shakespeare, und wir sind Deutsche. Wir sind die gebildetste Nation der Welt.« (KSA 3.2: 978) Wedekind scheint also – im Gegensatz zu Tawada – von einer Kongruenz zwischen seinem mehrsprachigem Stück und einem (postulierten) polyglotten Publikum ausgegangen zu sein, obgleich er auch zugab, sich nur an einen »engbegrenzten Leserkreis« (ebd.) zu wenden. Im Gegensatz zu manchen aktuellen postkolonialen Ansätzen sollte Wedekinds Mehrsprachigkeit nach eigener Aussage jedenfalls keine »babylonische Sprachverwirrung« (ebd.) in der deutschen Literatur erzeugen.
Trotz der postulierten mehrsprachigen Kompetenz auf Seiten des Publikums stand Wedekind mit seinem dreisprachigen Theaterprojekt damals völlig isoliert im deutschen Literaturbetrieb da. Zwar kann man in der Weltliteratur einige Schriftsteller finden, die während der 1890er Jahre Werke in anderen Literatursprachen als ihrer Muttersprache verfasst haben – man denke z.B. an Joseph Conrad, August Strindberg oder Oscar Wilde (vgl. Gentes 2008). Textinterne Mehrsprachigkeit ist jedoch damals (insbesondere auf dem Theater) ein völlig marginales Phänomen.7 Das gilt namentlich für Deutschland. Experimentierten während der Jahrhundertwende auch einige der späteren Hauptfiguren der literarischen Moderne (z.B. Stefan George und Rainer Maria Rilke)8 mit dem Schreiben in ›fremden‹ Sprachen, war Wedekind der Einzige, der zu diesem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit trat, um ein genuin dreisprachiges Stück auf deutsche Theaterbühnen zu bringen.
Im deutschen Kontext stieß der Ansatz einer Sprachmischung in der Literatur generell auf einen erheblichen, strukturell zu nennenden Widerstand, war doch die literarische Produktion seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer stärker von der Nationalbewegung instrumentalisiert worden (vgl. Fohrmann 1988). Im Zuge einer zunehmenden Essentialisierung und Ethnisierung der deutschen Muttersprache wurde den Schriftstellern der wilhelminischen Ära eine Erhellung und Verteidigung des deutschen ›Wesens‹ im Medium einer möglichst ›reinen‹ und ›ursprünglichen‹ deutschen Sprache abverlangt (vgl. Ahlzweig 1994: 217f.).
Bekanntlich stellt Einsprachigkeit in der deutschen Literatur keine überzeitliche literarische Norm dar (vgl. Forster 1972; Kremnitz 2004; Yildiz 2012). Erst durch die nationalistische Lesart der französischen Nationalgeist-Idee und der Sprachphilosophie Herders wurde Anfang des 19. Jahrhunderts die Einsprachigkeit der Schriftsteller zum Dogma erhoben (vgl. Hokenson 2007: 142f.). Wenn jedoch eine Periode der deutschen Literaturgeschichte als annähernd monolingual bezeichnet werden kann, dann sicherlich die Zeit von den 1850er Jahren bis in die Mitte des Kaiserreichs. Abgesehen von der NS-Zeit, so darf man behaupten, war der ethnozentrisch-homogenisierende Druck auf Kultur, Sprache und Literatur nie größer als damals. Trotz der um 1890 einsetzenden sprachlich-kulturellen Öffnung im avancierten literarischen Milieu verbreiteten sich reaktionäre bis völkische Ideen immer stärker im öffentlichen Diskurs (vgl. Butzer 2000). Mit den sich verschärfenden Konflikten zwischen Deutschland und seinen Nachbarn, insbesondere mit Frankreich und England, sollte die Norm einer monokulturellen und monolingualen Nationalliteratur einen neuen Legitimitätsschub erhalten.
III
Vor diesem Hintergrund kann der Einsatz von Fremd- bzw. Mehrsprachigkeit um 1900 durchaus als Teil einer ästhetischen Oppositionshaltung betrachtet werden. In den 1880er Jahren wurde durch Friedrich Nietzsches Philosophie und Schreibpraxis der Boden für ein sprachkritisches Verhalten vorbereitet, das in der Literatur der Jahrhundertwende weiterwirkt (vgl. Michaud 2000). Wie Kremnitz (2004: 63) bemerkt, setzte damit auch eine literarische Gegenbewegung ein, die eine Befreiung des Schriftstellers vom Druck des Nationalen und der Nationalsprache forderte. Die Indienstnahme der Literatur durch den Nationalismus mittels einer als »Entelechie eines Nationalcharakters« (vgl. Fohrmann 1988) konzipierten Philologie hatte den Schriftstellern absolute Sprachtreue abverlangt; die bewusste Verletzung dieses Gebots durch die Verwendung fremder Sprachen wurde nun umgekehrt zur Subversion der Konventionen eingesetzt. Die Lulu-Tragödie, von einem »wurzellosen Halbamerikaner« (Scholz zit. n. Kieser 2000: 392) und Gegner alles Preußischen verfasst, stellt hier ein herausragendes Beispiel dar.
Die zwischen 1892 und 1894 in Paris und London entstandene Urfassung des Theaterstücks besteht aus fünf Aufzügen, aus denen später die beiden Teile der sogenannten Doppeltragödie hervorgehen sollten. Der vierte und der fünfte Aufzug, in Paris bzw. London spielend, beinhalten in dieser Version eine beachtliche Menge an französischen bzw. englischen Dialogen. Der fremdsprachliche Gesamtanteil bleibt je unter 50 Prozent, jedoch gibt es eine beachtliche Anzahl von Auftritten, in denen die Fremdsprachen fast durchgängig verwendet werden (IV, 1, 6, 9–12 u. 20; V, 3, 7, 11, 13 u. 15). Im vierten Aufzug wird neben dem Deutschen ausschließlich das Französische als zusätzliche Sprache verwendet, wohingegen der fünfte Aufzug außer dem Englischen außerdem noch Dialogstellen auf Französisch und in schweizerischem Dialekt enthält.
Die Entstehungsgeschichte von Wedekinds Lulu-Komplex ist ein höchst komplexer und vielschichtiger Prozess. Wie es die 1996 erschienene kritische Studienausgabe (KSA) dokumentiert, erfuhr der Text zwischen der Urfassung von 1894 und der ersten Wedekind-Werkausgabe aus dem Jahre 1913 zahlreiche tief greifende Veränderungen. In seiner späteren Form als Doppeltragödie, bestehend aus den Stücken Erdgeist und Die Büchse der Pandora, wurde Wedekinds Lulu-Drama über Jahrzehnte hinweg wirkmächtig aufgeführt und rezipiert (vgl. Florack 1996: 3–14).
Neuere Forschungen haben hervorgehoben, dass die traditionellen, über Jahrzehnte hinweg gespielten Lulu-Fassungen das Resultat einer umfassenden ›Domestizierung‹ des Urtextes sind. Ruth Florack hat in diesem Zusammenhang betont, »wie sehr Wedekinds bekannte Stücke ›Erdgeist‹ und ›Pandora‹ als Produkte eines (je unterschiedlichen) Anpassungsprozesses an Zensur und Selbstzensur zu verstehen sind.« (Florack 1995: 6)
Sind es zunächst die moralisch anstößigen und sexuell expliziten Inhalte, die im langwierigen Prozess der Umarbeitung ihre ursprüngliche Drastik einbüßen, so impliziert die Domestizierung ebenfalls die Austreibung der Fremdsprachen aus dem Text. Auch hier hat die nachhaltige Rezeption des Doppeldramas von 1913 die früheren Fassungen fast vollständig ausgeblendet. Dass Wedekinds Lulu-Drama ursprünglich als mehrsprachiges Stück verfasst wurde, ist so über mehrere Jahrzehnte hinweg fast völlig in Vergessenheit geraten. Im Kontext aktueller Diskurse über »postmonolinguale« Literatur (vgl. Yildiz 2012) erscheint es dringend erforderlich, diese Tatsache in Erinnerung zu rufen.
IV
Wedekinds Lulu-Urfassung, zunächst als »Buchdrama« bezeichnet und konzipiert, enthält äußerst genaue, in alle Einzelheiten ausgeführte Anweisungen zu Bühnenbild und Kostümen, was durchaus an manche Stücke des Naturalismus erinnert. Der Einsatz der französischen und englischen Sprachen kann daher zunächst als Teil dieses äußerst detailgenauen Dekors von Paris bzw. London betrachtet werden. Die meisten Dialoge besitzen eine mimetische Dimension insofern, als sie reale Redesituationen abbilden und damit die in der Literatur weit verbreitete Fiktion einer einsprachigen Welt durchbrechen (vgl.Obendieck 2000: 9).
Der vierte Aufzug, der in der Pariser Salonwelt spielt, bietet viele interessante Beispiele für die konkrete Redevielfalt des Stücks, da in ihm sowohl einsprachige als auch mehrsprachige Figuren auftreten. Je nach Kommunikationssituation und Sprachkompetenz variiert dabei der Sprachgebrauch, wobei viele Personen zwischen Französisch und Deutsch wechseln, einige aber
augenscheinlich nur des Französischen mächtig sind.9 Unter den offensichtlich Deutschsprachigen wiederum kann zwischen solchen Figuren unterschieden werden, bei denen Deutsch die Erstsprache bzw. bevorzugte Sprache zu sein scheint,10 und anderen, die beide Sprachen fast gleichberechtigt benutzen.11 In jedem Fall wird ganz pragmatisch im Gespräch diejenige Sprache benutzt, die eine Verständigung aller Gesprächspartner miteinander erlaubt, wobei einige Personen quasi dolmetschend als Sprachmittler in Erscheinung treten.
Hat das Französische im vierten Aufzug im Grunde seine traditionelle Rolle als Salonsprache inne, fungiert das Englische im fünften Akt gleichsam als Geschäftssprache insofern, als Lulu mit ihren Freiern in dieser Sprache verhandelt. Abgesehen von Dr. Hilti sind diese nur des Englischen mächtig.12 Die englische Sprache dient außerdem der realistischen Darstellung eines bestimmten Milieus, nämlich eines Armenviertels im London der Zeit Jack the Rippers, wie auch durch den Einsatz des Französischen das ›Sündenbabylon‹ Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts dem Leser plastisch näher gebracht wird.
V
Wie Kremnitz feststellt, beinhaltet jede textinterne Mehrsprachigkeit grundsätzlich zwei Pole: Realismus und Verfremdung. Die Ansicht, Wedekinds Fremdsprachenverwendung ginge zunächst von einer realistisch-mimetischen Intention aus (Kremnitz 2004: 14), wird vom eingangs zitierten Kommentar des Autors gestützt: So wie in Shakespeares Drama das Französische zuvorderst der realen Kommunikationssituation am Hofe Heinrich V. Rechnung trägt, fußt auch Wedekinds mehrsprachiges Schreiben in der Büchse auf einer solchen Abbildfunktion.
Der Einbezug der realen Sprachenvielfalt der europäischen Metropolen impliziert die Erschließung unverbrauchter Sprachquellen außerhalb des (national-)literarischen Kanons. Vieles von dem, was Wedekind in der zeitgenössischen deutschen Literatursprache als alt und blass erschien, bekam in der Fremdsprache einen neuen Klang und eine andere Qualität. Einen neuen, direkteren Zugang zur Realität ermöglichen die Fremdsprachen auch insofern, als sie eine größere Freiheit im Umgang mit sexuell expliziten Inhalten erlauben und die Hemmschwelle gegenüber dem Obszönen herabsetzen. So stellt man in der Büchse fest, dass sich die krassesten Passagen des Stücks, wo z.B. auf Pädophilie und Kinderprostitution (vgl. KSA 4: 1, 20) angespielt wird oder die Tötungsmethoden Jack the Rippers erwähnt werden (vgl. KSA 5: 15), in den fremdsprachigen Textteilen konzentrieren.
Allerdings stellt die gleichsam naturalistisch anmutende Suche nach Realistik und Direktheit nur eine Seite von Wedekinds Verwendung von Mehrsprachigkeit dar. Die distanzierend-verfremdenden Implikationen der Fremdsprachenverwendung werden deutlich, sobald man den Standpunkt des zeitgenössischen Publikums einzunehmen versucht. Denn auch wenn der Autor durch den Gebrauch der Fremdsprachen eine intensivere und drastischere Wirkung intendierte, so ist doch fraglich, ob bei den Lesern (bzw. Zuschauern) eine solche Wirkung überhaupt erzielt werden konnte. Verliert nicht im Gegenteil, so könnte man fragen, Wedekinds ›Bürgerschreck‹-Drama erheblich an Schlagkraft, wenn die anstößigsten Passagen in einer nicht ohne weiteres verständlichen Fremdsprache geschrieben sind? Entsprechend den Bildungskonventionen der damaligen Gesellschaft kann wohl davon ausgegangen werden, dass bestimmte fremdsprachige Zitate in literarischen Texten unübersetzt verstanden wurden. Im konkreten Fall kann dies jedoch nur begrenzt gelten, da sich angesichts des hohen Fremdsprachenanteils das vollständige Textverständnis zwangsläufig auf eine sehr kleine Elite beschränkte. Die Urfassung des Stücks war damit alles andere als marktangepasst.
VI
Da die mehrsprachige Monstretragödie von Wedekinds erstem Verleger Albert Langen als unpublizierbar abgelehnt wurde, machte sich Wedekind in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre daran, die Aufzüge I-III zu dem Drama Der Erdgeist umzuarbeiten, das 1898 uraufgeführt wurde. Dieser Teil des Lulu-Komplexes enthielt von Anfang an keine Fremdsprachen. Die Aufzüge IV-V werden etwas später den Grundstock zu einer neuen Version der Büchse der Pandora bilden, die zwischen Oktober 1900 und Januar 1901 entstand und erstmals 1902 im Juli-Heft der Zeitschrift Die Insel erschien.
Obwohl Wedekind seinen ursprünglichen Text bereits erheblich entschärft hatte, geriet er mit der 1903 bei Bruno Cassierer erschienenen Buchfassung in die Fänge der Zensur. Im August 1904 kam es zu einer Vorladung vor Gericht und anschließend zu einem Prozess wegen »Verbreitung unzüchtiger Schriften«. Trotz des Freispruchs in der Sache musste die Restauflage der Erstausgabe auf richterlichen Beschluss vernichtet werden. In der 1906 folgenden, überarbeiteten Neuausgabe sind dann alle fremdsprachigen Stellen ins Deutsche übersetzt.
Die zweite Buchfassung der Büchse wird in der Folge nochmals einige, durch drohende Zensurmaßnahmen bedingte inhaltliche Veränderungen erfahren. Wie Hartmut Vinçon schreibt, sollten die bis 1913 erfolgten Änderungen »einen juristisch nicht mehr angreifbaren Text bieten« (KSA 3.2: 889). Was die Fremdsprachen angeht, kann der Prozess der Umarbeitung jedoch seit 1904 als abgeschlossen gelten. Das »Gaunerwelsch der Mameluken« (KSA 3.1: 551) war aus seinem Drama getilgt worden. Diese Veränderung sollte es ihm fortan erlauben »sich unbehelligt durchzuringen« (ebd.), was die Veröffentlichung (und Aufführung) seines Stücks angeht.
Die Bezeichnung »Buchdrama«, die Wedekind 1894 für seine Monstretragödie gewählt hatte, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Dramatiker von Anfang an bestrebt war, sein Stück auf die Bühne und vor Theaterpublikum zu bringen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die Frage der Spielbarkeit einen erheblichen Anteil an der Entscheidung für eine Eindeutschung der Büchse hatte. Unabhängig von den Konflikten mit der Staatsanwaltschaft und den Zensurbehörden war es angesichts der zeitgenössischen Theaterpraxis und in Anbetracht des Erwartungshorizonts auf Seiten des Publikums letztlich nicht möglich, an eine Produktion der Büchse in mehrsprachiger Fassung zu denken.
VII
Im Laufe seiner langwierigen Umarbeitung der Lulu-Tragödie musste der um Öffentlichkeit ringende Wedekind also einsehen, dass er sein Stück, wenn überhaupt, dann nur einsprachig auf einer deutschen Bühne öffentlich und vor zahlenden Gästen zur Aufführung bringen konnte. Der Kampf mit der Zensur und die Anpassung an die Erfordernisse der Theaterpraxis ließen eine maximalistische Lösung wie in der Urfassung als aussichtslos erscheinen. Angesichts des vorherrschenden Publikumsgeschmacks und des zeitgeschichtlichen Kontexts ist fraglich, ob nach 1904 die Veröffentlichung eines mehrsprachigen Stücks – selbst als Buch- bzw. Lesedrama und in inhaltlich abgeschwächter Form – überhaupt denkbar gewesen wäre.
Einsprachigkeit kann somit gleichsam als Voraussetzung für eine Aufführung der Büchse auf deutschen Bühnen angesehen werden.13 Mehrsprachigkeit stand als Hindernis für eine Breitenwirkung nicht zuletzt den materiellen Interessen Wedekinds im Wege, der erst 1906 mit der Uraufführung des bereits 1891 erschienenen Frühlings Erwachen seinen endgültigen Durchbruch erleben sollte und bis dato mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.
Doch läge man sicher falsch, würde man die Selbstübersetzung Wedekinds als künstlerische Entscheidung aus freien Stücken bezeichnen. Die Tatsache, dass wahrscheinlich kein deutsches Theater die mehrsprachige Büchse aufgeführt hätte, weil es an Publikum für ein solches Stück fehlte, besitzt auch politische Implikationen. Die sprachideologischen Grundlagen dieses Problems scheint Wedekind im seinem 1910 hinzugefügten Prolog in der Buchhandlung zu reflektieren, wenn er in ironischem Ton von der »ernstere[n] und edlere[n] Gestalt« des »klarsten Deutsch« (KSA 3.1: 551) spricht, die nun in seinem Stück an die Stelle der Fremdsprachen treten sollten. Die Aufwertung der deutschen Sprache als eine den anderen überlegene spiegelte sicher die – von Wedekind ironisch gebrochene – sprachideologische Haltung vieler Zeitgenossen wider.
Somit war Wedekinds pragmatisch-marktgerechte Option für eine Eindeutschung des Stücks sicherlich eine für seinen Durchbruch unverzichtbare Entscheidung. Jedoch gehen, wie wir sehen werden, durch diese Umarbeitung auch wichtige ästhetische Qualitäten der Ur-Fassung verloren.
VIII
In der Forschung wurde oft der Montage-Charakter von Wedekinds Lulu-Dramen betont (vgl. Florack 1996: 259), wodurch Elemente des Naturalismus und absurd-groteske Überzeichnungen im Text Seite an Seite existieren können. In Bezug auf die Verwendung der Fremdsprachen scheint dieses Ergebnis insofern bestätigt, als sich in deren Verwendung durch Wedekind sowohl ein mimetischer Ansatz als auch eine sprachliche Verfremdungstechnik erkennen lassen. Neben der geradezu streng naturalistisch anmutenden Rekonstruktion der realen Kommunikationssituation im Paris- und London-Bild scheint Wedekind die Fremdsprachen vor allem bei der Konstitution seiner Figuren als Mittel einer Denaturalisierung und Dezentrierung eingesetzt zu haben. Dies wird mittels einer Gegenüberstellung von Urfassung und späterer Doppeltragödie deutlich.
Vergleicht man Anfangs- und Endpunkt der Entstehungsgeschichte der Büchse-Tragödie, so erkennt man, dass die einsprachigen Fassungen durch Tilgung der interlingualen Ebene14 und die Abschwächung der interkulturellen Dimension15 den ethnozentrischen Schein eines homogenen und in sich geschlossenen Kommunikationsraums, dem alle Figuren angehören, entstehen lässt. In der Urfassung dagegen kreieren die deutlichen Ortswechsel und die dezidiert multikulturellen Patronyme einen europäischen und kosmopolitischen Horizont. Die in der Mehrsprachigkeit begründete Meta-Sprachlichkeit schafft dabei eine grundsätzliche Vielfalt und reflektiert diese insofern, als die Dialoge der Monstretragödie von 1894 zahlreiche Passagen enthalten, in denen die Figuren zwischen den Sprachen wechseln, über sprachliche Unterschiede nachdenken, ihre Erstsprache mit Abstand betrachten oder spielerisch verwenden.
So kann man in den mehrsprachigen Textfassungen beobachten, wie neben die Reproduktion eines real mehrsprachigen Kommunikationsrahmens gleichsam kontrapunktisch ein Sprechen tritt, in dem durch den Einsatz der anderen Idiome Distanz, Mehrdeutigkeit und Fremdheit erzeugt werden, und zwar sowohl in der Rezeption durch den Leser bzw. Zuschauer als auch in der internen Beziehung der Theaterfiguren untereinander. Die oft betonte Künstlichkeit von Wedekinds Dialogen, das Konstruierte in seiner Sprache, wird durch den Einsatz von Fremdsprachen noch verstärkt. Kommunikation wird so verfremdet, derealisiert, und die Figuren durch das fremdsprachige und changierende Sprachkostüm opak und ungreifbar. Wie Hartmut Vinçon bemerkt, tritt die bedeutungstragende Funktion in Wedekinds Lulu gegenüber der expressiv-spielerischen in den Hintergrund (vgl. KSA 3.2: 1500), was in den mehrsprachigen Dialogen noch deutlicher hervortritt. Michaud radikalisiert diesen Ansatz, indem er feststellt, dass Wedekinds spezifische Sprachverwendung in der Monstretragödie letztlich zur Aufhebung der festgefügten Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen und Referenten führt (Michaud 2000: 199).
IX
Geht man davon aus, dass Sprache ein grundlegender Faktor von Identität ist – und das 19. Jahrhundert hatte die Einheit von (nationaler) Identität und Sprache enger gefasst als jede andere Epoche (vgl. Kremnitz 2004: 90) –, dann bedeutet Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel einen Bruch mit tradierten Identitätsvorstellungen. Auf der Ebene der Figurenkonstruktion impliziert der Sprachwechsel in den Dialogen (wobei man beim Lesen nicht immer erkennt, woher die Personen stammen und welches ihre Erstsprache ist) letztlich eine Infragestellung von festen Identitätszuweisungen, wodurch sich interessante Parallelen zur Ich-Problematik in der Fin-de-siècle-Literatur ergeben (vgl. Fischer 1978: 71f.).
Im Unterschied zur idealistischen Sprachphilosophie ist Sprache somit nicht mehr ein stabilisierendes und determinierendes Element von Identität, sondern sie macht Identität vielmehr als Frage oder Schein erkennbar. Wedekinds Technik der Figurenzeichnung im Lulu-Drama als künstliche, entindividualisierte Konstrukte, als Schein-Identitäten16, wird durch den Einsatz der Fremdsprachen radikalisiert. Am eklatantesten wird das bei der Figur der Lulu deutlich, die nicht nur, wie oben beschrieben, mittels der Fremdsprachen andere Identitäten annimmt, sondern auch von den Männern immer wieder mit anderen Namen benannt wird.17
Betrachtet man in diesem Zusammenhang nochmals den Prozess der schrittweisen Umarbeitung des Urtextes im Ganzen, so wird deutlich, dass Wedekind durch die Eindeutschung der fremdsprachigen Passagen »ein innovatives Element dezidiert formaler Opposition« (Florack 1996: 244) aufgibt. Georg Brandes hatte diese radikale Modernität bereits zur Zeit der Entstehung der Büchse bemerkt, als er 1908 über den letzten Aufzug schrieb:
Besonders in seiner ersten Fassung, wo die fremden Sprachen ohne Rücksicht auf die Forderung der Tradition und der Bühne miteinander wechseln, ist dieser Akt von außerordentlicher und erschreckender Gewalt. Es gibt nichts Grelleres und Wilderes in moderner Poesie. Sie hat sich nie vorher solcherart mit dem grauenhaft Gemeinen abgegeben, ohne doch die Schranken der Kunst zu überschreiten. (KSA 3.2: 1103)
Abschließend soll anhand einer Szene aus diesem »grellen« und »wilden« Akt nochmals verdeutlicht werden, welche zusätzlichen ästhetischen Dimensionen die mehrsprachige Fassung von Wedekinds Stück besitzt.
X
Eine der interessantesten Szenen zur Untersuchung der Mehrsprachigkeit in Wedekinds Lulu-Urfassung ist der elfte Auftritt des London-Bildes (5. Aufzug). Lulu, ein ärmliches Dasein als Prostituierte führend, empfängt dort in ihrer schäbigen Behausung ihren neuen Freier Dr. Hilti, Patriziersohn und Privatdozent für Philosophie aus der Schweiz. Dem sprachlichen Umfeld entsprechend und im Unwissen über die wahre Identität des Gegenübers, beginnt der Austausch in englischem Smalltalk:
LULU (öffnet die Thür und läßt Dr. Hilti eintreten) – Whence are you coming so late, Sir?
DR. HILTI I have been in the theatre. – I am coming from the Alhambra …
LULU Indeed? – You have seen Constantinople?
DR. HILTI Yes, yes. – Indeed!
LULU How did you like it?
DR. HILTI Oh – that’s very nice!
LULU I think so. – Did you see the turkish Coffe-house?
DR. HILTI Yes. Certainly. – I have never seen so beautiful girls. […] (KSA 3.1: 298)
Auf die Frage hin, ob sie Engländerin sei, antwortet Lulu (falsch) mit »I am French«, und nach Dr. Hiltis französischer Nachfrage wird die Unterhaltung in einer Mischung aus Französisch und Englisch weitergeführt:
DR. HILTI […] Are you born in London?
LULU No Sir. – I am French …
DR. HILTI Ah, vous êtes Française?
LULU Oui monsieur, je suis Parisienne.
DR. HILTI Are you?
LULU Je suis une vraie Parisienne. Ma mère est caissière au Café Kalypso. Dans le temps elle vendait des poissons au Boulevard Rochechouart. Mon père est de la haute noblesse. Je ne l’ai vu qu’une seule fois, j’avais quinze ans. Il habite le Faubourg St. Honorée. Il a cent cheveaux dans ses écuries.
DR. HILTI I am coming from Paris, where I was staying for eight days. […]
(KSA 3.1: 299)
Lulu gibt also auf Französisch vor, ein echtes Pariser (Freuden-)Mädchen, Tochter einer kleinen Verkäuferin und eines hohen Adeligen, zu sein. Als die Sprache auf Dr. Hiltis schweizerische Herkunft kommt, benutzt dieser zum ersten Mal den Dialekt: »Sprachän Sie töütsch?« (Ebd.). Lulu antwortet mit der Behauptung, ihre Deutschkenntnisse stammten daher, dass sie einmal einen deutschen Liebhaber gehabt habe. Der Rest der Szene läuft daraufhin in vier Sprachen ab, wobei Dr. Hilti zwischen seinem Dialekt und dem Französischen wechselt, Lulu zwischen dem Französischen, dem Hochdeutschen und dem Englischen:
DR. HILTI Tonnärwättär – wia miach thas fröüt, thas sie töutsch speachän!
LULU (ihn auf die Chaiselongue ziehend) Komm, Süßer, komm. – Du bleibst bei mir die Nacht. – (ihn küssend) Du hast so schöne Augen!
DR. HILTI Abär iach habä niacht mähr dän fünf Schielingä bei miar.
LULU Let me see, darling.
DR. HILTI (sein Portemonnaie leerend) Hiar sihnd sie. – Iach nähma nia mähr miet, wän iach ousgähä.
LULU (das Geld nehmend und einsteckend) It’s enough – parce que c’est toi – parce que tu as des yeux si doux. – Embrasse moi!
DR. HILTI Hiemäl, Härgoth, Töüfäl, Kröüz, Bataljohn,
LULU (ihn küssend) Ferme ça, je t’en prie.
DR. HILTI Äs ischt nähmliach thas ärschtä Mal, thaß iach miet einäm Mädachä gähä.
LULU Menteur – ce n’est pas ici qu’il faut faire des blagues!
DR. HILTI Beim Töüfäl, due kchanscht miar gloubän. – Iach hätä miar thas kanz andärsch gedahcht!
LULU Warum hast du dich so früh verheiratet? […]
(KSA 3.1: 299–300)
Im Laufe dieser dezidiert polyglotten Szene wird deutlich, wie sehr die verschiedenen Idiome zur (Schein-)Charakterisierung der Personen benutzt werden bzw. welchen Beitrag die Sprachen zur Konstitution der (wechselnden) Figurenidentität leisten. Lulu, deren perfektes Hochdeutsch (und Verständnis des dialektalen Deutsch) im Prinzip ihre Herkunft verrät, wählt trotzdem das Französische als Hauptsprache, da sie sich stolz mit der Rolle des Pariser Freudenmädchens zu identifizieren scheint (»Moi, je fais l’amour«, KSA 3.1: 300), auch wenn sie das Deutsche für einige Schmeicheleien benutzt. Durch das um die Jahrhundertwende weit verbreitete Bild von Paris als ›Sündenbabylon‹ impliziert diese französische Rolle sicherlich auch eine lukrative Positionierung auf dem ›Markt‹ der käuflichen Liebe. Daneben bietet ihr das Französische die Möglichkeit, Distanz zu dem Schweizer zu halten, dessen Auftreten und Sprechen sie stark irritiert. Seinerseits wechselt Dr. Hilti, sobald er mit großer Freude entdeckt hat, dass seine Prostituierte Deutschkenntnisse besitzt, in die sprachliche Idiosynkrasie des Dialekts, der in gewisser Weise den Kern seiner Persönlichkeit zum Vorschein bringt und ein ganz anderes Bild erzeugt, als die englischsprachigen Passagen zu Beginn der Szene. Dr. Hilti scheint sich dabei selbst der Illusion eines homogenen (deutschen) Kommunikationsraums hinzugeben, obwohl sein Idiom im Grunde ebenfalls eine fremde Sprache darstellt.
Das diastratisch, tendenziell niedrig situierte (Sprach-)Bild des Dialekts entspricht offenbar nicht der Vorstellung, die sich Lulu von einem Privatdozenten für Philosophie aus hohen Kreisen macht.18 Der derbe Ton, den der urwüchsig anmutende Dialekt den Äußerungen des Dr. Hilti gibt, scheint dabei kaum zur eklatanten sexuellen Unerfahrenheit der Figur zu passen. Sicherlich benutzt Wedekind die Hilti-Figur an dieser Stelle auch dazu, um das sinnlich-erotische Defizit der akademischen Philosophie (und ihrer Vertreter) aufzuzeigen und die allgemeine sexuelle Misere der Zeit anzuprangern. Entsprechend der Tradition der mehrsprachigen Komödie, dient der schweizerische Dialekt dazu, komische Effekte zu erzeugen und sich über die Attribute des Dr. Hilti als Angehöriger der Schweizer Oberschicht, zukünftiger Professor und Vertreter eines nationalistischen und latent rassistischen Darwinismus (vgl. KSA 3.2: 1084) lustig zu machen.
Jedoch darf diese denunzierende Funktion des Dialekts nicht darüber hinwegtäuschen, dass er wie die anderen Fremdidiome ebenfalls an Wedekinds Problematisierung von (sprachlicher) Identität teilhat. Dabei ist entscheidend, dass Dr. Hilti eben nicht sofort als das erscheint, was er wohl tatsächlich ist, sondern über die Fremdsprachen zunächst als ein anderer auftritt. (So wie man annehmen darf, dass er auf Hochdeutsch wieder als ein anderer erschiene.) Und Lulu gibt in der Konfrontation mit ihm ein wesentliches Merkmal von sich selbst preis: dass man nämlich – vor allem in der Urfassung – keinerlei gesicherten Informationen über ihr Leben vor Beginn des Stücks, ihre Herkunft, Muttersprache, Eltern, Erziehung usw. besitzt. Alles in allem entsteht dabei in der elften Szene des fünften Akts ein grotesk-komisches Spiel mit Sprachmasken, wobei sich keine mit der eigentlichen Identität der Figuren vollkommen zu decken scheint. (Fremd-)Sprache, die im Stück immer auch Mittel zum Täuschen, Betrügen und Morden ist, gibt dabei stets genauso viel preis wie sie versteckt.
XI
Vergleicht man den eben analysierten Auftritt mit der entsprechenden Stelle in der Fassung von 1913 (vgl. KSA 3.1: 608f.), fällt auf, dass der Text um rund drei Viertel gekürzt wurde und im Grunde kaum mit der Urfassung vergleichbar ist. Von der essenziellen Sprachenvielfalt bleibt nur das direkte Gegenüber von Standardsprache und Dialekt übrig, wobei jede Person an einem Idiom festhält. Dr. Hiltis Sprechweise wird nicht mehr durch den Lauf des Gesprächs und den Wechsel vom Englischen über das Französische zum Dialekt hergeleitet, sondern dient situationsunabhängig zur Kategorisierung der Person als derb und unerfahren. Dort, wo in der Urfassung ein spannendes und vertracktes Spiel mit sprachlichen Identitäten inszeniert wurde, wird die Sprechweise des Dr. Hilti in der Endfassung, wo er als einzige Figur etwas anderes als Hochdeutsch spricht, zum oberflächlichen sprachlichem Stigma. Auf diese Weise verkommt das Maskenspiel zum Klamauk und Dr. Hilti wird zu einer nebensächlichen Witzfigur, die plakativ vorgeführt und bloßgestellt wird (vgl. Florack 1996: 261).
Anhand solcher Szenen wird erkennbar, dass Wedekinds Verwendung der Fremdsprachen in der Monstretragödie sein ästhetisches (und politisch-gesellschaftliches) Projekt in vielen Punkten unterstützt. Der Einsatz der Fremdsprachen erlaubt es dem Dramatiker, die von ihm verwendeten literarischen Mittel, insbesondere in seiner Inszenierung von maskenhaften Figurenidentitäten und doppelbödigen Kommunikationssituationen, zu potenzieren. Mit dieser multilingualen Schreibweise gelingt es ihm Wirkungen zu erzeugen, die so im Medium einer einzigen Sprache nicht möglich wären und folglich in den einsprachigen Fassungen der Büchse verschwinden. Sind die Fremdsprachen auch nicht per se ein Merkmal radikaler Modernität, so sind sie doch sicherlich beim frühen Wedekind ein zentrales Mittel zur Erzeugung solch radikaler Modernität. So darf abschließend behauptet werden, dass literarische Mehrsprachigkeit im konkreten Fall auf dem Theater einen ästhetischen Mehrwert darstellt, wie auch umgekehrt das Verschwinden der Fremdsprachen im Kontext der beginnenden europäischen Avantgarde als Rückschritt gewertet werden kann.
Anmerkungen
1 Erste Ergebnisse dieses Forschungsprojekts wurden in Weissmann 2011 vorgestellt.
2 Wobei man den schweizerischen Dialekt durchaus noch als vierte Sprache hinzuzählen könnte. Siehe unten.
3 Zur Unterscheidung zwischen textinterner und textübergreifender Mehrsprachigkeit siehe Kremnitz 2004: 14. Im Rahmen dieses Beitrags wird Erstere im Vordergrund stehen.
4 Siehe Elwert 1960; Giese 1961; Forster 1972; Kremnitz 2004; Hokenson 2007.
5 Im Bereich der deutschen Gegenwartsliteratur muss hier auch die dialektale Polyphonie Erwähnung finden, die seit den 1960er Jahren im Anschluss an die Tradition des Volksstücks wieder einen festen Platz auf den deutschen Bühnen hat (man denke an Autoren wie Franz-Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder oder Thomas Strittmatter).
6 Wobei Kanada natürlich streng genommen auch zu den ehemaligen Kolonien zu zählen ist.
7 Einzelne Ausnahmen, wie Tristan Bernards 1899 uraufgeführtes Stück L’anglais tel qu’on le parle, bestätigen hier die Regel. Im deutschsprachigen Raum könnte man ebenfalls Max Halbes Stück Jugend aus dem Jahre 1893 nennen, doch der fremdsprachige Anteil (in polnischer Sprache) ist hier gering. In Gerhart Hauptmanns Stücken wiederum beschränkt sich die Mehrsprachigkeit auf den – oft stark abgeschwächten – schlesischen Dialekt als Teil seines Naturalismus.
8 Sowohl George wie auch Rilke dichteten ab den 1890er Jahren in fremden Sprachen. Siehe hierzu Weissmann (im Druck).
9 Das betrifft die Figuren Madeleine de Marelle, Kadéga di Santa Croce, Bianetta Gazil, das Zimmermädchen Armande und Groom Bob.
10 So Schigolch, Lulu, Alwa, die Gräfin Geschwitz, Rodrigo Quast, der Journalist Heilmann und der Bankier Puntschuh.
11 Marquis Casti-Piani und Ludmilla Steinherz.
12 Es handelt sich um Kungo Poti und Jack the Ripper. Bei der Figur des Mr Hopkins handelt es sich um eine stumme Rolle. Ihr Name signalisiert jedoch ihre Zugehörigkeit zur anglophonen Welt.
13 Dazu muss angemerkt werden, dass auch heute noch, wenn die Urfassung an deutschen Theatern zur Aufführung kommt, der fremdsprachige Text eingedeutscht wird.
14 Konkret meint das die durchgängige Verwendung des Deutschen, abgesehen von einigen wenigen Passagen in schweizerischem Dialekt.
15 So werden ebenfalls fast alle Orts- und Personennamen eingedeutscht.
16 Wie Lulu im Erdgeist sagt: »Ich habe nie in der Welt als etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat.« (KSA 3.1: 398) Vgl. Florack 1996: 11.
17 Die im Text verwendeten Namen sind: Ellie, Mignon, Nellie, Eva, Katja und Elfe.
18 Beispielsweise: »Mais tu ne peux pas être philosophe comme ça!« (KSA 3.1: 300)
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