Kultur und Politik
Da griechisches Denken, vor allem in seinen politischen Aspekten, so ausschließlich auf mögliche Unsterblichkeit der Sterblichen, auf Unvergänglichkeit des Vergänglichsten gerichtet war, hätte es eigentlich keine Fähigkeit des Menschen höher einschätzen müssen als die herstellende und kunstschaffende, die im griechischen Wortsinn poietische. Und gedenken wir der ungeheuren und ungeheuer raschen Entwicklung griechischer Kunst, die mit einem Meisterwerk beginnt, um in wenigen Jahrhunderten von Meisterwerk zu Meisterwerk fortzuschreiten, so ist kaum etwas evidenter als die außerordentliche spezifisch kulturelle Kraft, die dieser im Politischen verwurzelte irdische Unsterblichkeitsglauben ausgelöst hat.
Das Mißtrauen der Griechen gegen das Herstellen in all seinen Bereichen, die Bedrohung, die ihrer Meinung nach der Polis und dem Politischen aus dem Raum der hergestellten, kulturellen Welt erwachsen kann, bezieht sich nun auch nicht so sehr auf die Kulturdinge selbst als auf die Gesinnung, die dem Herstellen eigen und für diejenigen, die nur herstellen, charakteristisch ist. Das Mißtrauen richtet sich gegen eine ins Politische greifende Verallgemeinerung ihrer Maßstäbe und Denkungsart. Dies erklärt, was uns erst so verblüfft, nämlich daß man gleichzeitig die größte Empfänglichkeit für Kunst und die höchste Bewunderung für Kunstwerke haben konnte – und ihnen entsprach ein uns vielfach anekdotisch belegtes ganz außerordentliches Selbstbewußtsein der Künstler – und doch immer wieder daran dachte, die Künstler als Personen aus dem politischen Verband auszuschließen. Das gleiche Mißtrauen äußert sich in der Tendenz, eigentlich politische Tätigkeiten, wenn sie wie das Gesetze-Erlassen oder das Städte-Bauen auch nur im geringsten etwas mit Herstellen zu tun haben, nur als präpolitische Bedingungen des Politischen anzusehen und aus der Polis selbst, das heißt aus dem Bereich der eigentlich politischen Tätigkeiten, für welche das Bürgerrecht erforderlich war, auszuschließen.
Dies Mißtrauen gegen das Herstellen nun ist sachlich aus zwei Gründen gerechtfertigt, die sich beide unmittelbar aus der Natur dieser Tätigkeit ergeben. Es gehört erstens zu ihrem Wesen, daß sie ohne Gewalttätigkeit niemals möglich ist: Um einen Tisch herzustellen, muß ein Baum gefällt werden, und das durch das Fällen des Baumes entstandene Holz muß nochmals vergewaltigt werden, um schließlich in der Form eines Tisches erscheinen zu können. (Wenn Hölderlin das Dichten das »unschuldigste« Geschäft nennt, mag er an die allen anderen Künsten eigene Gewalttätigkeit gedacht haben. Aber natürlich tut auch der Dichter seinem Material Gewalt an; er singt nicht, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnt.) Dem Herstellen ist zweitens eigentümlich, daß es immer in der Zweck-Mittel-Kategorie erfolgt, die überhaupt den ihr einzigen legitimen Ort in der Sphäre des Herstellens und Fabrizierens hat. In dem Herstellungsprozeß gibt es einen klar erkennbaren Zweck, das Endprodukt, für das alles, was in ihm eine Rolle spielt – das Material, die Werkzeuge, die Tätigkeit selbst und sogar die beteiligten Personen –, zu bloßen Mitteln wird. Das Werk als der Endzweck rechtfertigt alle Mittel; es rechtfertigt vor allem auch die Gewalt, ohne welche die Mittel nie gewonnen werden können. Die Herstellenden können gar nicht anders, als alle Dinge als Mittel für ihre Zwecke zu betrachten beziehungsweise alle Dinge nach ihrer spezifischen Nützlichkeit zu beurteilen. Diese Sinnesart, wenn sie verallgemeinert wird und sich auf andere Gebiete als das des Fabrizierens erstreckt, zeichnet bis heute die Banausen aus, eines der wenigen griechischen Lehnwörter im Deutschen, das seinen ursprünglichen Sinn kaum geändert hat. Das Mißtrauen gegen sie stammt aus dem Bereich des Politischen und besagte einmal, daß man sowohl die Gewalttätigkeit wie den Utilitarismus des Zweck-Mittel-Denkens aus dem öffentlich-politischen Raum des menschlichen Miteinanders fernzuhalten wünschte.
Es bedarf nun wirklich kaum mehr als eines flüchtigen Blickes in die Geschichte der politischen Theorien oder der üblichen Definitionen politischen Handelns, um gewahr zu werden, daß dies Mißtrauen auf unsere Tradition politischen Denkens ganz und gar ohne Einfluß geblieben, aus ihr gewissermaßen ebenso schnell wieder verschwunden ist, wie es in der Geschichte der politischen Erfahrungen aufgetaucht war. Uns scheint heute nichts selbstverständlicher, als daß Politik eben gerade der Raum ist, wo Gewalt legitim sein kann, und dieser Raum wird gemeinhin durch das Herrschen und Beherrschtwerden definiert. Und wir können uns gar nicht vorstellen, daß Handeln etwas anderes sein könnte als eine Tätigkeit, die einen vorgesetzten Zweck mit den ihm angemessenen Mitteln verfolgt, wobei es ja selbstverständlich ist, daß die Mittel durch die Zwecke gerechtfertigt werden. Was für praktisch- politische Folgen dieser Glaube an die Allgemeingültigkeit der banausischen Gesinnung hat, haben wir inzwischen ja alle zu unserem Unheil erfahren. Jedenfalls ist genau das eingetreten, was das griechische Mißtrauen gegen Kultur hat abwehren wollen – nämlich die Überwältigung und Durchdringung des politischen Bereiches durch Kategorien und die Mentalität, die dem Herstellen eigentümlich sind. Das Politische, das zwar niemals der Zweck, wohl aber das »um willen« des Herstellens ursprünglich war, verlor seine Eigenständigkeit, und der öffentlich-politisch organisierte Raum, in dem Menschen handeln und miteinander sprechen, die fertige Welt also, verfiel den gleichen Kategorien, die unerläßlich sind, um sie erst einmal hervorzubringen.
Wir wissen aus unseren eigenen Erfahrungen, wie sehr das utilitaristische Zweck-Mittel-Denken geeignet ist, die Politik der Unmenschlichkeit anheimzugeben. Dennoch mutet es uns sehr fremdartig an, daß dies Unmenschliche gerade aus dem kulturellen Bereich stammen und das eigentlich humanisierende Element dem politischen zugeordnet werden soll. Dies hängt damit zusammen, daß unser Verständnis von Kultur, wieviel wir immer von griechischer Kultur wissen und halten mögen, wesentlich durch die Römer bestimmt ist, welche diesen Bereich nicht vom Standpunkt des Kulturschaffenden, sondern des liebevoll pflegenden Bewahrens des Natürlichen und Ererbten betrachteten. Um die griechische andersgeartete Zuordnung zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, daß ihre Entdeckung des Politischen darauf beruhte, daß die Polis den ernsten Versuch machte, die Gewalt aus dem Zusammenleben der Menschen auszuschalten, daß innerhalb der griechischen Demokratie nur die Macht der Peitho, die Kunst des Überredens und des Miteinandersprechens, als legitim im Verkehr miteinander galt. Dabei müssen wir im Auge behalten, daß das Politische hier wirklich nur auf die inneren Verhältnisse in der Polis beschränkt war. Gerade weil Gewalttätigkeit als solche bereits als unpolitisch, als außerhalb der Gesetze der Polis liegend, verstanden wurde, konnten die Kriege der griechischen Stadtstaaten untereinander einen so furchtbar verheerenden Charakter annehmen. Was außerhalb der Polis lag, blieb ohne Gesetz und war der Gewalt ganz und gar anheimgegeben; da galt wirklich, daß der Starke tut, was er kann, und der Schwache leidet, was er muß.
Einer der Gründe, warum es uns so schwerfällt, ein Element des Gewalttätigen in der Kultur zu entdecken, ist natürlich, daß die Denkkategorien des Herstellens für uns so überwältigend maßgebend geworden sind, daß wir meinen, sie seien schlechthin allgemeingültig. Da wir überall und in allen Bereichen uns im Sinne dieser Kategorien gewalttätig verhalten und dann versuchen, durch Gesetze und Abmachungen das Schlimmste zu verhüten, erscheint uns natürlich mit Recht das Gebiet das allerharmloseste, wo diese Kategorien ursprünglich zu Hause sind und wo in der Tat nichts zustande kommt außerhalb ihres Gefüges. Verglichen mit der Gewalt, die der Mensch dem Menschen antut, ist die Gewalt, die er der Natur antun muß, um eine Welt zu bilden, in der Tat unschuldig. Darum glauben wir auch, die eigentliche Gefahr des Kulturellen sei die Verweichlichung, und übersetzen das Wort des Perikles von der μalaϰίa (malakia), das ich oben zitierte, in diesem Sinne. Aber die Unmännlichkeit, die zweifellos in diesem Wort mitschwingt und die den Griechen als barbarisch galt, schließt Gewalt keineswegs aus, wie sie nicht ausschließt, daß man sich aller Mittel bedient, um seine Zwecke zu erreichen. Wir, die wir so oft erlebt haben, wie leicht gerade die sogenannte kulturelle Elite der Künstler und Gebildeten sich für eine Politik der Gewalt gewinnen läßt und wie sehr sie sie bewundert, weil sie endlich das »ewige Gerede«, also das gegenseitige Sich-Überzeugen, hinter sich gelassen hat, könnten vielleicht für diese Dinge wieder ein wenig hellhöriger werden und uns abgewöhnen, in ihnen nur die »trahison des clercs« zu sehen. An Gewalt in der Politik zu glauben ist keineswegs ein Monopol der Brutalität. Es kann auch die – wie die Franzosen sagen – »déformation professionnelle« dahinterstehen, die durch den Beruf vorgezeichnete Entartung der Kulturschaffenden und der Kulturträger.
Näher liegt uns das ursprünglich ebenfalls politische Mißtrauen gegen die Zweck-Mittel-Kategorie. Was von seiten der Politik gegen diese für das Herstellen notwendige Denkart eingewendet werden kann, ist natürlich, daß der Zweck die Mittel rechtfertigt und daß sehr schön aussehende Zwecke ganz und gar furchtbare und zerstörerische Mittel erzeugen können. Gehen wir dieser, in unserem Jahrhundert nachgerade alltäglichen Erfahrung auf den Grund, so stellt sich heraus, daß das Handeln von sich aus Zwecke überhaupt nicht kennt, jedenfalls unfähig ist, irgendeinen Zweck, so wie er einmal konzipiert ist, je zu verwirklichen. Denn alles Handeln fällt in ein Netz von Bezügen, in welchem das von den einzelnen Intendierte sich sofort verwandelt und als eindeutig feststehendes Ziel, als Programm etwa, gerade sich nicht durchsetzen kann. Diesen Sachverhalt kann man so ausdrücken, daß man sagt, in der Politik seien die Mittel immer wichtiger als die Zwecke, oder daß man (wie ich selbst einmal) sagt: Jede gute Tat für einen bösen Zweck macht die Welt faktisch besser, jede böse Tat für einen guten Zweck macht die Welt faktisch schlechter. Aber mit solchen Aussagen spricht man im Sinne der Zweck-Mittel-Kategorie in Paradoxien und hat eigentlich nicht mehr gesagt, als daß diese Kategorie für das Handeln eben nicht maßgebend ist. Denn die ihr entsprechende Denkweise setzt eine Souveränität voraus – den Zwecken gegenüber, die einer sich setzt, den Mitteln gegenüber, die er für seine Verwirklichung benutzt, den anderen Menschen gegenüber, denen er im Sinne eines von ihnen erdachten Endproduktes Befehle erteilen muß, die sie nur auszuführen brauchen –, die nur der Herstellende, aber niemals der Handelnde besitzt. Nur der Herstellende ist Herr und Meister; er ist souverän und darf sich aller Dinge als Material und Mittel für seinen Zweck bemächtigen. Der Handelnde bleibt immer in Bezug zu anderen Handelnden und von ihnen abhängig; souverän gerade ist er nie. Hiermit hängt auch die bekannte Tatsache der Irreversibilität geschichtlicher, das heißt aus dem Handeln entsprungener Prozesse, zusammen, die Unmöglichkeit, Geschehenes wieder rückgängig zu machen, die ja keineswegs für Herstellungsprozesse gilt, in welchen der Herstellende immer auch zerstören, also den Herstellungsprozeß rückgängig machen kann, wenn es ihm so beliebt.
Was den Griechen nun an den Banausen so verdächtig war, ist diese dem Herstellen inhärente Souveränität des Homo faber, für den, weil er Gebrauchsdinge fabriziert und immer irgendwelche Dinge braucht, um andere herzustellen, es so nahe liegt, alles utilitaristisch, wie wir sagen würden, also als Mittel für einen Zweck zu beurteilen. Sie vermuteten mit Recht, daß diese Denkweise zu einer Entwertung der Dinge als Dinge führen muß, wenn sie verallgemeinert wird, und daß diese Entwertung auch vor den Dingen der Natur nicht haltmachen würde, die der Mensch nicht hergestellt hat und die ihrem Wesen nach ein eigenständiges Dasein haben. Sie befürchteten mit anderen Worten, daß die Souveränität des Homo faber, seine Herr- und Meisterschaft, in der Hybris enden würde, wenn man ihm den politischen Bereich eröffnet. Und sie meinten weiter, daß dieser Sieg der »Kultur« in die Barbarei führen würde, denn die Hybris galt ihnen wie die μalaϰίa (malakia) als ein barbarisches Laster. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang nochmals an den berühmten Chor aus der Antigone erinnern: πολλὰ τὰ δεινὰ ϰοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερoν πέλει (polla ta deina k’ouden anthropu deinoteron pelei), weil sich in ihm in so einzigartiger Weise der eigentümliche Zwiespalt in der Beurteilung der herstellenden Fähigkeiten, die den Griechen höchste Bewunderung und zugleich tiefstes Grauen einflößten, ausspricht. Sie blieben ihnen unheimlich, weil die in ihnen enthaltene Hybris den Bestand von Natur und Welt gefährdet.
[…]
Die Sorge um den Bestand der Welt lastet vor allem natürlich auf dem Menschen, sofern er nicht nur ein herstellendes, sondern ein politisches Wesen ist. Als solches muß er sich auf das Herstellen verlassen können, damit es der Flüchtigkeit des Handelns und Sprechens wie der Vergänglichkeit des sterblichen Lebens eine Bleibe sichert, die es überdauern kann. Die Politik bedarf also der Kultur, und das Handeln bedarf des Herstellens um der Beständigkeit willen und muß doch gleichzeitig das Politische und die fertig erstellte Welt vor der Kultur und dem Herstellen sichern, weil alles Herstellen zugleich Zerstören ist.
Die Welt, sofern sie Kultur ist, soll das Überdauern gewährleisten, und dies leistet sie am reinsten und ungestörtesten in den Dingen, die wir Kunstwerke nennen und die Kulturdinge in einem ausgezeichneten Sinne sind. Um ihren »Zweck« erfüllen zu können, müssen sie sorgfältig vor aller Zwecksetzung und allen Daseinsinteressen, vor dem Gebraucht- und Verbrauchtwerden geschützt werden – wobei es in unserem Zusammenhang ganz gleich ist, ob dieser Schutz dadurch erfolgt, daß sie auf heiligen Plätzen, in Tempeln und Kirchen, aufgestellt oder in die Sorgfalt der Museen und Denkmalspflege gestellt werden. Auf alle Fälle bedürfen sie der Öffentlichkeit, sie finden den ihnen zukommenden Platz nur in der gemeinsamen Welt. In der Verborgenheit des Privaten und des Privatbesitzes kommen sie nicht zur Geltung, und gegen private Lebensinteressen müssen sie geschützt werden. Nur im Schutz der Öffentlichkeit können sie erscheinen, als was sie sind; und was in ihnen erscheint und was wir gewöhnlich Schönheit nennen, ist vom Standpunkt des Politischen und seiner Tätigkeiten her gesehen, vom Standpunkt der Flüchtigkeit des Handelns und Sprechens, etwas Unvergängliches. Politisch gesprochen, ist Schönheit die Gewähr dafür, daß auch noch das Flüchtigste und Vergänglichste, die Taten und Worte sterblicher Menschen, eine irdische Bleibe in der Menschenwelt erhalten können.
Kultur aber ist auf Politik nicht weniger angewiesen als Politik auf Kultur. Schönheit braucht die Öffentlichkeit eines politischen, von handelnden Menschen gesicherten Raumes, weil das Öffentliche der Erscheinungsort par excellence ist – im Unterschied zum Privaten, das der Ort der Verborgenheit und Geborgenheit ist. Aber Schönheit selbst ist kein politisches Phänomen; sie gehört ihrem Wesen nach in den Bereich des Herstellens und ist ein Kriterium desselben, weil alle Dinge ein Aussehen und eine Gestalt haben, die gerade ihrer reinen Dinglichkeit eignet. In diesem Sinne bleibt Schönheit auch noch ein Kriterium für Gebrauchsgegenstände, aber nicht weil »Funktionelles« schön sein könnte, sondern umgekehrt, weil kein Ding, auch kein Gebrauchsgegenstand, sich im Funktionellen (darin, daß es brauchbar sein muß) erschöpft. Das Funktionelle ist nicht dasjenige, wodurch der Gegenstand erscheint; das ist vielmehr seine Form und Gestalt. Das Funktionelle an ihm ist dagegen dasjenige, wodurch er wieder aus der Erscheinung verschwindet, nämlich gebraucht wird und sich abbraucht. Um aber einen Gegenstand nur nach seinem Gebrauchswert und nicht auch nach seinem Aussehen zu beurteilen – also danach, ob er schön ist oder häßlich oder irgend etwas dazwischen –, dazu müßten wir uns erst einmal die Augen ausreißen.
Kultur und Politik also sind aufeinander angewiesen, und sie haben gemeinsam, daß sie Phänomene der öffentlichen Welt sind. Aber obwohl, wie wir sehen werden, dies Gemeinsame schließlich alle Konflikte und Gegensätze zwischen den beiden Sphären aufwiegt, gilt das Gemeinsame doch nur für die Kulturdinge einerseits, für die handelnden, politischen Menschen andererseits; es gilt nicht für den handelnden Menschen und den herstellenden Künstler. Denn Homo faber hat keineswegs zu der Öffentlichkeit die gleiche selbstverständliche Beziehung, die seinen aussehenden, gestalteten, erscheinenden Dingen anhaftet. Um diese der schon bestehenden Welt immer neu hinzufügen zu können, muß er selbst gegen die Öffentlichkeit isoliert und vor ihr verborgen sein, während die eigentlich politischen Tätigkeiten, das Handeln und Sprechen, überhaupt nicht vollziehbar sind ohne die Präsenz der anderen und die Öffentlichkeit eines durch die Vielen konstituierten Raumes. Die Tätigkeit des Künstlers, aber auch des Handwerkers untersteht also ganz anderen Bedingungen als die Tätigkeiten des Politischen, und es ist daher beinahe selbstverständlich, daß Homo faber, sobald er seine Stimme zu erheben beginnt, um seine Meinung über den Wert des Politischen abzugeben, mit nicht weniger Mißtrauen auf das spezifisch Politische und seine Öffentlichkeit reagieren wird als die Polis auf die Mentalität und die Bedingungen des Herstellens.
Diese Seite der Sache, wie nämlich die eigentlich politischen Tätigkeiten sich von seiten der Kulturschaffenden ausnehmen, die Bedenken und das Mißtrauen, das sie anzumelden haben, können wir hier nur andeuten. Wichtiger in unserem Zusammenhang scheint es, auf die eine menschliche Tätigkeit wenigstens noch hinzuweisen, die dem Gemeinsamen von Kultur und Politik, ihrer Öffentlichkeit und Weltlichkeit entspricht. Für diesen Hinweis möchte ich mich auf Kant berufen, und zwar auf den ersten Teil der Kritik der Urteilskraft, in der, wie ich meine, die großartigste und originellste Seite von Kants politischer Philosophie zum Ausdruck kommt.
Sie werden sich erinnern, daß Kants politische Philosophie in der Kritik der praktischen Vernunft von der gesetzgeberischen Fähigkeit der Vernunft ausgeht und daß das Prinzip des Gesetzgebens, wie es im »kategorischen Imperativ« festgelegt ist, auf einer Übereinstimmung des vernünftigen Urteilens mit sich selbst beruht, also kantisch gesprochen darauf, daß ich nur wollen kann, was im Prinzip auch allgemeine Gesetzgebung werden könnte, wenn ich nicht mir selbst widersprechen soll. Das Prinzip der Übereinstimmung mit sich selbst ist sehr alt; es liegt in einer dem kantischen Denken hier durchaus analogen Form bereits bei Sokrates vor, dessen zentraler Lehrsatz in der platonischen Formulierung lautet: »Da ich einer bin, ist es besser für mich, mit der ganzen Welt in Widerspruch zu geraten als mit mir selbst.« Von diesem Satz haben sowohl die abendländische Ethik mit ihrer Zentrierung um das Gewissen wie die abendländische Logik mit ihrer Zentrierung um den Satz vom Widerspruch ihren Ausgang genommen.
In der Kritik der Urteilskraft nun fügt Kant unter den »Maximen des gesunden Menschenverstandes« diesem Prinzip des Übereinstimmens mit sich selbst das Prinzip einer »erweiterten Denkungsart« hinzu, das darin besteht, daß ich »an der Stelle jedes anderen denken« kann. Zu der Einstimmigkeit mit sich selbst tritt also eine mögliche Einstimmigkeit mit anderen. Auf dieser erweiterten Denkungsart beruht die Urteilskraft, aus ihr schöpft das Urteilen seine eigentliche Kraft der Gültigkeit; und dies heißt negativ, daß es sich »über die subjektiven Privatbedingungen« seiner selbst hinwegzusetzen vermag, und positiv, daß es ohne die Präsenz von anderen, an deren Stelle es ja gilt mitzudenken, nicht funktionieren, gar nicht zum Zug kommen kann. Was die Präsenz des Selbst für die formale Widerspruchslosigkeit der Logik und die nicht weniger formale Widerspruchslosigkeit der Gewissensethik ist, ist die Präsenz der anderen für das Urteilen. Ihm kommt daher eine gewisse konkrete Allgemeingültigkeit zu, aber niemals eine universale Gültigkeit überhaupt. Der Anspruch auf Geltung kann nie weiter reichen als die anderen, an deren Stelle mitgedacht wird. Das Urteil, wie Kant sagt, gilt »für jeden Urteilenden überhaupt«, das heißt aber, es gilt nicht für Leute, die sich am Urteilen nicht beteiligen und in der Öffentlichkeit, in der die beurteilten Gegenstände erscheinen, nicht präsent sind.
Nun, daß die Urteilskraft eine im spezifischen Sinne politische Fähigkeit ist, und zwar genauso, wie Kant sie bestimmt, nämlich die Fähigkeit, die Dinge nicht nur aus der eigenen, sondern aus der Perspektive aller anderen, die ebenfalls präsent sind, zu sehen, ja daß sie vielleicht die Grundfähigkeit ist, die den Menschen erst ermöglicht, sich im öffentlich-politischen Raum, in der gemeinsamen Welt zu orientieren – diese Einsicht ist nahezu so alt wie artikulierte politische Erfahrung. Um so erstaunlicher ist, daß kein Philosoph vor oder nach Kant sie zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht hat; und der Grund für dieses Erstaunliche liegt in der tiefen Politikfeindlichkeit unserer philosophischen Tradition, von der wir hier nicht sprechen können. Jedenfalls heißt diese Fähigkeit bei den Griechen φϱόνησις (»phronesis«), und wenn Aristoteles diese Hauptfähigkeit des Staatsmannes ausdrücklich der σοφία (»sophia«) der Philosophen, denen es auf Wahrheit ankommt, entgegensetzt, so folgt er wohl wie auch sonst gerade in seinen politischen Schriften der öffentlichen Meinung der athenischen Polis. Wir mißverstehen heute zumeist diese Fähigkeit als gesunden Menschenverstand, der einmal auch in Deutschland »Gemeinsinn« hieß, sich also ursprünglich mit jenem »common sense« oder »sens commun«, den die Franzosen »le bon sense« schlechthin nennen, deckte und den man auch einfach Weltsinn nennen könnte. Denn nur ihm verdanken wir es, daß unsere privaten und »subjektiven« fünf Sinne und ihre Sinnesdaten in eine nicht subjektive, »objektiv«-gemeinsame Welt eingepaßt sind, die wir mit anderen teilen und beurteilen können.
An Kants Bestimmungen ist so außerordentlich denkwürdig, daß er die Urteilskraft in ihrer ganzen Großartigkeit entdeckte, als er auf das Phänomen des Geschmackes und des Geschmacksurteils stieß. Er nahm Anstoß an der vermeintlichen Willkür und Subjektivität des »de gustibus non disputandum est«, weil diese Willkür seinen politischen Sinn verletzte. Diesen gängigen Vorurteilen gegenüber bestand er darauf, daß der Geschmack ja »anderen dasselbe Wohlgefallen zumutet« und die Geschmacksurteile »jedermann Einstimmung ansinnen«. Daher versteht er, daß der Geschmack wie der Gemeinsinn, dem er entspringt, das gerade Gegenteil eines »Privatgefühls« ist, wiewohl er fast immer dafür gehalten wird.
Es würde uns hier zu weit führen, diesen Dingen wirklich nachzugehen. Immerhin dürfte auch in dieser Kürze evident sein, daß hier das spezifisch kulturelle Verhalten des Menschen als eine im ausgezeichneten Sinne politische Tätigkeit verstanden wird. Im Geschmacks- wie im politischen Urteil wird etwas entschieden, und diese Entscheidung hat einen »Bestimmungsgrund«, der »nicht anders als subjektiv sein kann« und doch unabhängig bleiben muß von allen direkten subjektiven Interessen. Das Urteil entspringt hier der Subjektivität eines Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig darauf, daß diese Welt, in der jeder einen nur ihm eigenen Standort hat, eine objektive Gegebenheit ist, etwas, das uns allen gemeinsam ist. Im Geschmack entscheidet sich, wie die Welt qua Welt, unabhängig von ihrer Nützlichkeit und unseren Daseinsinteressen in ihr, aussehen und ertönen, wie sie sich ansehen und anhören soll. Der Geschmack beurteilt die Welt in ihrer Weltlichkeit; ihn interessieren weder das sinnliche Leben noch das moralische Selbst, denen er ein reines, »uninteressiertes« Weltinteresse entgegensetzt. Für das Geschmacksurteil ist das Primäre die Welt, und nicht der Mensch, weder sein Leben noch sein Selbst.
Das Geschmacksurteil hat ferner mit dem politischen Urteil gemein, daß es niemanden zwingen und, anders als das Erkenntnisurteil, nichts zwingend beweisen kann. Der Urteilende kann immer nur, wie Kant so schön sagt, »um jedes anderen Beistimmung [werben]« und hoffen, mit ihm übereinzukommen. Dies Werben ist ja offenbar nichts anderes, als was die Griechen πείθειν (peithein) nannten, jenes Überreden und Überzeugen, welches der Polis als die hervorragende Art und Weise des politischen Miteinandersprechens galt und das sie nicht nur der verhaßten physischen Gewalt entgegensetzten, sondern auch von dem eigentlich philosophischen διαλέγεσθαι (dialegesthai) aufs genaueste zu trennen wußten, eben weil es in diesem Dialog um Erkenntnis ging und der Erkenntnis und Wahrheitsfindung eine zwingende Beweisführung entsprach. Im Kulturellen und im Politischen, also in dem gesamten Bereich des öffentlichen Lebens, geht es weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern um Urteilen und Entscheiden, um das urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt und die Entscheidung darüber, wie sie weiterhin aussehen und auf welche Art und Weise in ihr gehandelt werden soll.
Für diese, Sie vielleicht seltsam anmutende Zuordnung des Geschmacks unter die politischen Fähigkeiten des Menschen spricht schließlich die Ihnen allen bekannte, aber wenig beachtete Tatsache, daß dem Geschmack eine organisatorische Kraft von eigentümlicher Stärke innewohnt. Wir wissen ja alle, daß Menschen sich an kaum etwas anderem gegenseitig so schnell erkennen und sich dann auch so unbedingt als einander zugehörig empfinden können als durch eine entdeckte Verwandtschaft in Fragen dessen, was gefällt und mißfällt. Es ist, als entscheide sich im Geschmack nicht nur, wie die Welt aussehen soll, sondern auch wer in der Welt zusammengehört. Will man dies Zusammengehörigkeitsgefühl politisch bestimmen, so greift man wohl nicht fehl, es für ein im wesentlichen aristokratisches Prinzip der Organisation zu halten. Aber seine politische Leistungsfähigkeit trägt vielleicht doch noch weiter. Was sich hier gemäß dem Urteilen über eine gemeinsame Welt mitentscheidet, ist die Zugehörigkeit von Personen, und was der einzelne durch sein Urteil manifestiert, ist ein So-und-nicht-anders-Sein gerade des Persönlichen, das in dem Maße an Gültigkeit gewinnt, als es sich von dem nur individuell Idiosynkratischen entfernt. Mit diesem Personhaften aber, mit dem »Wer einer ist« – nicht mit dem Was, den Qualitäten und individuellen Talenten –, hat es gerade das Politische, das Handeln und Sprechen zu tun. Als solches steht es dem herstellend Kulturellen entgegen, in dem letztlich immer die Qualität den Ausschlag gibt, die Qualität des hergestellten Dinges, die ihrerseits, soweit in ihr überhaupt etwas Persönliches zum Ausdruck kommt, auf Talente und Eigenschaften eher als auf das Wer der Person zurückweist. Das Geschmacksurteil aber entscheidet nicht einfach über Qualität; diese ist im Gegenteil auch dann zwingend evident und steht jenseits von urteilenden Entscheidungen, wenn in einer Zeit des Kulturverfalls nur noch wenige imstande sind, diese Evidenz wahrzunehmen. Der Geschmack entscheidet vielmehr zwischen Qualitäten und kann sich voll nur entfalten, wo Qualitätsbewußtsein – die Fähigkeit für die Evidenz des Schönen – allgemein verbreitet ist. Ist dies aber erst einmal der Fall, so sind es allein der Geschmack und sein ständig waches Beurteilen der Weltdinge, die dem rein Kulturellen seine Grenzen und seinen humanen Sinn setzen, das heißt die Kultur entbarbarisieren.
Die Humanität ist bekanntlich römischen Ursprungs, und der lateinischen »humanitas« entspricht kein Wort der griechischen Sprache. So darf ich wohl auf ein römisches Beispiel zurückgreifen, um zu illustrieren, in welchem Sinne der Geschmack die politische Fähigkeit ist, durch die Kultur wahrhaft humanisiert wird. Sie erinnern sich an die alte, ihrem Sinne nach schon platonische Redeweise: »Amicus Socrates, amicus Plato, sed magis aestimanda veritas.« Gegen dieses im tiefsten unpolitische und inhumane Prinzip, durch welches gewissermaßen Personen und Freundschaft der Wahrheit geopfert werden, steht ein sehr viel weniger bekannter Ausspruch des Cicero, der in einer Meinungsdifferenz einmal sagte: »Errare … malo cum Platone … quam cum istis (sc. Pythagoraeis) vera sentire.« Nun, dieser Ausspruch ist gewiß doppeldeutig. Er kann heißen: Lieber will ich mit platonischer Vernunft in die Irre gehen als mit pythagoreischer Unvernunft das Wahre »fühlen«. Legt man aber die Betonung nicht auf das »sentire«, so heißt der Ausspruch: Es ist eine Frage des Geschmacks, die Gesellschaft des Plato auch dann der anderer Leute vorzuziehen, wenn man durch ihn in der Irre verbleiben sollte. Nehmen wir einmal an, die letztere Auslegung sei richtig, so können wir sagen: So spricht sicher kein Wissenschaftler und schwerlich ein Philosoph. Aber es ist die Rede eines durch und durch politischen und – im Sinne der römischen »humanitas« – kultivierten Menschen. Jedenfalls ist es die Rede eines in jeder Hinsicht freien Mannes, für den auch in der Philosophie die Frage der Freiheit die entscheidende ist. Er sagt: Ich lasse mich, was meinen Umgang mit Menschen und Dingen angeht, nicht zwingen, nicht einmal von der Wahrheit.
Im Bereich des Kulturellen manifestiert sich Freiheit durch den Geschmack, weil das Geschmacksurteil mehr enthält und mehr kundtut als ein »objektives« Urteil über Qualität. Als urteilende Tätigkeit bringt der Geschmack Kultur und Politik, die sich ohnehin den Raum des Öffentlichen teilen, zusammen und gleicht die Spannung zwischen ihnen aus, die aus dem inneren Konflikt kommt, in den die Tätigkeiten des Herstellens und des Handelns immer wieder gegeneinander geraten. Ohne die Freiheit des Politischen bleibt Kultur leblos: Das Absterben des Politischen und das Verkümmern der Urteilskraft ist die Vorbedingung für die Vergesellschaftung und Entwertung der Kultur, von der wir ausgingen. Aber ohne die Schönheit der Kulturdinge, ohne die leuchtende Herrlichkeit, in welcher sich, politisch gesprochen, Dauer und potentielle Unvergänglichkeit der Welt manifestieren, bleibt alles Politische ohne Bestand.