Wahl & Wal
Skizzen zum Porträt des Schriftstellers als Luxemburger
J’écris en japonais et me traduis mal.
Lambert Schlechter
Gelegentlich glaube ich, mich daran erinnern zu können, wie ich sprechen lernte. Nicht an die Anfangsphase, aber an einzelne spätere Momente, in denen ich mich als entdeckendes und übendes Kind erlebe, das Wörter nachzusprechen versucht. Diese Sprechversuche sind in meiner Erinnerung stets an eine bestimmte Umgebung gebunden, die aber nicht, wie man annehmen könnte, etwas mit dem Elternhaus zu tun hat – obschon ich zweifelsohne dort die meiste Zeit verbrachte und auch dort zu sprechen anfing –, sondern mit dem Garten und dem Haus meiner Großeltern. Wenn mein Gedächtnis das Erlernen von Sprachen – also nicht wirklich das Sprechenlernen – in diese Umgebung verlagert, dann möglicherweise, weil ich dort zum ersten Mal bewusst mit Wörtern und Sprache umzugehen lernte. Ausschlaggebend war dabei die Tatsache, dass meine Großmutter Französin war. Sie sprach sehr gut Luxemburgisch, nur benutzte sie manchmal für einen alltäglichen Gegenstand ein mir völlig unbekanntes Wort, das Großvater oder im Nachhinein sie selbst für mich übersetzte. Manche Wörter sprach sie auch nur falsch aus, sagte e Merle, wo es doch eng Märel hieß. Dass das luxemburgische Wort Märel (›Amsel‹) aus dem Französischen abgeleitet ist, erfuhr ich erst später. Ich lernte mit Messer und Forschett (Betonung auf der ersten Silbe) essen, ohne zu wissen, dass mein Besteck, zumindest was die Bezeichnung anbelangte, aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen stammte: Mit der linken Hand hielt ich das (verballhornte, angepasste, verluxemburgisierte) Französisch, mit der rechten das (als luxemburgisch empfundene) Deutsche. Dieses Zusammenkommen beider Kulturen auf dem Teller – möglicherweise wäre Überschneiden das richtigere Wort – mag etwas typisch Luxemburgisches sein, sollte aber nicht hinwegtäuschen über die mit dieser interkulturellen Speisung verbundenen Widersprüchlichkeiten.
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Wir sind in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, der Zweite Weltkrieg, die Besetzung des Landes durch Nazi-Deutschland ist in den Köpfen allgegenwärtig, und wenn ich meine Großeltern reden höre, habe ich manchmal den Eindruck, der Krieg sei gar nicht zu Ende. Der Hass auf alles Deutsche – die Deutschen gibt es gar nicht, es wird immer nur die abfällige Bezeichnung d’Preisen gebraucht – ist so stark, dass die Erwachsenen wohl nicht anders können, als ihn dem Kind als Teil der Erziehung mit auf den Weg zu geben; das ist bei meinen Eltern nicht anders als bei den Großeltern, wenn auch mit weniger Emotionen verbunden.
In der Stuff (›Stube‹) meiner Großeltern gab es in einer Schrankvitrine eine kostbare Karaffe aus Kristall, die ich, so wie sie ausgestellt war, unweigerlich in Zusammenhang mit Religion brachte; es war das Geschenk eines Überlebenden des Nazi-Terrors, dem mein Großvater – er war Eisenbahner und arbeitete mit der Résistence zusammen – zur Flucht verholfen und den er so vor dem sicheren Tod gerettet hatte. An der Wand gegenüber hing ein beeindruckendes Bild – in Wirklichkeit ein stark retuschiertes Foto – das die Nekropole Notre-Dame de Lorette zeigte, den größten französischen Militärfriedhof. Dort liegt mein Urgroßvater, der Vater meiner Großmutter begraben, gefallen an der Westfront 1915. Dieses Bild mit den unzähligen Grabkreuzen, der Basilika und dem Tiburio ließ zusammen mit dem Karaffenschrein und den polierten, zu Vasen verarbeiteten Granatenhülsen, die Fensterbänke und Kommoden schmückten, den schönsten und größten Raum des Hauses zu einem auf mich unheimlich wirkenden Ort des Gedenkens werden, in dem jeder Gegenstand von der unaustilgbaren Schuld der Deutschen erzählte. Mein Argwohn allem Deutschen gegenüber war so stark, dass ich nicht verstehen konnte, wieso wir im ersten Schuljahr ausgerechnet in dieser doch so verpönten Sprache lesen und schreiben lernten. Erst im folgenden Jahr kam Französisch hinzu; ich stellte fest, dass der Lehrer weit weniger gut Französisch sprach als meine Großmutter, die doch keine höhere Schule besucht hatte, nicht einmal ein Gymnasium. Und noch etwas fiel mir auf: Das verhasste Deutsch war weit näher an unserer Sprache als das hochgelobte Französisch, mit dem die meisten von uns ihre Schwierigkeiten hatten. Ich selbst war, bedingt durch den Einfluss der Großeltern, bei denen ich viel Zeit verbrachte, im Vorteil gegenüber andern Schülern, wirbelte aber genau wie jene gelegentlich die Sprachen durcheinander. Im Luxemburgischen waren die Dinge, wie sie hießen, es brauchte keiner besonderen Zuordnungen oder Erklärungen; wir fuhren Dräirad, Trottinett oder Velo. Jetzt musste das alles sauber getrennt und auseinandergehalten werden, und niemand durfte schreiben: Ich fahre mit der Trottinett. Oder: Mein Vater sitzt in der Fotell. Der Lehrer machte einen Roller, beziehungsweise einen Sessel daraus, so wie er den Frigo in einen Kühlschrank, den Lastik in ein Gummiband und den Pneu in einen Reifen verwandelte. Wer verreiste, packte keine Wallis, sondern einen Koffer, im Theater öffnete sich nicht länger ein Rido, sondern ein Vorhang; nur auf Französisch galt das Wort weiterhin, wurde aber rideau geschrieben, ebenso wie Wallis zu valise wurde, kurz, es gab merkwürdige Verwandlungen und überraschenden Wortzauber, aber auch präzise Regeln, die neuentdeckten Worte sinnvoll zu nutzen. Wir wussten bald schon, dass Deutsch und Französisch sehr unterschiedliche, aber große Sprachen waren, die man unbedingt lernen musste. Was aber war mit den Worten, mit/in denen wir aufgewachsen waren? Der Lehrer sprach im Unterricht stundenlang Luxemburgisch mit uns, sagte dann aber am Ende des Tages, Luxemburgisch sei keine Sprache. Seltsam, dass jemand alles so lang und grundlegend erklären konnte in einer Nichtsprache. Im darauffolgenden Jahr, beim nächsten Lehrer, war es dann plötzlich doch eine Sprache, aber eine, die man nicht lesen und schreiben konnte …
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Die Unsicherheit und Widersprüchlichkeit in der Einschätzung des Luxemburgischen, was dessen Stellung und Bedeutung in unserer Mischkultur anbelangt, findet man bis heute, auch wenn Luxemburgisch 1984 Nationalsprache wurde. Noch bevor der Schriftsteller Batty Weber 1909 in der Beilage der Münchener Neuesten Nachrichten seinen Aufsatz Über Mischkultur in Luxemburg veröffentlichte, setzte sich die zweisprachige Kulturzeitschrift Floréal (in der auch Weber mitarbeitete) mit diesem Konzept auseinander. Hervorgehoben wurde dabei, dass die Luxemburger durch beide Nachbarn in gleichem Maße geprägt seien: »Unsere Monatszeitschrift ist zweisprachig. Zu begründen haben wir das kaum. Wir schulden zwei Völkern unser Hirn und sind stets zwei Völkern für ihre Anstrengungen dankbar.« Zwei Weltkriege später ist – verständlicherweise – von diesem Ideal eines harmonischen Zusammenfließens beider Kulturen keine Rede mehr; Marcel Noppeney, einer der Begründer von Floréal, veröffentlicht in den 1950er Jahren eine unbarmherzige Schmähschrift gegen alles Deutsche mit dem bezeichnenden Titel Contre eux (»Gegen sie«), ein Buch, das ich selbstverständlich auch in der kleinen Bibliothek meiner Großmutter finde. Das Französische ist hier nicht mehr nur Gegengewicht zum Deutschen, sondern, da alle Deutschen Barbaren sind, die einzige für Luxemburg annehmbare Kultur. Die Tendenz hin zum Französischen gab es bereits nach dem ersten Weltkrieg, und regelmäßig wiesen die Verteidiger der Mischkultur auf die Bedeutung der Mehrsprachigkeit hin. Auf der ersten Seite des Escher Tageblatt vom 17. Juli 1920 ist unter dem Titel Mischkultur zu lesen:
Tage wie der vierzehnte Juli stellen vor den Geist derjenigen, die über die Eigenart und die Willensrichtung unseres Volkes nachdenken, das alte Problem der Mischkultur. Vor und nach solchen Tagen wird von Einigen betont, wie die Kurve unseres seelischen Lebens der französischen parallell verläuft, um eines Tages notgedrungen in sie zu münden. Wenn man ihnen entgegenhält, das sei gar nicht so, antworten sie selbstsicher: was nicht ist, kann noch werden. […] Wir haben […] von jeher auf dem Standpunkt gestanden, daß es für uns ohne Frankreich, ohne den von diesem Lande mitgeteilten Elan nichts geben kann, was einem kulturellen Eigenleben einigermaßen ähnlich sieht. […] Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es in unserem Blute und in unserer Vergangenheit Hemmungen gibt, die uns in der Assimilation französischer Kulturformen eine besondere Taktik vorschreiben. Wir sind ein kleines Bauernvolk, das einige Jahrhunderte lang durch seine Sprache zusammengehalten wurde, und diese Sprache ist ein deutscher Dialekt.
Am 4. April 1921 heißt es in einem mit Unsere Zweisprachigkeit übertitelten Artikel (ebenfalls auf Seite 1):
Es bestehen Tendenzen, die uns an eine einzige Kultursprache festlegen möchten. Den Pangermanisten der Vorkriegszeit und der Kriegszeit, die unserer Sympathie für das ›Welsche‹ in Denkart und Sprache mit Gewalt den Hals umdrehen wollten, sind Frankophile gefolgt, die die Praxis der deutschen Sprache in Schule und Leben bei uns ausrotten möchten. Wir haben diesen Bestrebungen gegenüber stets die kulturelle und ökonomische Notwendigkeit unserer Zweisprachigkeit betont und wenn der französischen Sprache in Zukunft die Rolle zufallen wird und zufallen muß, die im niederen und mittleren Unterricht von dem Deutschen ausgefüllt wurde, so wird durch diese Umstellung aus politischen und wirtschaftlichen Motiven das Problem der Zweisprachigkeit im Prinzip nicht berührt. Und die Lösung dieses Problems kann nur heißen Jasagen zu unserer überkommenen festverankerten Zweisprachigkeit.
Der oben erwähnte Batty Weber schrieb 1935 in einem Luxemburger Glaubensbekenntnis übertitelten Artikel:
Daß man uns nun auf einmal vor die Alternative stellt: französisch oder deutsch! das ist das Beängstigende, das könnte darauf schließen lassen, daß wir den Glauben an uns selbst verlieren sollen. Denn nichts Geringeres wird uns durch diese Alternative zugemutet, als daß wir den Glauben an uns, an unser Daseinsrecht, an unsere Fähigkeit dauernden Eigendaseins aufgeben.
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Von diesen Auseinandersetzungen wusste ich wenig bis gar nichts, als ich, mit sechzehn, meine ersten Schreibversuche unternahm. Ich hatte fünf Sprachen zur Verfügung, in denen ich mich dann auch literarisch auszudrücken versuchte, was nichts Ungewöhnliches war, da wir am Gymnasium – Schwerpunkt Sprachen und Philosophie – Goethe, Shakespeare, Molière oder Dante im Original lasen und in der jeweiligen Sprache auch Kurzreferate zu den Autoren hielten. Ich schrieb zu der Zeit Gedichte auf Französisch, Beiträge für eine Schülerzeitung auf Deutsch, Songs auf Englisch, versuchte es sogar mit kurzen Gedichten auf Italienisch und verfasste schließlich mein erstes Theaterstück auf Luxemburgisch (Vorbilder waren so unterschiedliche Dramatiker wie Friedrich Dürrenmatt, den wir in der Schule gelesen hatten, und Jean Genet, den ich selbst entdeckt hatte), das dann von einer Schülertruppe aufgeführt wurde. Von den Lehrern wurde es wohlwollend aufgenommen, mit der nötigen ermutigenden Kritik, bedauert wurde dabei aber zumeist die Wahl der Sprache: Wieso hatte dieser Schüler, der doch mit mehreren wichtigen Literatursprachen umzugehen gelernt hatte, seinen Text ausgerechnet in einer Nichtsprache verfasst? Die Wahl des Luxemburgischen muss einigen Lehrern, bei all der Weltliteratur, die sie uns nahe gebracht hatten, wie ein Versagen vorgekommen sein, wie ein Rückfall in die Kindheit, ins kindliche Gebabbel, das mit Literatur nichts zu tun haben konnte. Ohnehin war die Sprache mit dem höchsten Prestige das Französische, die Sprache der Bildungseliten, und die Lehrer, die ihre Skepsis meiner Sprachwahl gegenüber bekundet hatten, schienen beruhigt, als ich, anlässlich eines Wettbewerbs, Texte in französischer Sprache in den Pages de la self veröffentlichte. Diese Zeitschrift war das Sprachrohr der 1934 auf Anregung von Marcel Noppeney gegründeten Societé des écrivains luxembourgeois de langue française; unnütz hinzuzufügen, dass diese Vereinigung sich durch eine unverhältnismäßige Frankophilie auszeichnete und im Grunde von einer Mehrsprachigkeit nichts wissen wollte.
Mitunter ließen sich einzelne Lehrer auf kleine Sticheleien gegenüber ihren Kollegen der andern Sprache ein: Während der eine uns genüsslich und selbstgefällig erklärte, was ein Boche oder ein Chleu sei, konterte der andere – in Anspielung auf die Veröffentlichungen des Ersteren – mit einem ironisch verwendeten Beckett-Zitat: En francais c’est plus facile d’écrire sans style. (Ähnliche Auseinandersetzungen mag es zu der Zeit bei den Journées littéraires de Mondorf gegeben haben, die in den Jahren 1962 bis 1974 stattfanden und dazu gedacht waren, französische und deutsche Schriftsteller zusammenzubringen, die dann aber nicht immer zusammenfanden; glaubt man den Worten Urs Widmers, dann passten sie so gut zusammen wie Pfeffer und Schlagsahne, wie er in einem Brief an die Organisatorin Anise Koltz schrieb.)
Ich denke nicht, dass für mich bei der Wahl des Luxemburgischen damals irgendeine Art Versöhnungsgedanke mitspielte. Was mich interessierte, war die Frage nach den Möglichkeiten, die diese Sprache, in der die beiden andern mitschwingen, mir als angehendem Schriftsteller gestalterisch bieten konnte. Entscheidend bei der Sprachwahl war aber vor allem der Bezug des Luxemburgischen zu unsern Belangen, zu unserem Alltag; für die meisten von uns waren die andern Sprachen Schulsprachen, die wir mehr oder weniger gut beherrschten, die es aber vor allem im Dienst einer akademischen Bildung zu pflegen galt, oft ohne großen Realitätsbezug (was wiederum mit dem Schulsystem zu tun hatte). Diesen gegenüber hatte das Luxemburgische eine subversive Kraft, und irgendwie waren wir stolz darauf, Bastarde zu sein (den Ausdruck Langue bâtarde hatten wir von einem sehr frankophilen Französischlehrer). Dies umso mehr unser Theaterprojekt einer kritischen Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft Ausdruck geben sollte, ganz im Sinne alternativer gesellschaftspolitischer Bewegungen der Zeit (1970). Der Gebrauch des Luxemburgischen war für mich einerseits eine Selbstverständlichkeit, da es ja meine erste Sprache war, andererseits aber auch eine ganz spezielle Herausforderung, da ich mir das Luxemburgische als Schriftsprache erst erarbeiten musste. Ich hatte bis dahin kein einziges Wort in dieser Sprache geschrieben. Ich entwickelte meine eigene Orthografie, ausgehend von Texten des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts, die keine wirkliche Einheit in puncto Rechtschreibung aufwiesen, was einerseits meine Unsicherheit verstärkte, andererseits mir aber auch viel schöpferische Freiheiten bot. Ich erlebte mich bei dieser Arbeit als Entdecker oder gar Erfinder einer Sprache, die doch eigentlich meine erste – im Kopf gewachsene – Sprache war. Das Übertragen dieser von Kind auf gesprochenen Sprache in eine Schriftsprache war für mich wie das Erlernen einer Fremdsprache, wobei ich als mein eigener Lehrer fungierte. Ich erinnere mich daran, einzelne Passagen erst auf Deutsch niedergeschrieben und dann übertragen zu haben, oder auch umgekehrt, den luxemburgischen Text übersetzt zu haben, um ihn auf seine Wirkung in der andern Sprache zu testen. Seit dieser Erfahrung kann ich dem Satz zustimmen – wer auch immer ihn als Erster in dieser Form geprägt haben mag –, der da lautet: Ein Luxemburger schreibt immer und ohne Ausnahme in einer Fremdsprache.
Jahrzehnte später wird eine paradox anmutende Gegebenheit mich an diese Arbeit erinnern: Mein Bruder Guy, ebenfalls Schriftsteller, aber im Unterschied zu mir ausschließlich auf Deutsch schreibend (er lebt in Köln), wird gebeten für eine Anthologie ein Gedicht in seiner Muttersprache zu verfassen, das dann im Original und in deutscher Übersetzung veröffentlicht werde. Er versucht es, aber ein Gedicht in seiner Muttersprache will ihm nicht gelingen. So kommt es zu der eigentümlichen Situation, dass er das Gedicht auf Deutsch schreibt und mich bittet, es ins Luxemburgische zu übertragen, so dass gleichsam die Übersetzung vor dem Original entsteht.
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Auf Luxemburgisch schreiben hieß für mich von Anfang an, die doppelte Nichtzugehörigkeit zu nutzen, auszuprobieren, was aus diesem Zustand des Dazwischen literarisch herauszuholen ist, Zusammenfließen und Auseinanderdriften der Sprachen zu erkunden, mich auf die Reise zwischen den Sprachen zu begeben und auf diese Weise mir mein eigenes Idiom als Schriftsteller zu erarbeiten.
Der Wahl der Sprache liegt oft ein langwieriger Prozess zugrunde; es gibt Phasen des Herantastens und Ausprobierens, eindeutige Entscheidungen können Jahre später widerrufen werden. Die Entscheidung fällt wohl auch deshalb so schwer, weil sich für eine Sprache entscheiden, bedeutet, auf die andere großenteils zu verzichten. »Faire le deuil de l’autre«, sagt der anfangs zitierte Lambert Schlechter, einer der profiliertesten Vertreter der französischsprachigen Literatur, der anfangs auf Deutsch schrieb. Auch Anise Koltz war eine bedeutende Dichterin deutscher Sprache; als ihr Mann 1971 an den Spätfolgen der Misshandlungen während des Zweiten Weltkrieges starb, wechselte sie die Sprache und schrieb ab da nur noch Französisch. Roger Manderscheid hat einen autobiografischen Roman über seine Kindheit während des Zweiten Weltkriegs auf Deutsch angefangen, konnte nach 100 Seiten aber nicht weiterschreiben in der Sprache der ehemaligen Besatzer und entschied sich, das Werk auf Luxemburgisch zu veröffentlichen. Pierre Joris entging dem Dilemma Deutsch oder Französisch indem er auf Englisch schrieb, der Sprache seiner ersten Liebe. (Auch für mich war das Englische anfangs eine Option gewesen, da es, bedingt durch die Autoren der Beat Generation und den Einfluss der Rockkultur, weniger als akademische Sprache angesehen wurde als das Deutsche und vor allem das Französische, aber um es zu kreativ zu nutzen, fehlten dann doch Kenntnisse und Beherrschung.) Der Französisch schreibende Jean Portante, Sohn italienischer Emigranten, hat in seinem Werk das Hin und Her ausdrücklich thematisiert: In La Mémore de la Baleine (auf Deutsch erschienen unter dem Titel Erinnerungen des Wals) vergleicht er seine Situation als Migrant mit der des Wals, einem Säugetier, das das Land verließ und ins Meer ging, aber die Lungen behielt, also weder ganz zu der neuen Umgebung noch zum Land gehört, das es verlassen hat. Er schreibt, sagt er, in einer Walfischsprache, welche die anderen Sprachen einatmet. Diese Sprache der Lunge bestimmt in unterschiedlicher Weise das Werk vieler Luxemburger Schriftsteller, da sie mit wenigen Ausnahmen alle Sprach-Migranten sind. Ich weiß, dass nicht alle mit dieser Behauptung einverstanden sein werden; es hat immer die Tendenz gegeben, die an sich doch spannende Auseinandersetzung mit der Hybridkultur zu meiden und sich, je nach Biografie, gänzlich dem einen oder andern Kulturkreis anzuschließen. Erfolg durch Anpassung in einer oft als schizophren beschriebenen Situation. Vielleicht haben einige auch bloß auf ihre eigene, eigensinnige Art einen Satz von Scott Fitzgerald interpretiert, der lautet: »All good writing is swimming under water and holding your breath.« Aber irgendwann müssen sie eben auch auftauchen und Luft holen. Mitte der siebziger Jahre schrieb der Kritiker Michel Raus:
Luxemburgs Autoren sind auch noch heute grimmige und todernste Erscheinungen, weil verhinderte Universalisten und Klassiker. Sie möchten insgeheim gute deutschsprachige, beileibe aber keine Luxemburger Autoren sein und verschenken so und verhindern eine Literatur, die Zeugnis ablegen könnte von einem Land, das noch heute eine verschämte, tragische Liebe zu seinen sprachlichen Ursprüngen hegt. Diese Autoren könnten über die Sprache, die sie schreibend meistern, helfen, ihren Landsleuten die frommen Lebenslügen auszutreiben, mit denen sie sich immer wieder ins kulturelle Abseits manövrieren.
Nach meinen anfänglichen Versuchen als Jungdramatiker schrieb ich auf Französisch und vor allem auf Deutsch weiter, veröffentlichte erst 1979 wieder einen Text, eine Erzählung, auf Luxemburgisch. Mein Verhältnis zur deutschen Sprache änderte sich grundsätzlich durch die Beschäftigung mit Paul Celan, dessen Todesfuge wir in der Schule lasen – »The poem went through me like a knife through butter, it cut me open…«, sagt Pierre Joris, Worte, die ich problemlos unterschreibe – und mit Elias Canetti, der sich »Deutsch als Sprache des Geistes von den Nationalsozialisten nicht stehlen lassen« wollte. Ich sah nicht ein, dass ich mir, wie ein Kritiker schrieb, dadurch, dass ich als Luxemburger Deutsch schrieb, unausweichlich die »Last der Deutschen Geschichte« aufbürdete und dadurch, dass »viele Zeichen, die die deutsche Sprache gesetzt hat, vergiftet« seien, selbst als literarischer und weltanschaulicher »Giftmischer« empfunden werden müsse.
Wenn ich Deutsch schreibe, schreibt das Luxemburgische mit. Es ist allerdings nicht so, dass ich bei dem Wort See gleich an eine Säge (was es im Luxemburgischen bedeutet), bei Wand an Wind oder bei Schaf an einen Schrank denke, dazu sind die Sprachen im Kopf doch zu sehr getrennt, aber die Überlagerungen können jeden Augenblick abgerufen und kreativ genutzt werden. Da meine Arbeit grundsätzlich geprägt ist von der Suche nach neuen Möglichkeiten, die diese translingualen Prozesse bieten können, möchte ich schließen mit zwei Textbeispielen, die unterschiedliche Aspekte dieses Schreibens aufweisen: zum einen mit der Anfangsszene des 2007 uraufgeführten Stückes now here & nowhere oder den här io ming pei hätt mueres gär krewetten, zum anderen mit dem Mitte der 1980er Jahre entstandene Gedicht do brasil …
leit an enger salle d’attente.
da stehn sie schlange
nein, sie sitzen
welche stehn auch
ja, einige stehn, mit nummern
sie haben alle kleine zettel mit nummern und werden aufgerufen
keen sou e gedrécks, dat geet hei net, mer sin hei net an der tiirkei!
quatre-vingt-dix-sept
die mauer ist gelb. das fenster ist aus milchglas. über ihnen hängt ein bild des großherzogs. der großherzog lächelt sein großherzoglich ernstes lächeln. draussen ist milchglas.
quatre-vingt-dix-huit
j’ai une histoire à raconter. ils ne me croiront pas. que voulez vous que j’invente?! tout ce qu’on invente n’est rien comparé à ce qu’on a vécu.
dir musst iech d’éischt eng nummer huelen. eng nummer. eine nummer. un numéro! uno nomero! unos numeros! a number! ENG NUMMER!
da steht eine frau auf und fängt plötzlich an zu singen.
ja, sie fängt an zu singen.
ganz befremdlich. sie singt ihr lied. alles war so still.
ausser dem aufrufer.
quatre-vingt-dix-huit! venez, quatre-vingt-dix-huit!
n’y a-t-il pas de quatre-vingt-dix-huit?
deen as daf!
dann singt sie plötzlich ihr lied. alles ist immer noch still. ausser dem lied.
wat ass dat do dann?
do ass eng, där gëtt d’zäit laang.
elle chante d’une voix douce. son histoire à elle. une voix douce et triste.
comme son regard.
wat geet déi un, hei ze sangen!
déi ass geckeg.
sie steht jetzt in der mitte. wie auf einer bühne.
vielleicht war sie mal schauspielerin.
lo ass se op jidde fall geckeg.
madamm, dëst ass keng bühn.
cette chanson, je la connais. je ne l’ai jamais entendue, mais je la connais. elle parle d’un pays lointain, d’un paysage qu’on ne reverra plus, parce qu’il a changé, parce que ceux qu’on y a connus sont morts, parce que le soleil n’est plus le même, elle parle d’une histoire d’amour aussi, de la force de l’amour dans un pays en guerre, d’une déchirure…
quatre-vingt-dix-huit pour la dernière fois!
dat ass bal wéi op enger stee!
jetzt hat sie aufgehört. alles ist still. die frau hat große graue augen in einem grauen gesicht.
dat geet net! där kënnt hei net zodi maachen!
ihr gegenüber der beamte. er sieht sie an. zuerst etwa so, wie ein boxer seinen gegner ansieht. belauert. dann wie ein arzt, der eben festgestellt hat, dass sein patient tatsächlich verrückt ist.
wat huet een hei mat leit ze dinn!
es ist ganz still im saal.
quatre-vingt-dix-neuf.
dann fängt die frau von neuem an zu singen.
do brasil
ausgewandert sitz’ ich
kaffeetrunken entre chien et loup,
zu gast in ein paar worten portugiesisch.
gutes brot, rauch. aus dem morgengraun
wird stadtgrauen: ein fenster
voll hôtel de ville, steinernes
mir wölle bleiwe wat mir sin.
der marktplatz ist parkplatz,
die harmonie municipale auf’m kiosk
kindheitsgetrommel;
heimat ist nichts
als missbrauchte erinnerung.
gegen acht wird der parkscheinautomat
zum mittelpunkt des geschehens.
wer darüber ins staunen gerät,
ist hier fremd und darf getrost
sich unter zigarillo
einen tanz vorstellen.