“Im Grenzgang – Für eine Germanistik als Schwellenkunde (Dieter Heimböckel)” in “Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 6. Jahrgang, 2015, Heft 1”
Im Grenzgang
Für eine Germanistik als Schwellenkunde
Vortrag gehalten auf der Tagung des Italienischen Germanistenverbandes (AIG): Reti internazionali e prospettive della ricerca germanistica / Internationale Netzwerke und Perspektiven der germanistischen Forschung (Istituto Italiano di Studi Germanici, Villa Sciarra-Wurts, Rom, 3.-4. Oktober 2014)
Title:Transgressions. German Studies as Liminality Research
Keywords:cultural studies; German studies abroad; interdisciplinarity; liminality; transnationalisation
1. Von einem kuriosen Randphänomen
Die Diskussion über den Standort der Germanistik – über ihre Identität und was sie vertreten soll oder auch nicht, wie sie sich gegenüber den zahllosen Turns der letzten 30 Jahre und besonders gegenüber dem Cultural Turn zu verhalten hat – reißt nicht ab. Zuletzt wurde sie durch eine Rundfrage der von der Universität Siegen herausgegebenen Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik befeuert, deren Antworten anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der Zeitschrift in einem Jubiläumsheft unter dem Titel Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende im Dezember 2013 veröffentlicht wurden. Gefragt wurde konkret danach, ob sich die Germanistik »wieder mehr auf ihren ›Kern‹ besinnen sollte, ob es mit anderen Worten einer – traditionalistisch verstandenen – germanistischen Wende der Germanistik bedarf«, oder ob es »nicht die gesellschaftlichen Hintergründe und legitimen wissenschaftlichen Gründe für immer neue Überschreitungen von Grenzen der alten Nationalphilologien und die Entstehung neuartiger inter- oder transdisziplinärer Forschungsrichtungen« gibt? (Bleumer u.a. 2013b: 7) Die Diskussion wurde, wie nicht anders zu erwarten war, kontrovers ausgetragen. Sie pendelte zwischen der Aufforderung zu einer unter dem Motto des »Return to Philology« stehenden Re-Philologisierung der Germanistik einerseits und dem Plädoyer für ihre weitgehende Öffnung andererseits, beide Tendenzen schlagwortartig unter dem Gegensatz von Tradition und Innovation bzw. Tradition und Freiheit vereint.
Bezeichnend für die Umfrage, auf deren Stellungnahmen ich im weiteren Verlauf meiner Ausführungen immer wieder auszugsweise zurückkommen werde, ist die Verteilung nach den Herkunftsländern. Denn von den 43 Kolleginnen und Kollegen gehören 38 deutschsprachigen Universitäten an, während fünf aus nichtdeutschsprachigen Ländern stammen: aus China, Slowenien, Spanien, aus der Türkei und den USA. Das mag eine Zufallskonstellation sein, über die Eingänge und redaktionellen Auswahlkriterien liegen mir keine Informationen vor. Aber das Verhältnis sagt etwas darüber aus, wie man, wenn von der Germanistik die Rede ist, über sie spricht, von welcher Germanistik überhaupt gesprochen wird und vor allem: wer über sie spricht. Denn bei allen Kontroversen im Detail oder in der konzeptionellen Ausrichtung gibt es bei den an deutschsprachigen Institutionen lehrenden und forschenden Kolleginnen und Kollegen keinen Zweifel darüber, dass es sich um ein im deutschsprachigen Fächerkanon hochrangig etabliertes Fach handelt, dessen Bestand nicht gefährdet ist, auch wenn angesichts der Krisenrhetorik, die das Fach seit mehreren Dezennien pflegt, sich ein anderer Eindruck aufdrängen könnte. Aber um sie sorgen muss man sich wohl nicht. Die Rede von der Krise folgt einer mehr oder weniger durchschaubaren Strategie der Legitimation und Besitzstandswahrung gegenüber Politik und Zivilgesellschaft, die das Angebot immer wieder strukturell in den Blick nehmen, um es zu sichern, zu korrigieren, auszubauen bzw. zu begrenzen und auch auf seine langfristige Wirksamkeit hin zu untersuchen. Wenn jenseits der deutschsprachigen Germanistik von Krise die Rede ist, stellt sich etwa für die Germanistiken in Nord- und Südeuropa, aber auch in den USA oder in Südamerika der Sachverhalt ganz anders dar – ein Sachverhalt, der übrigens auch für die Italianistik etwa in Deutschland gilt. Der Abbauprozess der europäischen Philologien ist übergreifend und spricht für sich; nur dass, worauf Konrad Ehlich hingewiesen hat, innerhalb der betroffenen Disziplinen diese Entwicklung bislang nicht oder kaum vernommen worden ist (vgl. Ehlich 2013: 114).
Zur Mobilisierung gegen die in Europa insgesamt und auch an den Universitäten absehbare Folklorisierung von Kultur, Literatur und Sprache schlägt Ehlich eine Transnationalisierung der Philologien im Allgemeinen und der Germanistik im Besonderen vor (vgl. ebd.). Für eine solche Transnationalisierung ist es allerdings nicht gleichgültig, wie bereits gesagt, wer spricht bzw. wovon mit Blick auf die Germanistik gesprochen wird. Dabei scheint eindeutig zu sein, bei wem die Meinungsführerschaft liegt. Was Germanistik ist, bestimmt grosso modo die sog. Inlandsgermanistik, zu der sich – auch im Fall der angesprochenen Umfrage – die sog. Auslandsgermanistik allenfalls wie ein Appendix verhält. Es sei interessant zu sehen, heißt es in dem Umfrageresümee explizit, dass Auslandsgermanisten die in den Stellungnahmen diskutierten Fragen noch einmal anders beurteilen (vgl. Bleumer u.a. 2013a: 194). Was es bedeutet, wenn ein Auslandsgermanist als interessant wahrgenommen wird, hat Todd Kontje von der Universität San Diego in seiner – ironisch überspitzten – Einleitung zu seinem Beitrag Eulen nach Athen? Impulse der ›Auslandsgermanistik‹ in einer deutschen Wissenschaft aus dem Jahre 2011 auf den Punkt gebracht:
Als so genannter ›Auslandsgermanist‹ ist man es gewohnt, von der deutschen Germanistik nicht ernst genommen zu werden. […] Falls man es wagt, selber etwas über deutsche Literatur zu veröffentlichen, weiß man schon im Voraus, dass es vielleicht von den Kollegen zu Hause wahrgenommen, aber höchstwahrscheinlich in Deutschland nicht gelesen wird, vor allem, wenn man nicht auf Deutsch schreibt. Dass es so etwas wie Auslandsgermanisten gibt – so stellt man sich die deutsche Ansicht vor –, ist vielleicht theoretisch interessant, aber es bleibt letztendlich ein kurioses Randphänomen, worauf man auch verzichten kann. (Kontje 2011: 31)
Wer die Transnationalisierung der Germanistik anstrebt, braucht Partner jenseits ihres nationalen Fachrahmens. Der Verzicht auf sie leistet der Nationalisierung Vorschub, und sie wird immer noch, ob man es will oder nicht, durch die unsägliche Unterscheidung zwischen Inlands- und Auslandsgermanistik begünstigt. Die Notwendigkeit zur Differenzierung angesichts eines Fachs, für das aufgrund seiner Ausprägung und Bandbreite im internationalen Feld die Zeit, so Marina Carolina Foi, im Singular zu Ende gegangen ist (vgl. Foi 2010: 525) und das eigentlich nur noch im Plural angesprochen werden sollte, löst man nicht durch eine dichotomische Unterscheidung, die nach dem Muster vom Eignen und Anderen funktioniert. Bei einer solchen Unterscheidung wird der vorzugsweise auch Binnengermanistik genannten Inlandsgermanistik die Bedeutung zugeschrieben, über die intimeren Kenntnisse, d.h. über die Eigenschaft einer Mutterdisziplin, zu verfügen, an deren Nabelschnur sich die nachgeborene oder Nachwuchsdisziplin nährt. Das scheint für eine innige Beziehung zu sprechen, wodurch die Auslandsgermanistik aber de facto zu einer Germanistik zweiter Klasse degradiert wird. Selbst wenn man die Transnationalisierung nicht befürwortet, kann man spätestens seit Erich Auerbachs Diktum, dass »unsere philologische Heimat die Erde« und nicht mehr die Nation sei (Auerbach 1992: 96), von der Germanistik als deutscher Wissenschaft allerdings nicht mehr sprechen. Damit ist die Trennung zwischen Inlands- und Auslandsgermanistik, auch wenn sich ihre Profile unterscheiden mögen, eigentlich obsolet geworden. Mit ihrem ungebrochenen Fortbestehen wird nicht nur eine Privilegierung der deutschsprachigen Germanistik aufrechterhalten, sie ist auch ein wesentlicher Grund dafür, warum sie geradezu hypochondrisch über ihre Krise spricht und die wirkliche Krise jenseits ihres nationalen Bezugsrahmens fast teilnahmslos verfolgt. Dass der fortschreitende Abbauprozess irgendwann auch ihren Bestand gefährden könnte, sieht sie nicht – auch nicht, dass in den Germanistiken aus dem nichtdeutschsprachigen Raum nicht nur Kärrnerarbeit im Bereich der Sprach-, Literatur- und Kulturvermittlung betrieben, sondern auch hochkompetente und anschlussfähige bzw. innovative Forschung geleistet wird, die obendrein ihre immer schon vergleichende Kompetenz in den Fachkontext einzubringen vermag. Sie sind Kenner ihrer Sprache und Literatur. Die komparative Perspektive spielt in der deutschsprachigen Germanistik dagegen nach wie vor eine allenfalls untergeordnete Rolle.
2. Im »Zwischenreich der Fächer«
Die Unterscheidung bzw. Trennung zwischen Inlands- und Auslandsgermanistik verfolgt eine Politik der Grenzziehung. Mir scheint, dass angesichts des Zustands der Germanistiken weltweit und mit Blick darauf, unter welchen Veränderungsbedingungen deutsche Sprache, Literatur und Kultur steht und was sie insofern ausmacht, eine Politik der Grenzüberschreitung vonnöten ist – und zwar konsequenter, als dies bislang geschehen ist. Dafür wäre es zunächst einmal erforderlich, den Gegensatz von innen und außen und damit die degradierende Containerkonstellation zu verabschieden und bei der Germanistik im Plural vorauszusetzen, dass sie durchaus nicht mit der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft identisch ist, wobei gerade die Position der Re-Philologisierung dieser Identifikation nolens volens Vorschub leistet. Dass das entsprechende Fach in seinen jeweils national verschiedenen Abwandlungen eine Pluralität von Disziplinen bezeichnet, »die sich mit ›deutschen‹ Themen und Realitäten befassen« (Werner 2005: 297), trägt nicht zuletzt dem Umstand Rechnung, dass speziell die Literatur kein geschlossenes Feld ist, sondern dass sie, worauf noch jüngst Maria E. Brunner, Nicoletta Gagliardi und Lucia Perrone Capano hingewiesen haben, »in einem wechselseitigen Austausch mit affinen Bereichen« steht (Brunner / Gagliardi / Perrone Capano 2014: 9). Für eine Germanistik als Schwellenkunde, wie ich sie sehe, käme es daher darauf an, diesen Raum des Affinen, der immer auch ein Raum der Verunsicherung ist, weil die Schwelle gemäß der Formel Walter Benjamins eine Zone des Wandels und des Übergangs markiert (vgl. Benjamin 1982: 616), zu begehen, auszuloten und zu erforschen. Damit gibt die Germanistik ihr Kerngeschäft keinesfalls preis. Es wird vielmehr belebt, weil auf diese Weise nicht nur zur Stärkung ihrer Ränder, sondern auch zu ihrer fachlichen Stabilisierung und Attraktivität und eben nicht zu ihrer Unübersichtlichkeit beigetragen wird.
Vertreterinnen und Vertreter des Faches, die seine Unübersichtlichkeit befürchten, stemmen sich allerdings gegen dessen vermeintliche Verflüchtigung »in interdisziplinären und transkulturellen Wolken« (Glück 2012: 8). Solche Widerstände sind regelmäßig in einem Gruppenverhalten begründet, das trotz der Künstlichkeit des Zustandekommens die Identifikation und Bevorzugung mit der Gruppe fördert, der man sich zugehörig fühlt (vgl. Zimmermann 2005: 11). Andererseits hat gerade Interdisziplinarität mit Gewissheitsreduktion zu tun, indem durch die Fächerüberschreitung die kanonische Gewissheit und damit auch die eigene fachliche Integrität auf die Probe gestellt wird. Das gilt es zu berücksichtigen und nicht einfach als unzeitgemäße Befindlichkeit abzustempeln, zumal eine Schwellenkunde es sich nicht leisten kann, mit einem Türhüter aufzuwarten. Warum aber Interdisziplinarität? Sicher nicht, weil eine Disziplin X ein Problem Y nicht lösen kann – sonst wäre X per definitionem keine Disziplin1 –, sondern weil es Gegenstände und Sachverhalte gibt, die sich ihrer Anlage nach nicht anders als im »Zwischenreich der Fächer« (Blumenberg 1971: 11) erfassen und beschreiben lassen. D.h.: Interdisziplinarität ist dort weiterführend, wo sich in ihrem Zwischen des Disziplinären das Zwischen, Übergängige und Vielfältige des Gegenstandes oder Sachverhaltes selbst widerspiegelt. Schon die reine Trennung nach dem eingeschliffenen Zwei-Kulturen-Schema zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften andererseits lässt beispielsweise außer Acht, dass bestimmte naturwissenschaftliche Theorien »nicht nur bestimmte kulturelle Ausdeutungen« nahelegen, »sie enthalten sie von vornherein« (Potthast 2010: 186). Dabei unterliegt das Feld des Kulturellen, insofern »der Gestus der Kultur einer des Vermischens ist« (Nancy 1993: 6), selbst schon einer »hybride[n] Konstellation« (Potthast 2010: 186), die es besonders für interdisziplinäre Forschung prädestiniert. Und dabei bildet die Germanistik keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. »Ein Fach, das sich mit Sprache und Kultur auseinandersetzt, muss in Bewegung bleiben«, so Veronika Schuchter, und kann nicht die Augen vor dem verschließen,
was deutschsprachige Literatur und Kultur heute verändert und ausmacht. Das sind nun mal transkulturelle Phänomene, neue Technologien, Medien, Varietäten usw., Veränderungen also, die nur interdisziplinär erfasst werden können. […] Kein Mensch käme heute auf die Idee, die deutschsprachige Literatur des 18. Jahrhunderts interpretieren zu können, ohne die Einflüsse der französischen zu berücksichtigen. Kein Mediävist kann seine Augen vor historischen und soziologischen Fragestellungen verschließen. Und ebenso wenig kann heute Germanistik betrieben werden, ohne auf jene Einflüsse Rücksicht zu nehmen, die unser zentrales Forschungsmaterial, die deutsche Sprache und was damit passiert, bestimmt. (Schuchter 2013: 66)
Vielleicht muss man nicht so weit gehen wie Nicolas Pethes, der unter Anspielung auf Bruno Latour verkündet hat, dass wir im Grunde nie Germanisten gewesen seien (vgl. Pethes 2013). Sicherlich aber waren wir es nie nur, erst recht nicht die Gründungsväter, die mit ihrer vergleichenden Perspektive eher einer Praxis nahestanden, wie sie in der Komparatistik gepflegt wird und die für Kolleginnen und Kollegen, die nicht an deutschsprachigen Universitäten arbeiten, heute häufig selbstverständlich ist. Es gibt also, und zwar unabhängig von den pragmatischen Notwendigkeiten, auch wenn diese aktuell eine Katalysatorfunktion übernehmen, sachlich objektivierbare Gründe für die Intensivierung des Austauschs und der Kooperation, und zwar auf fachbezogener wie auch auf interdisziplinärer Ebene: fachbezogen durch die vermehrte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Germanistiken und interdisziplinär durch die weitere fachliche Öffnung zur Beantwortung und / oder Herbeiführung übergreifender Fragestellungen. Ersteres ist in Ansätzen schon geleistet: etwa durch Institutspartnerschaften oder grenzüberschreitende Studiengangsprogramme, die freilich in der Regel auf die Initiative und das Engagement Einzelner zurückgehen. Strukturell übergreifend sind in diesem Zusammenhang die vom DAAD jährlich veranstalteten Begegnungstagungen, auf denen sich deutsche Germanistinnen und Germanisten mit Fachkolleginnen und -kollegen einer wechselnden Weltregion austauschen. Das sind, neben anderen Aktivitäten, sicherlich begrüßenswerte Formen der Annäherung, sie haben aber generell und leider nichts an dem grundsätzlichen Dilemma geändert, dass die Germanistiken immer noch viel zu wenig voneinander wissen, von ihrer Vielfalt, wie sie in den unterschiedlichen Teilen der Welt existiert, von ihren kulturellen Hintergründen, von den Ergebnissen der Forschung, aber auch von den Frustrationen in ihrem Alltagsgeschäft (vgl. Lützeler 2013: 11). Hier herrscht Handlungsbedarf, auch wenn der Wille dazu sich nicht immer einfach umsetzen lässt.
Die durch den Theorieimport und die Hinwendung zu den Kulturwissenschaften beförderte Öffnung des Fachs ist m.E. unumkehrbar. Die Zeit nach der Theorie ist nicht posttheoretisch, sondern es kommt allenfalls zu einer Schwerpunktverlagerung, in der mit Theorie ein pragmatischer(er) Umgang gepflegt wird. Literatur beispielsweise ist ohne Theorie nicht denkbar, woher sollte sie sonst einen Begriff von sich haben? Und mit Veronika Schuchter könnte man pointiert formulieren: »Die Germanistik ist eine Kulturwissenschaft, was denn sonst?« (Schuchter 2013: 66) Die interdisziplinären Höhenflüge sollten freilich nicht, unabhängig von den disziplinären Eigenheiten, die die Kulturwissenschaften als eigenständiges Fach charakterisieren, auf Inkorporierung hinauslaufen. Schnell könnte sich damit nämlich, wovon einige Germanistiken bereits ein Lied singen können, die ursprüngliche Absicht in ihr Gegenteil verkehren und sich zum Nachteil des Faches dadurch auswirken, dass sie »in eine Dienstleistungsfunktion verwiesen wird, der zufolge sie nur noch ›für‹ andere Disziplinen arbeiten würde.« (Raulet 2011: 50) Das kann nicht das Ziel der Interdisziplinarität sein, sondern ein sachlich und fachlich begründetes Interesse an übergreifenden Forschungsperspektiven, durch die die Germanistik einerseits ihr erstaunliches, universalwissenschaftliches Potential unter Beweis stellen kann, durch die andererseits aber auch zur Stärkung ihrer Zukunft beigetragen wird.
3. Was tun? Oder: Der Geist ist ein Grenzgänger
In seinem Positionspapier vom 14. Juli 2014 hat der DAAD ausdrücklich auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, Anreize zur interdisziplinären Öffnung zu setzen und dabei die Internationalisierung der Germanistik als ein wichtiges Ziel zu ihrer Stärkung benannt. Dabei wird die Internationalisierung im Lichte der Mehrsprachigkeit gesehen: Deutsch werde weltweit »zunehmend in einem mehrsprachigen Kontext gelernt. Sowohl der Zusammenarbeit mit den Vertretern anderer Philologien als auch der Etablierung multilateraler und multinationaler Projekte« gelte daher die besondere Aufmerksamkeit des DAAD (DAAD 2014: 3). Eine solche Initiative ist durchaus begrüßenswert. Die Diagnose, dass Deutsch weltweit im mehrsprachigen Kontext unterrichtet werde, gilt beispielsweise in Indien, in Südafrika, aber auch einem Land wie Luxemburg, in dem die Schüler drei- bis viersprachig sozialisiert werden und Mehrsprachigkeit zum Leitbild seiner Universität gehört. Für Deutschland und die universitäre Germanistik gilt dies jedoch, zumindest ihrem Anspruch nach, bezeichnenderweise nicht. David Gramling spricht sogar vom »programmatische[n] Pathos des multikulturellen Monolingualismus«, der in der politischen Öffentlichkeit in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre vorherrsche (Gramling 2012: 78). Es geht nicht darum, das tendenziell Denunziatorische, das der Bezeichnung Auslandsgermanistik anhaftet (vgl. Görner 2009: 348), gegen die Inlandsgermanistik auszuspielen, aber doch ihre Stärken angesichts der neuen Entwicklung zu akzentuieren: dass nämlich die Germanistiken im nichtdeutschsprachigen Raum immer schon in spezifischer Weise zumindest zweisprachig und zudem interkulturell ausgerichtet sind. Insofern die moderne Germanistik (ganz allgemein) einer Einbettung in ihren europäischen und – wie ich unbedingt betonen möchte – auch außereuropäischen Kontext systematisch wie auch methodisch bedarf (vgl. Fähndrych 2006: 73), verfügt die nichtdeutschsprachige Germanistik über Kompetenzen, die sie produktiv in diese Bedarfskonstellation einbringen kann. Alle Maßnahmen, fachlich wie auch strukturell, sind dabei hilfreich, die in diesem Zusammenhang konstruktiv und unterstützend wirken.
Dazu gehören strukturell:
- die Intensivierung des Dialogs zwischen den Germanistiken, wobei der internationale Dialog dazu beitragen kann, dass die
Germanistik im nichtdeutschsprachigen Raum mehr Außenwirkung entfaltet. Der Dialog kann sich auf der bi- oder (besser noch)
multilateralen Ebene des universitären Austausches vollziehen:
- im Rahmen von Instituts- und Universitätspartnerschaften,
- durch die intensivere Nutzung der Dozierendenmobilität beispielsweise im Rahmen des Erasmus-Programms,
- durch die Mitwirkung in transnationalen Organisationen wie der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GIG), die jährlich Kolleginnen und Kollegen der Germanistik aus aller Welt ins Gespräch bringt,
- durch die Nutzung internationaler Tagungen wie der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) zu einem Austausch nicht nur über spezifische Forschungsgegenstände, sondern über Ausrichtung und Probleme der jeweiligen Germanistiken (Plädoyer für eine Veranstaltungsform jenseits der bisherigen Veranstaltungspraxis, bei der der Akzent mehrheitlich auf der Präsentation individueller Forschungsbeiträge liegt).
- der Ausbau von Organisationsstrukturen und Netzwerken:
- durch die Verzahnung nationaler Verbände (Bsp.: Konstitution der Südeuropa-Germanistik im Juni 2014 mit Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Zypern als Partner und die tendenzielle Ausweitung auf den Mittelmeerraum insgesamt2),
- (perspektivisch) durch die Gründung eines europäischen Germanistenverbandes, wobei die Europäisierung der Germanistik im Kontext außereuropäischer Erfahrungen gespiegelt (vgl. Wertheimer 2005) und die Zusammenarbeit mit anderen kontinentalen Germanistenverbänden (wie dem lateinamerikanischen oder südafrikanischen Germanistenverband) gesucht werden sollte,
- durch die Verzahnung von Lehr- und Forschungsaktivitäten in gemeinsamen Master- und Promotionsprogrammen,
- durch internationale Forschungskooperationen und -projekte (etwa im Rahmen der EU-Förderung) und strategische Partnerschaften auf der Grundlage thematisch einschlägiger Exzellenz (Bsp.: die Europa-Thematik der Villa Vigoni).
- die internationale Kooperation des wissenschaftlichen Nachwuchses:
- durch Doktorandenaustausch und -kolloquien auf bi- und multilateraler Ebene,
- durch die vermehrte Organisation von Nachwuchstagungen (Bsp.: »Die italienische Germanistik und ihre aktuellen Methoden. Tage der italienischen Nachwuchsgermanistik«, Villa Vigoni, 23. / 24. September 20143),
- durch Repräsentanz und Mitwirkung des Nachwuchses in transnationalen Organisations- und Forschungsverbünden.
Dazu gehören fachlich:
- die interdisziplinäre Öffnung und Annäherung an die Komparatistik und mehrsprachige Germanistik, insofern sie immer schon im plurikulturellen und -lingualen Umfeld agierten und die Kultur der Mehrsprachigkeit, internationale Mobilität, interkulturelle Kompetenz für sie selbstverständlich sind,
- die Transparenz der wissenschaftlichen Ergebnisse: Es wäre zu begrüßen, »wenn die Germanistiken der verschiedenen Erdteile die Methoden und Ergebnisse ihrer Arbeiten transparenter machten und stärker auf einen Dialog mit anderen germanistischen Kulturen ausrichten […]. Der Großteil der fachlichen Kommunikation verläuft in den nationalen Sprachen der Länder und verbleibt naturgemäß eine interne, also nationale Auseinandersetzung, an der die meisten WissenschaftlerInnen außerhalb der Germanistik weltweit nicht teilhaben können.« (Lützeler 2013: 12),
- die Entwicklung (oder Zurückgewinnung) einer tragfähigen »politischen Dimension«, um damit Voraussetzungen für eine verantwortungsvolle »intellektuelle Intervention im politischen Raum« (Bogdal 2013: 100f.) zu schaffen und zu nutzen.
Das hier vorgestellte Spektrum, das sich durch weitere Vorschläge noch ergänzen ließe und das, worauf ich mit Blick auf die Gründung binationaler Institutspartnerschaften und die Verzahnung von Lehr- und Forschungsaktivitäten in gemeinsamen Master- und Promotionsprogrammen hingewiesen habe, auch schon partiell umgesetzt wurde, setzt auf Initiative und die Bereitschaft, den persönlichen, fachlichen und räumlichen Kreis zu überschreiten. Schwellen sind Räume, die übergängig sind und daher keine Sicherheit bieten. Für Überraschungen sind sie allemal gut. Und was wäre Wissenschaft, wenn sie sich nicht auch überraschen lassen würde? Die Germanistik jedenfalls sollte und wird sich in Zukunft in Grenzgängen bewegen. Das hält sie jung und bewahrt sie vor der Musealisierung. »Wir müssen«, sagt Erich Auerbach, »unter veränderten Umständen, zurückkehren zu dem, was die vornationale mittelalterliche Bildung schon besaß: zu der Erkenntnis, daß der Geist nicht national ist.« (Auerbach 1992: 96) Der Geist ist ein Grenzgänger. Ich sehe nicht ein, warum sich die Germanistik eines anderen besinnen sollte.
Anmerkungen
1 | Ausgehend von einem allgemeinen Verständnis von Disziplin als »Wissensgebiet oder Untersuchungsfeld, das durch einen Corpus von allg.-verbindlichen Methoden charakterisiert ist« (Schlaeger 2008: 324), lässt sich die angesprochene Spezifik von Disziplin aus einem umfassenderen Kriterienkatalog herleiten, zu dem nach Defila / Di Giulio (1998: 112f.) ein relativ homogener Kommunikationszusammenhang, ein Bestand an Wissen (Aussagen, Erkenntnisse und Theorien), relevante Forschungsprobleme und eine Menge bestimmter anerkannter Methoden und Problemlösungen gehören.
2 | Vgl. online unter: http://www.associazioneitalianagermanistica.it/ [Stand: 5.4.2015].
3 | Vgl. online unter: http://www.villavigoni.it/contents/events/Nachwuchstagung%20Abschlussbericht.pdf [Stand: 5.4.2015].
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