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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 6. Jahrgang, 2015, Heft 1: Interkulturalität als disziplinübergreifendes Konzept – Ansatze – Anwendungen – Desiderata. Internationaler Workshop der Key Area Multilingualism and Intercultural Studies (MIS) an der Universitat Luxemburg am 5. November 2014. Ein Workshopbericht (Elisabeth Tropper)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 6. Jahrgang, 2015, Heft 1

Interkulturalität als disziplinübergreifendes Konzept – Ansatze – Anwendungen – Desiderata. Internationaler Workshop der Key Area Multilingualism and Intercultural Studies (MIS) an der Universitat Luxemburg am 5. November 2014. Ein Workshopbericht (Elisabeth Tropper)

Interkulturalität als disziplinübergreifendes Konzept

Ansatze – Anwendungen – Desiderata. Internationaler Workshop der Key Area Multilingualism and Intercultural Studies (MIS) an der Universitat Luxemburg am 5. November 2014. Ein Workshopbericht

Elisabeth Tropper

Unter dem Titel Interkulturalität als disziplinübergreifendes Konzept. Ansätze – Anwendungen – Desiderata fand am 5. November 2014 im Rahmen der Key Area Multilingualism and Intercultural Studies (MIS) der Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg ein internationaler Workshop statt, an dem Referenten von der Jawaharlal Nehru Universität New Delhi (Indien), der Durham Universität (Großbritannien), der Universität Paderborn (Deutschland), der Universität Helsinki (Finnland) und der Karls-Universität Prag (Tschechien) teilnahmen. Im Zentrum des Workshops stand die Frage, wie Interkulturalität über traditionelle Disziplingrenzen hinweg für die Auseinandersetzung mit kulturrelevanten Themen nutzbar gemacht werden könne. Ferner sollte der Begriff der ›Interkulturalität‹ einer kritischen (Neu-)Reflexion unterzogen werden.

Zusammenfassung der Beiträge

Als zentraler Terminus kristallisierte sich im Laufe der Tagung der Begriff der ›Ähnlichkeit‹ (similarity) heraus, den Anil Bhatti (Neu Delhi) im ersten Vortrag Ähnlichkeit und Differenz in einer Migrationswelt. Aspekte von Kulturproduktion und Kulturtheorie heute als Suchbegriff für seine Überlegungen zu den Bedingungen und Herausforderungen komplexer plurikultureller Gesellschaften, welche durch ein hohes Maß an sprachlicher, religiöser und kultureller Diversität gekennzeichnet sind, ins Feld führte. Im Ähnlichkeitsdenken werden, so Bhatti, Vorläufigkeit, Unschärfe, fließende Grenzen, Nuancen und minimale Abweichungen aufgewertet und mit einer flexiblen und polyvalenten Sprache erfasst. An die Stelle des ›Entweder-oder‹ (und der damit einhergehenden Purismen und Polaritäten, einschließlich der angenommenen Dichotomie von Ähnlichkeit und Differenz bzw. von Eigenem und Fremdem) trete im Ähnlichkeitsdenken das ›Sowohl-als-auch‹. Den Dialog als strategisches Mittel zur Erzeugung von Toleranz erklärte Bhatti für unbrauchbar, weil er die Vorstellung mehrerer deutlich voneinander abgesetzter Einheiten voraussetze, die über Repräsentanten miteinander in Dialog gebracht werden müssen. Stattdessen hob er die Bedeutung von Nuancen, Abweichungen und Überlappungen hervor, die in einem Modus der ›Fast-Gleichheit‹ zum Ausdruck kommen. Mehrsprachigkeit definierte Bhat-ti unter diesen Prämissen nicht als die vollständige Beherrschung zweier oder mehrerer Sprachen, sondern als die Durchdringung verschiedener Sprachen in einem Praxiszusammenhang; d.h. als Repertoire, auf das sich situationsbezogen zugreifen lasse. Im Kontext der Geschichtswissenschaften berief er sich auf die Modelle der shared history, entangled history bzw. histoire croisée, welche nicht auf eine authentische Urerfahrung referieren, sondern Verflechtungen und Überlappungen ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken. Dem vielfach beschworenen »Recht auf Differenz« stellte Bhatti ausdrücklich das »Recht auf Ähnlichkeit« zur Seite und betonte die Bedeutung von Solidarität für das Gelingen einer grenzüberwindenden plurikulturellen Kommunikationsgesellschaft.

Während der Terminus ›Interkulturalität‹ für Bhattis Konzept der Verflechtung und Überlappung kultureller Felder und historischer Erfahrungen keine Rolle spielte, wurde er von Mike Byram (Durham) ins Zentrum seines Vortrags Competence-based approach(es) to Interculturality in Education and Criticality gestellt, und zwar als spezifische Kompetenz im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts, die Byram als »interkulturelle kommunikative Kompetenz« bezeichnete. ›Kompetenz‹ charakterisierte er hierbei als eine »Can do«-Phrase, mithilfe derer sich ein höheres Maß an Systematik in die Curriculaplanung und in den Unterricht einführen lasse. Seine jahrzehntelange Forschungstätigkeit sei vor allem von der Frage geleitet worden, wie der Fremdsprachenunterricht systematisiert werden könne, um nicht nur instrumentelle Zwecke zu erfüllen (das Erlernen einer Sprache), sondern darüber hinaus zur politischen Bildung beizutragen und aktive gesellschaftliche Teilhabe im Sinne einer interkulturellen Bürgerschaft (»intercultural citizenship«) zu stimulieren. Zu diesem Zweck schlug Byram ein Modell vor, das die Ansprüche und Zielsetzungen interkultureller Kompetenzen nachvollziehbar und evaluierbar macht. Hierfür griff auch er auf das in Bhattis Vortrag eingeführte und sich im Tagungsemblem widerspiegelnde Bild des geflochtenen Fadens zurück, um die Verflechtung unterschiedlicher (sozio-)linguistischer und interkultureller Kompetenzen darzustellen. Zur Veranschaulichung seiner Thesen stellte er ein im Jahre 2012 durchgeführtes Projekt mit argentinischen und britischen Studierenden über den Falkland- / Mal-vinaskrieg vor.

Ebenfalls mit der Frage der Vermittlung, jedoch aus geschichtsdidaktischer Perspektive, befasste sich Johannes Meyer-Hamme (Paderborn) in seinem Vortrag Diversity of histories. Historical thinking skills in intercultural perspective. Er verwies zunächst auf die bestehende Forschungstradition zum Themenkomplex ›historisches interkulturelles Lernen‹, hob jedoch hervor, dass umfassendere Untersuchungen, insbesondere zu zeitgenössischen Aspekten, nach wie vor ein Forschungsdesiderat darstellen. Ausgehend von einem persönlichen Erlebnis (einer sich spontan entwickelnden Diskussion mit kurdischen Männern über die behauptete Existenz eines historischen Staates Kurdistan) definierte Meyer-Hamme Geschichte als ein Konstrukt aus retrospektiven Narrativen über Sequenzen der Vergangenheit, die seines Erachtens im individuellen wie kollektiven Alltag zentrale Ankerpunkte für die historische Orientierung darstellen und zur Entstehung von Gemeinschaften beitragen. Diesen Vorgang bezeichnete er (im Anschluss an Jörn Rüsen) als »Sinnbildung über Zeiterfahrung«. In heterogenen Gesellschaften bilden sich Meyer-Hamme zufolge verschiedene Gemeinschaften heraus, innerhalb derer unterschiedliche historische Narrative zirkulieren; zugleich seien die individuellen Identitätskonzepte von Überschneidungen und Vermischungen zwischen den einzelnen Gruppen geprägt. Daher müsse historisches interkulturelles Lernen sich zwingend an den individuellen Bedürfnissen der Lernenden orientieren und die historische Bedingtheit von Kulturkonzepten ebenso wie die Identitäten der Gesprächspartner mitreflektieren. Seine theoretischen Überlegungen ergänzte Meyer-Hamme durch Verweise auf empirische Untersuchungen aus der Geschichtsdidaktik (Bodo von Borries, Viola Georgi) sowie auf seine eigene Dissertation Historische Identitäten und Geschichtsunterricht (Meyer-Hamme 2009).

Fred Dervin (Helsinki) setzte den Begriff ›Interkulturalität‹ in seinem Vortrag Interculturality beyond culture: Does it make sense? zunächst allen denkbaren Anfeindungen aus: Er sei polysemisch, leer, veraltet und stets in Gefahr, mit einem geschlossenen Kulturkonzept identifiziert zu werden. All dieser problematischen Aspekte zum Trotz sprach Dervin sich dennoch dafür aus, am Interkul-turalitätsbegriff festzuhalten, und entwickelte in weiterer Folge einen Idealtypus des ›Interkulturalisten‹. Hierbei orientierte er sich an Edward Saids Überlegungen zum Intellektuellen: In seiner Unterscheidung zwischen dem Experten (professional intellectual) und dem Amateur (amateur intellectual) gebe Said Letzterem klar den Vorzug, da dessen Handeln und Denken unkonventionell, nonkonformistisch und – in der ursprünglichen Wortbedeutung von amateurism – primär von Liebe und Fürsorge geleitet sei. Analog dazu entwickelte Der-vin seinen Idealtypus des ›amateur interculturalist‹: Dieser stelle moralische und ethische Reflexionen ins Zentrum seiner Arbeitspraxis, hinterfrage Ideologien und die ihnen zugrunde liegenden moralischen Werturteile, mache sich Machtunterschiede und die Kontexte symbolischer Gewalt bewusst, besitze Interesse an Differenzen und Ähnlichkeiten und reflektiere in seinen Arbeiten stets die Unmöglichkeit mit, Interkulturalität zur Gänze zu erfassen und zu kontrollieren. Überdies betreibe der amateur interculturalist die Reduktion von Komplexität zugunsten einer, so Dervin, erfrischenden ›simplexity‹. Der Vortrag endete mit einem Plädoyer für mehr Mut zu offenen, unkonventionellen Arbeitsweisen, zu Emotionalität und zu Formen des Spielerischen und des Verträumten in der wissenschaftlichen Arbeit.

Im letzten Vortrag Interkulturalität als Projekt von Manfred Weinberg (Prag) schließlich wurde die Tagung mit einer Neubefragung des Begriffs ›Interkultu-ralität‹ (in Abgrenzung vom zeitlich orientierten Konzept der ›Transkulturalität‹ nach Wolfgang Welsch) zum Abschluss gebracht und zugleich eine neue Perspektive für die Interkulturalitätsforschung eröffnet. Basierend auf gemeinsam mit Dieter Heimböckel angestellten Überlegungen (vgl. Heimböckel / Weinberg 2014) schlug Weinberg vor, Interkulturalität als Methode zur Umgestaltung von Denk- und Handlungsformen zu begreifen, mithilfe derer ein Ausbruch aus dem ›Denken-wie-Üblich‹ (nach Alfred Schütz) erreicht werden könne. Was gilt und was nicht gilt, übersetze Interkulturalität in eine Sprache, die dem Denken unüblich sei. Auf diese Weise werde sie von einer Sache des Wissens zu einer Sache des Nichtwissens und markiere einen Aufbruch ins Ungewisse, dem stets auch die Möglichkeit des Scheiterns innewohne. In diesem Zusammenhang räumte Weinberg dem Staunen als liminalem Phänomen eine zentrale Rolle ein: Im Staunen werde die Begrenztheit des eigenen Wissens manifest, während sich zugleich der Blick für etwas Neues öffne. Unter beispielhafter Bezugnahme auf den durch sprachliche Vermischungen und verflüssigte, situativ veränderbare Identitätsbestimmungen geprägten Prager Stadtraum, die ›Tripolis Praga‹, führte Weinberg aus, dass das Konzept der Grenze als ›border‹ für inter-kulturelle Raumkonzepte zu eng gefasst sei, und schlug daher vor, den – für die Interkulturalitätsforschung wiewohl elementaren – Begriff der ›Grenze‹ durch das Raummodell des Horizonts zu ersetzen: Im Horizont, der keinen von einer Grenze umzirkelten Raum meine, sondern vielmehr einen Raum, für den das Zustandekommen stabiler Einheiten und Grenzziehungen immer wieder aufs Neue diskutiert und erklärt werden müsse, lassen sich instabile Einheiten, vorübergehende Grenzen, Vermischungen und Verschiebungen denken. Auch die Diagnose von Ähnlichkeiten – um auf den zentralen Terminus der Tagung zurückzukommen – werde Weinberg zufolge in diesem Bild möglich. Der Horizont sei nicht zuletzt auch ein angemessenes Raumkonzept für das Projekt der Interkulturalität, welches als Modell mit offenem Zukunftshorizont auf immer wieder initiierten und neu zu reflektierenden Verschiebungen beruhe.

Diesen ›Horizont‹ interdisziplinär abzustecken, war denn auch das erklärte Ziel des Workshops. Dabei wurden Unterschiede in Definition und Anwendung des Interkulturalitätsbegriffs ebenso manifest wie bemerkenswerte Überschneidungen: Neben der Operation mit einem offenen Kulturbegriff und dem übereinstimmenden Verständnis von Kultur als plurale tantum erwiesen sich ›Ähnlichkeit‹ und ›Verflechtung‹ als zentrale Termini des Workshops. Daneben wurden wiederholt narrative Lesarten von Kultur sichtbar, was Dieter Heimbö-ckel in seinem Schlusswort dazu veranlasste, das Forschungsfeld einer »Narra-tologie der Interkulturalität« als mögliche Zukunftsperspektive zu benennen.

Durch seine internationale und interdisziplinäre Zusammensetzung kann der Workshop dazu beitragen, den Begriff der ›Interkulturalität‹ fürderhin breiter aufzustellen – gemäß Ludwig Wittgensteins im Rahmen der Vorträge mehrfach zitierten Diktums: »[W]ir dehnen unseren Begriff [...] aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen.« (Wittgenstein 1984: 278)

Literatur

Heimböckel, Dieter / Weinberg, Manfred (2014): Interkulturalität als Projekt. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H. 2, S. 119-144.

Meyer-Hamme, Johannes (2009): Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Idstein.

Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a.M., S. 225-580.

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