Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit1
Title:Heterogeneity, Homogeneity, Similarity
Keywords:India and Europe; pluriculturality; multilinguality; migration; palimpsest; drawing borders
1.
Zu den Aufgabenbereichen der heutigen Kulturwissenschaften gehört die Reflexion über Transformationsprozesse. In relativ homogenen Gesellschaften führen diese zu einer höheren Komplexität und Heterogenität. In bereits bestehenden heterogenen Gesellschaften aber sind Spannungen zu beobachten, die eine mögliche Auflösung signalisieren können. Große Migrationsbewegungen konfrontieren mit Reterritorialisierungs- und Deterritorialisierungsprozessen im Bereich der Sprache und der Kultur. Sie werfen Fragen wie die nach der Mehrsprachigkeit, des Säkularismus und der Plurikulturalität auf, die durch Prozesse der Homogenisierung und Heterogenisierung gekennzeichnet sind. Hintergrund ist die grundsätzliche Infragestellung von Authentizität durch den Postkolonialismus.
Die Spannung zwischen Prozessen der Heterogenität und Homogenität werden deutlich, wenn wir einen vergleichenden Blick auf Indien und Europa werfen. Wir können den Integrationsprozess Europas als einen Transformationsprozess betrachten, der dahin tendiert, relativ monokulturelle, nationalstaatlich organisierte Einheiten in einem größeren plurikulturellen Gebilde (Europa) aufgehen zu lassen. In diesem Prozess sorgen Migrationen und Globalisierungsvorgänge dafür, dass die einzelnen europäischen Staaten allmählich sprachlich-kulturell heterogener werden. Andererseits werden bereits bestehende heterogene Gesellschaften wie Indien Spannungen ausgesetzt, die Homogenisierungstendenzen fördern. Religiöser Fundamentalismus, linguistischer Chauvinismus und Xenophobie bedrohen die prekäre Balance in einer verfassungsmäßig garantierten säkularen Ordnung. Mehrsprachigkeit sowie kulturelle und religiöse Vielfalt rücken dadurch ins Zentrum der Diskussion. Der wechselseitige Blick zwischen Indien und Europa zeigt uns deutlich, dass unsere gemeinsame Gegenwart die Fähigkeit, sich in mehreren kulturellen Welten einzurichten, entscheidend aufwertet – und zwar als plurikulturelle Kompetenz. Im Folgenden stelle ich einige Aspekte aus diesem Zusammenhang skizzenhaft vor.
2.
Historisch betrachtet waren plurikulturelle Staaten stets gefährdete Staaten. Sie standen unter dem Verdacht, ›unnatürlich‹ zu sein. Auf natürliche Grenzen berief sich die homogene Nation, die angeblich Volksgeister verkörpern sollte. Mit Recht schrieb Adorno, dass Hegels These, wonach »niemand ›den Geist seines Volkes überspringen (könne), sowenig er die Erde überspringen kann‹, […] im Zeitalter tellurischer Konflikte und des Potentials einer tellurischen Einrichtung der Welt krähwinklerisch« sei (Adorno 1997: 334).
In Europa hat das historische Modell, das mit dem mehrsprachigen, plurikulturellen Indien hätte verglichen werden können, nämlich das Habsburgerreich, verloren gegen die von Herder beeinflusste Vorstellung vom möglichst kongruenten Verhältnis zwischen Sprache, Volk und Nation. Es gibt sicherlich mehrere Gründe dafür, nicht zuletzt die interne staatliche Repression in der Monarchie, aber die Dominanz der Ideologie von homogenen nationalen Einrichtungen als den einzig echten und substanziellen Institutionen hat seit dem neunzehnten Jahrhundert sicherlich eine Schlüsselrolle gespielt.
Nach dem Ende Jugoslawiens bleibt Indien der Testfall dafür, dass ethnische, religiöse, sprachliche Vielfalt mit dem Staatsbegriff kompatibel sind. (Basu / Subrahmanyam 1996: 2-4)
Die Tragfähigkeit plurikultureller Gesellschaften wurde durch die postkoloniale Diskussion (zumindest einen Teil davon) in den letzten Jahren besonders thematisiert. Die Erörterung dieser Probleme steht im Zusammenhang mit der Reflexion über den Prozess der Kolonialisierung und Dekolonialisierung und der damit verbundenen Internationalisierung des Felds, worin solche Reflexion stattfindet. Selbstverständlich ist die historische Phase des kolonialen und imperialistischen Systems keineswegs endgültig abgeschlossen. Die offensichtliche Fortsetzung kolonialistischer Vorgehensweisen in der Weltpolitik veranschaulicht diese Feststellung mehr als deutlich. Aber das System asymmetrischer Machtausübung heute ist trotzdem nicht identisch mit dem System vor dem Zweiten Weltkrieg. Insofern begreife ich das Präfix ›post‹ im postkolonialen Schrifttum lediglich als Hinweis auf eine Situation theoretischen Bemühens, die erst nach dem relativen Erfolg der antikolonialen Befreiungsbewegung aktuell wurde. Dieses theoretische Bemühen greift Gedanken auf, die oft fragmentarisch und unsystematisch sind und im Verlauf der antikolonialen Bewegung relevant wurden. Dabei gibt es auffallende Parallelen und Vergleichsmomente zu den politischen und kulturellen Diskussionen (etwa über das Interesse am Kosmopolitismus oder Weltbürgertum), die in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stattfanden und nach 1945 wieder rezipiert wurden.
Die Essays von James Joyce, Robert Musil, Rabindranath Tagore gehören zu einer intellektuellen Konstellation, die immer noch aktuell wirkt. Dies mag das häufige Gefühl des Déjà-vu bei der Lektüre postkolonialer Diskussionen erklären. Aber es ist auch ein Verdienst dieser theoretischen Diskussionen, dass sie an die nachhaltige Aktualität alter Fragen erinnern. Es geht gewissermaßen um unerledigte Aporien.
In unserem Zusammenhang ist es wichtig, dass Kolonialisierung als Teil der widerspruchsvollen Gesamtentwicklung eines Weltsystems in einem Prozess der zunehmenden Vernetzung und Verdichtung begriffen wird. Aus dieser Sicht sind komplexe Kulturformationen wie Europa oder Indien ›Resultate‹ dieser Gesamtentwicklung. Sie sind nicht vorgegebene Wesenseinheiten, die der vollen Entfaltung ihres inneren Potentials harren. Europäische und indische Kulturprozesse etwa bedingen sich wechselseitig, und die ökonomische, politische und kulturelle Neuordnung des kolonialen und postkolonialen Zeitalters wird als ein ineinander verwobener Prozess begriffen. Tendenziell führt dies zu einem ›offenen‹ Kulturverständnis. Grenzen sind dann porös. Kulturelle Übersetzbarkeit wird bei aller notwendigen Problematisierung stets prinzipiell vorausgesetzt. Man hält sich mit der verstehenden Interpretation anderer Kulturen zurück und strebt eher eine gesellschaftliche Umgangspraxis an. Man ist sozusagen tendenziell hermeneutisch abstinent. Komplexität wird aufgewertet. Chaos und Ordnung sind keine ontologischen Gegensatzpaare. Verschiedene Positionen der »Shared History«-Perspektive werden hier deutlich (vgl. Subrahmanyam 1997: 735-737).
Ein gewisser Geschichtsheroismus ist hier zwar auch zu bemerken, doch entscheidend ist die Verabschiedung des Authentizitätsdiskurses. So gesehen ist es kein Zufall, dass viele Überlegungen zum Problem der Diversität und der Spannung zwischen kultureller Integration und Desintegration im Nationalismus aus den historischen Erfahrungen der Kolonialzeit heute noch relevant sind. Es ist bedenkenswert, dass auch die marxistische Diskussion um die Jahrhundertwende plurikulturelle Verhältnisse bewahren wollte. Daran erinnert Samir Amin:
Faced with the reality of national identities, yet concerned to insist upon class interests, socialists have defended positions which, though not always politically effective in the short term, have been noble, worthy and in advance of the times. I am thinking here of the attitudes of the socialist movement within the multinational empires of Europe: the Austro-Marxists of the Austro-Hungarian Empire, and the Bolsheviks of the Russian Empire. The Austro-Marxists wanted to save the large state, but by reconstructing it on the basis of recognition of ethnic, religious and national differences as democratically legitimate. (Amin 1977: 86)
Gewiss gab es viele Probleme in diesem Modell der staatlichen Restrukturierung, nicht zuletzt weil solche Restrukturierungen ohne größere Bevölkerungsverschiebungen kaum verwirklicht werden können. Eine Art interner Homogenisierungsschub unter dem Schutz der Heterogenität ist mit plurikulturellen Kommunikationsformen nicht kompatibel. Damit schafft man nur kulturelle Monaden innerhalb eines Gesamtstaats, was wiederum zum Ausgangspunkt für kleinere, ethnisch homogene Staaten werden kann. Der säkulare Teil der antikolonialen Bewegungen hat deshalb die Notwendigkeit von größeren Staaten betont, die nicht zuletzt als Bollwerk gegen kolonialistische, nach dem Prinzip von divide et impera funktionierende Interessen dienen sollten. Konservative Fraktionen innerhalb der Kolonien haben dagegen Nationen auf der Grundlage von gegenaufklärerischen Gründungsmythen verlangt.
3.
Die Parallelität zwischen Indien und Europa wurde schon früh von dem Dichter Rabindranath Tagore erkannt. Bereits 1919 hat Tagore das Problem der Befreiung Indiens vom äußeren Zwang (Kolonialismus) und die innere Befriedung Indiens (Heterogenität) als zusammenhängende Fragen gesehen. Er hebt Rasse, Sprache, Religion und soziale Ideale als trennende Faktoren, als Merkmale einer disjointed heterogeneity im Land hervor. Die fast unmögliche Aufgabe Indiens bestand für Tagore darin, jene schwierige Einheit zu erzielen, die trotz der real vorhandenen internen Verschiedenheit wahr sein müsse (vgl. Tagore 1996: 400). Die Forderung nach Befreiung sowohl von äußerem Zwang (Kolonialismus) und innerem Zwang (historische Reform) als auch nach einer Neugestaltung des heterogenen Indien mündet bei Tagore in einer konsequenten Ablehnung des Nationalismus, den er als egoistische, exkludierende, zerstörerische, partikularistische und ›dämonische‹ moderne Kraft kennzeichnet: »the collective Egotism of the whole nations« (ebd.: 436). Seine Worte vom »harvest of suspicion, hatred and inhospitable exclusiveness« (ebd.: 472) erinnern an Grillparzers Warnung: »Der Weg der neuern Bildung / Geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität.« (Grillparzer 1960: 500)
Aus einer idealistischen Perspektive hat Tagore zum einen die Spannung zwischen politischer und kultureller Integration bzw. Desintegration beschrieben, zum anderen hat er den Zusammenhang mit dem Nationalismus in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg analysiert. 1923 bemerkt er, dass das Ende des Krieges zwischen den europäischen Mächten nicht zum Abbau nationaler Grenzziehungen und zu einem Zusammenschluss der Völker in Europa geführt hat, sondern im Gegenteil zu einer größeren Fragmentierung: »The minor peoples who lived side by side within the Empire of Austria have burst their bonds and are happy to have their separate existence«, schreibt er, und: »Suppressed distinctions are dangerously explosive« (Tagore 1996: 459). Es kommt auf die Anerkennung der Differenz an, um Einheit zu bewahren. Das Scheitern der Habsburgermonarchie und ihrer ›Idee‹ lag darin, dass diese dialektische Einheit nicht realisiert werden konnte (vgl. Stachel 2002 u. Acham 1988).
Tagores Position ist sicherlich eher als eine Form des romantischen Antikapitalismus zu betrachten, aber sie bleibt trotzdem seltsam zeitgemäß. Die Tatsache, dass der wissenschaftliche Fortschritt die Einheit der Welt fördert, bedeutet für ihn, dass die nationale in die universale Geschichte eingeordnet wird. Seine Ablehnung des bornierten Nationalismus ist gekoppelt mit der Einsicht, dass das wahre Problem Indiens in der Lösung der sozialen Frage liegt. Indiens traditionelle Antwort auf das Problem der Diversität lag in der starren Formel eines unwandelbaren Kastenwesens, das »unbewegliche Mauern« errichtete und so »seinen zahlreichen Rassen die negative Wohltat der Ordnung und Ruhe [gab], aber nicht die positive Möglichkeit der freien Bewegung und Ausbreitung.« (Tagore 1961: 200) Tagore richtet sein Plädoyer gegen das interne, homogenisierende Kastensystem, das im Widerspruch zur historischen Vielfalt in Indien steht.
4.
Auf dem Indischen Subkontinent selbst haben Einsichten wie die von Tagore und die säkulare Ausrichtung der antikolonialen Bewegung unter führenden Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, Nehru und Maulana Azad die Teilung des Subkontinents nicht verhindern können. Die Forderung nach Homogenisierung hat schließlich das Schicksal des indischen Subkontinents geprägt, das in einen religiös relativ homogenen islamischen Teil (Pakistan) und den verfassungsmäßig säkularen Teil des heutigen Indien zerfiel. 1947 ging dieser Vorgang der Teilung (Partition im indischen Sprachgebrauch) mit großen Bevölkerungs-Umschichtungen und einem Genozid einher.
Partitions, die Teilungen – sie galten im vergangenen Jahrhundert als Lösung für Konflikte und waren doch keine Lösungen. Historische Entsprechungen sind bei Konflikten in Irland, Israel / Palästina, Zypern und Jugoslawien zu beobachten. Damit verwoben sind die Grenzziehungen in Deutschland und Korea. Es gibt mehr Beispiele (vgl. Deschaumes / Ivekovic 2003; Hasan 2000). Die internationale Geschichte der Teilungen bildet einen Referenzpunkt für die gewaltsamen Risse in den verschiedenen Lebenswelten des vergangenen Jahrhunderts. Sie zeigt, dass der gewaltsame Akt der Teilung eine scheinbare Permanenz gewinnt, die im Widerspruch zu ihrer Willkürlichkeit steht. Die emblematische Figur des Flüchtlings, der displaced person, bleibt ein internationales Fragezeichen.2
Die Grenze zwischen Indien und Pakistan war das Ergebnis einer bürokratischen Pfuscherei. Sie war aus der Sicht der kolonialen Logik letztendlich lediglich ein kartographischer Riss in einer Fläche. Aber gerade dadurch wurde die Macht der kartographischen Imagination (map making) im Zusammenhang mit dem Kolonialismus erwiesen.3 Partition schaffte eine harte Grenze, die den fließenden Charakter der Übergänge in große plurikulturelle Räume einfriert. Die Ablehnung einer harten Grenze mag als Charakteristikum der plurikulturellen Sichtweise gelten. Im europäischen Zusammenhang – durchaus vergleichbar mit der indischen Situation – hat Hugo von Hofmannsthal den Gedanken an fließende Grenzen hervorgehoben, um die Besonderheit eines übernationalen Österreichs in einer Zeit zu charakterisieren, in der sich Europa dem nationalen Problem widmete (vgl. Hofmannsthal 1979a: 456). Dort, wo das Heterogene existierte, hat die Geschichte nach dem ersten Weltkrieg in Indien wie in Europa die Entstehung von homogenisierten Nationen entscheidend geprägt.
Das wissenschaftliche Interesse am Kolonialismus wollte ordnungsstiftende Strukturen herstellen. Die Beherrschung des vermeintlichen indischen Chaos erfolgte bekanntlich durch eine beispielslose Entfaltung klassifikatorischer und taxonomischer Energie, wodurch Indiens seltsame, zusammenhängende Diversität durch lineare, monochrome Modelle ersetzt wurde. Die Parzellierung der komplexen Gesellschaft diente zur Zeit des Kolonialismus sicherlich dem Herrschaftsmechanismus. Doch die klassifikatorische Energie des kolonialen Unternehmens war auch ein Ausdruck der Angst vor dem vermeintlichen Chaos der Vielfalt im Herz der kolonialen Finsternis. Das politische Endergebnis war die Zerstörung einer plurikulturell funktionierenden Kommunikationssphäre (vgl. Cohn 1985). Diese öffentliche Sphäre war keine ideale, befriedete Gesellschaft, sie war eben nur eine vielfältige, diverse, mehrsprachige Gesellschaft. »Mehrfachkodierung« war hier Normalzustand (Csáky 1996: 254; Feichtinger 2007). Ein Beispiel ist die systematische Kodifizierung der Volkssprachen Indiens, welche ein wichtiges Anliegen des britischen Kolonialismus war. Die Pluralität von gesellschaftlicher Kommunikation wurde durch das starre lexikographische klassifikatorische Prinzip ersetzt und administrativ durchgesetzt. Sprachen galten als autonome Gebilde und wurden entsprechend kodifiziert. Hindi und Urdu zum Beispiel bildeten eine nordindische Sprachgemeinschaft. Die Hindi-Variante wird in der aus dem Sanskrit abgeleiteten Devanagari-Schrift, die Urdu-Variante in der persischen Schrift geschrieben. Wenn man die Devanagari-Schrift und Sanskrit mit ›Hindu‹ und die Urdu-Schrift und Persisch mit ›Moslem‹ konnotiert, hat man den Keim eines religiösen Konflikts, der eine plurikulturelle Konstellation zerstört und binäre Strukturen aufbaut.
Im Anschluss an Habermas und die Diskussion über den Öffentlichkeitsbegriff hat Bayly eine nordindische, kosmopolitische ›Ökumene‹ im frühen achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert skizziert. Diese war zwar keine Friedensutopie, doch sie weichte religiöse und kastenorientierte Grenzen auf, ohne sie vollkommen zu verwischen. Diese Ökumene sorgte sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Kommunikationszusammenhang für die Entstehung von Hindustani als einer synkretistischen Integrationsvariante von Hindi und Urdu. Sie unterstützte die horizontale gesellschaftliche Mobilität. Der Bazar war ihr Austragungsort. So zerfiel sie allmählich in binäre Strukturen, die zur gesellschaftlichen und sprachlichen Homogenisierung führten. Mehrere Faktoren waren am Prozess der Herstellung einer überschaubaren Gesellschaft aus ›Sprachnationen‹ beteiligt. Im britischen Indien begann diese Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert, wobei der Konflikt zwischen Urdu und Hindi durch die Aspirationen einer neuen aufstrebenden Hindu-Mittelschicht (middle class) mitbedingt wurde, die Arbeit, Anerkennung und Macht suchte. Die moslemische Aristokratie hat Urdu als Symbol ihrer eigenen Differenz in Richtung Persisch verfeinert. Die Sanskritisierung von Hindi war das Pendant. Britische Kolonialinteressen und die Druckereien der Missionare gehörten zu einer Konstellation, in welcher die bedrängte moslemische Oberschicht, die aufstrebenden Hindu-Eliten und eine koloniale Administration aus einem sprachlichen Kommunikationszusammenhang zwei Sprachlager kreierten, die dann auch zwei Religionsgemeinschaften schaffen und trennen sollten (vgl. Bayly 1996: 298; Rai 2001; Rahman 1997). Der Keim der staatlichen Teilung des indischen Subkontinents lag in der Konstruktion dieser binären Differenz.
5.
Insofern man den Mythos des Turmbaus zu Babel unter anderem auch als eine Erzählung gegen die Sprachenvielfalt lesen kann, ist er konstitutiv für die »europäische Sprachideologie«: »Einheit der Sprache ist gut, paradiesisch, Vielfalt der Sprache ist schlecht, sie ist Strafe und Verlust, Verlust der ursprünglichen paradiesischen Einheit und der ursprünglichen richtigen Wörter« (Trabant 2003: 21). Solche Beurteilungen haben jedoch zur Folge, dass jegliche Bemühung, sprachliche Vielfalt als etwas Positives zu denken, weitgehend zum Scheitern verurteilt ist. Der paradiesische Urzustand der Monoglossie bestimmt die europäische kulturelle Imagination als Idealzustand, er wirkt in der Ideologie des Kolonialismus nach. Sprachwissenschaftler aus Indien haben stets auf den Unterschied zwischen dem Westen und Indien in der Haltung zur Mehrsprachigkeit hingewiesen:
The dominant monolingual orientation is cultivated in the developed world and consequently two languages are considered a nuisance, three languages uneconomic and many languages absurd. In multilingual countries many languages are facts of life; any restriction in the choice of language use is a nuisance, and one language is not only uneconomic, it is absurd. (Pattanayak 1984: 82)
In monosprachigen Traditionen kann es leicht dazu kommen, dass Einsprachigkeit wie eine anthropologische Grundkonstante erscheint, alles andere dagegen als Abweichung. Es gibt eine Tradition der Reserve gegenüber Mehrsprachigkeit in den europäischen Nationalstaaten der Neuzeit. Symptomatisch war die Lehrmeinung des Sprachwissenschaftlers Leo Weisgerber, dass
der Mensch im Grunde einsprachig angelegt ist […] dass die geistige Anverwandlung der Welt die Geschlossenheit einer Muttersprache erfordert (sowie man auch nicht erwartet, dass jemand in zwei Religionen lebt) und dass mit dem Zusammentreffen der für erfüllte Zweisprachigkeit nötigen Vorbedingungen nie in dichter Häufigkeit zu rechnen ist. (Weisgerber 1966: 85)
Sowohl der Vergleich mit Religion als auch das Beiwort »erfüllt« und Ausdrücke wie »Sprachvermengung« sind hier bezeichnend. Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit werden dagegen aus einer puristischen Sichtweise als Sonderfälle betrachtet. Aus der Sicht einer historisch gewachsenen mehrsprachigen Gesellschaft bleibt das jedoch unverständlich. Die Schriftstellerin und Journalistin Mrinal Pande wendet daher ein: »Speaking more than two languages not only constantly extends the boundaries of one’s vocabulary, but it also sharpens the mind and unlocks children’s latent creativity in no small measure.« (Pande 2006)4
Der Kontrast zur Lehrmeinung könnte größer nicht sein. Puristen haben stets Schwierigkeiten mit dem kreativen Potential von plurikulturellen Situationen und dies ist auch der Grund, weshalb sprachliche und kulturelle Grenzen errichtet werden. Vielleicht kann die Abneigung gegen den Purismus geradezu als Indiz für eine positive Haltung zur Mehrsprachigkeit gelten. Mario Wandruszkas Hinweis, dass unsere heutigen Sprachen das Ergebnis vieler Jahrhunderte immer neuer Mehrsprachigkeiten und Sprachmischungen seien, wäre in Indien selbstverständlich.5 Die dominante Ideologie des Monolingualismus in Europa zielte aber stets darauf, der aktiven kreativen Nutzung urbaner Mehrsprachigkeit einen Substanzverlust an Authentizität zu suggerieren.6
Es überrascht nicht, dass Gegenpositionen zur monosprachigen Ideologie aus der Schweiz und Österreich, wo Mehrsprachigkeit schon immer ein Thema war, jetzt häufiger ins öffentliche Bewusstsein vorrücken, und der Schweizer Autor Hugo Loetscher gehört zu jenen Schriftstellern der Gegenwart, welche die Mehrsprachigkeit in unserer Zeit aufgewertet haben. Er erinnert daran, dass die Erfahrung des Sprachwechsels dazu beiträgt, »dass man das Blut-und-Bodige vom Echten und Wahren aufgibt. Wahr und echt ist nicht die Sprache, die man benutzt, sondern was man mit dieser Sprache anfängt und erreicht.« (Loetscher 2000: 50) Da ist das Spielerische und Ironische durchaus willkommen. In einer Formulierung von Heimito von Doderer wird flexible Sprachdisposition vom Wien der Jahrhundertwende durchaus ironisch und sicherlich auch doppeldeutig als »polyglotte Bereitwilligkeit der Stadt« charakterisiert (Doderer 1971: 324).
Der Ausdruck erfasst aber das Sprachverhalten in der plurikulturellen Situation der großen urbanen Zentren der postkolonialen Welt sehr exakt. Die auf Englisch schreibende indische Schriftstellerin Shashi Deshpande reagiert auf die Forderung, dass authentische Literatur nur in der ›Muttersprache‹ geschrieben werden kann, mit den Worten:
[M]ost of us Indians learn to live with more than one language, moving swiftly from one to another according to the need. The note of astonishment with which it is said that the poet Bendre wrote in Kannada, even though his mother tongue was Marathi, seems to me unwarranted. Why is it surprising? The language of creativity need not necessarily be the mother tongue, though it may very often be that; the two are not synonymous. (Deshpande 2003: 66)
6.
Fundamentalismen aller Richtungen, die sich kulturelle Homogenisierung und Purismus zum Ziel gesetzt haben, um Diversität, Fuzzy-Situationen, Porosität der Grenzen, multiple Identitäten als »unnatürlich« zu stigmatisieren, können solche Haltungen nicht akzeptieren (Wandruszka 1979: 233). Hugo von Hofmannsthal hat einen schönen Ausdruck für die österreichische Umgangssprache in Wien gefunden: »Es war sicherlich unter allen deutschen Sprachen die gemengteste; denn es war die Sprache der kulturell reichsten und vermischtesten aller Welten« (Hofmannsthal 1979b: 363; Hervorh. A.B.). Solche Welten gab es in anderen Teilen der Welt wie in Indien, und sie entstehen jetzt erneut in Europa. Vielleicht ist der Hinweis relevant, dass Mehrsprachigkeit in Indien nicht eine Sache der Elite ist. Den Angaben der Anthropological Survey of India zufolge sind über 65 Prozent der ›communitys‹ Indiens zweisprachig, viele gar dreisprachig (vgl. Singh / Manoharan 1993). Mehrsprachigkeit ist daher in Indien keine isolierte Erscheinung, sondern muss als etwas nicht Überraschendes, als etwas Normales betrachtet werden. Aber die funktionierende Mehrsprachigkeit in Indien ist schwer zu definieren. Es ist eher so, als ob eine multilinguale Kompetenz eine metasprachliche Referenzebene schafft, welche die Kommunikation hinreichend ermöglicht. Ich betone ›hinreichend‹, denn gelungene mehrsprachige Konstellationen zielen nicht auf Sprachperfektion ab. Nichts ist der Mehrsprachigkeit abträglicher als Purismus und Perfektionismus. Vereinfachende behavioristische Modelle von code switching, die Assoziationen an Schalthebel hervorrufen, welche zu einer mechanistischen Vereinfachung der mehrsprachigen Kompetenz führen können, können die mehrsprachige Disposition kaum erfassen.
Mehrsprachigkeit ist vielleicht eher mit performativen Begriffen wie Sprachhabitus und Sprachrepertoire zu erfassen. Man wächst auf mit dem Klang vieler Sprachen. Die Andersheit anderer Sprachen wird nicht mit Fremdheit gleichgesetzt. Man lernt früh, mit Sprachen zu spielen. Mehrsprachigkeit wäre mit einer musikalischen Metapher zu umschreiben. Die Fähigkeit, mit dem musikalischen Material umzugehen (die musikalische Kompetenz), erlaubt dem Musiker so etwas wie ein freies Spiel. Er kann variieren, Stillagen wechseln, in verschiedenen Tonarten sich ausdrücken. Mehrsprachigkeit ist etwas Vergleichbares. Man geht mit einem Sprachrepertoire um, wie man mit einem Musikrepertoire umgeht, und zwar in einem gesellschaftlichen Umfeld, wo dies akzeptiert wird und nicht als Verstoß gegen ein Reinheitsgebot (die reine Muttersprache) gilt. Das Verhältnis zwischen den Sprachen im mehrsprachigen Repertoire ist nicht das Verhältnis zwischen Muttersprache und Fremdsprache. Sämtliche Versuche, natürliche mehrsprachige Situationen zu sabotieren (Purismus, Sprachreinigungsprogramme), wollen durch Homogenisierungsvorgänge einen Zustand herbeiführen, wo es um bilaterale Verhandlungen zwischen der ›eigenen‹ und der ›fremden‹ Lebenswelt geht. Aber das Verhältnis zwischen Hindi, Englisch, Tamil, Urdu, Punjabi usw. in einer polyglotten Stadt wie New Delhi kann nicht mit dem Verhältnis zwischen Mutter- und Fremdsprachen charakterisiert werden. Es sind andere Sprachen, die in einem Regenbogenverhältnis zueinander stehen.
7.
Vieles spricht dafür, dass unser Migrationszeitalter auch hier dafür sorgen wird, dass wir zu immer neueren Varianten von Mischkulturen gelangen, in denen wir zu mehrsprachigen Bewohnern von polyglotten Metropolen in plurikulturellen Staaten werden. Aber dort, wo emotive, symbolische Funktionen der Sprache traditionelle, gesellschaftliche und kommunikative Funktionen verdrängen, gewinnen Homogenisierungsmomente den Vorrang und plurikulturelle Verhältnisse brechen zusammen.
Tagore, der diese Gefahr deutlich gesehen hat, warnte während der indischen Freiheitsbewegung im zwanzigsten Jahrhundert vor dem »communal bias« in der Entwicklung von Hindi als Lingua franca in Indien und auch vor dem Purismus. Wenn Hindi die Nationalsprache eines freien Indien werden sollte, sollte sie »the double current of Sanskrit and Persian literatures that have been working side by side for the last many centuries« wirklich repräsentieren und Fremdwörter mutig einbürgern (Tagore 1996: 737).
Tagores Hinweis auf den Doppelstrom der indischen Geschichte, der die Utopie einer synkretistischen Hindu-Muslim-Kultur entwarf, ist bereits ein früher Hinweis auf die Perspektive von shared histories in Indien. Geschichte, als Verflechtungszusammenhang betrachtet, bildet einen wesentlichen Aspekt des kulturtheoretisch wichtigen Palimpsest-Gedankens, welcher Kulturen als historisches Resultat von vielen Schichtungen begreift. Dieser Gedanke richtet sich gegen monokausale, nach Wurzeln strebende Authentizitätsdiskurse. Bei Tagore gibt es ein Bild, das mit der heutigen Metaphorik des Rhizoms vergleichbar ist: »I would rather insist on the inexhaustible variety of the human race, which does not grow straight up, like a palmyra tree, on a single stem, but like a banian tree spreads itself in ever-new trunks and branches.« (Ebd.: 399)
Auch das Rhizom, eine Idee, die von Deleuze und Guattari eingeführt wurde, ist charakterisiert durch Heterogenität und durch seine Fähigkeit, beliebige Verbindungen zwischen sehr diversen Bereichen herzustellen. In der Nachfolge der nationalistischen Ideologie des neunzehnten Jahrhunderts gilt es aber als selbstverständlich, dass die ›natürliche‹ Ordnung für die staatliche Organisation von Menschen eine sprachlich, ethnisch und religiös möglichst kompakte Ordnung mit eigenen Wurzeln sein sollte. Als Gegenmodell zu solchen von Herder stammenden Vorstellungen dient die lose zusammengebundene, mehrsprachige und plurikulturelle Gesellschaft, deren Kulturvorstellung im Bild des Palimpsests zu suchen ist. Kulturen werden hier als Resultat von immer neuen Schichtungen begriffen – eben wie in einem Palimpsest, das immer neu übermalt oder beschriftet wird. Jene Schichtungen sind selbst Ergebnisse des historischen Wandels. Das Bild des Palimpsests negiert sowohl den Authentizitätsdiskurs als auch die Homogenisierungsthese. Interessanterweise verwenden sowohl Victor Hugo als auch Jawaharlal Nehru das Bild für ihre jeweiligen Kontinente. Hugo fasste die griechisch-römische Zivilisation als einen Schmelztiegel auf, in dem Etrusker, Iberer, Slawen und Kelten zu finden sind. Indien ist für Nehru das Resultat arischer, dravidischer, mongolischer, türkischer, arabischer zivilisatorischer Einflüsse (vgl. Nehru 1997: 59; Hugo 1982: 442; vgl. auch Bhatti 2005). Die kulturelle Bedeutung des Palimpsests liegt jedoch darin, dass nur die Ganzheit von Schichtungsprozessen Gültigkeit besitzt. Keine Einzelschichtung, zu der man etwa durch einen Akt der Reinigung oder Wegradierung vorstoßen würde, kann den Authentizitätsanspruch usurpieren. Bei dem Prozess der Schichtung kommt es nämlich auf das Plurale an, also auf Fülle und Reichtum im historischen Prozess. Wenn die fortschreitende Schichtung als zunehmender Verlust an Authentizität aufgefasst wird, ist das Gegenteil der Fall. Das sogenannte wirkliche Indien, wenn man es denn wirklich will, liegt also nicht in einer Urschicht oder in irgendeiner Wurzel, sondern in der Ganzheit und Gleichzeitigkeit eines mehrschichtigen Prozesses. Dies ist ein Gedanke, der durchaus mit Ernst Blochs Vorstellung von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« verglichen werden kann. Genau genommen wäre die Urschicht eines Palimpsests ein leeres Blatt. Der Gang zu den Wurzeln und zur Authentizität würde in einer plurikulturellen Gesellschaft daher ins Leere führen.
8.
Diese Momentaufnahmen zeigen: Die trennenden Merkmale der Homogenisierung (Rasse, Ethnie, Sprache und dergleichen mehr) können nicht als zwingende substantielle Unterscheidungsmerkmale für jene gesellschaftliche Organisationsform, die wir Staaten nennen, betrachtet werden. Dieser Gedanke findet sich schon bei James Joyce:
Our civilization is a vast fabric, in which the most diverse elements are mingled, in which Nordic aggressiveness and Roman Law, the new bourgeois conventions and the remnant of a Syriac religion are reconciled. In such a fabric, it is useless to look for a thread that may have remained pure and virgin without having undergone the influence of a neighbouring thread. What race, or what language (if we except the few whom playful will seems to have preserved like ice, like the people of Iceland) can boast of being pure today? And no race has less right to utter such a boast than the race now living in Ireland. Nationality (if it really is not a convenient fiction like so many others to which the scalpels of present-day scientists have given the coup de grace) must find its reason for being rooted in something that surpasses and transcends and informs changing things like blood and the human word. The mystic theologian who assumed the pseudonym of Dionysius, the pseudo-Aeropagite, says somewhere, »God has disposed the limits of nations according to his angels«, and this probably is not a purely mystical concept. (Joyce 2000: 118)
Auch Ludwig Wittgenstein hat eine Überlegung angestellt, die unser Thema berührt. »Wir können einen Begriff ausdehnen«, schreibt er,
wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.
Wenn aber Einer sagen wollte: ›Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten‹ – so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern. (Wittgenstein 1975: 58)
In diesem Sinne stellen sich plurikulturelle und heterogene Gesellschaften als »ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen«, dar. (Ebd.: 57) Ähnlichkeit (similarity) wäre somit als universalistische, humanistische Perspektive zu verstehen. Sie beruht auf Solidarität, welche partikularistische Bindungen relativiert und an deren Stelle eine plurikulturelle Kommunikationsgesellschaft entwirft. Im Recht auf Ähnlichkeit und Solidarität könnte man vielleicht die Signatur von plurikulturellen Lebensformen sehen (vgl. Amin 1999: 91).
9.
Komplexe Gesellschaften werden durch das Zusammenwirken von verschiedenen halbautonomen Logiken von gesellschaftlich determinierenden Faktoren wie Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Religion usw. gekennzeichnet. Es kennzeichnet heterogene Gesellschaften, dass sie ein dialektisches Zusammenwirken all dieser Faktoren ermöglichen. Das utopische Ziel der Gesellschaft besteht darin, verschiedene Logiken im Interesse an Pluralität auszubalancieren. Das bedeutet wiederum, dass heterogene Gesellschaften stets verschiedene Möglichkeiten haben, um zu einer vorläufigen Kohärenz zu kommen. Die Form der spezifischen Kohärenz hängt vom Ergebnis verschiedener sozialer, politischer, ideologischer und ökonomischer Kämpfe ab. Homogenisierung bedeutet die vollständige Privilegierung von einer dieser Logiken, so dass ihr alle anderen untergeordnet werden. Auf diese Weise entsteht Fundamentalismus. Er transformiert Unterscheidungsmerkmale in Trennungsmerkmale. Insofern muss das Recht auf Differenz vom Recht auf Ähnlichkeit abgelöst werden. Die plurikulturelle Lebensform wäre dann gekennzeichnet durch die Betonung der Ähnlichkeit in der Diversität und nicht durch die Einheit trotz Diversität (vgl. ebd.: 42).
Da es in komplexen Gesellschaften um einen bewussten Umgang mit Vielfalt geht, können wir sogar von einer operativen Kunst des Umgangs mit den Anderen reden. Wir könnten dann suggerieren, dass gelungene plurikulturelle Gesellschaften einen Habitus fördern, der uns erlaubt, so etwas wie hermeneutische Abstinenz zu pflegen und den Blick auf Ähnlichkeiten zu schärfen. Wichtiger als den Anderen zu verstehen und eine dichotomisierende Hermeneutik des Verhältnisses zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu entwickeln, wäre die bewusste Entwicklung einer Praxis, die uns erlaubt mit den Anderen auszukommen. Dies wäre eine Haltung, die gegen die Einfrierung von Parallelgesellschaften wirkt und die Suche nach Solidaritätslinien unterstützt, die grenzüberschreitend sind und Heterogenität fördern.
Anmerkungen
1 | Erstabdruck in: Allerkamp, Andrea / Raulet, Gérard (Hg.; 2010): Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüberschreitende Disziplin? Münster, S. 250-266. Die Wiedergabe des Textes erfolgt nach den Einrichtungsmodalitäten der ZiG.
2 | In der literarischen Produktion zwischen Indien und Pakistan stellt Sa’adat Hasan Mantos (1912-1955) geniale Urdu-Erzählung Toba Tek Singh (1955), die aus der großen Zahl der literarischen Verarbeitungen der Teilung des indischen Subkontinents herausragt, eine Reflexion über die mörderische Logik der Grenzziehung zwischen Indien und Pakistan im Jahre 1947 an. Die Partition hat große Bevölkerungsgruppen nach Religionsmerkmalen (hauptsächlich Moslems gegen Hindus und Sikhs) dividiert, Migrationsströme über eine künstlich gezogene Grenze in Bewegung gesetzt und einen der schlimmsten Massenmorde des 20. Jahrhunderts verursacht. Vgl. Manto 1955.
3 | W. H. Audens Gedicht Partition hat die Hast festgehalten, in der der britische Beamte Sir Cyril Radclife ohne eine gesicherte Informationsgrundlage über das Schicksal von Millionen entscheiden musste. Vgl. Khilnani 1997: 200, und Bhatti 1998.
4 | Vgl. auch Elias Canettis bekannte Schilderung seiner mehrsprachigen Jugend in Rustchuk (Canetti 1977) und das Zeugnis des Romanisten Wilhelm Theodor Elwert (1986).
5 | Vgl. Wandruszka 1991: 9. Wandruszkas Titel »Wer fremde Sprachen nicht kennt …« zitiert Goethes Maxime: »Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.«
6 | In diesem Zusammenhang bleiben Goethes Gedanken zur Weltliteratur seltsam aktuell. In Epochen geselliger Bildung spricht er von vier Entwicklungsstadien der Bildung. Nur in der ersten hält man sich mit »Vorliebe auf die Muttersprache«. Danach »verweigert man die Einwirkung« der »fremden Sprachen« nicht und gelangt zur »Überzeugung, wie nothwendig es sei, sich von den Zuständen des augenblicklichen Weltlaufs im realen und idealen Sinne zu unterrichten. Alle fremde Literaturen setzen sich mit der einheimischen ins Gleiche, und wir bleiben im Weltumlaufe nicht zurück«. (Goethe 1977: 959f.)
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