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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 6. Jahrgang, 2015, Heft 1: Angemaßte Autorschaft – Der Nationalsozialismus, der Kolonialismus und das Sprechen der Subalternen in Michael Krügers Roman Himmelfarb (Axel Dunker)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 6. Jahrgang, 2015, Heft 1

Angemaßte Autorschaft – Der Nationalsozialismus, der Kolonialismus und das Sprechen der Subalternen in Michael Krügers Roman Himmelfarb (Axel Dunker)

Angemaßte Autorschaft

Der Nationalsozialismus, der Kolonialismus und das Sprechen der Subalternen in Michael Krügers Roman Himmelfarb

Axel Dunker

Abstract

In his novel Himmelfarb, Michael Krüger tells the story of a pretended authorship: A young Nazi anthropologist publishes under his own name the manuscript of his exiled Jewish companion that he mistakes for having died during their expedition to Latin America. Read in a postcolonial context and against the background of Gayatri Spivak’s »Can the Subaltern Speak«, the problem of stolen authorship poses the question of how colonial subjects and their voices can possibly be represented in European literature.

Title:

Pretended Authorship. National Socialism, Colonialism and Subaltern Speech in Michael Krüger’s Novel Himmelfarb

Keywords:

colonialism; post-colonialism; ethnography; subaltern speech

In Diskussionen mit afrikanischen Germanisten über interkulturelle Literaturwissenschaft und postkoloniale Studien wird immer wieder die Frage nach dem Sprechen, nach der Sprachmöglichkeit des kolonialen Subjekts aufgeworfen. Nach wie vor wird diese Frage von den afrikanischen Kolleginnen und Kollegen mit sehr viel mehr Nachdruck gestellt als von den europäischen. Das sollte auch europäische Germanistinnen und Germanisten immer wieder neu dazu führen, über das Sprechen der Subalternen nachzudenken und damit auch darüber, was die berühmte Frage Gayatri Spivaks »Can the Subaltern Speak?« eigentlich für die deutschsprachige Literatur bedeutet. Diese Frage hängt auch zusammen mit der nach dem ›Gedächtnis des Kolonialismus‹, denn was nicht zur Sprache kommt, kann auch nur schwer einen Weg ins Gedächtnis finden. Nachzudenken wäre dabei jedoch auch über Möglichkeiten indirekter, metonymischer Repräsentation, wie sie in der Literatur zum Komplex Auschwitz entwickelt worden sind (vgl. z.B. Dunker 2003).

Uwe Timm, Autor eines kanonisch gewordenen antikolonialen Romans, hat bekanntlich die Frage nach dem Sprechen der Subalternen für den deutschsprachigen Roman so beantwortet, dass er die Möglichkeit der Empathie, die zu dem Versuch eines Sprechens aus der Perspektive der Subalternen führen könnte, als Anmaßung, als wiederum kolonialen Akt, verwirft (vgl. Hamann / Timm 2003). Stattdessen wendet er in Morenga (1978) ein Verfahren polyperspektivischer Rede an, in dem die stimmlose Figur Morenga das leere Zentrum besetzt. Spivaks Frage soll im Folgenden noch einmal diskutiert werden anhand eines Romans, der die Ethnologie, der etwa die Möglichkeit »dichter Beschreibung« (Clifford Geertz) zur Verfügung steht, vordergründig mit dem Problem des Plagiats verbindet, hinter dem auch das Problem der Möglichkeit oder Unmöglichkeit authentischen Sprechens aufscheint: Michael Krügers Roman Himmelfarb (1993).

Für Geertz liegt das Problem der Ethnologie nicht im Sprechen oder Nichtsprechen der untersuchten Subjekte, sondern im Lesen: »Ethnologie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen […], das fremdartig, verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist« (Geertz 2001: 15). »Die Kultur eines Volkes«, so schreibt er in seiner berühmten Abhandlung über den balinesischen Hahnenkampf, »besteht aus einem Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen.« (Ebd.: 259) Gayatri Spivak würde wohl dagegen einwenden, dass es koloniale Subjekte gibt, die gar nicht die Möglichkeit haben, zu diesem Ensemble von Texten beizutragen. Im Zentrum ihres berühmten, zuerst 1988 erschienenen Aufsatzes Can the Subaltern Speak? (in der Bedeutung sowohl von »Können Subalterne sprechen?« wie von »Kann die Subalterne – als Frau – sprechen?«) steht die Frage, so sei noch einmal in Erinnerung gerufen, »wie das Subjekt der Dritten Welt innerhalb des westlichen Diskurses repräsentiert wird« (Spivak 2008: 19). In harter Kritik an westlichen Intellektuellen, namentlich an Michel Foucault und Gilles Deleuze, spricht sie Intellektuellen als Theoretikern ebenso wie einer Partei oder einer Gewerkschaft grundsätzlich die Möglichkeit ab, stellvertretend für die als Subalterne bezeichneten kolonialisierten Subjekte der ›Dritten Welt‹ zu sprechen, sie im westlichen Diskurs zu repräsentieren. Im Anspruch, dies zu tun, sieht sie »[z]wei Bedeutungen von Repräsentation […] miteinander vermischt: Repräsentation als ›sprechen für‹, wie in der Politik, und Repräsentation als ›Re-präsentation‹, als ›Dar-stellung‹ bzw. ›Vor-stellung‹, wie in der Kunst oder der Philosophie« (ebd.: 29). Indem die westlichen Intellektuellen die »um sich selbst wissenden, politisch klugen Subalternen« zu repräsentieren vorgeben, repräsentieren sie für Spivak eigentlich nur »sich selbst als transparent« (ebd. 29f.). Dagegen gilt es ihrer Meinung nach darauf zu bestehen, »dass das kolonisierte subalterne Subjekt unwiederbringlich heterogen ist« (ebd.: 49), dass es sich also aus vielen Einzelsubjekten zusammensetzt, die sich in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellungen innerhalb der grundsätzlichen Subalternität befinden. Kann es dann aber eine positive Antwort auf die Frage geben, ob die Subalternen sprechen können, wenn vorausgesetzt ist, dass ihnen in mehrfacher Hinsicht die Zugangsmöglichkeiten zum westlich bestimmten globalen Diskurs fehlen?

Erschwert wird dieses Problem noch durch die Stellung der subalternen Frau. »Wenn die Subalternen im Kontext kolonialer Produktion keine Geschichte haben und nicht sprechen können, dann ist die Subalterne als Frau sogar noch tiefer in den Schatten gedrängt« (ebd.: 57). Innerhalb der häufig paternalistisch strukturierten subalternen Gesellschaft ist die Frau gleichsam doppelt kolonialisiert und stumm.

Die Lösung kann für die Intellektuellen der ›Ersten Welt‹ nicht darin liegen, sich einfach der Stimme zu enthalten. Wohl aber geht es darum, »die Maske abwesender Nicht-Repräsentierter« (ebd.: 67) abzulegen. An die Stelle der Anmaßung der stellvertretenden Repräsentation sollte nach Spivak »die anhaltende und sich entwickelnde Arbeit am Mechanismus der Konstitution des / der Anderen [treten]; wir können uns ihrer mit viel größerem analytischem und interventionistischem Gewinn bedienen, als dies im Falle der Anrufungen der Authentizität des / der Anderen möglich ist« (ebd.: 72).

Gayatri Spivaks Überlegungen zum Sprechen der Subalternen sind für die postkoloniale Literaturwissenschaft auch daher von großer Bedeutung, weil sich das Problem der Repräsentation im doppelten Sinne des stellvertretenden Sprechens für ›Andere‹ wie der Darstellung von ›Anderen‹ im Bereich der Literatur immer stellt, wenn es um die Auseinandersetzung mit interkulturellen oder kolonialen Problemen und Begegnungen im weiteren Sinne geht.

Doch nun zu Michael Krügers Roman. Krüger, der kürzlich seine Position als Leiter des Hanser Verlags aufgegeben hat, ist bekannt geworden auch als Lyriker und als Autor einer ganzen Reihe von Romanen. Im Zentrum seines Romans Himmelfarb steht ein achtzigjähriger, gefeierter Ethnologe namens Richard, der ein berühmtes Buch über das Leben der Indianer in Südamerika geschrieben hat, das er in den dreißiger Jahren auf einer Expedition erkundet hatte. Als sein Buch nun auch in hebräischer Übersetzung in Israel erschienen ist, erhält er einen Brief von einem Reisegefährten jener Expedition. Leo Himmelfarb, so sein Name, den der Ethnologe todkrank in Brasilien zurückgelassen hatte, ist gar nicht gestorben damals und droht nun damit, die Lebenslüge des gefeierten Forschers publik zu machen: das besagte Buch ist gar nicht von ihm, sondern stammt komplett aus der Feder Himmelfarbs. Als auch noch sein letzter Gefährte, ein Hund namens Stanley, gestorben ist, verkauft der Ethnologe sein Haus in München und reist nach Korfu, um dort Himmelfarb zu treffen. Doch dieser erscheint nicht. Der Ethnologe, der zugleich der Erzähler des Romans ist, deponiert seine Bekenntnisse über sein Plagiat in einer Aktentasche am Strand, damit sie von Urlaubern gefunden werden.

Monika Albrecht hat vor zehn Jahren in der bisher einzigen Einzelstudie zu Krügers Roman gezeigt, dass die Figur des Ethnologen »deutlich in Anlehnung an ein berühmtes Vorbild konzipiert [ist], nämlich an den Fall des polnischen Ethnologen Bronislaw Malinowski« (Albrecht 2005: 255), bei dessen Argonauten des westlichen Pazifik (Malinowski 1922) es sich zwar um kein Plagiat handelt, dessen dort bekundete Anerkennung der Lebensweise der Trobriander aber ebenso durch rassistische Ausfälle in den posthum veröffentlichten Tagebüchern (Malinowski 1985) dieser Reise konterkariert wird, wie das bei dem Ethnologen aus Himmelfarb der Fall ist. Tatsächlich findet sich auch Malinowskis berühmter Terminus »teilnehmende Beobachtung«, mit der er seine Methode der Feldforschung belegt, in Krügers Roman (Krüger 1993: 129; vgl. Albrecht 2005: 256, und Kohl 1987). Monika Albrecht hat sehr zutreffend beschrieben, dass in Himmelfarb »diese gegensätzlichen Positionen auf zwei Figuren verteilt« sind. Leo Himmelfarb steht für die »Anerkennung kultureller Gleichwertigkeit in der Differenz«, die rassistischen Ausfälle des Erzählers werden mit dessen Beeinflussung durch »Konzepte des Nationalsozialismus« erklärt (Albrecht 2005: 256f.) Albrecht hebt in ihrer Analyse des Romans darauf ab, »daß der Roman Himmelfarb sich sehr kritisch mit dem Topos der Hybridität auseinandersetzt«, worin sie einen Beitrag Michael Krügers zum Postkolonialismusdiskurs sieht: Es gehe Krüger darum, »den Enthusiasmus um das Phänomen kultureller Hybridität deutlich zu dämpfen« (ebd.: 259).

Dem soll hier keineswegs widersprochen werden. Stattdessen wird ein anderer Aspekt ins Zentrum der Untersuchung gestellt, nämlich – wie schon angedeutet – die Frage nach dem Sprechen der und über die Kolonisierten bzw. nach dem kolonialen Subjekt.

Diese Frage ist nicht zu trennen von der Frage nach dem Autor oder – allgemeiner gefasst – von der Frage nach der Autorschaft. Im Roman Himmelfarb haben wir es zunächst mit gefälschter Autorschaft zu tun, jemand maßt sich an, Autor eines Buches zu sein, zu dem er keine Zeile beigetragen hat. Der ›wahre Autor‹ ist aber keine beliebige Person, sondern ein jüdischer Schriftsteller, der aus Nazideutschland emigrieren musste. Dass dies kein nebensächliches Motiv für den Roman ist, zeigt sich schon darin, dass Krüger die Malinowski-Geschichte zeitlich und räumlich verlegt: Malinowski trat seine Reise in die Südsee 1914 an, die Argonauten der westlichen Welt erschienen bereits 1922. Der Ethnologe Richard und Leo Himmelfarb dagegen unternehmen ihre Reise in den brasilianischen Urwald in den frühen vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. (Die Ortsverschiebung – von der Südsee nach Brasilien – ist wohl dadurch zu erklären, dass Lateinamerika ein weitaus häufigeres Ziel für deutsche Emigrantinnen und Emigranten war als die Südsee.) »Mein Professor«, so teilt der Ich-Erzähler mit, »hatte mir eingeschärft, keineswegs Kontakt zu Emigranten zu suchen, Kommunisten oder Juden oder beides zusammen, da Gefahr bestand, daß sie Einfluß nehmen könnten auf meine Forschung« (Krüger 1993: 29). Genau das geschieht aber: In einer »Spelunke« (ebd.: 26) in São Paulo wird ihm, der am liebsten zurück möchte nach Deutschland – »Ich interessierte mich nicht für Indianer, für diese verwilderten Menschen und ihren Hang zur Trunksucht und Streit. Ich wollte sie weder retten noch verdammen, ich wollte weder ihre guten Eigenschaften beschreiben noch ihre schlechten […]. Ich wollte sie nicht einmal sehen« (ebd.: 33f.) –, Leo Himmelfarb vorgestellt. »Die Vorstellung, daß ich den Urwald mit einem Leo Himmelfarb durchqueren sollte, lähmte mich, und der Gedanke, in meinen Berichten für das Institut erwähnen zu müssen, daß ein Leo Himmelfarb mir dabei geholfen hätte, die genealogischen Tabellen der Ureinwohner aufzuzeichnen, machte mich schaudern.« (Ebd.: 34) Es wird von vornherein betont, dass es sich bei seinem Reisebegleiter in spe um einen emigrierten Juden handelt.

Ich war im Begriff, für das Leipziger ethnologische Institut den gesellschaftlichen Kindheitszustand unserer Zivilisation zu erforschen, und nahm mir von allen Menschen dieser Erde ausgerechnet einen galizischen Juden als Reisebegleiter, einen Schriftsteller, wie sich bald herausstellen sollte, dessen Roman, bereits von einem Berliner Verlag akzeptiert, in Deutschland nicht mehr erscheinen konnte und nun wahrscheinlich nie mehr erscheinen würde. (Ebd.)

Mithin handelt es sich auch nicht um irgendeinen beliebigen jüdischen Emigranten, sondern um einen Schriftsteller, dessen Autorschaft durch die Nazis unterdrückt worden war, einen Autor, dessen Text keinen Adressaten erreichen kann, weil man die Publikation dieses Textes verboten hat, nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen der jüdischen Herkunft seines Autors. Leo Himmelfarb ist a priori ein unterdrückter Autor, ein Autor, dem das Schreiben untersagt ist, der dennoch schreibt, aber nur über den Umweg der angemaßten Autorschaft eines Anderen den Weg an die Öffentlichkeit findet, also: zum Sprechen kommt.

In dem Brief, den Leo Himmelfarb dem Erzähler schreibt, erwähnt er einen Zeitungsartikel, in dem ausgeführt wird, »daß der Autor uninteressant geworden sei. Er sei nur noch ein Medium, das seinen Füllfederhalter den zufällig herumfliegenden Worten leihe, damit sie aufs Papier kommen. In dem Moment, da sie schwarz auf weiß stehen, kann er abdanken, dann gehören ihm die Sätze nicht mehr.« (Ebd.: 118f.) Das ist natürlich ein deutlicher Hinweis auf Roland Barthes’ und Michel Foucaults Erklärungen, dass der Autor tot sei (vgl. Barthes 2000 und Foucault 2003). »Was liegt daran, wer spricht?« (Foucault 2003: 234) In unserem Zusammenhang: eine Menge. Es macht einen entscheidenden Unterschied, dass eigentlich nicht der von den Nationalsozialisten geförderte Ethnologe spricht, sondern der verfemte Jude, der durch die Verfemung selbst in die Rolle eines Subalternen, eines Unterdrückten und am Sprechen Gehinderten gebracht wird. Hat das Konsequenzen für unsere Frage nach dem Sprechen der kolonialen Subalternen? Dabei ist zu bedenken, dass der europäische ›Subalterne‹ Himmelfarb und der europäische Ethnologe sich im gleichen kulturellen Paradigma bewegen, die kolonialen Subalternen aber nicht.

Der Text legt dennoch jedenfalls zunächst eine positive Antwort auf diese Frage nahe. Zunächst einmal zeigt sich Himmelfarb als scharfer Kritiker des Kolonialismus. Gleich während der ersten Begegnung in der Spelunke in São Paulo setzt er an zu einer

wüsten Tirade auf den Kolonialimperialismus, der nichts anderes sei als gemeinstes Kolonialverbrechertum. Unsere Irrtümer, Fehler und Laster, die entwürdigenden Torheiten unserer ins Materielle abgesunkenen Zivilisation, unsere beschämende Raubgesinnung, schließlich die lächerlichen Vorurteile über die Minderwertigkeit der nichtweißen Rassen – all diese Sünden schreien nach Rache (Krüger 1993: 35).

Der Erzähler hängt dagegen noch in der Gegenwart seinen alten Gesinnungen an, wenn er feststellt, die Ethnologie sei nach 1945 dominiert von Engländern, Franzosen und Amerikanern, die »die koloniale Vergangenheit ihrer Länder kompensieren [wollten], wodurch unsre Disziplin zum lächerlichen Modefach für zivilisationsmüde Kinder reicher Eltern wurde« (ebd.: 31f.). Leo Himmelfarb gelingt, was dem von einem Nazi-Doktorvater nach Brasilien geschickten Ethnologen nicht gelingt:

Er kümmerte sich um Menschen und Tiere […]. Ihn schienen weder der Lärm noch der Dreck noch die Menschen zu stören. Nach wenigen Tagen bereits lebte er auf diesem gottverlassenen Fleck im Urwald […] als habe das Schicksal ihn dafür ausersehen […] Selbstverständlich konnte er sich im Handumdrehen mit den Eingeborenen verständigen, die mir gegenüber düster, schweigsam, in sich gekehrt und auf eine gewisse würdevolle Art abweisend waren. Ihm gegenüber waren sie heiter, redselig und zutraulich, was meinen Haß gegen die Leute noch steigerte. (Ebd.: 127f.)

Das und die Notwendigkeit eines »Mindestmaß[es] an teilnehmender Beobachtung« führt dann dazu, dass Himmelfarb auch das Expeditionstagebuch führt. »Er schrieb, ich las und machte ein sinnloses Häkchen unter den Text, als letztes Zeichen einer schon längst aufgelösten Macht […] Korrekturen hatte ich nie vorzuschlagen.« (Ebd.: 129) Himmelfarb gelingt es, so erklärt der Erzähler dessen Zugang zur indigenen Bevölkerung und die damit verbundene Fähigkeit, über sie zu schreiben, weil er die Absicht hat, »diese krause Mischung […] das Gemisch aus Weißen und Schwarzen, Weißen und Indianern, Indianern und Schwarzen« (ebd.: 129) zu lieben. Himmelfarb, das ist die Konsequenz daraus, befolgt »ein Prinzip des Nehmens und Gebens, des Lernens und Lehrens, des Zuhörens und Erzählens, mit einem Wort: des Austauschs« (ebd.: 131), was dazu führt, dass sie ihm »ihre Geschichten erzählen und ihre Gegenstände erklären« (ebd.: 131), was er dann wiederum im Tagebuch zu Papier bringt. »Hätten wir Zeit gehabt«, so fügt der Erzähler hinzu, hätte er »dem Urwald die Zunge gelöst und ihn zum Sprechen gebracht« (ebd.: 137). Es scheint hier so, als könne ein europäischer Subalterner einen anderen, weil eher gleichberechtigten und partnerschaftlichen Zugang zu den kolonialen Subalternen finden.

Leo Himmelfarb erleidet während der Forschungsexpedition einen »schlimme[n] Unfall« (ebd.: 16). Als es so aussieht, dass er sich »von der bösen Infektion«, die sich einstellt, »und anderen sie begleitenden Malaisen […] nicht mehr erholen wird« (ebd.), diktiert er dem Ich-Erzähler seine Reisebeschreibung in ein Wachstuchheft. Dieser lässt Himmelfarb zurück, verlässt mit dem »Manuskript in meiner Handschrift« (ebd.) Brasilien und kehrt zurück nach Hause, zu »den lieben Nazis« (ebd.: 64), wie Himmelfarb sarkastisch bemerkt. Das Versprechen »im Falle des Todes des Autors das Manuskript nach dem Krieg unter seinem [= dessen; A.D.] Namen als Buch zu veröffentlichen« (ebd.: 17), wird der Erzähler nicht einlösen. Stattdessen kommt es zu der angemaßten Autorschaft.

Durch die Krankheit Himmelfarbs stellen sich Konnotationen ein, die das Schicksal, das er erlitten hätte, wenn er in Deutschland geblieben wäre, in den Roman hineinziehen: »Ich sehe ihn vor mir, wie er mit seinen raschen, kurzen Schritten, die im Verlauf der Krankheit immer schleppender wurden, immer schlurfender und einsamer, das Lager durchmißt, die gefleckten Augen unruhig alles erfassend« (ebd.: 18). Es ist die scheinbar zum Tode führende Krankheit in einem Lager (hier natürlich das Expeditionscamp und nicht ein Konzentrationslager, aber es stellen sich trotzdem Assoziationen zum Typus des im Lagerjargon sogenannten Muselmanns ein), die dazu führt, dass Himmelfarb seine durch den Zugang zur indigenen Bevölkerung gewonnenen Erkenntnisse dem Naziethnologen in die Feder diktiert. Die oben beschriebene Konstellation des unterdrückten Autors, der nur über den Umweg der angemaßten Autorschaft eines Anderen zu Wort kommen kann, wird damit noch verschärft. Die Erkenntnisse Himmelfarbs, des europäischen Subalternen, verwandeln sich durch den Wechsel des Autornamens in eine Schrift, mit der ein nichtsubalterner Europäer seine Karriere, seinen Machtstatus begründet. Entscheidend dafür ist tatsächlich nur der Wechsel des Autornamens, der den, dessen Macht, wie oben zitiert, sich schon längst aufgelöst hatte, nunmehr in einen Träger von Macht verwandelt. Ohne dass Foucault genannt würde, heißt es im Roman einmal: »An Podiumsdiskussionen nehme ich nicht mehr teil, weil mich die Frage nach Macht und Wahrheit in den heutigen Zusammenhängen kalt läßt.« (Ebd.: 54) Der Ethnologe hat das auch nicht mehr nötig, sein Machtstatus ist längst begründet. Völlig hinter dieser Durchsetzung der wissenschaftlichen und akademischen Macht verschwinden die beiden Subalternen, Leo Himmelfarb und noch mehr die – namenlosen – kolonialen Subjekte, deren Stimmen Himmelfarb aufgezeichnet hatte. Die Schrift drückt nicht mehr deren Wahrheit aus, sondern die Macht des europäischen Intellektuellen.

In der Gegenwart hat der Ethnologe einen weiteren Helfer, einen Postboten namens Bomplang, »der mir bei der Korrespondenz hilft und andere kleinere Tätigkeiten ausführt« (ebd.: 55). Verstehen kann er ihn wegen seines bayerischen Dialekts kaum: »Dann lacht er und erklärt mir wie einem Ausländer, was er hat sagen wollen.« (Ebd.) Bomplang beantwortet die Briefe zu seinem 80. Geburtstag, für die er sich nicht selbst bedanken will: »Er schrieb ihm [dem Absender der Glückwünsche] ein paar Sätze auf der Schreibmaschine, die ich ungelesen signierte.« (Ebd.: 75) Die Essgewohnheiten Bomplangs – »Bomplang beim Essen zuschauen zu müssen, kam einer Tortur gleich« (ebd.: 79) – erinnern ihn an die ihn genauso anwidernden der »Eingeborenen« (ebd.). Schließlich hilft Bomplang ihm bei der Haushaltsauflösung: »Er war eifrig wie nie zuvor bei der Sache, ordnete, beschriftete, legte neue Karteien an […] Gelegentlich war er mir so nahe, daß ich ihn fast wie Stanley [den Hund; A.D.] anredete. Braver Bomplang; gut gemacht, Bomplang; wo ist das Karteikästchen, Bomplang?« (Ebd.: 145)

In der Geschichte der Naturforschung gibt es nun einen gewissen Aimé Bonpland, einen französischen Botaniker und Arzt (1773-1858), der Alexander von Humboldt von 1799 bis 1804 auf dessen amerikanischer Forschungsreise begleitete. Zwar bezeichnet ihn Humboldt gleich zu Beginn der Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents als einen »mutigen und kenntnisreichen Freund, der – seltenes Glück für den Erfolg eines gemeinschaftlichen Unternehmens! – mitten unter Beschwerden und Gefahren, denen wir uns zuweilen ausgesetzt sahen, immer denselben Eifer und denselben Gleichmut behielt« (Humboldt 2004: 11), und erwähnt ihn durch das ganze Buch hinweg immer wieder, doch steht er geradezu legendär im Schatten Humboldts (vgl. Schneppen 2002). Einem größeren Publikum bekannt geworden ist er erst 2005 durch Daniel Kehlmanns Die Verbesserung der Welt, in der wiederum ein anderer Reisegefährte Humboldts, Carlos Montúfar, in der Versenkung verschwindet (vgl. Kehlmann 2006: 9-27, und Andress 2011).

Dass der Name Bomplang kein zufälliger Anklang an Bonpland ist, zeigt sich daran, dass der Ethnologe ausgerechnet in Humboldts Wiederentdeckung der Neuen Welt liest, einer »Kompilation aus den Berichten über die ›Reise in die Äquinoctial-Gegenden des neuen Continents, den [sic] ›Versuch über den politischen Zustand der Insel Cuba‹ und den Tagebüchern aus dem Nachlaß« (Krüger 1993: 57). Der Bezug zu Bompland und Humboldts Reisen – wie auch der Name Stanley für den Hund – machen aus Krügers Roman einen Text, der die Konstellation der naturforscherischen oder ethnologischen Expedition und deren Kontakt mit der indigenen Bevölkerung, die zugleich eine koloniale Konstellation ist, als solche thematisiert1 (auch wenn Humboldt, wie jüngste Forschungen mehrfach gezeigt haben, in einigen seiner Schriften postkoloniale Schreibweisen vorweggenommen hat; vgl. Lubrich 2014). Noch viel stärker im Schatten als die europäischen Reisebegleiter Humboldts stehen natürlich die einheimischen Führer, die kolonialen Subjekte, denen jede direkte Äußerung, also die eigene Stimme, verweigert wird, was neuere Bücher wie vor allem Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006) bekanntlich auf eine wiederum nicht ganz unproblematische Weise zu ändern versucht haben.

Im Zentrum des Romans Himmelfarb stehen die europäischen Subalternen Bonpland und Leo Himmelfarb, für dessen Vergessen gerade die dominierende Schrift in der Gestalt der angemaßten Autorschaft des Ethnologen Richard verantwortlich gemacht wird. Strukturell aber verweist der Roman auf die doppelt abwesende Stimme: Himmelfarbs diktierende Stimme, die in der europäischen Schrift über-schrieben wird, und noch einmal darunter die abwesende Stimme der kolonialen Subjekte, die nur in der Vermittlung (der Repräsentation) durch den wiederum verdrängten europäischen Subalternen und die angemaßte Autor-Schrift Richards zugänglich und dabei für ganz andere Zwecke nützlich gemacht wird. Zugleich wiederholt der Text damit das lang andauernde Verschwinden des Gedächtnisses des Kolonialismus hinter dem Gedächtnis an die Schrecken des Dritten Reichs, macht so diese Struktur aber auch greifbar. Es geht daher weniger um ein Sichtbarmachen des »Mechanismus der Konstruktion des / der Anderen« (Spivak 2008: 72) als um ein Sichtbarmachen des Mechanismus der Verhinderung eines Zur-Sprache-Kommens.

Die Figur Leo Himmelfarb verweist aber auch auf die Anmaßung, die – wie schon Spivak deutlich macht – im Anspruch auch an den deutschsprachigen Schriftsteller unserer Gegenwart liegt, das Sprechen der Subalternen zu repräsentieren. »Es war dein Wunsch«, schreibt Leo an Richard,

in dieses trostlose Paradies2 einzudringen, […] du wolltest diese vergessenen Menschen aufscheuchen, nicht ich. Du wolltest das Chaos ihrer Mythen entwirren, mit Anmaßung und Leichtfertigkeit. Ich wollte Schriftsteller werden, das war alles. Mein untergehendes Reich heißt Galizien, ich war an seinen Menschen interessiert und wollte ihre Geschichten aufschreiben. […] Die Geschichten der Rabbiner und ihre Auslegung der Schrift. Aber deinesgleichen hat mich gehindert. (Krüger 1993: 19)

Dass Krüger auch dem phantasmatischen Sprechen, der sich in Empathie umsetzenden teilnehmenden Beobachtung, eine Absage erteilt, macht eine Anekdote am Ende des Romans deutlich. Richard fährt nach Korfu, um dort Leo Himmelfarb wiederzutreffen, und steigt dort in einem Hotel ab, in dem er vor Jahren »vor einer gelehrten Gesellschaft über das Verhältnis von Kaiser Wilhelm II. zu den Kolonien« (ebd.: 155) referiert hatte. Zu dieser Gesellschaft hatte auch ein »ständig betrunkener englischer Historiker« gehört, der, wenn »er betrunken war, vergaß […] in welcher Sprache wir redeten, bestellte auf polnisch neuen Wein, fluchte russisch und sang anschließend ein deutsches Trinklied. Chamisso hat im Koma hawaiisch geredet, aber für Chamissos Koma hatte dieser intelligente Trinker kein Verständnis.« (Ebd.: 155f.) Nicht das Zungenreden ist die Lösung, das Sprechen der Subalternen dem Gedächtnis des Kolonialismus zuzuführen, sondern vielleicht eher eine Konstruktion, die die Problematik eines repräsentierenden Sprechens deutlich macht und zugleich auf das abwesende Sprechen verweist. So endet der Roman auch mit einer Leerstelle. Richard legt seine Aktentasche mit seinen enthüllenden Aussagen auf den Strand von Korfu: »Die Sonne steigt, bald werden die Urlauber kommen, ich muß mich beeilen. Ich sitze so unbeweglich, daß die Eidechsen bis an meine Schuhe herankriechen, mit hochgestellten, lauschenden Köpfchen. Es ist jetzt 11 Uhr 45. Nun ist noch Platz für ein Wort:« (ebd.: 167) – es folgt ein Doppelpunkt, und dann nichts mehr.

Bedeutsam für die Debatte um die Repräsentation des subalternen Sprechens ist Michael Krügers Roman Himmelfarb nicht wegen der eher vordergründigen (und in der Realität wohl kaum zu haltenden) These, der europäische Subalterne habe einen besseren Zugang zum Sprechen der Kolonialisierten, sondern wegen seiner Struktur, die – darin mit Uwe Timms Morenga vergleichbar – auf die Leerstelle eines abwesenden Sprechens verweist und zugleich die kolonialen Bemächtigungsstrategien gegenüber den Subalternen aufzeigt.

Anmerkungen

1 | Die längere Beschreibung eines Hahnenkampfs – »Ich mußte mich auf den vor mir stehenden Indianer aufstützen, um über seinen Kopf hinweg den verwundeten Hahn zu sehen« (Krüger 1993: 45-47, hier 47) – wird man wohl als Anspielung auf Clifford Geertz’ berühmte Abhandlung über den balinesischen Hahnenkampf werten dürfen (vgl. Geertz 2001).

2 | Dies ist wohl auch als eine Anspielung auf Claude Lévi-Strauss’ Tristes Tropiques (1955) zu sehen (vgl. Lévi-Strauss 1988).

Literatur

Albrecht, Monika (2005): Gegenwartsliteratur aus postkolonialer Sicht. Michael Krüger: Himmelfarb und Jeannette Lander: Jahrhundert der Herren. In: Axel Dunker (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld, S. 251-265.

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Dunker, Axel (2003): Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München.

Foucault, Michel (2003): Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Übers. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek u. Hermann Kocyba. Frankfurt a.M., S. 234-270.

Geertz, Clifford (2001): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt a.M.

Hamann, Christof / Timm, Uwe (2003): »Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt«. Ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 168, S. 450-462.

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Kehlmann Daniel (2006): Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher. Reinbek.

Kohl, Karl-Heinz (1987): ›Der Verdammte der Inseln‹. Malinowski, Bronislaw 1884-1942. In: Ders.: Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt a.M. / New York, S. 39-62.

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Lévi-Strauss, Claude (1988): Traurige Tropen. Übers. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M.

Lubrich, Oliver (2014): Das Wuchern der Imperien. Alexander von Humboldts Kosmos als postkoloniale Theorie. In: Gabriele Dürbeck / Axel Dunker (Hg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld, S. 193-222.

Malinowski, Bronislaw (1922): Argonauts of the Western Pacific. An Account of Native Enterprise and Adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea. New York.

Ders. (1985): Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes. Neuguinea 1914-1918. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Bd. 4 / 1. Hg. v. Fritz Kramer. Frankfurt a.M.

Schneppen, Heinz (2002): Aimé Bonpland. Humboldts vergessener Gefährte? 2. durchges. Aufl. Berlin: Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (= Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung. Bd. 14).

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Engl. v. Alexander Joskowicz u. Stefan Nowotny. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl. Wien.

Trojanow, Ilija (2006): Der Weltensammler. Roman. München / Wien

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