Unterwegs in den Poren der Fläche
Reisen als Phänomen der Interkulturalität
Zum Reisen gehört für mich weder das Kofferpacken noch der Flug, weder Erwartungen noch die Notwendigkeit, Monumente und Museen in der Ferne zu besuchen. Reisen ist keine Erholung, im Gegenteil, es ist anstrengend und entlässt einen im besten Falle zerschrammt zurück. Insofern würde ich zwischen Tourismus und Reisen unterscheiden wollen. Wer sich als Tourist auf den Weg macht, sucht die Perfektion, wer als Reisender aufbricht, sucht gar nicht, er findet, was auch immer. Perfekt ist der Fund nie, weil Perfektion keine Kategorie des Reisenden ist.
Natürlich ist ›Tourismus‹ nur ein Oberbegriff für unterschiedliche Lebensweisen in der Ferne. Es gibt nicht den Touristen, den man so gerne pauschal abfällig erwähnt. Auch Hans Magnus Enzensbergers Aussage, dass der »Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet«, ist zwar schön formuliert, aber nur zum Teil zutreffend. Wohl dann zutreffend, wenn der Tourist die Fremde als Teil seiner Heimat betrachtet, nur ohne Arbeit; wenn er das eigene Wohnzimmer mitbringt, alles so haben will, wie zu Hause, nur schöner. Zerstörerisch daran ist, dass das Fremde vor Ort, wo es eigentlich zu Hause ist, keinen Platz mehr hat, weil der Tourist sein Zuhause an die Stelle des fremden Hauses gebaut hat. Weitflächig ist diesem Denken nichts und der Globus ein kleines rundes Land. Ein großer Teil der Tourismusbranche unterstützt diese Zerstörung, weil eine zurechtgestutzte Ferne einfacher zu bespielen ist und das Geldverdienen unkompliziert macht. Interkulturell ist an dieser Art des Aufenthalts sicher nichts.
Ein anderer Tourismus geht behutsamer vor, sucht nach Neuem und versucht Altes zu verstehen, besucht Museen und interpretiert die Fremde als Fläche einer Landkarte, deren weiße Flecken Farben bekommen sollen. Zerstörerisch ist das nicht, interkulturell aber auch nicht. Selbst wenn der Ethnozentrismus, die kulturelle Voreingenommenheit, die normative Wertung sich hier durchaus im Zaume zu halten wissen, ist das Fremde auch hier das Gegenüber, das ich betrachte und vom dem ich etwas wissen möchte, nicht aber etwas, mit dem ich mich aktiv vermische. Die Bildung, die beim Touristen während dieser Besuche entsteht, gehört immer nur ihm selbst, nie dem Besuchten. Die Kontemplation des Fremden ersetzt die Begegnung mit ihm. Folglich gibt es so auch keine grundlegende Veränderung am Ich des Bildungstouristen, sondern nur ein Mehr auf der Ebene des lexikalischen Wissens. Dies könnte im Nachhinein zu Veränderungen führen, tut es aber selten. Bildungsreisen sind meist nur die angepasste, sprich sanfte Ausgabe des Pauschaltourismus für eine bestimmte Gesellschaftsschicht. Es geht darum, guten Gewissens die Fremde zu besuchen, für sich etwas mit nach Hause zu nehmen, das man im Gespräch mit den Freunden anbringen kann. Gerade die Interkulturalität versucht man zu vermeiden. Die Angst, etwas falsch zu machen, verhindert die Begegnung in der Fremde. Die Furcht, verantwortungslos etwas kaputt zu machen, schiebt die Möglichkeit zur Interkulturalität in weite Ferne. Dem Bildungstouristen geht es um Gelehrigkeit, um eine momentane Befriedigung und um Freude als Endziel. Und das ist ja auch etwas: Freude! Nur eben kein Reisen. Auch der Eventcharakter dieses Tourismus, seine Organisiertheit, seine Abgesichertheit, sein Mangel an Mängeln, seine Wiederholung, die Überraschungslosigkeit, die Unaufgeregtheit widersprechen dem Reisen. Vor allem aber seine Gewöhnung. Denn dort, wo der Reisende sich an den Ort gewöhnt, ist die Reise zu Ende und der Tourismus beginnt. Meist schon zu Hause. An das Ziel haben die meisten Menschen sich bereits gewöhnt, bevor sie buchen.
Reisen aber ist immer ein Flug ins Ungewisse, ein Sprung ins kalte Wasser. Das bedeutet nicht, dass der Reisende über sein Ziel nichts wissen sollte, aber es bedeutet, dass dieses Wissen ihm die Reise nicht verhindert. Ich vergleiche den Reisenden gerne mit einem treibenden Schwimmer im Meer, der den Strand nicht mehr sieht. Er weiß, wo dieser liegt, und er ist sich ziemlich sicher, dass er ihn wieder erreichen wird, aber die absolute Gewissheit hat er nicht. Zugleich ist er aber so klug, sich nicht in eine ausweglose Situation zu begeben. Wenn der Schwimmer die Müdigkeit fühlt, schwimmt er nicht noch weiter hinaus. Er lässt sich von den Wellen treiben, lotet seine Grenzen aus, schaut, wie lange er es aushält und was die Fremde von ihm will, hat den Mut, sich in Situationen zu begeben, die er nicht im Griff haben könnte, Wege einzuschlagen, von denen er nicht weiß, wohin sie führen, Gespräche zu suchen, die unangenehm enden könnten. Er wird nicht jede Warnung in den Wind schlagen, aber er wird sie auf ihren realen Gehalt abklopfen und an ihr entfernen, was Unwissenheit, Ängstlichkeit und Vorurteil an Hornhaut gebildet haben.
Als ich im Dezember 2008 / Januar 2009 im Jemen war, fand im Gazastreifen die Operation ›Gegossenes Blei‹ statt. Die israelische Armee bombardierte Einrichtungen der Hamas. Die Luftangriffe waren verheerend. Die Jemeniten gingen für ihre palästinensischen Brüder – wie sie sagten – auf die Straße. In Sanaa fanden täglich Demonstrationen statt und die Deutsche Botschaft sowie die Risikomanagement-Büros der Firmen schickten jeweils eine SMS an die deutschen Bürger und Mitarbeiter in der jemenitischen Hauptstadt, sie sollten diese oder jene Gegend heute meiden, denn dort finde eine Demo statt. Für mich hieß das: da gehst du hin. Um es vorweg zu sagen: Keine dieser Demos lief anders ab als bei uns in Westeuropa. Die Männer – es waren nur Männer, denn im Jemen wird nicht nur der Alltag getrennt nach Geschlechtern bewältigt, sondern auch getrennt demonstriert – skandierten Parolen, trugen bemalte Schilder, fuhren auf der Ladefläche von Kleinlastern oder wanderten zu Fuß durch die Straßen. Es gab keine Ausschreitungen, jedenfalls habe ich keine gesehen. Dafür war ich schnell mit einigen der Zuschauer im Gespräch. Ich tat das, wovor immer alle warnen: Ich führte eine politische Diskussion. Und auch die verlief nicht anders als zu Hause. Es gab laute und leise Töne, es gab Rechtfertigungen und Vorwürfe. Da man mich für einen Deutschen hielt, warf man mir Waffenlieferungen an Israel vor, bedrängte mich, es ging um die Etappen des Nahostkonflikts, um die Rolle Amerikas, um das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und endete bei heißem Tee und Handschlag.
An einem anderen Tag ging ich eine Zeitlang auf dem Bürgersteig parallel zu einer Frauendemonstration. Thema: das gleiche, wie oben beschrieben. Man hatte mich im Vorfeld gewarnt, im Jemen Frauen zu fotografieren, das sei ein absolutes Tabu. Aber warum sollte ich nicht fragen dürfen? Warum dieses Tabu blind hinnehmen? Und das tue ich sowieso immer, fragen, laufe mit der kleinen Kamera durch die Gegend und frage die Menschen, ob ich sie ablichten darf? Zudem sind, bedingt durch den Einfluss des Wahhabismus aus Saudi-Arabien, den die jemenitischen Gastarbeiter mit in ihr Land gebracht haben, fast alle Frauen schwarz verschleiert, und der Schelm in mir raunte: »Die sind schwarz gekleidet, du bist schwarz gekleidet, da fällst du gar nicht auf.« Also mischte ich mich unter die Frauen und fragte, ob ich Bilder machen dürfe. Die Reaktion war kein Nein, geschweige denn Verärgerung, vielmehr posierten die Demonstrantinnen mit Koran und Palästinenserflagge und ich drückte auf den Auslöser. Das Ganze dauerte etwa zwei Minuten, dann standen drei Herren von der Staatssicherheit um mich herum, nahmen mich beiseite und fragten, was ich da tue?
- – Ich fotografiere, antwortete ich.
- – Für wen schreibst du?
- – Für niemanden. Ich bereise nur das Land.
Etwas ratlos schienen die Beamten. Sie wechselten vom Englischen ins Arabische, sprachen sich ab, dann wedelte einer mit der Hand, als gelte es eine lästige Fliege zu verscheuchen, und sagte: Mach, dass du wegkommst!
So lernte ich, dass man jemenitische Frauen durchaus fotografieren darf, wenn man fragt, und dass das (fast) allen Beteiligten auch Freude bereiten kann, und ich lernte, dass diejenigen, denen es keine Freude bereitet, immer in der Nähe sind und beobachten. Beides hat mein Verhalten verändert, genau wie die politischen Diskussionen mit den teetrinkenden Männern mir die Furcht vor Politik in der Fremde genommen haben. Die Begegnungen haben mich mutiger und neugieriger gemacht, meinen Willen gestärkt, Bilder zu hinterfragen, nicht an der Oberfläche haltzumachen, sondern die Poren im Alltag aufzusuchen, jene Orte und Momente, die durchlässig sind. Was die Diskussionen in den Köpfen der Gesprächspartner ausgelöst haben, und ob überhaupt etwas, weiß ich natürlich nicht. Auch nicht, was die Demonstrantinnen von der ungewöhnlichen Situation mitnahmen, aber da das Ungewohnte eine gute Grundlage sowohl für Reflexion als auch für Selbstreflexion bietet und zudem emotional konnotiert ist, gehe ich davon aus, dass solche Situationen für beide Seiten eine Wirkung haben.
Reisen ist die Möglichkeit, sich durch das Erleben der Fremde zu ändern und dabei gleichzeitig die eigene Identität zu stärken. Aber Reisen verändert genauso den Fremden durch mein Auftauchen und stärkt dessen Identität. Gesetzt, beide sind bereit für einen solchen Austausch, für eine Neutralität, die erst einmal wahrnimmt, reflektiert, fühlt, ehe sie sich verhält und urteilt. Dabei ist die Wahrung der eigenen Person genauso wichtig wie die Akzeptanz des Gegenübers in seiner Fremdheit. Erst in einem weiteren Schritt kann es bei beiden zu Veränderungen kommen, zu einer Interaktion. Ein dialektischer Vorgang, der das Ich in seiner Kultur und das Nicht-Ich in seiner Kultur auf eine neue Ebene hebt, die interkulturell zu nennen ist. Hierbei interagieren Sein und Bewusstsein. Ich, als denkendes, fühlendes Subjekt, bin es, der reist und sich so fremdem Sein aussetzt. Gleichzeitig ist mein Vor-Ort-Sein Anlass zur Veränderung des anderen, fremden Bewusstseins. Die Veränderung bei beiden kann sich nur vollziehen, wenn jede Seite sich ihres eigenen Seins bewusst ist, als einer Grundlage der Möglichkeit zur Veränderung. Ich hält auf beiden Seiten an sich fest, um auf höherer Ebene loszulassen und gestärkt durch Veränderung Ich zu sein.
Der Weg, die fremde Kultur zu überschätzen und die eigene gering zu achten, ist genauso ein Vorurteil, das nichts Gutes verheißt, wie der umgekehrte Weg des Ethnozentrismus. Wer die eigene Identität aufgibt, hat nichts mehr, das er verändern kann. Um auf das Bild des Schwimmers zurückzukommen: Wer nur am Strand steht, das Meer bewundert und sich dabei klein fühlt, wird nie die Wellen fühlen, nie schwimmen lernen. Er mag die Oberfläche des Meeres schön finden, aber alles was darunter ist, wird ihm verschlossen bleiben. Gerade weil er die eigene Identität gering schätzt, fehlt ihm die Möglichkeit, die Tiefe der anderen zu erahnen.
Interkulturalität braucht Pole, braucht Gegensätze. Es kann deshalb beim Reisen nie darum gehen, sich aufzugeben, sich zu unterwerfen, Dinge zu tun, die man nicht akzeptieren kann, genauso wenig, wie es darum gehen kann, der Fremde vorzuschreiben, wie sie zu sein hat. Reisen ist kein Import-Export-Geschäft mentaler Kultur, auch keine Kolonisierung weder des eigenen Ich noch des anderen; Reisen widerspricht im Kern der Globalisierung genauso wie der Meinungsdiktatur. Reisen verleugnet weder das Eigene noch das Fremde. Als Bewegung sowohl des Seins als auch des Bewusstseins ist Reisen der Versuch einer Interaktion auf dem schmalen, neutralen Grat, den die Selbstreflexion erschaffen hat. Dort findet die Berührung von Welle und Schwimmer statt. Im Bewusstsein der eigenen Kultur bin ich bereit, der anderen unvoreingenommen zu begegnen und durch diese Begegnung die Möglichkeit zur Veränderung zu schaffen, die sich als eine Stärkung der eigenen Identität sowie der Identität des Gegenübers manifestieren kann. Der Begriff, den mein Ich nun vom fremden Ich hat und umgekehrt, ist ein interkultureller.
Ich bin in Luxemburg geboren und habe einen luxemburgischen Pass. Die ersten 20 Jahre meines Lebens bin ich in einer Kleinstadt an der französischen Grenze, einem Ort namens Esch-sur-Alzette aufgewachsen und sozialisiert worden. Meine Eltern sind in dieser Zeit nie gereist, erst später als Rentner haben sie Fahrten nach Paris oder in den Schwarzwald unternommen. Ich selbst bin in diesen Jahren folglich auch nicht viel herumgekommen. Mit 16 fing ich an regelmäßig mit Freunden durch Frankreich zu trampen. Und mit 20 ging ich nach Heidelberg, um Germanistik zu studieren, weil es in Luxemburg 1983 keine Universität gab, die man länger als zwei Semester hätte besuchen können. Alle Studenten waren nach dem ersten Jahr am Centre Universitaire gezwungen, ins Ausland zu gehen. Bis dahin hatte ich mir wenig Gedanken über meine Identität, über das Luxemburgische gemacht. Durch den alten Nachbarn, der in Esch in dem Stockwerk über uns wohnte, begriff ich zum ersten Mal die Schärfe der nationalen Abgrenzung, die immer einen Grund findet, das Messer zu wetzen und zu trennen, was nicht nötig ist. Jedes Mal, wenn ich meinen Eltern zu Hause einen Besuch abgestattet hatte und wieder nach Heidelberg zurückfahren wollte, stand der Nachbar in der Haustür und machte den immergleichen Witz: »Na, geht es wieder heim ins Reich?!«, fragte er und lachte. Manchmal klopfte er mir dabei auch auf die Schulter. Der Nachbar war niemand, der das eigene Handeln überdachte oder gar in Frage stellte; er reagierte vun der Long op d’Zong (von der Lunge auf die Zunge), wie es im Luxemburgischen heißt, also unmittelbar, drückte aus, was er vom Land jenseits der Mosel hielt. Für ihn gab es die guten Luxemburger, die während des Zweiten Weltkrieges natürlich allesamt im Widerstand gekämpft hatten, und die Deutschen, die sich nie ändern würden. Mal davon abgesehen, dass die jüngere Geschichtsaufarbeitung in Luxemburg ein etwas anderes Bild der damaligen Bevölkerung zutage fördert und denjenigen, die Nazideutschland hassten, diejenigen, die eifrig der Diktatur zuarbeiteten, zur Seite stellt, wurde mir bei diesen ›nachbarlichen Verabschiedungen‹ bewusst, dass der ältere Herr seit vierzig Jahren nicht mehr über die luxemburgisch-deutsche Grenze gefahren war. Er betrieb die eigene Identität als Mythos des Guten gegen das Böse. Sicher, er brachte den Satz als Witz und es liegt mir fern, solche Sprüche überzuinterpretieren. Nur die Tatsache, dass er jedes Mal dort vor der Haustür stand, als bereite er sich darauf vor, mir etwas mit auf den Weg zu geben, war irritierend. Wer fünfzig Mal den gleichen Witz macht und davon ausgeht, dass sein Gegenüber noch immer lacht, hat entweder einen an der Klatsche oder Sendungsbewusstsein. Bei mir löste dieses groteske Verhalten tatsächlich aus, dass ich mich fragte, was denn anders an heutigen Luxemburgern und Deutschen sei, was anders an Franzosen und Belgiern, Niederländern und Italienern, Portugiesen … Ich fing nicht an, über Geschichte, sondern über Identität nachzudenken, über Heimat und nationale Verankerung, über die Mythisierung von Kultur und, als ich meine Frau, die ständig andere Länder besuchen wollte, kennenlernte, über die Relativierung von Vorurteilen durch Reisen, im Endeffekt über Interkulturalität. Hinzu kam, dass ich in Deutschland ständig mit einem Nichtwissen, was Luxemburg anbelangte, konfrontiert wurde, ein Nichtwissen, das mich erstaunte. Ich kann nicht sagen, wie viele tausende Male ich zu hören bekam: »Wie, deine Muttersprache ist nicht Französisch?« oder »Habt ihr was anderes außer Banken?« und »Ach, ihr habt eine eigene Regierung?« Und jedes Mal dachte ich an meinen Nachbarn und wollte zurückfragen: »Seid ihr wirklich noch immer alle Nazis hier?« Ich unterließ dann doch das Provozieren und begann, Dinge über Luxemburg zu erzählen, sprach vom Aufkommen der Stahlindustrie, die der Grundstein des Wohlstandes des Landes ursprünglich war, sprach von Mischkultur und davon, dass eine Sprache nicht ausschließlich über linguistische Eigenheiten definiert wird, sondern genauso über soziokulturelle Aspekte. Um es kurz zu machen, ich war plötzlich Luxemburger durch und durch. Wieso war mir das unreflektierte Geschnatter der anderen Menschen nicht egal? Was berührten diese absurden Fragen in mir? Offensichtlich einen emotionalen Punkt, etwas, das sich im Laufe der ersten zwanzig Jahre in mir gebildet hatte, etwas Irrationales, das mit Gefühlen besetzt war, die zu mir gehörten und die zu verleugnen Lüge gewesen wäre. Ich war und bin der Meinung, dass eine Nation so gut ist wie die andere, aber meine war und ist nun einmal die luxemburgische. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr erschien mir diese Verbindung mit einem Land dem Zufallsprodukt einer Liebe gleich, etwas, das sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte und nun Teil meiner Identität war, und so wenig zu erklären, wie die Liebe zu einem Menschen. Gerade diese Irrationalität, die einer Liebe anhaftet, ist der Gefahr der Überhöhung, der Mythisierung ausgesetzt, mit allen negativen Konsequenzen, die uns der Lauf der Geschichte bereits gezeigt hat. Folglich galt und gilt es, diese nationale Identität zwar zu akzeptieren, aber sie als etwas zu sehen, das gleichberechtigt neben allen anderen Identitäten steht. Man könnte sagen: Da alle lieben, ist Lieben im Gesamtkontext nichts Besonderes. Für den Einzelnen ist die Verbindung emotional herausragend, aber da das für alle gilt, ruft die Selbstreflexion nach Contenance. Es gibt dabei kein Besser oder Schlechter. Zumindest sollte es so sein.
Je mehr ich reiste, desto klarer wurde mir, dass ich einem Land entstamme, das in der Welt kaum bekannt ist.
Bei der Passabfertigung am Flughafen von Bamako (Mali) schaute sich der Beamte in Militäruniform meinen Reisepass lange an, klappte ihn zu, las vorne drauf »Grand-Duché de Luxembourg«, klappte den Ausweis wieder auf und legte ihn schließlich neben sich, bat mich, zur Seite zu treten, und begann die Papiere der anderen Fluggäste zu kontrollieren. Das war 1996. Ich wartete, während die Schlange der Einreisenden kleiner und kleiner wurde. Schließlich machte ich mich wieder bemerkbar und fragte, was denn los sei? Der Beamte schaute wieder meinen Pass an, versuchte ein Lächeln und griff zum Telefon. Nach kurzem Gespräch musste ich mich erneut gedulden. Als ein hoher Offizier schließlich auftauchte, waren alle anderen Gäste bereits durch die Schleuse getreten und ich hatte eine Stunde gewartet. Der Offizier schaute auf den Pass, sagte etwas auf Bambara zu seinem Untergebenen, schaute mich freundlich an und rief auf Französisch: »Luxembourg, Europe!«
Ich bejahte und wurde freundlich lachend gebeten, sein Land zu betreten.
Noch in der gleichen Woche fuhr ich mit dem Buschtaxi nach Kangaba Richtung Süd-Westen. An einem Abend saß ich dort im Café der alten Karawanserei und ein Einheimischer begann mich anzuschreien, ich solle mich verpissen. Er hielt mich für einen Franzosen und sah in mir einen Kolonialisten. Meine Einwände, Luxemburg habe nie Kolonien besessen, beruhigte ihn, aber sein Blick sagte mir, ich werde rausfinden, wo Luxemburg liegt.
Zwei Jahre zuvor hatten meine Frau und ich Kalifornien besucht. In einem Fischrestaurant in San Francisco wollte ich mit meiner Kreditkarte bezahlen und die Kellnerin verlangte nach meinem Ausweis. Ich reichte ihr meinen Pass und sie begann schallend zu lachen: »Grand Duchy? Soll das ein Witz sein?« Um es kurz zu machen, sie akzeptierte meinen Pass nicht und ich konnte nicht zahlen, was den Manager wiederum auf den Plan rief. Auch er tat sich schwer mit der Existenz eines Großherzogtums und blieb skeptisch, während ich in mir den Ärger anschwellen fühlte. Dann mischte sich ein alter Fischer plötzlich ein und winkte ab.
- – I know Luxemburg!
Ich dachte, na endlich. Und dann sagt dieser Mann:
- – That’s an island in the Pacific.
Ich, genauso wie meine Frau, war völlig perplex, schaute den Mann nur an und reagierte nicht. Dafür die Kellnerin, die meine Kreditkarte nahm, sich entschuldigte, das Geld abbuchte und uns verabschiedete. Die nationale Identität: ein Palmenstrand im Pazifik.
Reisen hilft die eigene vermeintliche ›Größe‹ zu relativieren. Ein Prozess, der unabdingbar ist, will man tatsächlich nicht an der Oberfläche haltmachen, sondern den Motor einer interkulturellen Dynamik in Gang setzen und die Poren bereisen. Dabei betrifft die Notwendigkeit der Relativierung nicht nur die nationale Identität, sondern alle Bereiche des Ich, ob sie politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Natur sind. Die Relativierung ist keine Herabsetzung, keine Reduzierung noch Nivellierung, sondern eine Eingliederung meines Ich ins Ensemble der anderen. Relativierung ist Ergebnis von Selbstreflexion. Ich trete neben mich, beobachte und hinterfrage mein Verhalten und mein Denken in den unterschiedlichsten Situationen. Folge dieser Relativierung ist die Akzeptanz, Dinge, Verhalten, Traditionen in einem ersten Schritt nebeneinander stehen zu lassen und sie zu vergleichen. Der Impuls der spontanen Abwehr setzt aus. Das Fremde bekommt eine Chance, sich überhaupt einmal vorstellen zu dürfen. Auch wenn ich im Nachhinein Dinge, Verhalten, Essgewohnheiten, Riten, Traditionen ablehne und meine eigenen vorziehe, so habe ich sie doch einmal unvoreingenommen nebeneinander betrachten können und womöglich einen Begriff von ihnen, der zukünftige Blindheit behebt. Relativierung bedeutet nicht, dass ich am Ende alles gleich gut finde und alles völlig egal ist, Relativierung ist nur eine momentane Klammer, die notwendig ist, um den Versuch zu starten, unvoreingenommen der Fremde zu begegnen.
Einem Freund, der ungerne reist, erzählte ich, dass ich in Vietnam Hund gegessen hatte, und er schüttelte den Kopf und sagte, das sei das Letzte. Ich versuchte zu erklären, dass es Menschen gibt, die sich weigern, Schweine zu essen, andere rühren Kühe nicht an, wieder andere grillen Meerschweinchen oder Katzen. Es sei der Sozialisation geschuldet, was man für genießbar halte und wo man Grenzen setze. Aber mein Freund wollte davon nichts wissen und sagte: Man isst keine Hunde!
- – Warum?
- – Wem ich das erklären muss, der hat keine Moral.
- – Das sagen in Indien viele über Menschen, die Kühe essen.
- – Zu Kühen habe ich keinen Bezug, zu Hunden schon.
Wir wechselten bald das Thema, um nicht weiter streiten zu müssen.
Mir hat der Hund übrigens nicht geschmeckt, weil der Geruch, den zwanzig nasse Hunde in einem Raum verbreiten, mir mit jedem Bissen als Geschmack in den Körper drang. Ich würde jedes weitere Hundeessen ablehnen, aber nicht, weil ich die Riten und die Tierethik westlicher Zivilisation für besser halte als die asiatischer Länder, sondern weil Hund für mich keine Gaumenfreude ist. Das Thema Tierethik ist eine ganz andere Baustelle und da bedarf es auch im westlichen Europa schwerer Bagger.
Der Vergleich, als Resultat der Relativierung, führt beim Reisen automatisch dazu, dass ich mich auf Dinge einlasse, an die ich vorab nicht gedacht habe. Ich gerate sozusagen planlos in Situationen, weil mein Mechanismus, sie zu meiden, ausgesetzt bleibt.
2006 war ich Stadtschreiber im indischen Hyderabad. An einem Nachmittag sah ich einen Unfall. Ein Passant war angefahren worden und der Fahrer hatte daraufhin Gas gegeben und war verschwunden. Einige halfen dem Verletzten, aber es schien kein Krankenwagen zu kommen. Das förderte bei mir die Idee zutage, mich mit dem Gesundheitswesen vor Ort zu beschäftigen und Krankenhäuser zu besuchen.
Die privaten Hospitäler entsprachen westlichem Standard, aber dort wäre der Verletzte nie aufgenommen worden, weil er sich das Krankenhaus nicht hätte leisten können. Mit Hilfe von Prakash, einem Mitarbeiter des Max Mueller Bhavan Institutes, bekam ich Zutritt zu jenen Spitälern, die für die mittellose Bevölkerung zur Verfügung standen, wie zum Beispiel das Osmania Hospital, das, mit seinen mehr als tausend Betten auf drei Etagen verteilt, eines der größten Krankenhäuser in Andrah Pradesh ist.
In den vorderen Teil des Gebäudes ließ uns der Wachmann nicht hinein, erklärte, hier lägen die hoffnungslosen Fälle, alle kurz vorm Ableben, da könnten wir nicht rein. Also gingen wir zum anderen Gebäude, das hinter diesem Sterben lag. Der Wachmann wich mir nicht von der Seite.
Im Osmania gab es keine kleinen Zimmer. Es gab Abteilungen für die unterschiedlichen Leiden, eine für Nierenkranke etwa oder eine für Krebs. Diese Abteilungen ähnelten einer Halle mit 40 bis 50 Betten, eins neben dem anderen, durch nichts voneinander getrennt als durch die warm schwüle Luft, die wie eine Decke in die Freiräume gestopft zu sein schien. Hinter den Kranken, die vor sich hin dösten, am Tropf hingen, warteten, erhob sich zu beiden Seiten eine brusthohe Mauer, hinter der wiederum jeweils ein drei Meter breiter Flur sich längs der Hallen entlangzog und in dem abermals belegte Betten standen. Das Licht war schummerig. In einer Ecke lag sauber zu einem Haufen zusammengekehrt der Müll. An der Wand las ich: Bitte, nicht auf den Boden spucken. Der Wachmann schlenderte dicht hinter mir, schaute auf alles, was ich berührte. Dachte er, ich will was klauen?
Später im Niloufer Hospital zeigte mir der Chefarzt die Intensivstation für Säuglinge und Kinder. Ein siamesisches Zwillingspaar, an den Hinterköpfen zusammengewachsen, kam uns entgegen und der Chefarzt sagte, dass sie morgen getrennt würden. Verschiedene Gänge waren fast völlig dunkel, die Apparaturen wirkten überholt und ich dachte, wie abhängig man in unseren Breitengraden vom Aussehen der Dinge ist. Was alt aussieht, wo der Lack ab ist, weckt bei uns als Patienten kein Vertrauen. Aber obwohl die Flure dunkel waren, es kaum Licht gab, trennten sie hier siamesische Zwillinge.
Diese Krankenhausbesuche haben mein Vertrauen in die Medizin nicht gestärkt, aber die Wichtigkeit der Ästhetik medizinischer Geräte relativiert.
Die Vergleiche kultureller Aspekte greifen oft noch tiefer, haben existentielle Veränderungen zur Folge, hat man die Begegnung einmal angenommen.
Als wir einmal in einem Viertel von Hyderabad an einer Mauer vorbeigingen, über der Rauch stand, fragte ich Prakash, was die Leute verbrennen? Ihre Toten, war die Antwort. Ich fragte, ob wir da hineingehen könnten, und er bejahte. Ich hatte in Luxemburg bereits Beerdigungen erlebt, eine Ansammlung trauernder Menschen. Hier aber war kaum jemand, nur wenige Frauen und Männer saßen etwas abseits der brennenden Schichten aus Holz und Mensch, unterhielten sich und schienen unbeteiligt.
Sie haben sich vorher zu Hause von den Toten verabschiedet, sagte Prakash auf mein Nachfragen hin, jetzt müssen nicht mehr alle hier sein.
Im Jahr darauf war ich Teil eines Austauschprojektes von Autoren und hielt mich eine Zeitlang im Iran auf. Ich besuchte das Paradies der Zarah, den Zentralfriedhof Teherans, schaute mir die Glasvitrinen, die die Gräber der Märtyrer schmücken, an, und Amir Cheheltan, mein Schriftstellerkollege, der mich begleitete, wies mich auf das Haus hin, in dem die Toten kurz vor der Beerdigung gewaschen werden. Er wollte nicht mit hinein, zeigte mir die Seite für die Männer, wo ausschließlich männliche Tote für ihre letzte Reise vorbereitet werden, und ich ging hinein, stellte mich genau wie die anderen hinter die Glasscheibe und schaute den Leichenwäschern zu.
Wiederum zwei Jahre später lief ich durch Sanaa, als eine Menge Männer durch die Gassen eilte. Zuerst dachte ich an eine erneute Demonstration, dann sah ich die bedeckten Bahren, die sie über ihren Köpfen trugen. Es war ein Beerdigungszug. Alle gingen sehr schnell, liefen fast, und ich schloss mich der Hundertschaft an. Es dauerte nicht lange, bis mir einer den Ablauf des Beerdigungszuges erklärte, und tags darauf fand sich jemand, der mich zur Trauerzeremonie seines Cousins einlud. So saß ich in einer großen Halle mit unzähligen Männern auf Teppichen an die Wand gelehnt, hörte drei Musikern auf ihren leisen traditionellen Instrumenten zu, unterhielt mich und kaute wie alle Qat, jene Blätter mit koffeinartiger Wirkung, von denen im Jemen keiner lassen kann.
Alle diese Begegnungen waren gerahmt von Gesprächen über den Tod, von Diskussionen über die unterschiedlichen Auffassungen des Ablebens, von einem Austausch über religiöse Vorstellungen und über die Schönheit oder Nichtigkeit der Existenz. Was das in mir bewegt hat, ist nicht einfach in Worte zu fassen. Ich habe das Gefühl, ich bin gelassener geworden und habe so einfache Dinge begriffen, wie: Nichts ist für die Ewigkeit.
Die interkulturelle Begegnung, hervorgerufen durch Reisen, hat so einen Denkprozess in Gang gesetzt, der selbst nicht mehr interkulturell zu nennen ist, weil er ausschließlich mein eigenes Verhältnis zu Leben und Tod reflektiert, unabhängig von der Fremde. Aber ich hätte mich wohl nie so intensiv mit meinem eigenen Tod auseinandergesetzt, wären da nicht die Toten und ihre unterschiedlichen Bestattungen in der Fremde gewesen?
Abschließend möchte ich noch einmal auf das oben bereits erwähnte Fotografieren eingehen, etwas, das zum Reisen unweigerlich dazugehört. Natürlich kann man durch die Welt kutschieren und alles durch die Linse sehen. Dabei besteht die ›Gefahr‹, das Bild zwischen sich und die mögliche Begegnung zu schieben. Das Foto ersetzt in dem Fall das Erleben und die Erinnerung. Auf diesen Fotos sind meist sogenannte Sehenswürdigkeiten oder Verwandte, Freunde und man selbst zu sehen. Es sind touristische Fotos, die durchaus Freude bereiten können, genauso wie das Souvenir, etwa das thailändische Fischerdorf auf einem Schal. Das Foto ist hier mit der Situation oder dem Event verbunden und besagt, dass man vor Ort war, dass der Strand schön war und man Spaß hatte. Die Austauschbarkeit solcher Aufnahmen ist gewollt, weil diese Abbildungen einen hohen Wiedererkennungswert haben. Diese Fotos zeigen viel von dem, der fotografiert, wenig bis gar nichts von der Fremde. Im Foto bleibt der Fotografierende bei sich. Ich würde diese Aufnahmen deshalb als statische Bilder bezeichnen.
Es gibt aber durchaus die Möglichkeit, das Fotografieren als Teil von Interkulturalität und damit von Bewegung einzusetzen.
Da ich, egal, wo ich mich aufhalte, immer meine Kamera dabeihabe, sehe ich sie als Teil meines Schreibens. Ich benutze Fotos nicht nur beim Schreiben im Sinne einer Abschrift von Gewesenem, sondern ich halte die Kamera so auf meine Umgebung, dass die Bilder bereits beschreiben, was ich später in Schrift umsetze. Der Auslöser rahmt meine Geschichte, bildet die Leitplanken eines Romanausschnitts, zeichnet die Gesichter, deren Stories, die Bilder mir erfinden. Fotografieren ist so ein intentionaler Akt, der in Begegnung münden muss, weil er Herausforderung für das Fremde ist. Meine Intention ist, dass das Fremde zu mir mit Hilfe des Fotos spricht.
Diese Fotos sind voll von Details, an die ich mich niemals würde erinnern können, selbst wenn ich wollte. Aber genau um die geht es, um diese Unzahl an Kleinigkeiten ringsum, weshalb mir die Quadrierung, der Rahmen einer Aufnahme beim Auslösen wichtiger ist als das Hauptmotiv. Es geht mir weniger um bestimmte Gebäude als vielmehr um den Dreck oder die Sauberkeit ringsum. Nicht die Hausfassade ist das Elementare, sondern das Papiertaschentuch davor, die zufällig vorbeilaufenden Menschen. Es geht mehr um die stille Erzählung eines Menschen durch seine Mimik, seine Körperhaltung, seine Umgebung, die ihn rahmt, als um die pittoreske Gesprächigkeit des momentanen Erlebnisses. Beim Fotografieren als schriftstellerischem Akt bleiben die Bilder in Bewegung; sie sind kein Ersatz für das Erlebnis, für die Begegnung, für die Erinnerung, sondern Anstoß dazu, fortlaufende Entdeckung, Reise nach der Reise. Die Fremde bleibt präsent, endet nicht, wenn das Event endet, und hat so einen nachhaltigen Effekt.
Interkulturell gestaltet sich auch der Akt des Fotografierens selbst, weil mein Fragen, ob ich auf den Auslöser drücken darf, oft Anlass zu Gespräch, Begegnung, Freude, Ärger, ja Auflauf ist.
Auf einem Gemüsemarkt in Hyderabad grasten die Kühe und Ziegen auf einem Haufen weggeworfener Reste, während die Verkäufer und Verkäuferinnen unter wilden Regenschirmkonstruktionen vor der Sonne Schutz suchten. Ich fragte am ersten Stand, ob ich Bilder von den jungen Männern, die Zuckerrohr auspressten, machen könnte, zeigte ihnen auf der digitalen Kamera anschließend die Fotos und wanderte zum nächsten Stand. Die Kommunikation war schwierig, da ich keine der einheimischen Sprachen verstand und die Menschen auf dem Markt kein Englisch sprachen. Aber das Zeigen auf den Apparat und dann auf die Person löste allgemein Freude aus. Nicht nur lehnte niemand ab, fotografiert zu werden, sondern die Nachricht, dass da ein Fotograf unterwegs sei, machte schnell die Runde, und ehe ich fragen konnte, zeigten die Leute auf sich und reckten den Rücken. Ich war sehr lange auf dem Markt und machte fast 200 Aufnahmen, die von den Modellen kommentiert wurden, und mit Gesten gab man mir zu verstehen, dass ich wiederkommen und die Abzüge mitbringen solle. Ich verstand, dass die meisten von ihnen kein Bild von sich selbst besaßen. Also ging ich zwei Tage später wieder hin und legte damit für kurze Zeit den Markt lahm, denn kaum hatte ich den Platz betreten, als alle ihre Arbeit liegen ließen und auf mich zugelaufen kamen. Ich konnte nicht einmal die Fotos aus der Hülle nehmen, denn jeder riss an mir und an dem Umschlag. Ich war baff, drückte den Packen an meine Brust, zeigte auf einen Mann, nahm ihn zur Seite, gab ihm jeweils ein paar Fotos und er verteilte sie. Ich erntete viel Dank an jenem Tag und freute mich sehr. Nachdem die Bilder verteilt waren, kamen einige Marktverkäufer auf mich zu und gaben mir zu verstehen, dass sie letztes Mal nicht dagewesen seien, ich hätte sie noch nicht fotografiert. Also begann ich erneut, Bilder zu machen, und zwei Tage später brachte ich die Aufnahmen wieder vorbei. Da trat ein junges Pärchen auf mich zu und bat mich, Fotos von ihm zu machen. Ich antwortete, das könne ich gerne tun, nur gehe mein Flug am anderen Morgen und ich könne ihnen das Foto nicht mehr vorbeibringen. Das mache nichts, sagte die Frau, aber sie hätten gerade geheiratet und es bringe ihrer Ehe Glück, wenn ein Fremder sie zusammen auf einem Bild mit forttrage.
Das ist fast zehn Jahre her, aber ich denke noch immer daran, eines Tages zurück nach Hyderabad zu fahren, diesen Markt aufzusuchen und ihnen einen Abzug zu bringen.