Carmine Chiellino / Natalia Shchyhlevska (Hg.): Bewegte Sprache. Vom ›Gastarbeiterdeutsch‹ zum interkulturellen Schreiben
Dresden: Eckhard Richter & Co 2014 – ISBN 978-3-942411-60-8 – 49,80 €
Vorgelegt werden elf Beiträge zur interkulturellen Literatur. Sie sind im Rahmen des Workshops Sprache der interkulturellen Literatur im Dezember 2011 an der Universität Mainz entstanden und fokussieren historisch-biographische wie sprachlich-ästhetische Aspekte. Gemein ist allen Beiträgen die Analyse interkultureller Themen und Fragestellungen am Gegenstand der Literatur seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Ziel, »das Zusammenwirken von Einwanderung und deutscher Sprache anhand der literarischen Produktion interkultureller Autor /-innen herauszuarbeiten« (8). Insofern lässt sich der Titel Bewegte Sprache dahingehend deuten, dass es zum einen um die Sprache selbst geht, die stets im Werden begriffen ist, und zum anderen um die Akteure, die dieses Werden überhaupt ermöglichen.
Mit der Frage nach den Anfängen und so auch nach den Akteuren, welche die Sprache bewegen, befassen sich die ersten beiden Beiträge. Eröffnet wird die Diskussion durch den Text des Literaturwissenschaftlers Dieter Lamping zu Chamisso. Lamping differenziert zwischen dem bereits im Vorwort beiläufig erwähnten Begriff der »interkulturelle[n] Sprache« (9) und »der Sprache interkultureller Literatur« (15). Während Erstere undifferenziert für sich steht, verweist Letztere auf plurilinguale Aspekte der interkulturellen Literatur. Eine weitere Präzisierung wird mit Blick auf den zeitlichen Rahmen vorgenommen. Anders als im Vorwort begreift Lamping interkulturelle Literatur nicht als »Neuerung des späten 20. Jahrhunderts« (16), sondern als ein zweihundert Jahre älteres Phänomen. Somit wird die Charakterisierung einer interkulturellen Literatur von der Perspektivierung biographischer Einschränkung auf etwa Gastarbeiter befreit. Historisch mit Chamisso zu eröffnen und den Franzosen zunächst aus Thomas Manns kritischem Blick auf interkulturelle Prozesse zu betrachten, verspricht die Entdeckung von »unerwartbare[n] Verschiedenartigkeiten« und »unerwartete[n] Ähnlichkeiten« (15) in den literarischen Prozessen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und sensibilisiert zugleich für die Frage nach dem »Deutschtum« (17), denn dieses erzeuge aus Lampings Sicht eine wie auch immer geartete Ontologie, die ihrerseits kulturelle Verhältnisse aus dem Gleichgewicht wirft.
Dieses Ungleichgewicht wird im darauffolgenden Beitrag von Carmine Chiellino insofern thematisiert, als unter Berücksichtigung ausgewählter Gedichte und Texte der sogenannten Gastarbeiter die Möglichkeiten für deren gemeinsames Auftreten in der deutschen Öffentlichkeit überprüft werden und der Frage nachgegangen wird, was »unter ›Gastarbeiterdeutsch‹ als Projekt intendiert« wurde und inwieweit es umgesetzt werden konnte (vgl. 27). Chiellino begibt sich also aus der sozialgeschichtlichen Perspektive der interkulturellen Literatur auf die Suche nach ausschlaggebenden Argumenten, die das Vorkommen von ›Gastarbeiterdeutschen‹ in einem ›solidarischen‹ und ›kreativen‹ Einsatz der Sprache widerspiegeln sollen. Diese Suche verläuft entlang von vier involvierten Sprachbereichen: der deutschen Sprache ab 1955 (vgl. 33f.), Schlager und Liedermacher (vgl. 35-39), der deutschen Literatur der 1960er und 70er Jahre (vgl. 39-42) und schließlich der Sprachtendenzen in der Forschung und Publizistik bezüglich der Anwesenheit der Gastarbeiter in der damaligen Bundesrepublik Deutschland (vgl. 42-44). ›Gastarbeiterdeutsch‹ bedeutet im Anschluss an Franco Biondis Über Obrigkeitsdeutsch und Pluralität in der Sprache (1995) eine »deutsche Sprache«, die »den Gastgeber als Gesprächspartner nicht ausschließt, ihn jedoch nicht mehr als einzigen Referenten im Bezugssystem des Deutschen vorsieht« (28). Bei seinem Einblick in das gesellschaftspolitische Klima der 70er Jahre stellt Chiellino eine Verlagerung des politisch-engagierten Wir der 60er Jahre auf ein gruppenspezifisches Wir im Sinne von »Interessengemeinschaften« (30) fest. Dieses Wir leite sich, so Chiellino, »aus der spezifischen Andersartigkeit der jeweiligen Interessengemeinschaft ab« (30). An dieser Feststellung orientiert sich dann die Frage nach einer solidarischen Sprache als Kriterium des Projekts ›Gastarbeiterdeutsch‹. Chiellino stellt jedoch fest, dass dieses Projekt gescheitert sei, denn erstens seien die Voraussetzungen und das bedingte Zugehörigkeitsbekenntnis der Autoren zu Einwanderern disparat, zweitens hätten die Nachkommen dieser Autoren das Deutsche in der Schule erlernt und deshalb keine Notwendigkeit gesehen, sich eine Sprache anzueignen, die vermutlich ihr eigenes Selbstbild zusätzlich belasten würde, und drittens habe es in der Einwanderung das Phänomen noch nicht gegeben, dass »die Einwandererminderheiten ihre kulturell-ethnische Zugehörigkeit zugunsten einer überethnischen Zugehörigkeit auflösen« (50). Nicht gescheitert ist dieses Projekt allerdings in ästhetischer Sicht. Und genau dies, würde der Leser zumindest erwarten, sollte auch im Zentrum der folgenden Beiträge stehen.
Das ›Interkulturelle‹ am Werk José F.A. Olivers steht im Blick von Ana Ruiz’ Beitrag als Beginn einer »interkulturelle[n] Literatur spanischer Herkunft in Deutschland« (54). Wenn es in Deutschland eine Avantgarde gebe, die das Potential einer »Neudefinierung der Gastarbeiterliteratur« (54) besitzt, so sei sie in den Werken derjenigen Autoren zu suchen, die »die Sprache gewechselt haben« (54) und deren Werke das Merkmal eines »kreativen Dialog[s] zwischen den zwei oder mehr Sprachen und deren historisch-literarischem Gedächtnis« (54) tragen. Anders als Lamping spricht Ruiz von einer »allmähliche[n] Eingliederung dieses literarischen Korpus in den Literaturkanon in deutscher Sprache« (54). Diese Einschätzung ist insofern problematisch, als sie die interkulturelle Literatur als etwas zur Kultur Hinzugekommenes betrachtet. Die intertextuelle und teilweise komparatistisch angelegte Analyse von Olivers Werk einerseits, der Bezug dieser Analyse zur theoretischen Grundlage der germanistischen Interkulturalitätstheorien andererseits lassen Zweifel aufkommen: Gefragt wird nach der Repräsentation des Attributs ›Interkulturalität‹ in Olivers Werk und nach der interkulturellen Sprache des Autors (vgl. 56). Obwohl die »Bezeichnung ›interkulturelle Literatur‹ direkt auf das Untersuchungsobjekt« (55) verweisen soll, wird dieses Objekt aus der biographischen Perspektive erst hergestellt (vgl. 56-60). Folglich ist nicht die Literatur das Untersuchungsobjekt, sondern der Autor.
Kritisch wird diese Position in Adrian Bieniecs Beitrag beleuchtet, und zwar im Hinblick auf die in der feuilletonistischen Literaturkritik häufig gern gesehene Vermittlungsrolle des interkulturell profilierten Autors und dessen Eigenschaft als ›Brückenbauer‹. Am Beispiel von Radek Knapps Erzählband Franio setzt sich Bieniec das Ziel einer kritischen Überprüfung der auktorialen Vermittlerrolle und argumentiert, dass die hier versammelten fünf Erzählungen keineswegs den Eindruck erweckten, als erhebe Knapp den Anspruch, ein Kulturvermittler zu sein (vgl. 99), denn zwischen Autor und Leser bestehe, so Bieniec im Anschluss an George Steiners Abhandlung über Sprache und Übersetzen, eine Gedächtnisbarriere, und zwar insofern, als die interkulturelle Literatur über die interkulturelle Profilierung des Autors hinaus vor allem die interkulturelle Kompetenz des Lesers fordere. Damit schließt Bieniec unmittelbar an die Diskussion über die plurilingual competence an. Diese Barriere lässt sich, so sein Verständnis, nicht durch den Rückgriff auf Autorenbiographien beheben, sondern nur durch die Sprache. Sprache und Gedächtnis von Autor und Leser müssten nicht zwangsläufig »kongruent« sein; durch Erzählmodelle jedoch könne das »anderenorts gelagerte Gedächtnis in die mitteilende Sprache« überführt werden (103). Hieraus wächst die Erkenntnis, dass über eine interkulturelle Literatur erst dann gesprochen werden kann, wenn die Sprache selbst den Ausgangspunkt bildet.
Die mitteilende Sprache und ihr ästhetisches Vermögen stehen im Zentrum von Pasquale Gallos Beitrag über Feridun Zaimoğlus Erzähltexte Kanak Sprak und German Amok. Ausgehend von den Titelwörtern Kanak und Amok geht es um die Frage nach den soziokulturellen und literarischen Hintergründen. In ihnen sieht Gallo einen kolonialen Ursprung (vgl. 106-112) mit einem intertextuellen Bezug zu Vorläufertexten wie etwa Der Amokläufer von Stefan Zweig. Darüber hinaus besteht Gallos hauptsächliches Anliegen in der Vermessung der historischen Tiefe beider Wörter in ihrer künstlerischen Produktivität. Die ästhetische Funktion von Zaimoğlus Werk stellt Gallo in Kanak Sprak anhand einer Reihe von Metaphern fest, die – »poetisch verfremdend« (106) – der türkischdeutschen Welt der Migranten Ausdruck verleihen. In German Amok werde über die sprachliche und soziopolitische Kritik hinaus ein ebenso wichtiger, in den kritischen Studien jedoch weitgehend vernachlässigter Aspekt in den Vordergrund gerückt, nämlich der »herbe Kolonialgeruch, der über die ganze Geschichte weht« (114). Das Ästhetische macht Gallo in einer Art Code-mixing (malaysisch Amok, englisch German) aus, das sich nicht nur im Text widerspiegelt, sondern auch intertextuelle Ähnlichkeiten zur deutsch(sprachig)en Literatur des 20. Jahrhunderts aufweist (Stefan Zweig).
Phänomene sprachlicher Varietäten und mehrsprachiger Handlungssituationen ziehen auch Ulrike Reegs Aufmerksamkeit auf sich. Reeg stellt den 1956 in Südbrasilien geborenen und im Milieu deutschstämmiger Auswanderer aufgewachsenen Schriftsteller Claudio Matschulat – alias Zé do Rock – vor und bespricht die Texte fom winde ferfehlt (1997) und deutsch gutt sonst geld zurück (2002) auf der Grundlage von kognitiven Aspekten der Rezeption. In Reegs Beitrag wird die autobiographische Selbstdarstellung des Autors im Kontext einer narrativen Identitätsarbeit thematisiert (vgl. 124-126). Bei der Analyse stehen der (autobiographische) Ich-Erzähler und die von ihm in beiden Texten benutzten Ausdrucksformen im Vordergrund, mit deren Hilfe die narrative Identitätsarbeit gestaltet werden soll. Der vielleicht interessanteste und aktuellste Aspekt spiegelt sich in der Auseinandersetzung mit Varianten des Erzählens und in der Untersuchung von kognitionslinguistischen Aspekten der Rezeption im Rahmen von Charles Fillmores Blick auf das Wissen und dessen Frames wider (vgl. 133-135). Hierauf gründet Reegs Diskussion über das Lesen und Verstehen von Zé do Rocks Texten, die in der Erkenntnis kulminiert, dass die Lektüre den Leser insofern herausfordert, als dieser im Verlauf des Rezeptionsprozesses angehalten ist, seine bereits vorhandenen Wissensstrukturen im Hinblick auf sprachliches und konventionalisiertes Regelwissen stets zu überprüfen und zu ergänzen (vgl. 135-137).
Mit Tawadas Werk befasst sich Marion Grein und konzentriert sich auf den komplexen Zusammenhang von Identität und Sprache, ohne jedoch einen theoretisch ausgearbeiteten Ansatz zu entwickeln. Grein entwirft eine historische Grundlage der interkulturellen Literatur im Kontext der ›Gastarbeiterliteratur‹ (vgl. 139), vernachlässigt aber, dass die Biographie von Tawada, von der sie als Zugangskriterium ausgeht, keine Parallelen zu dem Kontext aufweist. Gegenstand und Kontext fallen auseinander. Was Grein entgeht, ist die eigentliche Problematik, nämlich die Analyse der interkulturellen Literatur auf der biographischen Ebene. Demnach ist nicht die Autorin diejenige, die laut Grein interkulturell ist (vgl. 141), sondern das Werk. Anders als Grein betrachtet Natalia Shchyhlevska das Werk Vladimir Vertlibs, wenn sie bereits zu Beginn die Zugehörigkeitsprädikate ›russisch‹ und ›jüdisch‹ kritisch hinterfragt (vgl. 167f.). Ihr Zugang zum Material liegt in Formen der Sprachgestaltung und Techniken des interkulturellen Schreibprozesses.
Paul Celan in Hertha Müllers Rezeption bildet den Analysegegenstand von Raluca Dimian-Hergheligiu mit Blick auf die Beziehung zwischen Sprache und Visualität in Müllers In jeder Sprache sitzen andere Augen und Celans Edgar Jené und der Traum vom Traume. Im Fokus steht die Entwicklung der Sprache zu einem »Identitätskodex« (206) als prägendem Aspekt von Müllers und Celans Werk. Was diese Werke in Dimian-Hergheligius Perspektive verbindet, ist die Bildung einer auf den rumänischen Surrealismus der 1940er Jahre zurückgehenden Neigung zur Metaphorik: Collagenhafte Bilderassoziationen werden zu Metaphern geschlossen. Durch die Sprache wird eine Perspektive auf die Welt gestaltet, die sich wiederum in einer Metaphorik niederschlägt (207). Das Verhältnis beider Autoren zueinander wird in der »Reflexivität in Bezug auf die Sprache und die Grenzen des jeweiligen Vorgangs der Übertragung von Bildern in Wörter« (208) gesucht. Hier kann man tatsächlich von einer bewegten Sprache sprechen: eine Sprache, die nicht nur durch neue Metaphorik sich selbst bewegt, sondern auch die Welt mit-bewegt (vgl. 213-215). Chantal Wright widmet sich Franco Biondis Roman In deutschen Küchen (1997) aus einer deutsch-englisch vergleichenden Perspektive, wobei sie sich in ihrer stilistischen Analyse auf Antoine Bermans Übersetzungstheorie und Viktor Shklovskys Literaturtheorie beruft. Durch eigene Übersetzungsarbeit veranschaulicht Wright die Verfremdungstechniken des Autors. Dabei ist ihre Perspektive hauptsächlich auf die Möglichkeiten gerichtet, welche die Fremdheit so, wie sie den Text in der Originalfassung prägt, bewahren helfen. Damit plädiert Wright für die Sensibilisierung des Übersetzers im Hinblick auf die stilistischen Besonderheiten interkultureller Werke.
Szilvia Lengls Diskussion der Frage nach den Aspekten der Loyalität und ihren Darstellungsweisen im Roman Totalschaden aus der Feder der Bielefelder Autorin Que Du Luu schließt den Band ab. Im Vordergrund steht in ihrer Betrachtung das Gedächtnis, von dem auch erzählt wird. Doch läuft ihr Zugang zu den Gedächtnisinhalten nicht über die Suche nach Verbindungsmomenten zwischen einem kollektiv und einem individuell geteilten Gedächtnis; im Gegenteil: Sie nimmt das vorhandene Gedächtnis zum Anlass zu hinterfragen, ob das kulturelle Gedächtnis des Protagonisten Patrick Müller über die physischen und sprachlichen Grenzen der Stadt Bielefeld hinausgeht. Der Roman erzählt die Geschichte eines ›Deutschen‹, aus der Lengl schließt, Luu lege Wert darauf, ihre Romanfiguren als ›Deutsche‹ zu deuten (vgl. 265f.). Sie profiliere sich durch ihr Werk, so das Fazit, als Autorin, die das Gegenbild der »interkulturellen Autoren« (Grein, 141) verkörperten soll. Wenn Patrick als eine limitierte Figur konstruiert wird, geschieht dies deshalb, weil ihm, so Lengl, Erinnerungen an eine andere Sprache und ein anderes kulturelles Gedächtnis verweigert werden. In dieser Vorgehensweise sieht Lengl eine Ausklammerung von ›Interkulturalität‹ und die bedingungslose Assimilation als lediglich temporären Lösungsansatz. Anders formuliert, setzt Lengl die problematische Notwendigkeit voraus, dass ein deutscher Roman, der von einem wie auch immer interpretierten Nichtdeutschen geschrieben worden ist, keine interkulturellen Bezüge aufweisen könne, solange die nichtdeutschen Elemente unberücksichtigt blieben. Doch würde diese Auffassung das genaue Wissen von dem, was ›deutsch‹ oder ›nichtdeutsch‹ ist, voraussetzen. Diese Prämisse würde ihrerseits eine ontologische Auffassung von Kultur nahelegen – eine Auffassung, die von der interkulturellen Germanistik grundsätzlich nicht geteilt wird.
Insgesamt führt der Sammelband Bewegte Sprache die kontroversen Debatten über die interkulturelle Literatur weiter, die, obschon sie teilweise theoretisch, teilweise interpretatorisch auseinanderfallen, dennoch den Beweis für den progressiven Prozess einer reichhaltigen Literatur der deutschen Gegenwart vor Augen führen. Singulär kann die Sprache dieser Literatur keineswegs sein, denn eine solche Auffassung widerspräche dem Kern der interkulturellen Literatur.