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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 6. Jahrgang, 2015, Heft 2: Der Fall Jiří Gruša und sein ›Fallen‹ in die deutsche Sprache (Renata Cornejo)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Der Fall Jiří Gruša und sein ›Fallen‹ in die deutsche Sprache (Renata Cornejo)

Der Fall Jiří Gruša und sein ›Fallen‹ in die deutsche Sprache

Renata Cornejo

Abstract

Among the Czech ‘Migration authors’ who left Czechoslovakia after 1968, Jiří Gruša belongs to the oldest generation, those who had already developed their own Czech writing style before his 1981 exile. This article examines the changes in the use of language in Gruša’s literary work since his 1981. The changes took place under difficult conditions and had a lasting effect on his literary work from, especially in his precise work with the language, his fondness for etymology and his entirely creative use of the German language. This is demonstrated by selected poems from his two collections Der Babylonwald (1991) and Wandersteine (1994), as well as on his collection of essays Gebrauchsanweisung für Tschechien (1999).

Title:

The Case of Jiří Gruša and his ›Cases‹ for the German Language

Keywords:

Gruša, Jiří (1938-2011); migration literature; contemporary German literature; multilingualism; new language change

1. Deutsch schreibende Autoren / Autorinnen aus der ehemaligen Tschechoslowakei

»Erst im stummland bin ich stumm geworden« (Gruša 1994: 40) lauten die ersten zwei Zeilen aus dem Gedicht Wortschaft eines der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller tschechischer Herkunft – von Jiří Gruša. Die Zeilen beziehen sich metaphorisch auf die Situation eines Migrationsautors, der sich im fremden Land mit einer neuen Sprache konfrontiert sieht, die er sich als Dichter erst ›aneignen‹ muss, andererseits ist das Wort »stummland« eine wortwörtliche Übersetzung des tschechischen Wortes »Deutschland« ins Deutsche (tsch. »Německo« von »němý«, dt. »stumm« ) – eine kreative Wortschöpfung, die stellvertretend für die häufig angestrebte Dialogizität der Texte solcher Autoren und Autorinnen stehen kann.

Aus Jiří Gruša wurde einer der wichtigsten Vertreter der deutsch schreibenden Gegenwartsautoren, die aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammen – die meisten von ihnen haben das Land im Zusammenhang mit dem Prager Frühling und der nach 1968 folgenden sogenannten Normalisierungszeit verlassen. Dass ihr Einzug in die deutsche Literatursprache durchaus als erfolgreich bezeichnet werden kann, belegen zahlreiche Preisverleihungen: Mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis wurden neben Jiří Gruša (Ehrengabe zum Adelbert-von-Chamisso-Preis 1997) auch Ota Filip (1986), Libuše Moníková (1991), Magdalena Sadlon (2008 Förderpreis) und Michael Stavarič (2012 Hauptpreis) ausgezeichnet; der Alfred-Döblin-Preis1 wurde an Libuše Moníková für ihren Roman Die Fassade (1987) und an Jan Faktor für seinen Roman Schornstein (2005) verliehen; für seine originellen und kreativen Kinderbücher erhielt Michael Stavarič bereits dreimal den Österreichischen Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur2 und 2013 für das Kinderbuch Gloria nach Adam Riese den Literaturpreis Luchs3, der ihm den literarischen Durchbruch in diesem Genre auch in der BRD verschaffte. 2010 wurde Jan Faktors Roman Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams aus Prag für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und Milena Odas Text Der Briefschreiber bekam 2007 eine Nominierung für den Ingeborg-Bachmann-Preis, um auch die jüngste Generation zu nennen.

Dass sich die Autorinnen und Autoren aus der ehemaligen Tschechoslowakei nach dem vollzogenen Sprachwechsel im deutschsprachigen Raum so erfolgreich durchsetzen konnten, wie es Jiří Gruša, Ota Filip, Irena Brežná oder Libuše Moníkova in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gelungen ist, ist für ein so kleines Land durchaus eine erhebliche Leistung. Insbesondere im 21. Jahrhundert, als die sogenannte interkulturelle Literatur sowie das Phänomen der Mehrsprachigkeit bzw. der Polyphonie und Dialogizität der Texte von Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund in den Fokus sowohl des Literaturbetriebs (vgl. Preisverleihungen, Buchbesprechungen) als auch der Literaturwissenschaft gerückt sind, gewannen die Autorinnen und Autoren tschechischer Herkunft innerhalb der deutschsprachigen Literaturszene immer mehr an Bedeutung, obwohl sie noch vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes in der Tschechoslowakei im Jahre 1989 ausgewandert sind: 1999 erscheint der erste Teil der sogenannten Stehendofer Trilogie von Milan Ráček; 2000 publiziert Jaromir Konečný, der zweimalige Vizemeister des Internationalen Poetry Slams in Deutschland, seinen ersten Erzählband slam stories und Michael Stavarič seinen ersten Gedichtband Flügellos; 2002 wird der autobiographisch geprägte Debütroman Novemberfäden von der in der Schweiz lebenden Katja Fusek publiziert; 2006 erscheinen das Erstlingswerk Eine Suche nach Glück von Stanislav Struhar, Stavarič’ erster Roman stillborn und sein erstes Kinderbuch Gagalagu, der erste Roman Schornstein von Jan Faktor und der erste Roman Die Töchter der Róza Bukovská von Zdenka Becker; 2008 folgt der erste Roman Die beste aller Welten von Irena Brežná; 2011 debütiert schließlich Milena Oda mit ihrem Roman Nennen Sie mich Diener. So könnte man, etwas euphemistisch formuliert, die Behauptung wagen, dass die nach 1945 gewaltsam unterbrochene Tradition der deutschsprachigen Literatur aus Böhmen und Mähren durch die politischen Umstände nach 1968 und während der darauf folgenden ›Normalisierungszeit‹ durch dieses neuzeitliche Phänomen eine Art ›Fortsetzung‹ erfahren hat, indem die Autorinnen und Autoren aus der ehemaligen Tschechoslowakei, verwurzelt in der tschechischen oder slowakischen Kultur, zum wichtigen und integralen Bestandteil der deutschsprachigen Literatur wurden.

2. Einzelne Generationen und und ihre Spezifika

Mittlerweile kann in Bezug auf die deutsch schreibenden Autorinnen und Autoren, die im Zusammenhang mit dem Jahr 1968 die damalige Tschechoslowakei verlassen und sich im deutschsprachigen Ausland niedergelassen haben, von drei bzw. vier Generationen gesprochen werden. Die besonderen Merkmale dieser vier Generationen sollen im Folgenden dargestellt werden. Es ist allerdings anzumerken, dass es sich um eine stark ›vereinfachende‹ Einteilung handelt, die einen ersten Einblick in die Breite des Phänomens vermitteln soll, jedoch keineswegs dessen Komplexität gerecht werden kann, in der unterschiedliche persönliche Beweggründe für die Emigration bzw. die Emigrationsumstände selbst (legal / illegal, politisch / unpolitisch motiviert, erzwungen / freiwillig), unterschiedliche Vorkenntnisse der deutschen Sprache, das unterschiedliche Alter zum Emigrationszeitpunkt und beim vollzogenen Sprachwandel u.v.m. zu berücksichtigen wären.

  1. Die erste, noch vor dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation war schon vor dem Jahr 1968 literarisch tätig und meistens wegen ihrer kritischen Einstellungen dem Regime gegenüber bekannt. Als Befürworterin der in den 60er Jahren eingeleiteten Reformen wurde sie nach 1968 behördlichen Restriktionen ausgesetzt und später direkt oder indirekt zur Ausbürgerung gezwungen (vgl. Jiří Gruša, Ota Filip oder Pavel Kohout, obwohl sich der Letztere Anfang der 50er Jahre als Autor zunächst mit regimekonformen Gedichten über den sozialistischen Aufbau des Landes einen Namen machte). Für sie gestaltete sich der Heimat- und der damit verbundene Sprachwechsel nicht zuletzt wegen des relativ hohen Alters schwierig (Jiří Gruša war 47 Jahre alt, als er literarisch in die deutsche Sprache wechselte).
  2. Anders verhält es sich bei der zweiten Generation, die während des Zweiten Weltkrieges und später geboren ist und ihre literarische Tätigkeit erst nach der Emigration, gleich in der Fremdsprache, begonnen hat. Sie ist in der Zeit der sozialistischen Aufbauphase aufgewachsen, erlebte mit großer Begeisterung die politische Liberalisierung der 60er Jahre sowie ihre anschließende gewaltsame Unterbrechung in noch jungem Alter und umso intensiver (Libuše Moníková war 23 Jahre alt und studierte an der Karlsuniversität Germanistik, Jan Faktor erlebte die damalige liberale Atmosphäre mit 17 Jahren als eine Art ›Rausch‹; vgl. Faktor / Simon 2000: 31). Beide Autoren haben das Land offiziell verlassen (Heirat) und mussten, im Unterschied zu vielen anderen, den Kontakt zu ihrem Heimatland und ihrer Muttersprache nie abbrechen.
  3. Die Vertreter der dritten Generation haben den ›Prager Frühling‹ nicht mehr direkt erlebt, da sie zu diesem Zeitpunkt noch zu jung waren. Einige von ihnen sind im Erwachsenenalter ausgewandert, einige wurden noch im Kindesalter von den emigrierenden Eltern während der ›Normalisierungszeit‹ in der Hoffnung auf ein besseres Leben im westlichen Ausland mitgenommen. Die Letzteren kamen demzufolge in das neue Land noch als Kinder, sodass sie bereits im Zielland sozialisiert und eingeschult wurden, was in der Regel zu einer schnellen und problemlosen Aneignung der neuen Sprache führte (bei einigen entwickelte sich im Laufe der Jahre die zweite Sprache zur Hauptsprache).
  4. Mittlerweile kann auch noch von einer vierten Generation gesprochen werden, zu der die Autorin Milena Oda (geb. 1975) zu rechnen wäre. Sie lebt heute abwechselnd in Berlin und New York und schreibt sowohl in deutscher als auch in tschechischer und englischer Sprache. Ihre Wahl der neuen Sprach- und Literaturheimat ist das Ergebnis einer rein persönlichen Präferenz, die erst im Zuge des allmählich zusammenwachsenden Europas (Erweiterung der Europäischen Union) und der zunehmenden Globalisierung realisierbar geworden ist. Sie repräsentiert damit die neue Generation des 21. Jahrhunderts.

Wie schon erwähnt, die Hintergründe und Umstände, die die Autorinnen und Autoren zum Schreiben in der deutschen Sprache bewegten, sind nicht nur zwischen den, sondern auch quer durch die einzelnen Generationen recht unterschiedlich, sodass auch der Sprachwechsel höchst individuell verlief. Für einige war er, wie bei Jiří Gruša, mit einer schweren persönlichen Krise verbunden, für andere vollzog er sich allmählich, kaum bemerkbar im Laufe der Jahre, für einige war er das Ergebnis einer pragmatischen Überlegung im Hinblick auf die Größe des Lesepublikums oder eine logische Entscheidung für eine Weltsprache. Insbesondere für die erste Generation, die ihre eigene literarische Ausdrucksweise bereits in der tschechischen Sprache fand, war der Sprachwechsel in eine andere Literatursprache höchst problematisch bzw. nur teilweise möglich: So veröffentlichte Ota Filip (geb. 1930) seinen ersten tschechischen Roman, Cesta ke hřbitovu, 1968, seinen ersten auf Deutsch verfassten Roman, Großvater und die Kanone, 1985, im Jahre 2000 legte er seinen Roman Der siebente Lebenslauf in zwei Sprachfassungen gleichzeitig vor, und in den letzten Jahren schreibt er wieder auf Tschechisch. Ein anderes Beispiel ist der partielle Sprachwechsler Pavel Kohout, der in der Emigration nur seine dramatischen Werke auf Deutsch, alle seine Romane jedoch auch weiterhin auf Tschechisch verfasste.

Die drei Namen – Pavel Kohout (geb. 1928), Ota Filip und Jiří Gruša (geb. 1938) – stehen nicht zuletzt auch für die ganze Spannweite aller möglichen politischen Einstellungen zum damaligen Regime, obwohl der Lebensweg alle drei zu demselben Ergebnis führte – zur Ausbürgerung aus der Tschechoslowakei und Emigration in ein deutschsprachiges Land. Alle drei waren Zeugen der inszenierten Schauprozesse der 50er Jahre, beteiligten sich als Journalisten oder junge Autoren aktiv in der Periode des ›Tauwetters‹ der 60er Jahre und erlebten die Repressionen der folgenden ›Normalisierungszeit‹ der 70er Jahre. Trotz der Angehörigkeit zu derselben Schriftstellergeneration, die dasselbe zur selben Zeit erlebte, repräsentieren sie doch durchaus unterschiedliche individuelle Schicksale und unterschiedliche politische Einstellungen: Pavel Kohout, ein überzeugter Aufbau- und später unerwünschter Reformkommunist, Ota Filip, ein sich bereits in den 50er Jahren von den kommunistischen Idealen distanzierender Beobachter, und Jiří Gruša, ein überzeugter Demokrat und von Anfang an ein unnachgiebiger Kritiker des Regimes. Erst in der unfreiwilligen Emigration (Filip wurde 1974, Kohout 1978, Gruša 1981 ausgebürgert) werden sich ihre Wege kreuzen, und erst dort werden sie sich trotz unterschiedlicher Biographien und Weltanschauung anfreunden und gegenseitig helfen. Jeder aus seiner Sicht werden sie diese Zeit mit ihren Werken literarisch darstellen und so ein überzeugendes Gesamtbild der Epoche liefern, wie es Pavel Kohout anlässlich des 70. Geburtstages von Jiří Gruša zutreffend formulierte:

Wir legen zwei Hälften eines widersprüchlichen Bildes in ein Gesamtbild zusammen, bemüht dabei um eine möglichst objektive Sicht auf drei Viertel des 20. Jahrhunderts. Jeder von uns singt dabei seinen Part, damit das Publikum das möglichst sauberste Duett darüber hört, dass auch ganz unterschiedliche Lebensläufe nicht gegeneinander laufen müssen. (Kohout 2008: 24.)

3. Grušas ›Fallen‹ in die deutsche Sprache

Der 1938 in Pardubice in einer wohlhabenden Beamtenfamilie geborene Jiří Gruša hatte ein bewegtes Schicksal. Als begabter junger Intellektueller machte er sich bereits Anfang der 60er Jahre als Dichter einen Namen, wobei er die Verpflichtung der Literatur gegenüber jeglicher Ideologie immer ablehnte. Die 1964 von ihm mitgegründete Literaturzeitschrift Tvář (dt. »Gesicht«) verstand sich als ein nichtmarxistisches Literaturforum, wie auch die ein Jahr später mitbegründeten Hefte für junge Literatur. Nach dem Scheitern der Reformierungsbewegung im Jahr 1968 wurde er im Zuge der folgenden ›Normalisierungszeit‹ sehr bald mit dem Verbot öffentlicher literarischer Tätigkeit belegt (der offizielle Grund dafür war die angebliche Pornographie in seinem Roman Mimner) und er konnte von nun an seine Werke nur im Samisdat4 verbreiten. Dort (in der Edition Petlice) erschien 1978 auch sein Roman Dotazník aneb motlitba za jedno město a jednoho přítele (dt. Der 16. Fragebogen), der zum Anlass der strafrechtlichen Verfolgung des Schriftstellers und seiner Inhaftierung im August 1978 wurde. Zwar wurde Gruša aufgrund der persönlichen Intervention von Heinrich Böll kurz darauf entlassen, man hat sich jedoch des unbequemen Schriftstellers und Unterzeichners der Charta 77 (eines Dokuments, in dem die Einhaltung der Bürgerrechte in der Tschechoslowakei gefordert wurde) bald ›entledigt‹: Nachdem Gruša das Angebot eines dreimonatigen Stipendiums in den USA angenommen hatte, wurde ihm 1980 kurz vor seiner Rückkehr wegen angeblichen staatsfeindlichen Äußerungen von der tschechoslowakischen Regierung die Staatsbürgerschaft aberkannt. Zu diesem Zeitpunkt war der Autor bei seinen Freunden in der Schweiz und entschied sich, ohne lange überlegen zu müssen, für die Bundesrepublik Deutschland als vorläufige ›Heimat‹.5 Er sprach ein relativ gutes Deutsch und war durch Bölls Intervention sowie seinen ins Deutsche übersetzten Roman Der 16. Fragebogen (1979 übers. von Marianne Pasetti-Swoboda) dem deutschen Publikum nicht ganz unbekannt. So ließ sich ein de facto ›prominenter Exilautor‹ in St. Augustin bei Bonn nieder. Trotz seiner Bekanntheit sowie der finanziellen Unterstützung seines Verlegers in der Anfangsphase blieb Grušas Wirkungskreis in der BRD zunächst eingeschränkt. Als ein etablierter tschechischer Dichter, der unerwartet und gegen seinen Willen sein Lesepublikum verloren hat, sah er sich in einem fremden Land mit einer fremden Sprache konfrontiert – ein Dichter, der nie an einen Sprachwechsel gedacht hätte, wenn er nicht sozusagen über Nacht »im stummland stumm« geworden wäre. In einem Interview bezeichnet Gruša rückblickend seine damalige Ausbürgerung als einen sehr harten »Schicksalsschlag«, der ihn beinah das Leben gekostet hätte (vgl. Gruša in Cornejo 2010: 460). Der Autor bezieht sich mit diesen Worten auf den besonderen Verlauf seines Sprachwechsels, der mit einem physischen und psychischen Zusammenbruch einherging. Anfangs traute sich Gruša nur kurze Texte wie Rezensionen oder Essays auf Deutsch zu schreiben. Nachdem er an der deutschen Übersetzung seines letzten tschechischen Romans Doktor Kokeš – Mistr Panny (dt. Janinka, erschienen 1984) mitgearbeitet und versucht hatte, tschechische Sequenzen künstlerisch adäquat ins Deutsche zu übertragen, intensivierte sich seine persönliche Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache dermaßen, dass er einen stressbedingten Hirnschlag erlitt und vorübergehend erblindete. Im fremden Land, in der Universitätsklinik Venusberg bei Bonn eingeliefert, ergriff den Schriftsteller das Gefühl, die Augen der Welt zu haben: »Mitten in dem Sturz war ich mir beinah sicher, daß die Welt sich durch uns ihre Augen besorgt. Mein PADÁNÍ [tsch. »das Fallen«, »der Sturz«] – ein schönes tschechisches Wort für einen Fall, der gerade geschieht – war omnipräsent, da auch die Welt in mich hineinstürzen wollte.« (Gruša 2000: 42)

Eine Bekannte brachte Gruša sein tschechiches Gedicht Padání in deutscher Übersetzung von Peter Lotar unter dem Titel Predigt den Fischen ins Krankenhaus mit. In der deutschen Fassung verschwand die Nebenbedeutung des langsamen Fallens im Tschechischen vollkommen. Eine Übertragung des Gedichtes ins Deutsche wurde für Gruša zur persönlichen Herausforderung:

Ich machte mir wieder ein Bildnis. […] Jetzt, als ich nichts mehr sah, kamen Ideen zu mir. […] Ich zeichnete sie, trug sie ein, in das entfernte hellere Dunkel vor mir und wurde glücklich. […] Das Padání, das langsame Fallen, wurde immer konkreter. Ich zeichnete es – als den ersten Text von Thamyris. Selbst im Tschechischen fällt man nich ewig. Irgendwann liegt man am Boden, wird zum Fall. Und alles, was Fall ist, wird auch zur Welt. (Ebd.: 47)

Auf dem Venusberg, im Fallen inbegriffen, brachte sich der erblindete Schriftsteller Ideogramme bei, er vereinfachte Abbildungen von Worten, verkleinerte sie, bis sie wieder zu Buchstaben wurden und deutsche Worte bildeten: »Ich notierte das Deutsche plötzlich wie einst das Tschechische« (ebd.: 51). Der unterschwellig verlaufende Sprachwechsel wurde in seinem Fall als Identitätskonflikt ausgetragen, der zu Wahrnehmungsveränderungen und zur Auflösung der bis dahin klaren Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem führte: »Es kamen Worte zu mir, die ich nicht mehr verlernen sollte. Ich fing an, sie als Tatsachen zu spüren – so wie einst auf Tschechisch. War einst meine tschechische Poetik als Dia-Noia erworben, so wäre jetzt ihre deutsche Schwester als Para-Noia zu verstehen« (ebd.: 51). Mit der »Para-Noia« bezeichnet der Autor keinen Verfolgungswahn oder einen ähnlichen psychischen Zustand, sondern er benutzt beide Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn: Dia-Noia als das, was man »entziffert« und ergründet, die Para-Noia als das, was man »parallel gegen- und nebeneinander« als Wissen erwirbt, im Sinne von »para-noetisch« (Gruša in Cornejo 2010: 466). Oder anders ausgedrückt: »Innerhalb dieser neuen Sprache beherrsche ich nur Gruša!« (Hudabiunigg 1995: 80) – d.h., im Tschechischen stehen ihm zahlreiche Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung, die er automatisch oder spielerisch erworben oder sich durch die Sozialisierung mittels gelesener Literatur oder angefertigter Übersetzungen angeeignet hat, im Deutschen steht ihm dagegen keine ›Klaviatur‹ zur Verfügung, er kann nur das zum Ausdruck bringen, was er selbst erschaffen hat. In der neuen Sprache kann und muss er als Dichter nur auf sich selbst zurückgreifen und einen eigenen Sprachstil bzw. einen ganz spezifischen individuellen Sprachausdruck entwickeln. Das ist es, was auch den Reiz einer solchen ›Sprachwende‹ (und das nicht nur bei Gruša) ausmacht. In diesem Sinne ist der so späte und schmerzvoll vollzogene Sprachwechsel auch in den Augen des Autors rückblickend »eine klare Bereicherung« (Gruša in Cornejo 2010: 465) gewesen: »Ich bin jetzt ein freier Gruša« (Gruša in ebd.: 471). Wie der Autor selbst unterstreicht, spielte dabei die Beziehung zu seiner damaligen Lebensgefährtin und späteren (dritten) Ehefrau, Sabine Gruša, eine bedeutende Rolle, denn ein erfolgreicher Sprachwechsel wäre ohne eine Bezugsperson, die in der neuen Sprache fest verankert ist, nicht zu denken: »Dass sie meine Frau werden würde, war damals noch nicht klar. Sie hat jedoch von Anfang an meinen Kampf um diese neue Sprache begleitet und sehr behutsam mein Deutsch korrigiert, ohne meine sprachlichen Eigenheiten zu eliminieren.« (Gruša in ebd.: 468) Als Dank widmete ihr der Schriftsteller sein Gedicht Der Babylon – der Wald in Ensko (im Lyrikband Der Babylonwald veröffentlicht) sowie dessen bereits 1985 entstandene tschechische Fassung Les Babylon (2001 im Band Grušas Wacht am Rhein aneb Putovní ghetto erschienen).

4. Der Fall J. Gruša – Dialogizität als ästhetische Qualität seiner Texte

Grušas erste auf Deutsch verfasste Gedichtsammlung ist unter dem Titel Der Babylonwald 1991 in der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschienen. Mit dem Titel evoziert Gruša gezielt mehrfache Konnotationen und Assoziationen: Das Grundwort »Wald«, das für Angst, Sich-Verlaufen, Herumirren bzw. Verwirrung steht, wird durch das Bestimmungswort »Babylon« semantisch fortgeführt und erweitert: Babylon impliziert einerseits die Erfahrung des Exils und des Heimatverlustes am Beispiel der jüdischen Gefangenschaft in Babylonien, andererseits aber auch die Verheißung des Endes der Verbannung durch den Auszug aus der babylonischen Gefangenschaft (d.h. das Herausfinden aus dem dunklen Wald). Des Weiteren verweist »Babylon« auf den Turm von Babel, dessen hochmütiger Bau mit der sprachlichen Verwirrung der Völker und der Zerstörung des Turms bestraft wurde. Aus anfänglicher volksübergreifender Verständigung in einer Sprache wurde sprachliche Vielfalt, nachdem Gott den babylonischen Turm zum Einsturz gebracht hatte. Der »Babylonwald« steht also für die sprachliche Vielfalt, aber zugleich symbolisiert er auch die ursprüngliche sprachliche Einheit und die Möglichkeit der Verständigung in einer und durch eine Sprache: »Baboland ist das älteste Symbol der Einigkeit der Sprachen und der tiefsten Wurzeln der Gemeinsamkeit.« (Gruša in ebd.: 467.)

Auch der Titel seiner zweiten Gedichtsammlung Wandersteine (1994) ist mehr als symbolträchtig in Bezug auf die angesprochene Problematik. »Wandernde Steine« sind ein Oxymoron, das zwei gegensätzliche, einander widersprechende bzw. sich ausschließende Begriffe verbindet – unaufhörliche Bewegung und Stillstand. Der Stein versinnbildlicht das Erstarrte, Unbewegliche und ewig Bestehende, das Wandern symbolisiert dagegen die ewige Suche und das Nichtankommen bzw. das nomadenhafte Dasein eines wandernden Dichters. Wandersteine sind des Weiteren im Volksmund auch sogenannte Findlinge6, gerundete Granitblöcke, die hangabwärts ›gewandert‹ sind und nun in Verwitterungsgrus eingebettet am Waldrand liegen und als ein Symbol der Isolation, Vereinsamung bzw. Heimatlosigkeit dienen können. Wandersteine sind aber auch Steine, die beim Wandern in der Natur die Orientierung erleichtern7 und so eine Stütze bzw. einen Halt in der ortlosen Landschaft eines zwischen den Sprachen wandernden Dichters bieten können – eine vielschichtige Chiffre für das Leben eines Dichters (insbesondere mit Migrationshintergrund).

Wie aus diesen zwei Beispielen ersichtlich ist, sind für Grušas dichterische Sprache ungewöhnliche Wortzusammensetzungen, Wortverbindungen, Wortspiele oder gar neue Wortschöpfungen durchaus charakteristisch. Der Sprachwechsel soll bei ihm, so Gruša, das sprachspielerische Element wesentlich verstärkt haben. Das Interesse für die Etymologie und Grušas Bestreben, den Wortbedeutungen immer ›auf den Grund zu gehen‹, wurden für den Schriftsteller de facto zu einer Obsession:

Ich habe mich seitdem für die Etymologie immer mehr interessiert, immer Vergleiche angestellt, immer erforscht, womit was zusammenhängt. In diesem Sinne […] habe ich die Tendenz, immer alles zu vergleichen, zu erklären, zu relativieren und zu fragen, was es bedeutet – das heißt alles in eine Relation zu bringen. Das ist die Konsequenz dieser Bilingualität. (Gruša in ebd.: 465.)

Dieses »Abtasten der Wörter und ihrer Bedeutungen«, das von einer intensiven »Auseinandersetzung mit sprachlichen Phänomenen« sowie vom »Hinterfragen sprachlicher Konventionen« zeugt, ist sicherlich nicht nur für Gruša typisch, sondern für viele deutschschreibende Autoren und Autorinnen anderer Muttersprachen. Ackermann bescheinigt ihnen insgesamt ein »intensiveres Sprachbewußtsein« (Ackermann 1997: 21f.), wobei der Prozess der sprachlichen Neuorientierung manchmal selbst als literarisches Mittel eingesetzt wird, indem sprachliche Normen »bewußt und gezielt« durchbrochen werden oder gezielt ›inkorrektes Deutsch‹ verwendet wird (ebd.: 23). Häufig wird die Mehrsprachigkeit der Autorinnen und Autoren als evidente Dialogizität in die einzelnen Texte eingebaut, indem die ›fremde‹ Schreibweise oder Strukturen der Erstsprache im sprachlichen Erscheinungsbild des deutschsprachigen Textes bemerkbar gemacht werden. So ist das auch bei Gruša, dessen sprachliche Innovationen im Hinblick auf die Verschränkung der Muttersprache mit der deutschen Sprache durchaus vielfältig sind. Die Einbeziehung der evidenten Dialogizität in seine literarischen Texte ist bei ihm zweifelsohne unter den deutschsprachigen Autoren tschechischer Herkunft am meisten ausgeprägt und in dem Sinne sprachen- bzw. grenzübergreifend.8 Zu den typischen Vorgehensweisen gehören:

  1. Tschechische Schreibweise einzelner Wörter: Diese wird beibehalten, vor allem bei den Personen und Ortsnamen.
  2. Tschechische Wörter werden mit oder ohne Übersetzung eingefügt, wobei ein inhaltlicher Bezug bestehen bleibt, wie z.B. im Titel des Gedichts Ein Ort wie Dunkles (Gruša 1991: 32), der eine Übertragung der tschechischen Bedeutung des Ortsnamens »Tmáň« (tsch. »tma«, dt. »Dunkel«) ins Deutsche ist. Hier wird die Leserin oder der Leser sowohl mit der deutschen Übertragungsvariante als auch mit dem tschechischen Original im Untertitel des Gedichts (in Tmáň) konfrontiert.
  3. Verwendung von Abkürzungen tschechischer Wörter als Wortspiel: Mit diversen Kürzeln wie »Itz« und »Ensko« in einigen Gedichten spielt der Autor auf seine Geburtsstadt Pardubitz (dt. Schreibweise, tsch. »Pardubice«) an. Das Kürzel »Ensko« (die Großschreibung lässt auf einen geographischen Begriff schließen) verweist einerseits auf die geographische Region »Rovensko« im Böhmischen Paradies (»Rovensko pod Troskami«), andererseits ist sie auch auf andere tschechische Wörter als Kürzel übertragbar und ermöglicht insofern weitere Deutungen. Die Assoziation mit »Československo« (dt. »Tschechoslowakei«) erlaubt das Wortende als ein Symbol für das vorzeitige Beenden des ›Prager Frühlings‹ und somit der selbstständigen Tschechoslowakei bzw. der Tschechoslowakei mit ›demokratischem Antlitz‹ zu lesen, d.h., das Kürzel fungiert in diesem Moment ebenfalls als graphisches Abbild einer Verstümmelung.
  4. Hybride Ausdrücke: Grušas Vorliebe für das Sprachspiel ist vor allem bei der Verwendung der hybriden Schreibweise von sowohl deutschen als auch tschechischen Wörtern unverkennbar. Eine wahre Fundgrube bieten seine literarischen Essays aus der Essaysammlung Gebrauchsanweisung für Tschechien (1999), in denen einzelne Wörter, teilweise auf Deutsch und teilweise auf Tschechisch geschrieben, mit Witz und Humor spielerisch erklärt werden. Zur besseren Verdeutlichung hier ein Beispiel aus dem Essay Schwalben und Stäbchen, in dem es um die Erklärung der diakritischen Zeichen der tschechischen Sprache geht:

    Nun mein Tschechenforscher, […] es sind haatscheks, wortwörtlich ›Kleinhaken‹, was dir da so chinesisch vorkommt. Und in der Tat, du brauchst noch Stäbchen, die tschaarkas, dazu, um unsere Schreibweise zu genießen. […] Alles, was den Gaumen kitzelt, mögen wir auch lautmalerisch. Die obere Wölbung der Mundhöhle ist das Nest, aus dem unsere Švalben in die Lüfte steigen. […] Doch habe ich dir, majn Čechenforšr, den kompliziertesten Laut noch vorenthalten, unser ř, das bereits im Namen des heiligen Hügels Říp erklang und das du gewiß falsch ausgesprochen hast.« (Gruša 1999: 25-27)

    Grušas Sinn für Wortspiel und Kreativität ist vor allem in seinen Neuwortschöpfungen gut sichtbar. Gute Beispiele sind einzelne Gedichttitel wie Wohnworte oder Wortschaft, die als Metapher für die existenzielle Erfahrung jeder und jedes Emigrierenden in einem fremden Sprachkontext gelesen werden können: im ersten Fall eine Zusammenfügung aus dem Grundwort »Worte« und dem Bestimmungswort »Wohnen«, im zweiten Fall eine ungewöhnliche Substantivierung von »Wort« bzw. eine Zusammensetzung aus »Wort« und »-schaft«, welches für »Landschaft«, »Wanderschaft«, »Ortschaft«, »Partnerschaft« usw. stehen kann, kurzum ein Ort, wo Worte zu Hause sind; ein Ort, wo der Dichter wortlos und somit heimatlos geworden ist; ein Ort, an dem erst durch Worte die Heimat erschaffen werden kann. Das subversive Potenzial solcher Wortschöpfungen wird vor allem dort deutlich, wo man sie irrtümlich für einen Fehler halten könnte und sich erst durch die Auseinandersetzung mit dem Text der Spracharbeit des Autors bewusst wird: so das Wort »mondvoll« statt »Vollmond« (Gruša 1991: 23) oder das Wort »augenäpfel« statt »Augäpfel« (Gruša 2001: 76), bei dem die Augen mit den im Herbst reifenden und vom Baum fallenden Äpfeln verglichen werden.9

  5. Nicht selten werden in Grušas Texten tschechische Wörter wortwörtlich ins Deutsche übersetzt, was einerseits zur Verfremdung des deutschen Textes führt, andererseits nur teilweise oder gar nicht für Lesende ohne Tschechisch- oder landeskundliche Kenntnisse entzifferbar ist. So ist das Gebirge »Šumava« in Grušas poetischer Sprache nicht bloß der »Böhmerwald«, sondern ein »Rauschwald« (Gruša 1999: 35) – eine onomatopoetische Wortbildung, die auf die wörtliche Übersetzung aus dem Tschechischen zurückgeht (tsch. »šumět«, dt. »rauschen«). Im Gedicht Hafenstadt Prag signalisiert die Großschreibung des Wortes »Lachfeld« (Gruša 1991: 14) bei sonst durchgehend beibehaltener Kleinschreibung, dass es sich um einen Namen handeln muss. Die Dechiffrierung des Prager Viertels »Smíchov« – eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Tschechischen – wird für die Ortskundigen durch die Situierung am Bahnhof erleichtert. Das Wortkompositum wird im ersten Teil durch die tschechische Wortbedeutung (tsch. »smích«, dt. »Lachen«) gebildet und im Deutschen durch das Wort »Feld« schöpferisch erweitert – ohne jegliche Erläuterung oder Übersetzung. Ein weiteres Beispiel ist das in der Einleitung dieses Aufsatzes bereits erläuterte Wort »stummland« im Gedicht Wortschaft.

Schlusswort

Mit der Wortbildung »Stummland« (wortwörtliche Übersetzung des tschechischen Wortes »Deutschland«) wird das Stigma der Sprachlosigkeit zur universellen Erfahrung des Verlorenseins verdichtet. Das lyrische Ich hat seine (Dichter-)Sprache im »Stummland« verloren und erst im Verstummen die Bedeutung des Unaussprechlichen verstanden. Trotzdem ist und bleibt die Sprache für das lyrische Ich die einzige Möglichkeit, im »Stummland« zu überleben, indem das »Unsagbare« im »Raum des Redens« in Worte verwandelt wird (vgl. Gruša 1994: 40).

Das Wortspiel »Stummland« für Deutschland funktioniert allerdings nur mit der Kenntnis der tschechischen Sprache. Gruša bemüht sich als Grenzgänger zwischen zwei Sprachen und Kulturen (vgl. Cornejo 2012), die Bildhaftigkeit der Muttersprache durch die wortwörtliche Übersetzung ins Deutsche zu übertragen und dadurch seine neue Literatursprache mit den Bedeutungen seiner Muttersprache anzureichern. Anders gesagt, er schreibt Tschechisch in deutscher Sprache, wie es für sich programmatisch einst Libuše Moníková formuliert hatte (Moníková 1993: 12). Solche Nuancen im Text eines Sprachwechslers zu erkennen und zu verstehen, ist zugegebenermaßen eine Herausforderung für eine einsprachige Leserschaft; ein tschechischer Germanist oder eine deutsche Bohemistin wird sie dagegen vollkommen auskosten können.

Anmerkungen

1 | Das Literarische Colloquium Berlin und die Akademie der Künste (Berlin) richten den Wettbewerb um den nach Alfred Döblin benannten und 1979 von Günter Grass gestifteten Literaturpreis für unveröffentlichte Prosa alle zwei Jahre aus. Seit 2007 wird die Preisträgerin oder der Preisträger durch ein ›Wettlesen‹ bestimmt. Die Nominierten werden ins Literarische Colloquium Berlin eingeladen, wo sie ihre Texte vortragen und zur Diskussion stellen. Die Lesungen der Nominierten werden – ebenfalls seit 2007 – aufgezeichnet und bei Literaturport (Online-Portal für die deutschsprachige Literatur) als Hörprobe veröffentlicht. Die Preisträgerin bzw. der Preisträger wird direkt im Anschluss an die Lesungen von der Jury bestimmt; die Preisverleihung findet traditionell am nächsten Tag in der Akademie der Künste statt.

2 | Er gewann ihn 2007 für Gaggalagu (Kinderbuch), 2009 für BieBu (Sachbuch) und 2012 für Hier gibt es Löwen.

3 | Der Luchs ist ein Literaturpreis für Kinder- und Jugendbücher, der von der Wochenzeitung Die Zeit und Radio Bremen gemeinsam verliehen wird.

4 | Das aus dem Russischen stammende Wort »Samisdat« bezeichnet die Verbreitung von alternativer, nichtsystemkonformer Literatur über nichtoffizielle Kanäle, z.B. durch Handschrift, Abtippen oder Fotokopie und das Weitergeben der so produzierten Exemplare. So war der Samisdat neben privaten Lesungen oft der einzige Weg, nichtkonforme Texte einem breiteren Publikum im eigenen Land zugänglich zu machen.

5 | Gruša interessierte sich schon früher für die deutsche Sprache – er übersetzte u.a. Rilke und Kafka ins Tschechische (seine erste Frau war die Tochter des bedeutenden Prager deutschen Intellektuellen und Germanisten Eduard Goldstücker).

6 | Vgl. das grimmsche Wörterbuch unter »Wanderstein«: »dasselbe wie wanderblock« (Grimm/Grimm 1992: Bd. 27, Sp. 1700), sowie unter »Wanderblock«: »gröszere steinmassen, die durch wasserfluten oder andere elementarkräfte von ihren ursprünglichen lagerstätten entfernt worden sind [...]: erratische blöcke, irrblöcke, findlinge, wanderblöcke» (ebd.: Bd. 27, Sp. 1648).

7 | Die Idee wegmarkierender Wandersteine stammt aus dem Elbsandsteingebirge. Dort sollen solche Steine schon um 1900 aufgestellt worden sein und bis heute liegen.

8 | Dass das Werk von Jiří Gruša nicht nur Sprach-, sondern ebenso Genregrenzen überschreitend ist, belegen Lucie Antošíková, Jan Budňák und Eva Schörkhuber am Beispiel von Grušas Essays Beneš als Österreicher und Gebrauchsanweisung für Tschechien und Prag (vgl. Antošíková / Budňák / Schörkhuber 2014: 13-32).

9 | Gruša dürfte hier von Rainer Maria Rilke inspiriert worden sein, der das Bild der ›reifenden Augenäpfel‹ in seinem Gedicht Archaïscher Torso Apollos verwendet: »Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, / darin die Augenäpfel reiften« (Engel / Fülleborn 1996: 513).

Literatur

Ackermann, Irmgard (1997): Der Stellenwert des Sprachwechsels in der »Ausländerliteratur«. In: Sprachwechsel. Eine Dokumentation der Tagung »Sprachwechsel – Sprache und Identität«, 22. bis 24. November 1996 im Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Hg. v. Samuel Beer u. Franz Peter Künzel. Esslingen am Neckar, S. 16-41.

Antošíková, Lucie / Budňák, Jan / Schörkhuber, Eva (2014): Der Österreich-Spiegel? – Jiří Grušas Essays Beneš als Österreicher und die Gebrauchsanweisung für Tschechien und Prag als Beispiele transkulturellen essayistischen Schreibens. In: Aussiger Beiträge 8, S. 13-32.

Cornejo, Renata (2010): Heimat im Wort. Zum Sprachwechsel der deutsch schreibenden tschechischen Autorinnen und Autoren nach 1968. Eine Bestandsaufnahme. Wien.

Dies. (2012): Jiří Gruša – ein Autor zwischen zwei Sprachen und Kulturen. In: Germanica. Littérature interculturelle de langue allemande 3, H. 51, S. 121-134.

Faktor, Jan / Simon, Annette (2000): Fremd im eigenen Land? Gießen.

Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm (1922): Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 27. Leipzig.

Gruša, Jiří (1991): Der Babylonwald. Gedichte 1988. Nachwort von Sarah Kirsch. Stuttgart.

Ders. (1994): Wandersteine. Gedichte. Stuttgart.

Ders. (1999): Gebrauchsanweisung für Tschechien. München / Zürich.

Ders. (2000): Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall. Vorlesungen über die Prätention der Dichter, die Kompetenz und das Präsens als Zeitform der Lyrik. Dresdner Poetikvorlesungen 1999. Dresden.

Ders. (2001): Grušas Wacht am Rhein aneb Putovní ghetto. České texty 1973-1989. Prag / Litomyšl.

Hudabiunigg, Ingrid (1995): Biographische Aspekte des Schreibens in zwei Sprachen: Jiří Gruša – Dichter und Diplomat. In: Robert Tanzmeister (Hg.): Literarische Mehrsprachigkeit / Multilinguisme littéraire. Zur Sprachwahl bei mehrsprachigen Autoren. Soziale, psychische und sprachliche Aspekte. Ergebnisse eines internationalen Workshops des IFK, 10. bis 11. November 1995. Wien, S. 68-84.

Kohout, Pavel (2008): Der Fall Gruša. In: Proglas XIX, H. 5, S. 22-24.

Moníková, Libuše (1993): Češi jsou národ spolužáků (Interview mit Helena Kanyar-Beckerová). In: Literární noviny 4, H. 36, S. 12.

Rilke, Rainer Maria (1996): Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden mit einem Supplementband. Hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Frankfurt a.M. / Leipzig.

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»Nackt wie ein heiliger Türke« – Textuelle Mehrsprachigkeit in der polnischen Literatur in / aus Deutschland (Renata Makarska)
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