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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 8. Jahrgang, 2017, Heft 1: Interkulturalität als Schreibweise und als Thema Franz Kafkas (Simo)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 8. Jahrgang, 2017, Heft 1

Interkulturalität als Schreibweise und als Thema Franz Kafkas (Simo)

Interkulturalität als Schreibweise und als Thema Franz Kafkas

Simo

Wiederabdruck nach Simo: Interkulturalität als Schreibweise und als Thema Franz Kafkas. In: Leo Kreutzer (Hg.): Andere Blicke. Habilitationsvorträge afrikanischer Germanisten an der Universität Hannover. Hannover 1996, S. 126-141.

Hartmut Binder hat durch die Analyse von zwei Briefen, die Kafka 1921 an Robert Klopstock und Max Brod geschrieben hat, die Position Kafkas gegenüber der Problematik der Assimilation der Westjuden und vor allem der Schriftsteller unter ihnen zu verdeutlichen versucht (vgl. Binder 1987: 17ff.). Seiner Meinung nach übernimmt Kafka die nationaljüdische Grundposition, wonach »die Fremdschicht«, die dem jüdischen Volkskörper in der Diaspora anhaftet, »Außenwerk«, »Beistrich« bleibt und keine Verbindung mit dem jüdischen Geist eingehen kann. Kafka schreibt in der Tat an Max Brod:

Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration […]. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten […]: der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben. (Br. 337f.)1

Hier wird die Tragik einer Generation von Juden mit einer bestechenden Präzision gezeichnet, aber worin besteht eigentlich diese Tragik? Ist sie eine prinzipielle Tragik, die jedem Versuch einer Aneignung und Besitznahme fremdkulturellen Gutes anhaftet? Ist sie die Tragik der Unmöglichkeit der Vermischung zweier kultureller Traditionen, wie Binder andeutet? Es ist sicherlich kein Zufall, wenn Kafka schreibt, diese Schriftsteller klebten noch am Judentum des Vaters, nicht am Judentum schlechthin, sondern am Judentum des Vaters. Worin das Judentum des Vaters besteht, steht in dem Brief an den Vater, den er zwei Jahre zuvor, also 1919, geschrieben hatte. Dort spricht er vom »Nichts von Judentum« des Vaters, das darin besteht, einige Riten zu befolgen, ohne daß sie irgendwelche Bedeutung für das Leben gewinnen. Es ist offensichtlich dieses oberflächliche Judentum, von dem die Generation Kafkas ausgeht und das selbst keinen sicheren Boden bietet.

In dem Brief an Robert Klopstock spricht Kafka von verschiedenen Typen von Abraham, offensichtlich als Erläuterung zu seiner Lage, die er mit einer Blume vergleicht, deren Kopf zur Sonne gestreckt ist, während ihr die Wurzeln Sorge bereiten. Zunächst der Abraham von Kierkegaard,2 von dem Kafka sagt: »[...] er hat schon vorher alles gehabt, wurde von der Kindheit dazu geführt, ich kann den Sprung nicht sehen. Wenn er schon alles hatte und doch noch höher geführt werden sollte, mußte ihm nun, wenigstens scheinbar, etwas fortgenommen werden, das ist folgerichtig und kein Sprung.« (Br. 333)

Hartmut Binder geht davon aus, daß diese Äußerungen mit dem Brief an Max Brod zusammenhängen, in dem die Tragik der versuchten Assimilation der jungen Juden gezeigt wird. Das Opfer, das Kafka hier als Sprung bezeichnet, kann in diesem Zusammenhang als Symbol des Schrittes ins Fremde, in eine fremde Kultur verstanden werden. Bei dem Abraham Kierkegaards ist dieser Schritt kein Sprung, also kein Bruch, weil Abraham in einer Kultur fest verankert ist. Der Schritt in die fremde Kultur ist unter dieser Bedingung kein Wagnis, kein Abenteuer; sie bedeutet keine Gefahr, sondern eine Bereicherung. Es gibt aber einen anderen Typus von Abraham:

Ich konnte mir einen anderen Abraham denken, der […] die Forderung des Opfers sofort bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustandebrächte, weil er von Zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne daß sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort. (Br. 333)

Der andere Abraham, den sich Kafka hier denkt, ist offensichtlich diese junge Generation, die er in dem Brief an Max Brod beschreibt. Auch wenn sie bereit ist, den Schritt in die fremde Kultur zu tun, stellt sie fest, daß sie in ihrer Ursprungskultur noch gebraucht wird, weil diese Kultur überhaupt erst lebendig, erlebbar gemacht werden sollte. Der Abraham, den er sich hier denkt, reagiert anders als die assimilierten jüdischen Autoren, er reagiert wie sein Freund Jizschak Löwy oder die anderen Mitglieder der jiddischen Schauspielergruppe, die er 1911 kennengelernt hatte. Er ist also der Typus des verantwortungsbewußten Juden, der den Anforderungen, die das Stammesbewußtsein an ihn stellt, nachkommt. Die Verweigerung des Schrittes in das Andere ist hier keine prinzipielle, sondern eine kontextbedingte. Der Schritt in die fremde Kultur bleibt unmöglich, solange kein Rückhalt in der eigenen besteht.

Bei beiden Typen von Abraham geht es also nicht um Assimilation, sondern um einen interkulturellen Schritt, um eine Öffnung zum Fremden, die nicht die Aufgabe des Eigenen impliziert, sondern im Gegenteil die Verankerung im Eigenen voraussetzt. Je stärker diese Verankerung ist, umso bereichernder wird die Öffnung. Kulturen sind also keine Monaden, die prinzipiell keine Fenster zur Außenwelt besitzen und nur in ihrer Autarkie bestehen können.

Kafka fügt den beiden Typen von Abraham einen dritten, viel komplexeren hinzu:

[...] aber ein anderer Abraham. Einer, der durchaus richtig opfern will und überhaupt die richtige Witterung für die ganze Sache hat, aber nicht glauben kann, daß er gemeint ist, er, der widerliche alte Mann und sein Kind, der schmutzige Junge. Ihm fehlt nicht der wahre Glaube, diesen Glauben hat er, er würde in der richtigen Verfassung opfern, wenn er nur glauben könnte, daß er gemeint ist. Er fürchtet, er werde zwar als Abraham mit dem Sohne ausreiten, aber auf dem Weg sich in Don Quixote verwandeln. (Br. 333)

Dieser Abraham zweifelt also an seiner Legitimation, an seiner Berechtigung überhaupt, als Repräsentant einer Kultur aufzutreten. Diese Angst vor dem Schritt in das Andere gründet nicht in einer mangelnden Verankerung in der eigenen Kultur, sondern in der Unsicherheit der eigenen Plazierung in dieser Kultur. Es ist die Angst vor der Anmaßung einer Identität und somit der Ausdruck einer Unsicherheit über die eigene Identität, die sich bei der Begegnung mit dem Fremden als Inkonsistenz erweisen und von Außenstehenden, die über genaue Maßstäbe verfügen, als lächerlich betrachtet werden könnten.

Aufgrund dieser Analyse lassen sich bei Kafka also vier Kategorien von Haltungen im multikulturellen Kontext identifizieren:

  1. Die Öffnung zum Anderen von einer ungesicherten, ungefestigten Position aus. Sie führt zur Unsicherheit.
  2. Die Öffnung zum Anderen von einer sicheren kulturellen Identität aus. Sie führt zur Bereicherung.
  3. Der Rückzug auf die eigene Kultur, solange die Verankerung nicht gesichert ist und solange diese Kultur selbst bedroht ist.
  4. Die Unsicherheit über den eigenen Status in der Ursprungskultur und die Angst, bei der interkulturellen Öffnung von falschen Prämissen in Bezug auf sich selbst auszugehen. Diese Haltung ähnelt der ersten dadurch, daß sie zur Unsicherheit führt, sie unterscheidet sich von dieser aber dadurch, daß es sich hier nicht um eine objektive Unsicherheit, sondern um eine subjektive handelt. In der ersten Haltung ist die Verankerung oberflächlich. In der vierten ist eine gewisse Verankerung vorhanden, aber der Betroffene hat Zweifel über sich selbst.

Zu welcher Kategorie ist Kafka zu zählen? 1914 stellt er in seinem Tagebuch fest: »Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit, daß ich atmen kann, in einen Winkel stellen.« (T. 219)

In diesen Sätzen wird nicht eine Gemeinsamkeit mit den Juden negiert. Es werden Zweifel geäußert, die aber nicht bis zur Negation gesteigert werden. Die Möglichkeit der Konstitution einer kulturellen Identität, d.h. der Selbstidentifikation mit einer Kultur, wird in Frage gestellt, und zwar aufgrund der konstatierten Unsicherheit der persönlichen Identität. Der Rückhalt in einer individuell gefestigten Persönlichkeitsstruktur ist für Kafka offensichtlich die Voraussetzung für die Identifikation mit einer Kultur. Kafka läßt sich also der vierten Kategorie zuordnen.

Trotz der Bereitschaft, sich in die Wärme einer Tradition zu fügen, trotz des Verständnisses für die Notwendigkeit, als Einzelner Verantwortung zu tragen für die Kultur eines kleinen, unterdrückten Volkes, trotz der Übernahme einer jüdischen Perspektive bei der Beurteilung von Büchern jüdischer Autoren ist sich Kafka der eigenen jüdischen Identität nicht sicher. Im Gegensatz zu den jüdischen Schriftstellern seiner Generation, die von einem oberflächlichen Judentum ausgehen, kennt er nicht nur das »Judentum des Vaters«, sondern er hat sich intensiv mit dem Judentum befaßt. Er teilt aber mit diesen Schriftstellern eines: die Unsicherheit.

Wie der dritte Typus von Abraham verzichtet er aber trotz dieser Unsicherheit nicht auf die Öffnung zu anderen Kulturen.

In einer Eintragung im Tagebuch über die Literatur kleiner Völker schreibt Kafka 1911: »Alles geschieht in der ehrlichsten Weise, nur daß innerhalb einer Befangenheit gearbeitet wird. […] Schließlich heißt aber Befangenheit nicht nur Verhinderung des Ausblicks, sondern auch jene des Einblicks.« (T. 131)

Das Verständnis für die »Anforderungen, die das Nationalbewußtsein innerhalb eines kleinen Volkes an den Einzelnen stellt« (ebd.), hindert Kafka nicht daran, diese Anforderungen als problematisch oder gar verhängnisvoll zu betrachten. Die Vorzüge der Literatur kleiner Völker – dazu zählt Kafka das jüdische, aber auch das tschechische Volk – sind zugleich auch ihre Schwäche. Die »Einschränkung der Aufmerksamkeit der Nation auf ihren eigenen Kreis« (T. 130), die Kafka in kleinen Literaturen beobachtet, die aber auch in größeren Literaturen beobachtet werden kann, hat eher negative Folgen. Und eine dieser Folgen ist der Verlust an Tiefe. »Wenn auch die einzelne Angelegenheit oft mit Ruhe durchdacht wird, so kommt man doch nicht bis an ihre Grenze, an der sie mit gleichartiger Angelegenheit zusammenhängt.« (T. 131)

Die Grenze, von der hier die Rede ist, ist die Grenze zwischen verschiedenen kulturellen Bereichen wie Literatur, Politik, Wissenschaft usw. – aber offensichtlich auch die Grenze zwischen gleichen Bereichen in verschiedenen Kulturen und in verschiedenen Zeitaltern.

Wenn Kafka die kleinen Literaturen mit den großen vergleicht und dabei auf die Beschränktheit der kleinen Literaturen hinweist, heißt das aber nicht, daß er bei den großen Literaturen nur Vorzüge findet. Auch wenn die großen Literaturen nicht denselben Einschränkungen durch die Anforderungen der politischen Aktualität unterliegen, kennen sie eine andere Einschränkung, die in den kleinen Literaturen fehlt, nämlich die Schwerkraft der Tradition.

Unter demselben Datum wie die Eintragung zur Charakteristik der kleinen Literaturen findet sich in seinen Tagebüchern eine Überlegung über die negativen Auswirkungen der Macht Goethes über die deutsche Literatur, die zwar unabhängig von der ersten Eintragung zu sein scheint, aber in derselben Logik geschrieben wurde. Aus der Perspektive der großen Literaturen kritisiert er die thematischen, politischen und kulturellen Einschränkungen in den kleinen Literaturen, und aus der Perspektive der kleinen Literaturen moniert er den Autoritätsdruck »unwiderstehlicher nationaler Vorbilder« (T. 130) in den großen Literaturen. An diesem Beispiel zeigt sich, wie er dank seiner doppelten kulturellen Perspektive dem einschränkenden Druck jeder Kultur Widerstand leistet. Wenn Kafka Zweifel an seiner Identität in der Ursprungskultur äußert, so liegt das sicherlich an seinem Willen, zumindest im literarischen Bereich seine Freiheit zu bewahren, und wenn er sich gern einer anderen Kultur öffnet, so auch, um diese Freiheit zu festigen. Multikulturalitat ist bei ihm ein Faktor der Unsicherheit, sie ist aber auch Ausdruck und Grundlage schriftstellerischer Freiheit.

Die Freiheit Kafkas im Umgang mit literarischen Traditionen zeigt sich in seiner Verwendung verschiedener Gattungen wie Märchen, Legenden, Parabeln, Gleichnissen, Chroniken. Das sind alte europäische, aber auch jüdische oder universelle Gattungen. Sie sind nach der Typologie Michael Bachtins ursprünglich monologische Gattungen, d.h. Gattungen, die auf einer festen nationalen Tradition gründen, gesicherte Werte und Perspektiven liefern und somit die Synchronisation der Geschichte von dem Standpunkt eines unangefochtenen kulturellen Bewußtseins aus ermöglichen. Sie sind also traditionell Ausdruck eines unhinterfragbaren Ethos (vgl. u.a. Bachtin 1978: 441ff.) und eignen sich eigentlich nicht für den dezentrierten und unsicheren historischen Kontext, in dem Kafka lebt. »Wenngleich Kafka die Alten nachahmt«, schreibt Marthe Robert mit Recht,

prahlt er doch nicht damit, ihrer Ordnung und seligen Gewißheit teilhaftig zu sein; er begründet sein Recht, es zu tun, im Gegenteil, mit seiner eigenen gesellschaftlichen und geistigen Unordnung, indem er unablässig auf das Nirgendwo verweist, in das seine haltlose Existenz ihn verbannt. Er imitiert aus dem paradoxen Grund, weil er nichts, aber auch gar nichts besitzt, was ihn dazu zu berechtigen scheinen könnte. (Robert 1985: 163)

Das freie Verfügen über alte und neue Gattungen, Motive und Stoffe ist bei ihm Ausdruck seiner Unsicherheit, was die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Tradition betrifft, und der dadurch bewirkten Distanz und Freiheit gegenüber jeder Tradition.

Diese Freiheit und Distanz führt zu einem sorglosen Umgang mit dem Imitierten und zu seiner Verwendung zu eigenen Zwecken. Die »Alten« werden also im Grunde nicht imitiert, sondern dekonstruiert, parodiert, vermischt und neu zusammengesetzt. Monologische Gattungen und Stoffe werden in dialogische Gattungen und Stoffe verwandelt. Das Dialogische im Bachtinschen Sinne bezeichnet nicht unbedingt den ausdrücklichen Dialog mit verschiedenen Repliken, sondern zweierlei:

  1. Redevielfalt oder Polyglossie, d.h. das Vorhandensein, in einem Werk, von verschiedenen Sprachen, die unterschiedliche Sichten der Welt, unterschiedliche verbale Sinngebungen und Wertungen, also unterschiedliche sozial oder kulturell bedingte Bewußtseinslagen ausdrücken, welche einander gegenübergestellt werden, sich wechselseitig ergänzen oder widersprechen, oder dialogisch aufeinander bezogen werden können (vgl. Bachtin 1979: 183).
  2. Das Dialogische bezeichnet aber auch die Verwendung dessen, was Bachtin das »zweistimmige Wort« nennt, nämlich die Verwendung der fremden Rede durch einen Autor. Eine solche Rede dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors. Beide Intentionen wissen voneinander wie zwei Repliken eines Dialogs; sie sind also dialogisch aufeinander bezogen (vgl. ebd.: 213).

Wie Kafka Motive und Stoffe aus verschiedenen Kulturen dialogisch aufeinander bezieht, zeigt vielleicht am besten die Erzählung Der Jäger Gracchus, wo Motive und Bilder aus der jüdischen, christlichen, taoistischen und altägyptischen Kultur vermischt, aber nicht synchronisiert werden. Das Ergebnis ist eine rätselhafte, von verschiedenen kulturellen Perspektiven aus jeweils nur teilweise interpretierbare Erzählung.

In Prometheus, Der Gesang der Sirene, Poseidon werden Motive aus der griechischen Mythologie durch anachronistische Hinzufügung neuer Motive, Perspektiven und Reflexionen in eine polyphone und polysemische Erzählung verwandelt.3

In der Erzählung Poseidon zeigt sich vielleicht am deutlichsten das, was Bachtin die Hybridisierung der Sprache nennt, d.h. die Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung, das »Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung geschiedener sprachlicher Bewußtseine in der Arena [der] Äußerung« (Bachtin 1979: 244). In dieser Erzählung wird, wie in den meisten Erzählungen Kafkas, konsequent »einsinnig« erzählt, und zwar aus der Perspektive Poseidons. Wir haben es aber mit einem Poseidon zu tun, der in Begriffen der modernen Bürokratie denkt, ohne daß aber die Vorstellungen der mythischen Welt verschwinden. Seine Arbeit besteht darin, an einem Arbeitstisch zu sitzen und zu rechnen. Unter Einsatz von Hilfskräften verwaltet er auf diese Art und Weise die Meere, ohne sie richtig zu kennen. Er reist aber auch zum Olymp und zu Jupiter. Zwei Welten, zwei Epochen, zwei Bewußtseine treffen hier aufeinander.

Die Auswirkungen des multikulturellen Selbstverständnisses Kafkas zeigen sich auch in anderen Aspekten seines Werkes. Beatrice Sellinger hat an einigen Erzählungen und Romanen Kafkas gezeigt, daß die oft konstatierten Paradoxa und Ambiguitäten in seinem Werk auf einem Aufeinandertreffen zweier unvereinbarer Sehweisen gründen, die bestimmte kulturelle Codes oder Bewußtseinsformen voraussetzen (vgl. Sellinger 1982). In vielen Werken Kafkas kollidieren also zwei Isotopien, etwa die Gerechtigkeit und die Rechtsprechung oder Autorität und Herrschaft, die auf zwei verschiedene kulturelle Matrizen hinweisen, die jüdische Kultur einerseits und die österreichisch-ungarische monarchische Bürokratie andererseits. Das Vorhandensein zweier kultureller Codes führt dazu, daß Untertanen, die von dem Prinzip der Gerechtigkeit und der begründeten Autorität ausgehen und danach handeln, einem Apparat ausgeliefert sind, den sie nicht verstehen und dessen formale Rechtsprechung eher auf Herrschaft und nicht auf Gerechtigkeit gründet. Im Werk Kafkas manifestiert sich also eine polyglotte Welt, die eine multikulturelle Persönlichkeit produziert.

Nach Gustav Janouch soll Kafka über Heine gesagt haben: »Ein unglücklicher Mensch. Die Deutschen warfen und werfen ihm das Judentum vor, und dabei ist er doch ein Deutscher, sogar ein kleiner Deutscher, der mit dem Judentum im Konflikt steht. Das ist gerade das Jüdische an ihm.« (J. 135)

Martin Walser vermutet, daß sowohl Kafka als auch Heine ihren Rang in einer Weltliteratur ihrer leichten Übersetzbarkeit verdanken, die von diesem typisch Jüdischen an ihnen herrührt, d.h. von ihrer Multikulturalität. Nach Martin Walser gründet die Sprache beider Autoren auf ihrer Multikulturalität. »Kafka hat sich keinen Satz lang auf eine assimilatorische Schreibweise eingelassen. Er hat eine eigene Sprache entwickelt, eine eigene Bedeutungspraxis, eine eigene Existenzgrammatik, mit so wenig Autochthonem als möglich. […] Nichts Heimatloseres als Kafka. Daher seine Universalitat.« (Walser 1989)

Nach dieser Analyse der Auswirkung der Multikulturalität Kafkas auf seine Schreibweise möchte ich mich jetzt der Frage zuwenden, inwiefern und in welcher Form Kafka die Problematik der interkulturellen Begegnung in seinem erzählerischen Werk thematisiert hat.

Wie man aus seinen Ausführungen über die kleinen Literaturen ableiten kann, strebt Kafka eine Literatur an, die »Ausblicke und Einblicke« ermöglicht, also eine Literatur, die Begebenheiten und Probleme immer in Beziehung zu Begebenheiten und Problemen in anderen Bereichen oder Kulturen bringt, so daß das Erzählte sich auf alle diese Begebenheiten und Probleme gleichzeitig bezieht und generalisierend wirkt. Wie seine literarischen Texte belegen, interessiert ihn weniger »der ethnographische Reiz« (Br. 334), von dem er in einem Brief an Max Brod spricht, d.h. die Mannigfaltigkeit der kulturellen Erscheinungen, als vielmehr allgemeine Probleme, die sich hinter diesen Erscheinungen verbergen. Trotz der ethnographischen Eintragungen in den Tagebüchern,4 trotz seinem Interesse für die Ausdrucksmöglichkeiten verschiedener Kulturen, wie seine Lektüre belegt,5 finden sich in seinem erzählerischen Werk kaum detaillierte ethnographische Darstellungen. Auch in dem Roman Der Verschollene, wo sich eine solche Darstellung gattungsmäßig anbieten würde, verzichtet er weitgehend darauf. Zwar wird die Nationalzugehörigkeit vieler Figuren angegeben, aber die Angaben haben keinen Einfluß auf ihre Charakterisierung, und ihre Verhaltensweisen lassen sich kaum auf eine kulturelle Identität zurückführen. In diesem Roman finden sich zwar einige interkulturelle Vergleiche – Karl Roßmann sieht sich in einem fremden Kontext mit neuen Gewohnheiten konfrontiert –, von einer echten ethnographischen Erfahrung kann aber nicht die Rede sein. Von einer interkulturellen Kommunikation kann in diesem Roman also nur bedingt gesprochen werden.

In zwei Erzählungen Kafkas ist aber m.E. die interkulturelle Kommunikation, d.h. die Begegnung zweier Kulturen, thematisiert, nämlich in Ein Bericht für eine Akademie und In der Strafkolonie. In Ein Bericht für eine Akademie ist diese Thematisierung offensichtlich. In der Erzählung In der Strafkolonie ist sie weniger deutlich, aber vielleicht umso stärker.

Schon bei der ersten Besprechung von Ein Bericht für eine Akademie deutet Max Brod die Erzählung als Thematisierung einer interkulturellen Problematik, nämlich der jüdischen Assimilation.6 Dabei werden die Ausführungen des Affen Rotpeter in den Mittelpunkt gestellt. Diese Ausführungen sind aber der Versuch der Begründung einer Erwartungsenttäuschung. Das von der Akademie dem Affen gestellte Thema ist: »Ein Bericht über das äffische Vorleben«. Die Erwartung der Akademie ist also sehr klar. Nicht eine Darstellung des erreichten Zustandes, nicht eine Analyse des Prozesses der Verwandlung werden erwartet, sondern Informationen über das, was nicht mehr ist, über etwas Ursprüngliches und Unverfälschtes. In den Oktavheften, in denen auch Ein Bericht für eine Akademie überliefert ist, findet sich die folgende Erzählung:

Der Neger, der von der Weltausstellung nach Hause gebracht wird, und irrsinnig geworden vom Heimweh, mitten in seinem Dorf unter dem Wehklagen des Stammes mit ernstestem Gesicht als Überlieferung und Pflicht die Späße aufführt, welche das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas entzückten. (H. 70)

Hier haben wir wieder dieses Motiv des europäischen Publikums und sein Verlangen nach der Erfahrung des Authentischen bei fremden Völkern. Der Weltausstellungsneger kommt der Erwartung entgegen, aber nicht das Authentische wird aufgeführt, sondern offensichtlich das, was vom Publikum gern als Authentisches konsumiert wird. Er stellt nicht sich, er stellt nicht die Sitten und Gebräuche Afrikas dar, sondern das, was das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas betrachtet. Nicht die Wirklichkeit wird also dargestellt, sondern die Vorstellung von der Wirklichkeit beim Publikum. Er liefert dem Europäer das Bild, das dieser sich von ihm macht. Das vermeintlich Ursprüngliche, Authentische, das konsumiert wird, ist die eigene Phantasie. In dem Fremden wird nicht das Fremde erfahren, sondern man projiziert darauf Schichten seiner selbst.

Im Gegensatz zum Weltausstellungsneger enttäuscht der Affe Rotpeter von vornherein die Erwartung: Er zeigt die Unmöglichkeit, der Erwartung entgegenzukommen. Paradoxerweise ist die erworbene Kompetenz, vor einer Akademie sprechen zu können, der Grund für die Unfähigkeit, über das erwartete Thema zu sprechen. Die Akademie ist bei ihrem Wunsch, etwas über das äffische Vorleben ihres Gastredners zu erfahren, auf einen Vermittler angewiesen, der seine Kompetenz als Vermittler um den Preis des Verlustes seiner Authentizität erworben hat. Die erwartete Information wird somit unmöglich. Ein Bericht für eine Akademie erzählt vom Prozeß einer Akkulturation, zeigt aber zugleich eine verhinderte interkulturelle Kommunikation. Die Nichteuropäer schaffen den Sprung in die europäische Vorstellungswelt und Lebensweise und gehen dabei zugrunde. Auch der umgekehrte Versuch mißlingt, und zwar aufgrund einer besonderen Geistesdisposition des Europäers: seiner Neigung zur Projektion seiner selbst in den Anderen und seiner Unfähigkeit, den Anderen nur dann erfahren zu können, nachdem dieser sich in die Lage versetzt hat, mit den Europäern in deren Idiomen zu kommunizieren.7 Nicht die intra-europäische interkulturelle Kommunikation wird hier thematisiert, sondern die Kommunikationssituation zwischen Europäern und Nichteuropäern.

Als einer der ersten Leser der Erzählung In der Strafkolonie warnte Kurt Tucholsky davor, diese Geschichte als eine Allegorie zu betrachten.8 Entgegen dem Rat Tucholskys wird sie von allen Interpreten aber als Allegorie gelesen. Dabei wird die unmittelbar erzählte Geschichte als unbedeutend angesehen, zumindest, was das Sinnpotential betrifft. Aber warum kann man diese Geschichte nicht wortwörtlich lesen, also die Strafkolonie als eine Strafkolonie betrachten, den Forschungsreisenden als einen Ethnographen oder Anthropologen, die Soldaten, den Offizier und die Kommandanten als Beamte und Funktionsträger in einer Kolonie.

Die Konstellation in dieser Erzählung ist doch folgende: Ein Forschungsreisender, offensichtlich ein renommierter Wissenschaftler, befindet sich in einer Strafkolonie, wo er kürzlich eingetroffen ist. Er wird von dem Kommandanten eingeladen, einer Exekution beizuwohnen. Ein Offizier erklärt ihm das Funktionieren des Exekutionsapparates, und der Forschungsreisende mißbilligt sowohl die Rechtsprechung als auch den Exekutionsmodus, die in dieser Kolonie angewendet werden. Daraufhin läßt sich der Offizier selbst durch die Maschine töten, welche dann zusammenbricht.

Die Strafkolonie ist offensichtlich eine französische Kolonie, da der Forschungsreisende und der Offizier sich auf Französisch verständigen. Der Exekutionsapparat ist zwar keine Guillotine, er ist viel komplizierter, aber er erfüllt letzten Endes dieselbe Funktion. Bis auf den Apparat, der allerdings ein Zentralmotiv in der Erzählung ist, ist eine solche Konstellation nichts Ungewöhnliches in einer kolonialen Situation. Auch der Verlauf der Geschichte läßt sich zwar nicht als eine realistische Darstellung eines realen kolonialen Alltags verstehen, wohl aber als dessen groteske Übersteigerung. Wie in den meisten Erzählungen Kafkas wird kein Vorgang erzählt, der historisch und räumlich genau situiert werden kann, wohl aber ein Vorgang, der auf verschiedene Situationen und Vorkommnisse an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten hinweist. Hier wird also keine bestimmte Praxis einer bestimmten Kolonialmacht in einem bestimmten Land beschrieben, wohl aber die koloniale Situation in ihren allgemeinen, sich überschneidenden Zügen.

Zwei Kommandanten erscheinen in der Erzählung. Von beiden erfahren wir nur durch den Offizier. Ob beide wirklich so sind, wie der Offizier berichtet, kann der Leser nicht wissen. Über den Reisenden und den Offizier und nur über sie weiß man aber mehr. Durch direkte oder durch erlebte Rede erfährt der Leser etwas über ihre Denkweise und ihre Haltung gegenüber bestimmten Problemen und Situationen. Der Forschungsreisende und der Offizier sind also die tatsächlichen Protagonisten in dieser Erzählung. Die Kommandanten sind nur die Protagonisten in der Erzählung des Offiziers, und die Züge, die er ihnen verleiht, sind vielleicht nur Ausdruck seiner eigenen inneren Spannungen, die auf andere projiziert werden.

Der Forschungsreisende und der Offizier vertreten zwei entgegengesetzte Wertvorstellungen: eine humanistisch aufgeklärte der eine und eine repressive, auf die Sicherung der Herrschaft gerichtete der andere. Von der Perspektive der ersteren her gesehen ist die zweite inhuman. Die erste Wertvorstellung wird vom Offizier ausdrücklich als eine europäische Haltung bezeichnet, damit meint er nichts anderes als die Vorstellung von Rechtsprechung in Europa. Die Rechtsprechung, die in der Kolonie praktiziert wird, ist auch eine europäische, und zwar nicht nur, weil der Offizier, der sie vertritt, ein Europäer ist, sondern auch, weil sie zur Vollstreckung des Urteils eine komplizierte Maschine braucht. Hochentwickelte Technik, die gerade im Verhältnis zwischen Europa und der übrigen Welt als das Markenzeichen, die Grundlage und die Legitimation der Vormachtstellung Europas gilt, wird hier in Verbindung mit der Repression und der europäischen Machterhaltung in fremden Ländern gebracht.

Ob das beschriebene gerichtliche Verfahren und die Art der Exekution für alle in der Kolonie gelten oder nur für die Einheimischen, wird in der Erzählung nicht gesagt. Letzteres ist aber anzunehmen. Daß sich der Offizier am Ende selber durch den Apparat umbringen läßt, zeigt, daß die Duldung einer repressiven Praxis gegenüber Fremden früher oder später zur Duldung derselben Praxis sich selbst gegenüber führt. Sadistische Tendenzen führen zu masochistischen. Das erinnert an die These, wonach der Faschismus und der Nationalsozialismus in Europa erst möglich wurden, nachdem die Praktiken, die damit in Europa eingeführt wurden, zuvor mit Duldung der europäischen Öffentlichkeit in den Kolonien vorexerziert worden waren (vgl. Schmitt-Egner 1975).

Betrachten wir jetzt die Haltung des Forschungsreisenden. Er ist ein aufgeklärter Mensch. Seine Vorstellung von Rechtsprechung ist das Gegenteil dessen, was ihm der Offizier erklärt. Er entwickelt aber verschiedene Strategien, um sich aus der Verantwortung zu nehmen, um nicht einzugreifen. Als Wissenschaftler muß er sein Verhalten rational begründen. Zunächst versucht er aber eine Begründung, also eine Legitimation für die Inhumanität des Verfahrens zu erarbeiten: »Immerhin mußte er sich sagen, daß es sich hier um eine Strafkolonie handelte, daß hier besondere Maßregeln notwendig waren und daß man bis zum letzten militärisch vorgehen mußte.« (E. 105)

Aber je mehr er erfährt, um so unhaltbarer scheint ihm eine Legitimation des Unmenschlichen, und so flüchtet er in das Argument der Inkompetenz:

Der Reisende überlegte: Es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Er war weder Bürger der Strafkolonie, noch Bürger des Staates, dem sie angehörte. Wenn er diese Exekution verurteilte oder gar hintertreiben wollte, konnte man ihm sagen: Du bist ein Fremder, sei still. (E. 109)

Diesem Argument fügt er später noch ein szientistisches hinzu: Er sei kein Kenner gerichtlicher Verfahren. Die Evidenz der Ungerechtigkeit des Gerichtsverfahrens ist aber so stark, daß relativistische oder szientistische Vorwände seine Haltung nicht zu legitimieren vermögen.

Der Schluß der Erzählung ist komplex und wird von einigen als Ende einer Ära und als Anfang einer neuen interpretiert. Man sollte aber bedenken, daß die Exekution des Offiziers zwar von ihm selbst beschlossen und durchgeführt wird, daß aber der Reisende derjenige ist, der diese Exekution auslöst und auch verantwortet. Seine Verurteilung des Gerichtsverfahrens versteht der Offizier als Urteil, und zwar in der Logik des verurteilten Gerichtsverfahrens. Er erkennt die Autorität des Forschungsreisenden als absolute Macht an, und dieser scheint jetzt selbst in das System des Verfahrens, das er verurteilt, einzusteigen:

Der Reisende biß sich auf die Lippen und sagte nichts. Er wußte zwar, was geschehen würde, aber er hatte kein Recht, den Offizier an irgendetwas zu hindern. War das Gerichtsverfahren, an dem der Offizier hing, wirklich so nahe daran, behoben zu werden […], dann handelte jetzt der Offizier vollständig richtig; der Reisende hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt. (E. 119)

Nach welcher Logik handelte der Offizier »richtig«, wenn nicht nach der Logik des Verfahrens, das er verteidigt! Der Richterspruch, den er auf seine Haut gravieren lassen will, lautet: »Sei gerecht«. Und so versteht er das Urteil des Reisenden, handelt aber nach einer Logik, die seine Ungerechtigkeit begründet. Und der Reisende ist einverstanden. Das ist nicht der einzige Widerspruch, in den sich der Reisende verstrickt. Der letzte Satz der Erzählung lautet: »Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch von dem Sprunge ab.« (E. 123)

Die Rede ist von dem Soldaten und dem geretteten Verurteilten. Beide sind Einheimische und wollen aus der Kolonie fliehen, genau wie der Reisende. Und wovor wollen sie fliehen? Die Erzählung vermittelt den Eindruck, als sei der Tod des Offiziers auch das Ende der Ungerechtigkeit und der Unmenschlichkeit. Aber dieser Eindruck entsteht allein dadurch, daß nach seinem Tod ausschließlich aus der Perspektive des Reisenden erzählt wird, der sich das gern einreden möchte, um seine Abreise nicht als Flucht vor seiner Verantwortung erscheinen zu lassen. Es gibt also keine Garantie irgendwelcher Änderung, zumal der Reisende nicht einmal mit dem neuen Kommandanten redet, sondern ohne Abschied zu nehmen abreist.

Außerdem wird er zuletzt mit einem anderen Problem konfrontiert, das in der ganzen Erzählung kaum erwähnt wird, aber sicherlich nicht umsonst ans Ende plaziert wird, nämlich mit dem Elend der einheimischen Bevölkerung: »Es waren wahrscheinlich Hafenarbeiter, starke Männer mit kurzen, glänzend schwarzen Vollbärten. Alle waren ohne Rock, ihre Hemden waren zerrissen, es war armes, gedemütigtes Volk.« (E. 122)

Man kann also ahnen, wovor die beiden Einheimischen fliehen wollten: aus einem System, das Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit und Elend bedeutet, also aus der Kolonie. Die Flucht des Forschungsreisenden erhält so eine besondere Bedeutung. Er überläßt die Kolonie ihrem Schicksal. Er greift nicht in den Gang der Geschichte ein. In der Erzählung In der Strafkolonie verarbeitet Kafka die Begegnung Europas mit dem Anderen in ihrer Kolonialgestalt und zeigt dabei die Ambivalenz der europäischen Haltung: Humanistisch, moralisch denkend, aber auch der Grausamkeit fähig und daher nicht in der Lage, die Welt, die man prometheisch gewaltsam zu erschließen imstande war, human und gerecht zu organisieren. In dieser Welt sind die Einheimischen stumme Menschen, deren Gedanken erahnt werden, die aber nicht über sich sprechen können. Die Kommunikation findet nur in eine Richtung statt. Die Einheimischen erfahren die europäische Kultur im Gewand der Kolonisation buchstäblich auf ihrer Haut. Aber ein Feedback findet nicht statt. Wie beim Affen Rotpeter und wie beim Ausstellungsneger bleiben die Einheimischen, was ihre Identität betrifft, stumm.

Wie in der Geschichte des Ausstellungsnegers zeigt sich hier eine in die Kolonie projizierte Schicht des Europäischen, die dort zur Entfaltung kommt und die einheimische Kultur ignoriert.

Während Multikulturalität für Kafka zur Bedingung seiner schriftstellerischen Freiheit, also zu etwas Produktivem wurde, zeigt er in seinem Werk, daß sie sowohl intra-europäisch als auch in der Begegnung zwischen Europa und der übrigen Welt nicht oder vielleicht noch nicht eine ähnlich positive Wirkung entfaltet hat.

Anmerkungen

1 | Um Zitate zu belegen, werden folgende Abkürzungen benutzt: T.: Kafka 1973; Br.: Kafka 1966; H.: Kafka 1980; E.: Kafka 1970; J.: Janouch 1968.

2 | Das Motiv (Abraham) übernimmt Kafka in diesem Brief aus Kierkegaards Buch Furcht und Zittern. Darin spricht Kierkegaard von Abraham, der vermöge des Glaubens das Land seiner Väter verließ und zum Fremdling im Land der Verheißung wurde.

3 | Vgl. die Analyse, die Marthe Robert von Prometheus macht (Robert 1985: 165f.).

4 | In den Tagebüchern Kafkas finden sich in den Jahren 1911 bis 1914 viele Eintragungen zu ostjüdischen Riten.

5 | Vgl. die fragmentarische Liste der Bücher aus Kafkas Handbibliothek, in der sowohl arabische und chinesische Lyrik als auch Märchen aus verschiedenen Ländern, Reiseberichte usw. zu finden sind. Vgl. Wagenbach 1958: 251ff.

6 | Max Brod schrieb seinen Kommentar nach der Lesung dieser Erzählung am ersten literarischen Abend des Klubs jüdischer Frauen und Mädchen am 19. Dezember 1917 durch seine Frau Elsa. Der Kommentar erschien zunächst in Selbstwehr vom 4. Januar 1918. Er ist abgedruckt in Born 1979: 127f.

7 | Diese Problematik steht im Mittelpunkt des Versuches von Leo Kreutzer mit dem Titel Der Präsident der Akademie für interkulturelle Kommunikation dankt dem Berichterstatter. Es handelt sich dabei um eine fiktive Antwort auf die Rede Rotpeters als Satire auf theoretische Positionen und organisatorische Gepflogenheiten der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GIG). Vgl. Kreutzer 1989.

8 | Seine Rezension veröffentlichte Tucholsky unter dem Pseudonym Peter Panter in Weltbühne, Berlin, 3. Juni 1920. Sie ist abgedruckt in Born 1979: 93ff.

Literatur

Bachtin, Michael (1978): Récit épique et roman. In: Ders.: Esthétique et théorie du roman. Paris, S. 441-473.

Ders. (1979): Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grubel. Frankfurt a.M.

Binder, Hartmut (21987): Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Stuttgart.

Born, Jürgen (Hg.; 1979): Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten (1912-1924). Frankfurt a.M.

Kafka, Franz (1966): Briefe 1902-1924. Hg. v. Max Brod. Frankfurt a.M.

Ders. (1970): Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Paul Raabe. Frankfurt a.M.

Ders. (1973): Tagebücher 1910-1923. Hg. v. Max Brod. Frankfurt a.M.

Ders. (1980): Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Hg. v. Max Brod. Frankfurt a.M.

Janouch, Gustav (1968): Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt a.M.

Kreutzer, Leo (1989): Der Präsident der Akademie für interkulturelle Kommunikation dankt dem Berichterstatter. In: Ders.: Literatur und Entwicklung. Studien zu einer Literatur der Ungleichzeitigkeit. Frankfurt a.M., S. 186-189.

Robert, Marthe (1985): Einsam wie Kafka. Frankfurt a.M.

Schmitt-Egner, Peter (1975): Kolonialismus und Faschismus. Eine Studie zur historischen und begrifflichen Genesis faschistischer Bewußtseinsformen am deutschen Beispiel. Gießen / Lollar.

Sellinger, Beatrice (1982): Die Unterdrückten als Anti-Helden. Zum Widerstreit kultureller Traditionen in den Erzählwelten Kafkas. Frankfurt a.M. / Bern.

Walser, Martin (1989): Die uns beleben, das sind Klassiker. Von der Brauchbarkeit unserer Dichter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29. Dezember 1989.

Wagenbach, Klaus (1958): Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883-1912. Bern.

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