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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 8. Jahrgang, 2017, Heft 1: Fabien Pillet: Vers une esthétique interculturelle de la réception (Dirk Weissmann)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 8. Jahrgang, 2017, Heft 1

Fabien Pillet: Vers une esthétique interculturelle de la réception (Dirk Weissmann)

Fabien Pillet: Vers une esthétique interculturelle de la réception

Heidelberg: Winter Verlag 2016 – ISBN: 978-3-8253-6607-0 – 45,00 €

Spätestens seit der Konstanzer Schule, die mit den Arbeiten von Hans-Robert Jauß und Wolfgang Iser neue literaturwissenschaftliche Maßstäbe gesetzt hat, zählt der rezeptionsästhetische Ansatz zu den einschlägigen Methoden der Literaturtheorie. Die Untersuchung der Aufnahme literarischer Werke und ihrer Zirkulation über historische, nationale oder kulturell-sprachliche Grenzen hinweg gehört außerdem zu den Grundbeständen der Komparatistik sowie verwandter Fächer wie der Interkulturellen Literaturwissenschaft. Während der letzten Jahrzehnte stand die theoretische Beschäftigung mit Rezeptionsästhetik bzw. Rezeptionsgeschichte allerdings im Schatten der immer weiter ausufernden Debatten um den Begriff ›Weltliteratur‹ bzw. World Literature, wie sie von den USA aus die akademische Welt eroberten.

Wie Fabien Pillet in der Einleitung der Buchfassung seiner Genfer Doktorarbeit bemerkt, führte diese Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung nicht zuletzt zu einer Unterbelichtung der ästhetischen Dimension von Literatur zugunsten einer literatursoziologischen und literaturökonomischen Makroperspektive. Wie der Verfasser hinzufügt, litt jedoch das rezeptionsästhetische Modell der Konstanzer Schule seinerseits an dem Manko einer fast vollständigen Ausblendung (kultur-)räumlicher Differenzen und sozio-politischer Kontexte, was seine Brauchbarkeit für komparatistische bzw. transnationale Studien einschränkte.

In seiner französischsprachigen Studie versucht der Westschweizer Komparatist, die jeweiligen Schwachstellen dieser beiden Ansätze wechselseitig zu kompensieren, indem er das 1969 von Hans-Robert Jauß prominent eingeführte und seit den 1990er Jahren zunehmend ins theoretische Abseits gerückte Paradigma der Rezeptionsästhetik einer interkulturellen Aktualisierung unterzieht. Durch eine kritische Revision und Erweiterung der Theorien und Methoden der Konstanzer Schule vor dem Hintergrund der Theoriedebatten der letzten dreißig Jahre wird das Forschungsparadigma einer »esthétique interculturelle de la réception« entworfen. Auf Grundlage eines Begriffs von Weltliteratur als Summe der internationalen Rezeption literarischer Werke soll so ein neues Modell zur Analyse von Literatur als transnationalem Phänomen vorgelegt werden.

Die ersten beiden Teile der fast vierhundertseitigen Buchfassung der Dissertation sind den theoretischen Grundlagen des Neuansatzes gewidmet, wohingegen der dritte, rund die Hälfte der Studie ausmachende Teil ausführliche Modellanalysen enthält, in denen die Funktionsweise der neuen rezeptionsästhetischen Methodik vorgeführt wird.

Dass sich ein Promovend an die Grundlegung eines neuen theoretischen Modells wagt, ist wohl ein eher seltener Fall in der heutigen akademischen Welt. So verdienen der methodische Anspruch der Dissertation von Fabien Pillet sowie seine souveräne Beherrschung vielfältiger und komplexer Theoriemodelle großen Respekt. In der Tat besteht die umfangreiche Arbeit zur Hälfte aus einer profunden literaturtheoretischen Abhandlung, worin nicht nur der Ansatz der Konstanzer Schule, sondern auch die World-Literature-Debatten, das Paradigma der Kulturtransfers, der spatial turn in den Geisteswissenschaften und viele andere Theorien zusammengefasst, diskutiert und auf ihre Brauchbarkeit für den eigenen Neuansatz hin überprüft werden.

Dieser hohe theoretische Anspruch bringt jedoch auch einige (marginale) Schwächen mit sich. Trotz ihres profunden Kenntnisstandes und ihrer analytischen Stärken gleicht die fast zweihundertseitige erste Hälfte der Studie zuweilen einem leicht aus dem Ruder gelaufenen Forschungsbericht, was zu einigen Längen und auch Wiederholungen führt. Sicherlich hätte die publizierte Fassung der Dissertation hier durch einige Kürzungen und Straffungen an Lesbarkeit gewinnen können.

Diese kritische Anmerkung gilt jedoch nicht für den dritten Teil der Studie, der – wie bereits gesagt – der praktischen Umsetzung der Theorie anhand konkreter Fallbeispiele gewidmet ist. Dieser wohl wichtigste und fruchtbarste Teil der Studie stellt die Umsetzbarkeit von Pillets interkultureller Weiterentwicklung des Konstanzer Modells überzeugend unter Beweis, wie hier schon vorweggenommen werden soll.

Der erste, rund achtzig Seiten umfassende Theorieteil der Studie ist der kritischen Analyse der drei Hauptbegriffe Hans-Robert Jauß’ gewidmet, die auch die Grundlage von Pillets eigenem Modell bilden: ›Rezeptionshorizont‹, ›ästhetische Distanz‹, ›Hermeneutik von Frage und Antwort‹. Dabei werden zunächst – unter Rückgriff auf die hermeneutischen Quellen bei Hans-Georg Gadamer – die theoretischen Grundlagen des rezeptionsästhetischen Modells dargestellt und die drei Jauß’schen Grundbegriffe einer aktualisierenden Revision unterzogen. Rezeptionsästhetik im Sinne der Konstanzer Schule, so der Autor, untersucht historische Rezeptionsveränderungen literarischer Texte im alleinigen Kontext der Herkunftskultur; Pillets eigener Ansatz unterscheidet sich gegenüber dem ursprünglichen Analysemodell vor allem dadurch, dass er die historische Zeitachse um die Raumdimension der Kulturdifferenz erweitert.

Im zweiten, über hundertseitigen Theorieteil werden im Anschluss alternative Forschungsansätze der letzten Jahre präsentiert, in denen Rezeptionsprozesse nicht nur auf der Zeitachse, sondern auch in ihrer (kultur-)räumlichen Dimension untersucht werden. Dabei stehen unter anderem die von Michel Espagne und Michael Werner entwickelte Theorie des Kulturtransfers sowie drei Vertreter des World-Literature-Diskurses (David Damrosch, Franco Moretti, Pascale Casanova) im Vordergrund. Gegenüber diesen größtenteils sozialgeschichtlich bzw. literatursoziologisch arbeitenden Ansätzen rehabilitiert Pillet im Rückgriff auf Jauß die spezifisch ästhetische Komponente von Rezeptionsforschung, womit er die Grundlagen zu einer Synthese der beiden Paradigmen schafft. Zum Abschluss dieses theoretischen Überblicks wird dann der Begriff des Raumes in seiner historischen Entwicklung von der Neuzeit bis zum postmodernen spatial turn problematisiert und schließlich ein neues rezeptionsästhetisches Kulturraummodell vorgeschlagen, das den eigentlichen Rahmen von Pillets interkulturellem Rezeptionsparadigma darstellt.

Das in der Folge entworfene ›kartographische‹ Modell kultureller Räume und ihrer Relationalität stellt den ersten wirklich originellen und innovativen Beitrag der Studie dar. Pillets Reflexionen über mögliche Kriterien zur Kartographierung des weltweiten literarischen Rezeptionsraumes sind überaus anregend und durchweg auf der Höhe des heutigen Forschungsstandes. Dabei unterscheidet der Autor zwischen vier Typen von Relationen bzw. Größenordnungen: 1. dem lokalen (bzw. nationalen) Rezeptionsraum (»l’espace local de réception«), 2. dem binneneuropäischen Rezeptionsraum (»l’espace européen et la réception intra-européenne«), 3. dem weltweiten Rezeptionsraum (»l’espace mondial de réception interculturelle«) – wobei zwischen den europäischen und den außereuropäischen Sprachräumen differenziert wird –, sowie 4. dem Sonderfall des postkolonialen Rezeptionsraums (»l’espace et la réception postcoloniaux«).

Pillets Analyseraster des Raumes weltweiter Literaturrezeption entgeht durch seine Offenheit einerseits dem Vorwurf einer Essentialisierung der Kultur- bzw. Literaturräume; andererseits erscheint es mit seiner stark reduzierten Zahl an Kategorien recht allgemein und kann naturgemäß kaum allen Einzelfällen gerecht werden. Die Entwicklung eines solchen schematischen Modells wirft daher eine Reihe grundlegender Fragen auf: Inwiefern kann ein solch elementarer Rahmen den singulären Verhältnissen hochkomplexer interkultureller Rezeptionsprozesse in der Literaturgeschichte gerecht werden? Bis zu welchem Punkt lässt sich historische und transkulturelle Rezeptionsforschung überhaupt kategorisieren und systematisieren? Ist nicht in jedem Fall die Summe der (kulturellen, soziohistorischen, politischen, sprachlichen, ästhetischen usw.) Partikularismen der Transferprozesse stärker als das vom Autor vorgeschlagene elementare methodische Raster?

Allerdings zeigt sich der Autor in seinen Ausführungen durchgehend auf der Höhe der Probleme und Schwierigkeiten einer solchen kartographischen Formalisierung und bezieht mögliche Kritikpunkte in seine Reflexion mit ein. Trotz aller Einwände und offenen Fragen bietet das von ihm vorgeschlagene Modell den Rahmen für interessante Anwendungsmöglichkeiten, wie der dritte Teil der Studien beweist.

Im abschließenden Teil der Studien kommt es also zur Anwendung der interkulturell revidierten Jauß’schen Begriffe auf ausgewählte Fallbeispiele mit wechselnden kultursprachlichen Relationen, wodurch die zuvor definierten Räume anhand der rezeptionsästhetischen Grundbegriffe beispielhaft zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Mit der deutschsprachigen Rezeption von Flauberts Madame Bovary (unter anderem bei Fontane) bewegt sich die erste Fallstudie in einem binneneuropäischen Rahmen. Anhand des Begriffs ›Magischer Realismus‹ (Günter Grass und Italo Calvino) erweitert das zweite Fallbeispiel den Rahmen auf den außereuropäischen Raum in europäischen Sprachen. Die dritte Modellanalyse basiert schließlich auf dem postkolonialen Rezeptionsraum, wobei die kritische Aufnahme von Conrads Heart of Darkness bei Chinua Achebe und Edward Said im Vordergrund steht. Bei allen Fallstudien, die hier nicht eingehend dargestellt bzw. bewertet werden können, kommen die rezeptionsästhetischen Begriffe ›Rezeptionshorizont‹, ›ästhetische Distanz‹ und ›Hermeneutik von Frage und Antwort‹ im Rahmen des zuvor definierten interkulturellen Raummodells zum Einsatz.

Selbstredend reichen die drei vom Autor vorgelegten Modellanalysen nicht aus, das vorgeschlagene abstrakte Rezeptionsmodell wirklich auszufüllen und somit auf seine potentielle Allgemeingültigkeit hin zu überprüfen. Jedoch handelt es sich bei den vom Autor vorgelegten Untersuchungen durchweg um exzellente, ja beispielhafte Rezeptionsforschung. Dabei wurden Fallstudien realisiert, die sich nicht auf die Makroanalyse von marktgeleiteten Literaturimporten und soziopolitisch determinierten Textzirkulationen beschränken, sondern die ästhetische Implikationen von transnationalen und transkulturellen Transfer- und Aneignungsprozessen literarischer Werke in den Mittelpunkt stellten. Allenfalls hätte man sich über mehr Analysen dieser Art gefreut, um die konkrete Tragweite des neuen theoretischen Ansatzes weiter auszuloten. So werden beispielsweise in keiner der Fallstudien Rezeptionsprozesse zwischen europäischen und außereuropäischen Sprachräumen behandelt.

Diese prospektive Dimension eines durch weitere Fallstudien auszufüllenden Horizonts ist jedoch nicht zuletzt durch die Präposition »vers« im Titel der Arbeit selbst angelegt. Es handelt sich um die Grundlegung einer neuen Untersuchungsmethode literarischer Rezeptionsprozesse, deren ausführliche Erprobung unmöglich im Rahmen einer einzelnen Doktorarbeit unternommen werden kann. So führt die Studie in der vorliegenden Form auf durchaus überzeugende Art den Beweis an, dass die Konstanzer Rezeptionsästhetik dank einer interkulturellen Aktualisierung vor dem Hintergrund der neueren Weltliteraturdebatten kein Paradigma aus der ›Rumpelkammer‹ der Theoriegeschichte darstellt, sondern in Form einer »esthétique interculturelle de la réception« eine Art Renaissance erleben könnte. Insgesamt handelt es sich um einen profunden und sehr lesenswerten Beitrag zur Interkulturellen Literaturwissenschaft, aus dem wertvolle Impulse für zukünftige Forschungen hervorgehen können.

Dirk Weissmann

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