Paula Wojcik / Elisabeth Johanna Koehn (Hg.): Schwellenräume – Schwellenzeiten in den Werken von Irène Némirovsky, Leo Perutz und Bruno Schulz
Heidelberg: Winter 2016 – ISBN 978-3-8253-6631-5 – 36,00 €
Schwellentexte, -figuren oder -phänomene beschäftigen Literatur- und Kulturwissenschaftler seit langem. Der ›Schwellenhüter‹ spielt eine wichtige Rolle in Joseph Campbells Monomythos; erst durch den Übergang von einem semantischen Raum in einen anderen wird ein Sprachkunstwerk, Jurij M. Lotman zufolge, ›sujethaft‹ (vgl. Lotman 1973, 347-358). Die Tagungsbeiträge, die der vorliegende Band versammelt, knüpfen jedoch weder an Lotman noch an Campbell an. Sie verdanken sich einem komparatistischen Interesse an Irène Némirovsky (1903-1942), Leo Perutz (1882-1957) und Bruno Schulz (1892-1942), deren Werke im Kontext der Frühen Moderne (1890-1930) verortet werden – einer Zeit, die von den beiden Herausgeberinnen einleitend anhand von zahlreichen, zum Teil prekären Übergängen zwischen Tradition und Innovation, Regression und Transgression, Inklusion und Exklusion (jüdischer Schriftsteller) auf die Schwellenmetapher bezogen wird. Abgesteckt wird so ein weites Feld von Verhandlungen und Verwandlungen, die einfache Gegenüberstellungen von Realität und Fiktion, Männlichkeit und Weiblichkeit oder Identität und Alterität in Frage zu stellen vermögen. In diesem Kontext »gewinnt die Schwelle an Autonomie und wird als heuristische Kategorie zum universal einsetzbaren Deutungsinstrument« (12). Dass damit auch eine Gefahr angesprochen wird, der dieser Band nicht immer entgeht, liegt auf der Hand. Im Rückblick auf die beschleunigte Dynamik der Frühen Moderne kann scheinbar alles liminal, als Krise oder Transition, gedeutet werden, zumal es kaum einen Erzählvorgang gibt, der nicht mindestens ein Wandlungsgeschehen involviert.
Es zeichnet daher die einzelnen Beiträge durchgängig aus, dass sie den universalen Geltungsanspruch der Schwellenmetapher spezifizieren, mitunter relativieren, zuweilen sogar in die Paradoxie treiben und jeweils am Text belegen, wie Schwellenräume respektive Schwellenzeiten erlebt und erzählt, inszeniert und problematisiert werden. So geht der physikalische Raum bei Schulz oft nahtlos in eine phantastische Sphäre über, um die narrative Basisdifferenz von Erzählgegenstand und Erzählvorgang zu unterlaufen. Agnieszka Hudzik (Berlin) verweist in diesem Zusammenhang auf die Redewendung, ›etwas in den Schornstein schreiben‹, die im Polnischen zwar nicht genau dieselben Konnotationen wie im Deutschen besitzt, poetologisch gewendet jedoch dahingehend verstanden werden kann, dass der vermeintlich sinnlose, vergebliche Akt des Schreibens jene Welt schafft, in der es Schornsteine mit übersinnlicher Bedeutung gibt. Der Übergang von der eigentlich sinnfreien Wirklichkeit in eine allein aus Worten kreierte Bedeutungswelt, den Kristina-Monika Kocyba (Dresden) auf Michel Foucaults Idee des Heterotopos bezieht, koppelt bei Schulz auf eine Differenz zwischen männlichem und weiblichem Begehren, zwischen dem pflanzenhaften Wuchern der Frauenfiguren und dem insektengleichen Schrumpfen einer Männergestalt wie dem ›Vater‹ zurück, der in Die Zimtläden (1934) sogar die Schwelle zum Verschwinden überquert. Wie Schulz in Das Sanatorium zur Sanduhr (1936) stellen im Übrigen auch Némirovsky in Le Maître des âmes (1940) und Perutz in St. Petri-Schnee (1933) Krankheitszustände als Schwellenräume und -zeiten dar, als Übergangserlebnisse, die sich im Sinne von van Gennep, Benjamin oder Turner interpretieren lassen, da sie auf einen Gestaltwandel der Identität oder der Realität hinauslaufen, der selbst dann, wenn er – wie bei Perutz – in der Diegese zurückgenommen wird, eine nachhaltige Destabilisierung der Wirklichkeitsordnung auslösen kann, die den Vergleichspunkt der Schilderung bildet. Hinsichtlich der Figuren kann der Akzent der Erzählung dabei auf dem Sicheinrichten im Dazwischen, aber auch auf dem Gefangensein und Blockiertwerden liegen. Jedenfalls stellt die Anpassung, die von den Kranken als Voraussetzung für ihre Wiedereingliederung in die ›Normalität‹ der Gesunden verlangt wird, wie Elisabeth Johanna Koehn (Jena / Strasbourg) darlegt, bei Perutz und Schulz wie bei Némirovsky eine höchst ambivalente Angelegenheit dar.
Tom Kindt (Freiburg im Üechtland) und Mona Körte (Berlin), die sich mit der Art und Weise beschäftigen, in der Perutz das komplexe Verhältnis von Realhistorie, Narration und literarischer Fiktion durchspielt, stellen komplementär auf die im Text zur Schau gestellte »Macht des Erzählens« (Kindt, 78) bzw. den auf die Ebene der Handlung verlegten »Kampf um die Erzählstimme« (Körte, 84) ab. Sie deuten den Roman Der Marques de Bolibar (1920), der – vordergründig betrachtet – einen rätselhaften Identitätstausch oder gar eine Seelenwanderung vergegenwärtigt, autoreflexiv als Versuch, die Ohnmacht des Subjekts historiographisch zu überwinden, respektive als Verweis auf den Zusammenhang von Sprache und Katastrophe, Gerücht und Vernichtung, Fama und Untergang. Ob die Schwelle zwischen Tod und Leben, die der Protagonist dieses Romans passiert, indem er ein anderer wird, damit zureichend erfasst wird, mag dahingestellt bleiben. Offenkundig ist, dass Perutz das Hörensagen, von dem die Mythen- und Legendenbildung ihren Ausgang nimmt, nicht nur in diesem Text mit den Mitteln der Erzählkunst in die Aporie treibt und dergestalt Zweifel an der vermeintlich klaren Grenzziehung zwischen objektiver Geschichtsschreibung, Imagination und Konfabulation weckt. Folgerichtig betrachtet Aneta Jachimowics (Olsztyn) Perutz’ Turlupin (1925) als Kontrafaktur jener zeitgenössischen Geschichtsromane, die einem völkischen Personenkult huldigen. Die Schwellengestalt der Titelfigur ist geeignet, die Illusion vom freien und autonomen Ich, vom großen, geschichtsmächtigen Mann mit Führungs- und Heilsanspruch zu dekonstruieren, die Autoren wie Mirko Jelusich oder Robert Hohlbaum aus kompensatorischen Gründen, als Reaktion auf die Niederlage ihrer Landsleute im Ersten Weltkrieg, erzeugt hatten.
Angela Kershaw (Birmingham) zeigt an L’Enfant génial (1927) und Les Chiens et le loups (1940), wie Némirovsky verschiedene Narrative jüdischer Identität verwendet: eines, das eher auf folkloristische Motive und Chronotopoi rekurriert, die eine enge Beziehung zu einem zyklischen Zeitverständnis besitzen, und eines, das eher dem Raumkonzept der Straße und dem Fortschrittsdenken der Moderne folgt, also einen Weg ins Offene, Kontingente einschlägt. Deutlich wird dies insbesondere mit Blick auf die Genderkonstellation, die auch Martina Stemberger (Wien) behandelt. Sie geht von der Marginalität zahlreicher Figuren bei Némirovsky aus, entdeckt in Haus, Straße, Schwelle und Theaterszene metaphorische Orte der Be- oder Entgrenzung von Geschlechtsidentitäten und stellt fest, das makrohistorische Geschehen der Zwischenkriegszeit werde im Werk dieser Autorin mit signifikanter Häufigkeit anhand von privaten Mikrokosmen reflektiert, was wiederum einen strukturellen Vergleich zu der Relation erlaubt, in der bei Bruno Schulz Provinz und Zentrum stehen. Ähnlich wie Stemberger fokussiert auch Marta Laura Cenedese (Moskau) auf Übergänge, die sich performativ aus den Verfahren der Mimikry und der Maskerade ergeben, die Frauen bei Némirovsky wählen, um sich dem Blickregime des »male gaze« (vgl. Mulvey 1975) zu entziehen, das sie auf eine spezifische Form der Alterität eingrenzt und festlegt.
Insgesamt bietet dieser Tagungsband eine Fülle von aufschlussreichen Beobachtungen und Belegen für die These, dass die Jahreszahlen 1918 und 1933 den Anfang und das Ende einer Schwellenzeit markieren, in der Autoren wie Némirovsky, Schulz und Perutz, entsprechend ihrem unterschiedlichen künstlerischen Temperament und ihrer nur bedingt vergleichbaren sozialen Position, sowohl literarische Gestaltungsspielräume als auch gesellschaftliche Abgründe ausgelotet, diverse Grenzverschiebungen registriert und Schlüsseltexte zum Verständnis der Epoche verfasst haben, wobei Schulz in der poetischen Verschlüsselung der Krisensymptome weiter als Perutz gegangen ist, während Némirovsky – gleichsam seismographisch – auf die aktuelle Lebenswelt reagiert hat. Gerade als Anstoß zu weiterführenden Geländeerkundungen anhand der Texte von Perutz und Némirovsky, die – anders als Die Zimtläden von Schulz – noch nicht zum kanonischen Inventar der Literaturgeschichte gehören, lohnt mithin die Lektüre dieser Publikation, zumal die einzelnen Interpretationen durchweg auf Konzepte und Modelle Bezug nehmen, die in der Interkulturalitätsforschung intensiv diskutiert werden.
Literatur
Lotman, Jurij M. (1975): Die Struktur des literarischen Textes. Hg. mit einem Nachwort u. einem Register v. Rainer Grübel. Aus dem Russ. v. Rainer Grübel, Walter Kroll u. Hans-Eberhard Seidel. Frankfurt a.M.
Mulvey, Laura (1975): Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen 16, H. 3, S. 6-18 [dt. in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.; 1979): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart, S. 389-408].