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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Sprachnomaden - Statt einer Migrationsliteratur: Literarische Entdeckungsreisen und transkulturelles Schreiben (Johannes Preschl)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 8. Jahrgang, 2017, Heft 2

Sprachnomaden - Statt einer Migrationsliteratur: Literarische Entdeckungsreisen und transkulturelles Schreiben (Johannes Preschl)

Sprachnomaden

Statt einer Migrationsliteratur: Literarische Entdeckungsreisen und transkulturelles Schreiben

Johannes Preschl

Title:

Linguistic Nomads. In Place of Migration Literature: Literary Expeditions and Transcultural Writing

Keywords:

migration literature; nomadic writing; transcultural writing; travel writing

Texte deutsch schreibender Schriftsteller ausländischer Herkunft, die seit den 1970er Jahren erscheinen, gelten seither als wichtiger Beitrag zur deutschen Literatur der Gegenwart. Als so genannte Migrationsliteratur erzählen sie vor allem Geschichten von Identitätskrisen, vom Zerrissensein zwischen Welten, der Sehnsucht nach dem Zurückgelassenen, elementarer Verlust- und Fremdheitserfahrung.

Allerdings gibt es schon früh auch eine »deutsche Literatur von außen« (Weinrich 2001), die statt von Verlust von Bereicherung spricht, weniger von kultureller Konfrontation als vielmehr von transkulturellem Schreiben und literarischen Entdeckungsreisen. Titel wie Sprachnomadenleben (Madjderey 1986), Wo Europa anfängt (Tawada 1991) oder Weltensammler (Trojanow 2006) deuten auf andere Themen hin. In der Annahme, dass diese Spielart in den vergangenen Jahren an Umfang und Bedeutung gewonnen hat, wird im Folgenden versucht, Absichten und wesentliche Merkmale zu zeigen, in Selbstaussagen einiger Autoren und an paradigmatischen Textbeispielen.

Die Frage ist, ob und was solches Schreiben noch mit ›Migrationsliteratur‹ zu tun hat? Bezeichnet der Begriff Texte von ›Chamisso-Autoren‹, die diese »wie einst Adelbert von Chamisso in der ihnen ursprünglich fremden Sprache Deutsch verfassen« (Weinrich 2001: 9)? Dann zählen nicht nur Texte von Rafik Schami und Emine Sevgi Özdamar dazu, sondern auch die von Libuše MonÍková, Galsan Tschinag und Yoko Tawada, deren Gründe, in deutscher Sprache zu schreiben, mit Migration nur im weiten Sinn zu tun haben. Andererseits kämen Herta Müller, Rolf Bossert, der sich kurz nach seinem Wechsel von der deutschen Sprachinsel in Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland, dem »zentralen Gebiet seiner Sprache« (Vesper 1986: 11), das Leben nahm, und andere rumänendeutsche Autoren nicht in Betracht. Geht es um Herkunft, thematische Schwerpunkte, Schreibweisen? Wie auch immer, Migrationsliteratur, so Feridun Zaimoglu vor einigen Jahren in einem Interview, spiele schon längst keine Rolle mehr: »Das ist ein toter Kadaver. Ich weiß nicht, ob Sie mit Migrationsliteratur die Gastarbeiterliteratur der ersten Stunde meinen, und in der Verlängerung dann diese Weinerlichkeit, das kultivierte Fremdsein« (Zaimoglu / Abel 2006: 162).

Neben der Unschärfe des Begriffs kritisiert er, wie zitiert, die »Weinerlichkeit« und das »kultivierte Fremdsein«, das Kokettieren mit dem Status des Fremden und das endlose Lamentieren über soziale und kulturelle Entwurzelung. Vor allem aber stört ihn, als Repräsentant dieser Literatur vereinnahmt zu werden, nachdem sich sein anfänglich thematisches Interesse zu einem ästhetischen hin verschoben hat. Migrationsthemen, wie Fremdheit und Identitätskrise, seien ausgeschrieben, »da ist kein Stoff mehr. Da war viel Stoff […]. Man hat einfach Lust auf etwas anderes« (ebd.: 164). Er habe Lust auf Literatur, Lust »Geschichten zu erzählen«, sie »auszuphantasieren« (ebd.: 160), Interesse daran, Geschichten zu erzählen, die »immer einen bestimmten ästhetischen Mehrwert« (ebd.: 163) hätten. Der so genannten Migrationsliteratur fehle dieser Mehrwert, sie sei mehr Kunsthandwerk als Kunst, was »auf die Dauer« nerve beziehungsweise langweile (ebd.).

Zehn Jahre nach solchen Aussagen kann man rückblickend sagen, dass diese Art Migrationsliteratur, die sich vor allem in der Klage über existentielle Entfremdung bzw. Entwurzelung erschöpft, allenfalls noch die Kritik der Ignoranz und Fremdenfeindlichkeit der Alteingesessenen umfasst, tatsächlich obsolet ist, ein, wie Zaimoglu drastisch pleonastisch formuliert, »toter Kadaver«. Zugleich aber wird rückblickend klar, dass es schon früh auch eine andere Literatur gibt, die das Schreiben in hybriden Sprachräumen auskostet, das Wandern zwischen Sprachen und Literaturen. Und wenn oft von Bereicherung der Literatur in deutscher Sprache die Rede ist – anfangs ohnehin mehr im Stoff als im Stil begründet –, dann geht es hier in erster Linie um die Bereicherung für die einzelnen Schriftsteller. Autoren wie Abdolreza Madjderey, Emine Sevgi Özdamar, Ota Filip und Ilja Trojanow gehören dazu oder die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada, deren transkulturelle Textreisen in diesem Aufsatz im Mittelpunkt stehen.

1. Migrations-, Minoritäten-, Exilliteratur

Vorausgeschickt seien ein paar allgemeine und zugleich differenzierende Überlegungen zu Begriff und Geschichte: Migrationsliteratur ist zunächst zu unterscheiden von Exilliteratur, die von der Mitnahme der Muttersprache und der Hoffnung auf Rückkehr lebt. Heinrich Heines Texte geben ein frühes Beispiel. Für Hilde Domin ist die Muttersprache das »unabnehmbare Zuhause«, der Halt im Exil, ihr verdankt sie, dass sie »die Identität mit [sich] selbst bewahren konnte« (Domin 1993: 12). Der Sprache wegen sei sie zurückgekommen. Und Bertolt Brecht sagt in einem der Svendborger Gedichte: »Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm / […] / [K]einer von uns / Wird hier bleiben« (Brecht 1978: 718).1

Migration im engeren Sinn läuft dagegen auf ein Leben und Bleiben im neuen Land und eine Konfrontation mit dessen Sprache hinaus, vor allem wenn man Schriftsteller ist. Entscheidet man sich für das Schreiben in der fremden Sprache, führt dies meist auch zu einer hybriden Sprachidentität. Die Konfrontation mit dem Leben als Migrant, den Lebensbedingungen im fremden Land, findet vor allem in der Sprache statt, und die Sprache ist Thema. Man schreibt in der fremden Sprache, thematisiert dieses Schreiben, schreibt autoreferentiell. Oft sind es auch poetologische Texte.

Dabei zeigt sich, wie oben skizziert, eine Entwicklung von der Reflexion von Identitätsproblemen zur positiven Wertung einer transkulturellen Horizonterweiterung, auch wenn bisweilen gegen diese Entwicklung polemisiert wird (vgl. Kanak Attak 1999), dass man das Thema der Verweigerung von Integration in den Fokus rückt und lieber von Minoritäten- als von Migrationsliteratur spricht. Zugleich ist die Rede von allgemeinen Akzentverschiebungen, weg vom »Aktualitätsbezug in Deutschland« hin zur Biografie und zum Familienroman als einer Art literarischer »Wurzelbehandlung« (Zaimoglu / Abel 2006: 164; Ezli 2006: 61f.). Was dabei mit dem »Aktualitätsbezug in Deutschland« gemeint ist, wäre noch zu klären. Schaut man genauer hin, bleibt nur der Blickwinkel, den die kulturelle Konfrontation weitgehend ausfüllt. In Texten von Migranten der 1970er und 1980er Jahre ist kaum die Rede von gesellschaftlichen und politischen Prozessen, die die (bundes-)deutsche Wirklichkeit beherrschen: der Studentenbewegung, der RAF, dem Krieg in Vietnam, der Emanzipation der Frau, den Grünen und ökologischen Fragen, dem Verhältnis der beiden Staaten im Kalten Krieg, der Nachrüstung oder ökonomischen Krisen.2 Mit deutscher Wirklichkeit hat die »Aktualität« aus Sicht der meisten Migranten so viel zu tun wie ein einzelner Mosaikstein mit dem Mosaik.

Die folgende Skizze einer Typologie ›deutscher Migrationsliteratur‹ der vergangenen Jahrzehnte erwähnt einige Autoren stellvertretend und zeichnet am Beispiel der japanischen Schriftstellerin Yoko Tawada die Tendenz zu literarischen Entdeckungsreisen und einer »Poetik des Fremden« (Bay 2006: 109) ausführlicher.

2. Identitätsprobleme – Konflikte und Konfrontation

Clara Tauchert-da Cruz aus Portugal nennt ihre Existenz im Niemandsland, zwischen Herkunftsland, das »dich längst vergessen« hat, und dem fremden Land, das »dir fremd geblieben« ist, ein »Vakuum, wo du zweisprachig stumm bist« (Tauchert-da Cruz 1987: 137).

Der aus Italien stammende Franco Biondi spricht von »Sprachfeldern«, die sich in seinem Kopf überlappen, denn die Grenzen der Sprachen haben sich »verwischt«, der »Trennzaun« bestehe jedoch noch immer (Biondi 1995: 121).

Auch Bahman Nurimand, der zweimal aus dem Iran nach Deutschland floh, fühlt sich »zerrissen zwischen zwei Welten«, so der Titel eines Essays. Trotz der Möglichkeit, in beiden Sprachen zu schreiben und in einem deutschen Verlag zu veröffentlichen, sieht er sich als Exilant, der außerhalb der Gesellschaft steht und dem die Ereignisse im Gastland fremd bleiben, ob es sich um lokale Vorgänge oder »die Einführung etwaiger Gesetze und Bestimmungen oder gar ein[en] Regierungswechsel« (Nurimand 1997: 134) handelt.

»Ich habe meine Füße auf zwei Planeten« beginnt ein Gedicht von Zafer Şenoçak (2005: 147), das ein ähnliches Bild des Zerrissenseins zwischen zwei Welten zeichnet. Auch in ihm zeigt sich der Zustand sprachlich, wie bei Biondi, »die Grenze verläuft / mitten durch meine Zunge«, heißt es entsprechend in Şenoçaks Text (ebd.). Obwohl er beim Schreiben dieses Gedichtes nicht an die Lage des Migranten gedacht habe, so der Verfasser rückblickend, wird es als bezeichnend für diese Lage verstanden. Zugleich gilt es aber auch als Beispiel für den Übergang zu einer generellen Bedeutung von existentieller Heimatlosigkeit.

In dieser »zweiten Phase« (Ezli 2006: 61) verschieben sich die Akzente vom Fremdsein im Gastland hin zu einem Fremdsein in der Welt. Emine Özdamars Romantitel formuliert den Leitsatz: Das Leben ist eine Karawanserei (1992), der Mensch ist heimatlos und unterwegs, er hat keine örtlich und kulturell fassbare Heimat verloren, er hat sich abzufinden mit einem prinzipiellen Nomadentum. Entwürfe vom unbehausten modernen Menschen in der europäischen Literatur seit dem frühen 20. Jahrhundert und vor allem nach 1945 werden hier variiert. Selbst Struktur und Stil wirken »mit ihrer parataktischen Aneinanderreihung einzelner, szenisch erzählter Episoden […] nomadisch« (ebd.: 64).

3. Wanderer zwischen Welten

Was den einen existentielles Problem und Identitätsverlust, ist den anderen Möglichkeit und Horizonterweiterung.

Dragica Rajčič kommt aus Kroatien, lebt in der Schweiz und denkt beim Schreiben von Gedichten deutsch. Sie sieht es als Vorteil, dass sie, wie es in einem ihrer Gedichte nicht ganz normkonform heißt, »zwei sprachen hinten beiden Ohren« (Rajčič 2000: 41) hat, weil sie ihre Lage damit doppelt beschreiben und besser verarbeiten könne.

Auch Gino Chiellino, wie Biondi aus Italien stammend, sieht die »Entscheidung für die fremde Sprache […], also die deutsche Sprache«, eher als Vorteil, als Zugewinn und Erweiterung seiner literarischen Erfahrung, da dies keine »Entscheidung gegen [s]eine Muttersprache gewesen« sei. Es gehe darum, »ganz genau zu beschreiben, wie das Leben in der Fremde sich gestaltet, welche Wünsche ich habe, die ich in diese deutsche Sprache hineintragen kann, und wie ich mich als Fremder in dieser Sprache geborgen fühlen kann.« (Chiellino 2001: 15)

Für den 1974 aus der Tschechoslowakei ausgebürgerten und seitdem in Deutschland lebenden Ota Filip ist das »Leben in der Fremde« gar ein Akt der Befreiung: Man könne endlich »frei über sich selbst entscheiden, frei eine neue Heimat wählen, vom pathetischen Pflichtpatriotismus befreit, eine neue Sprache wählen, und das nicht nur einmal, sondern immer wieder!« (Filip 1997: 50) Für Filip ist eher Ballast, was sonst Verlust genannt wird: Heimat, Vaterland, Muttersprache. Er habe weder Heimat noch Vaterland nötig und wehre sich gegen den »Unfug« (ebd.: 51), der mit der Muttersprache getrieben werde, gegen ihre Mystifizierung. Man dürfe zwar die Muttersprache nicht aufgeben, doch jede neue Sprache öffne eine neue Welt, »eine neue Kultur, kurzum ein neues Leben!« (Ebd.) Ota Filip spricht weder von Verlust noch von Entwurzelung. Er sei »ein Mensch«, keine Pflanze, »ein zeitgenössischer Nomade zwischen drei europäischen Sprachen und zwei europäischen Kulturen.« (Ebd.: 43)

Paradigmatisch für ein Bewusstsein, das die hybride Sprachidentität als Vorteil begreift, ist das Gedicht »Sprachnomadenleben« des iranischen Autors Abdolreza Madjderey (Madjderey 1986: 163). Seine neue Identität zwischen und über den einzelnen Kulturen zeigt sich darin als sprachliches und literarisches Reisen. Durch das Bild vom Wanderer zwischen den Sprachen ziehen deutsche »Sprachwolkenzüge«, verlieren »Satzbäume« ihre Blätter, und der Sprachnomade flieht samt Bibliothek nach Süden, nach Schiraz, um bei Chaiyam und Hafez zu »überwintern« und auf »Wortteppichen« zu schlafen (ebd.). Wenn es ihm dann in dieser persischen Textwelt zu heiß werde, das »Blut zu sieden« beginne und die »Wortfeldbrandungen« zu stark würden, ziehe es ihn wieder zurück zur deutschen Sprache und Poesie, ins »milde Tübingen«, und zu Ilse und Gottfried Benn (ebd.). Es sind vor allem Literaturorte, Sprach- und Textwelten, die der Nomade wechselt wie ein Zugvogel und sich dabei wohl und bereichert fühlt. Das Schreiben in der neuen Sprache bietet auch eine Erweiterung in stilistischer Hinsicht, etwa metaphorisches Schreiben anhand von Nominalkomposita, als eines spezifischen Merkmals der deutschen Sprache, wie es die Beispiele aus dem Gedicht belegen.

Es sind diese und andere Besonderheiten, die auch Ilija Trojanow hervorhebt, wenn er erklärt, dass er sich ganz bewusst für das Schreiben in deutscher Sprache entschieden habe. Seinen Weg zu und in ihr schildert er als Entdeckungsreise, als »Staunen mit weit aufgerissenen Augen und tief offenem Ohr über die Schönheit und den Reichtum dieser Sprache« (Trojanow 2008: 78). Wichtig ist dabei das Unterwegssein, das über die Anpassung zur Emanzipation führe, zur »wohl bedachten Abweichung vom Kanon« (ebd.: 80), mithin zu einem schöpferischen Prozess gerade aus der Position der Fremdheit. In seinem Roman Der Weltensammler projiziert er solches Unterwegssein in die kolonialgeschichtliche Figur des Richard Francis Burton. Der Brite suchte im 19. Jahrhundert über drei Stationen – Indien, Arabien, Ostafrika – seine transkulturelle Identität. Dass das Thema den aus Bulgarien stammenden Schriftsteller mehr als jedes andere beschäftigt, ist auch aus seiner Biografie zu verstehen: Er lebt abwechselnd in Deutschland und Kenia, Indien und Südafrika, heute in Wien. In jedem Fall ist das sprachliche und literarische Nomadisieren bereichernd, das Leben in Zwitterwelten zeitgemäß.

Ist hier noch von Migrationsliteratur zu reden? Der Weltensammler und auch die Biografie des Verfassers erinnern eher an den privilegierten Weltbürger, dem die Sprachen und Kulturen offenstehen – bis hin zu einer Art Bildungsdünkel. In die erklärte Liebe zur deutschen Sprache, die offen und tolerant sei, »ausländerfreundlicher als die Deutschen« (ebd.: 78), ist die Kritik an den Deutschen eingebaut, meint Trojanow doch »deutscher zu sein als ein Großteil der Deutschen«, nicht nur weil er ihre Sprache besser beherrsche, sondern auch deutsche Geschichte und Literatur besser kenne (Trojanow 1997: 127).

Ähnlich, wenn auch etwas subtiler, formuliert Yüksel Pazarkaya, der türkischstämmige Schriftsteller, dieses Urteil in seinem Gedicht »deutsche sprache«. Auf die Liebeserklärung an die Sprache folgt auch bei ihm die Kritik an denen, »die sie angeblich sprechen« (Pazarkaya 1997: 153).

Das frühe Thema, kulturelle Konfrontation, ist wieder oder immer noch da, jetzt mit vertauschten Vorzeichen: Die Fremdsprache ist keine fremde Sprache mehr, wird geliebt und besser beherrscht als vom Gros der Muttersprachler. Wörtlich oder zwischen den Zeilen dieser Behauptung ist darüber hinaus die Kritik an der Haltung der Deutschen zu lesen, an ihrer Gleichgültigkeit, der mangelnden Kenntnis wegen, aus mangelndem Interesse, ja mangelnder Liebe zur eigenen Sprache, Literatur und Kultur. Ist diese These überraschend? Hielte sie einer differenzierenden Überprüfung stand? Der bewusstere Umgang mit einer fremden Sprache ist normal, die leidenschaftliche Beziehung zur Sprache kennzeichnet Leute, die daraus literarische Texte machen. Dennoch spielt diese Kritik hier keine wesentliche Rolle mehr, ebenso wenig die Frage nach den Wurzeln. Wichtig sind die Entdeckungsreisen und die literarischen Möglichkeiten, die sich dabei ergeben: »Wortwärts treibt es den Nomaden im Traum, treibt ihn in jenes Erzählen, das von der Zunge kommt.« (Trojanow 2008: 80)

4. Neugier und Sehnsucht: semiotische Beobachtungen und Überlegungen

Von der »Sehnsucht nach einer fremden Sprache« spricht die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada, die seit den 1980er Jahren in Deutschland lebt, in ihrem Essay Von der Muttersprache zur Sprachmutter.

In diesem und anderen Essays, aber auch in Erzählungen, schreibt sie über ihre Abenteuerreisen und ihr Unterwegssein in der neuen Sprache, im Gepäck ihre Muttersprache. Das Leben in Deutschland, die neue Kultur vermittelt sich ihr über die Sprache und führt zur Erkenntnis, dass auch ihr japanisches Leben schon immer von sprachlichen Beziehungen bestimmt war, aber erst die Erfahrungen mit und in der fremden Sprache dies bewusst machte.

Dennoch reflektiert sie gerade Unterschiede und Konsequenzen daraus. Der Bericht über ihre Beobachtungen und ihre zunehmende fremdsprachliche Kompetenz mündet in die Erkenntnis:

In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so daß man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, daß weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner: Er entfernt alles, was sich aneinanderheftet und sich festklammert. (Tawada 1996: 15)

Das Bild von den fliegenden Wörtern, denen man in einer fremden Sprache begegnen kann – semiotisch gesehen: von voneinander gelösten Signifikanten und Signifikaten – zeichnet Yoko Tawada in ihren Tübinger Vorlesungen weiter, wenn sie das »Problem der Fremdheit« in der »Stimme eines Vogels« wahrnehmbar macht und es ornithologisch ausbaut (Tawada 1998: 7): »Wenn man in einem fremden Land spricht, schwebt die Stimme merkwürdig isoliert und nackt in der Luft. Es ist, als würde man nicht Wörter, sondern Vögel ausspucken.« (Ebd.) Und umgekehrt: »Manchmal entsteht ein Vogelzwitschern, das tief ins Gehör eindringt, dabei aber unfaßbar bleibt. Dann sucht man nach dem Singvogel […]. Man sieht aber nichts außer den dicht gewachsenen Blättern.« (Ebd.) Und wieder in Vergleich und Gegensatz: »Ein seltsames Gefühl beim Sprechen vor fremden Ohren: Die Sätze bilden klare Konturen – was beim Sprechen in der Muttersprache oft nicht der Fall ist –, der Inhalt wirkt konkret und bildhaft, nur die Stimme findet keinen Platz in der Luft.« (Ebd.) Von pragmatischer Seite aber gibt es auch für Yoko Tawada durchaus Einschränkungen im erlebnisreichen und genussvollen Unterwegssein in der fremden Sprache. Anders als das Lesen oder Schreiben sei das Sprechen in Gesellschaft der fremden Sprache immer auch gefährdet von einem »uniformierten Gehirn«, das

Verbesserungsvorschläge, psychologische Ratschläge, pädagogische Angebote oder humanistisches Mitgefühl aus[spucke]. Da es immer Menschen gibt, die auf diese Weise unsere Sprachen kontrollieren, domestizieren, angreifen oder zum Verstummen bringen wollen, darf man eigentlich keine Schwäche beim Sprechen zeigen. (Ebd.: 11)

Die Vogelmetaphorik ist mehrdeutig und mehrfach motiviert: etwa im Sinn der fliegenden, weil von referentiellem Bedeutungsballast befreiten Wörter und zugleich als Analogie zu einer Fremdsprache, die man zunächst nur als Stimme wahrnimmt.

Hier kommt Yoko Tawada Julia Kristevas Abgrenzung von Jacques Lacans symbolischer Ordnung nahe, Kristevas Gegenentwurf einer semiotischen Offenheit etwa im poetischen Diskurs (vgl. Kristeva 1978: 209), vor allem in dem bestimmter Spielarten der Avantgardeliteratur. Tatsächlich erinnern Tawadas Erzählungen oft an dadaistische oder surrealistische Texte, auch an konkrete Poesie.

Tawada selbst findet Belege und bezeichnende Beispiele für diesen Zusammenhang etwa bei Paul Celan und E.T.A. Hoffmann. In »Magister Tinte« aus Hoffmanns Märchen »Das fremde Kind« sieht sie einen der Sprachkontrolleure, die die Vogelfreiheit der Sprachen einschränken und Verhältnisse schaffen wollen, die das Gegenteil des Abenteuers, der abenteuerlichen Entdeckungsreise in einer Fremdsprache darstellen (Tawada 1998: 12).

Immer geht es um das Mit-, besser noch das Ineinander der Sprachen, ihre Interferenz statt bloßer Koexistenz, oder, wie Roland Barthes sagt, um ihre Kohabitation (vgl. Barthes 1974: 8). Eine Möglichkeit, diese herzustellen, liegt für Tawada im Vorgang der Übersetzung, wobei die literarische Übersetzung von der kommunikativen zu unterscheiden sei. Die »literarische Übersetzung muß von der Unübersetzbarkeit ausgehen und mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen« (Tawada 1998: 35).

Das Umgehen mit der Tatsache der Unübersetzbarkeit bedeutet für Tawada Vorteil und ästhetischen Anreiz: »Für mich besteht der Reiz einer Übersetzung darin, daß sie den Leser die Existenz einer ganz anderen Sprache spüren läßt.« (Ebd.) Sie nennt Texte, die im Original wie Übersetzungen wirken, Texte von Franz Kafka und von Heinrich von Kleist, ein Beispiel, das die Kleist’sche Hypotaxe als syntaktische Notwendigkeit darstellt, das komplizierte Beziehungsgeflecht einer spätmittelalterlichen Adelsfamilie auszudrücken. In dieser Funktion sei der Kleist’sche Text unübersetzbar, bleibe im Japanischen erkennbar als »ganz andere Sprache« (ebd.).

Die Unübersetzbarkeit bzw. den Verzicht auf Übersetzung erprobt Roland Barthes selbst in L’empire des signes während einer Reise durch Japan, durch die japanische Zeichenwelt. Er kehrt Yoko Tawadas Weg um. Anders als sie verzichtet er bewusst darauf, Japanisch, die Sprache, die Schrift, zu erlernen, sie sich als Fremdsprache anzueignen, in sie einzudringen, sie zu »verstehen«. Er will in der »fremde[n] (befremdliche[n]) Sprache […] die Differenz wahrnehmen« und in ihr

die Unmöglichkeit der unsrigen erkennen; die Systematik des Unbegreifbaren erlernen; unsere ›Wirklichkeit‹ unter dem Einfluß anderer Einteilungen, einer anderen Syntax auflösen; unerhörte Stellungen des Subjekts in der Äußerung entdecken, deren Topologie verschieben; mit einem Wort, ins Unübersetzbare hinabsteigen […], bis der ganze Okzident in uns ins Wanken gerät und mit ihm die Rechte der Vatersprache […], die uns wiederum zu Vätern und Besitzern einer Kultur macht. (Barthes 1981: 17)

Es ist der semiotische Blick, der fremdartige, den er, wie Julia Kristeva, gegen den symbolischen (zwar mehrdeutigen, aber doch mehr oder minder bedeutungsfixierten) Blick der besitzergreifenden »Vatersprache« verteidigt. Er spricht dann von der unbekannten Sprache oder dem Zustand des Ohne-Sprache-Seins in einer unbekannten Schrift, im Reich der leeren Zeichen, und von »Sinnverlust« im Sinne einer Befreiung von Sinn. Barthes nennt die so wahrgenommene japanische Schrift »ein Satori«, ein »mehr oder weniger starkes (durchaus nicht erhabenes) Erdbeben, das die Erkenntnis, das Subjekt ins Wanken bringt« und »eine Leere in der Sprache« (ebd.: 16; Hervorh. i.O.) bewirke. Tawada macht ähnliche Erfahrungen mit dem Deutschen, wenn sie von der Sprache auf die Schrift kommt: »Wenn ich das Bedürfnis habe, in einem Text Wörter wie Vogel, Stein, Fisch oder Baum zu benutzen, so sind diese Wörter weder als Symbole noch als Metaphern zu verstehen, sondern als Schriftzeichen.« (Tawada 1998: 29) Dabei ist nicht die Materialität des Zeichens gemeint, wie etwa in der konkreten Poesie, noch die bloße Signifikanz, wie in poststrukturalistischen Texttheorien, sondern die Rätselhaftigkeit der Zeichen der fremden Schrift, die auf dem Unterschied der Schriftarten beruht, dem Unterschied zwischen japanischer Silben- bzw. Wortsilbenschrift und europäischem Alphabet:

Der Schriftkörper eines Ideogramms ist nicht rätselhaft, denn er zeigt, was er bedeutet. […] Dagegen ist jeder Buchstabe des Alphabets ein Rätsel […], weil er kein Zeichen ist, das für ein Signifikat steht […]. Die Buchstaben des Alphabets sind unfaßbare Phantasietiere. Weil sie als Einzelwesen von jeder Bedeutung frei sind, sind sie unberechenbar. (Ebd.: 30)

Immer ist die Entdecker- und Erkenntnisfreude zu spüren, die die fremde Sprache und ihre Schrift bieten, aber auch die neue sensiblere Sicht auf die ursprüngliche Sprache und Schrift, schließlich, wie erwähnt, deren Neben-, Mit- und Ineinander.

Roland Barthes macht aus dem »seltsamen Gefühl« beim Reisen in einer fremden Sprach- und Zeichenwelt ein Gefühl der Lust. Den biblischen Mythos von der babylonischen Sprachverwirrung umdeutend, stellt er den neuen – transkulturellen – Leser vor, den Leser »eines Textes in dem Moment, in dem er Lust empfindet. Der alte biblische Mythos kehrt sich um, die Verwirrung der Sprachen ist keine Strafe mehr, das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen, die nebeneinander arbeiten: der Text der Lust, das ist das glückliche Babel.« (Barthes 1974: 8)

5. Fazit: Transkulturelles Schreiben zwischen Migrations- und Reiseliteratur

Roland Barthes’ L’empire des signes ist Reiseliteratur, die bewusst im Zeichen der fremden Schrift steht. Auch Durs Grünbein taucht in Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus in die fremde japanische Schrift- und Sprachwelt ein, wenngleich mit konkreten literarischen Absichten, Texte bestimmter japanischer Autoren kennen zu lernen, selbst Haikus zu schreiben. Beide bleiben auf dem Terrain ihrer jeweiligen Muttersprache, Barthes mit Absicht, Grünbein bedauernd, weil er »das kostbare Flackern der Andersheit« (Grünbein 2008: 101) so nur in Übersetzungen wahrnehmen kann.

Darauf ist Yoko Tawada in der Umkehr der Reiserichtung nicht angewiesen. Indem sie die Grenze ins sprachliche Neuland überschreitet, erkundet sie dieses nicht nur als eine von außen wahrzunehmende und zu beschreibende Zeichenwelt, sondern trägt so auch zu einer »deutschen Literatur von außen« bei. Das tut sie schon früh mit den 1991 erschienenen Erzählungen und Gedichten in Wo Europa anfängt (Tawada 1991), vielschichtigen Texten einer ebenso realen wie phantastischen transsibirischen Reise, nicht zuletzt einer transkulturellen Annäherung an (ein literarisches) Europa.

Fremde ist dann nicht das existentielle Thema wie in der frühen Migrationsliteratur, sondern Exotik, Abenteuer und Gegenstand der Exkursion und Erforschung, die man aus einer mehr oder minder gesicherten Existenz heraus unternimmt.

Anmerkungen

1 Zu untersuchen wäre jedoch nicht nur der Unterschied zur Exilliteratur, sondern auch der literaturhistorische Kontext etwa im Vergleich zur Lage eines Adelbert von Chamisso oder der von Schriftstellern wie Franz Kafka oder Joseph Roth im Vielvölker- und Vielsprachenstaat Österreich-Ungarn.

2 Ausnahmen gibt es, etwa Emine Sevgi Özdamars Roman Die Brücke vom Goldenen Horn (1998).

Literatur

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Grünbein, Durs (2008): Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus. Frankfurt a.M.

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Madjderey, Abdolreza (1986): Sprachnomadenleben. In: Irmgard Ackermann / Harald Weinrich (Hg.): Eine nicht nur deutsche Literatur. München, S. 163.

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Özdamar, Emine Sevgi (1998): Die Brücke vom Goldenen Horn. Köln.

Pazarkaya, Yüksel (1997): deutsche sprache. In: Volker Heigenmooser / Johann P. Tammen (Hg.): Verlegen im Exil: Reden, Vorträge, Statements, Fakten & Fiktionen, Lyrik und Prosa. Dokumentation des Bremerhavener PEN-Symposiums 1997. Bremerhaven, S. 153.

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Vesper, Guntram (1986): Fremde Gegend, schwere Stille. In: Rolf Bossert: Auf der Milchstraße wieder kein Licht. Berlin, S. 9-15.

Weinrich, Harald (2001): Um eine deutsche Literatur von außen bittend. In: Robert-Bosch-Stiftung (Hg.): Viele Kulturen – eine Sprache. Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und Preisträger 1985-2001. Stuttgart, S. 7.

Zaimoglu, Feridun / Abel, Julia (2006): »Migrationsliteratur ist ein toter Kadaver«. Ein Gespräch. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur und Migration. München, S. 159-166.

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