Facetten des Vielfältigen in der Lyrik
Interferenz und interkulturelle Literatur
AbstractThe paper addresses the multi-layered architecture of poems and their inherent dialogism. Taking as examples poems by Rolf Dieter Brinkmann, Oskar Pastior, Yoko Tawada, and Uljana Wolf, Bachtin’s concept of dialogism, which originally referred to prose fiction, is scrutinized in order to establish a new understanding of poetry. Its potentials become evident when intercultural lyrics or poems cross-fading different social systems are considered.
Title:Diversity in Poetry. Interference and Intercultural Literature
Keywords:Poetry; Dialogism; Interculturality
Jeglicher Theorieansatz, der ein Verständnis von ›Kultur‹ oder ›Identität‹ als homogenen, in sich geschlossenen Phänomenen voraussetzt, ist in der Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaft mittlerweile – wenn auch leider immer noch nicht im Diskurs gewisser Parteien – desavouiert. Will man hinter den erreichten Erkenntnisstand nicht zurückfallen, kann auch der Begriff des ›Vielfältigen‹ nicht als bloßes Nebeneinander von identitären Kleinstentitäten oder monadischen Kulturen gedacht werden, da damit ein nicht dialogisches Verhältnis zwischen Parallelwelten oder -gesellschaften suggeriert würde. Vor allem wäre ein solcher Begriff von Vielfalt in sozialer wie in künstlerischer Hinsicht unproduktiv. Unseres Erachtens nach wird der Begriff des Vielfältigen vielmehr erst dann aussagekräftig und aufschlussreich, wenn man ihn dynamisiert und dialogisiert, temporalisiert und mediatisiert – also in komplexe Zusammenhänge von Austausch und Ausgleich, Verhandlung und Verständigung rückt und diese Zusammenhänge grundsätzlich als offen betrachtet. Das Vielfältige erscheint so zugleich als Resultat und als Prätext von Bewegung und Veränderung, Wandel und Transformation.
Unter dieser Voraussetzung möchten wir anhand einiger Beispiele diskutieren, inwiefern die Lyrik von interkulturell sozialisierten Autorinnen und Autoren besondere Potentiale der Hervorbringung und Gestaltung von Vielfalt aufweist. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Annahme, dass sich das von Michail M. Bachtin 1934 / 35 in seiner Abhandlung Das Wort im Roman entwickelte Konzept der Dialogizität sinnvoll auch auf Gedichte beziehen lässt und in Verbindung mit dem Komplementärbegriff der Responsivität helfen kann zu verstehen, wie Gedichte vermeintliche Selbstgewissheiten irritieren und jene Überlagerung von Eigenem und Fremden, die der Irritation zugrunde liegt, ins Produktive wenden.
1. Irritabilität, Responsivität und Dialogizität – Aspekte einer Poetik des Übergangs
Es ist gewiss nicht neu zu behaupten, Literatur als Kunst beziehe ihre Produktivität seit Beginn der Neuzeit zu erheblichen Teilen gerade daraus, dass sie Ungewissheit in Bezug auf das Eigene stiftet – auf eigene Identität wie auf eigene Kultur. Literatur als Kunst demonstriert das Nichtwissen über das Selbst (oder zumindest den Mangel an Selbst-Gewissheit); sie stellt immer wieder von neuem die Gültigkeit der Selbstbeschreibung von Kultur und Gesellschaft infrage, buchstabiert die Prozessualität und Offenheit der Aushandlung kultureller Normen aus und deckt so den Konstruktionscharakter dieser Normen auf. Dergestalt verfahren bereits Cervantes in Bezug auf die Werte und Tugenden der spanischen ständischen Gesellschaft, Lessing in seinen Trauerspielen hinsichtlich der bürgerlichen Sexualmoral und der damit zusammenhängenden Verteilung der Geschlechterrollen, Kleist in der Familie Schroffenstein, Gottfried Keller in dem Grünen Heinrich oder Wilhelm Raabe in Stopfkuchen mit Blick auf die immer deutlichere Inkongruenz zwischen den Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft und der individuellen Selbst- und Welterfahrung. Mindestens genauso ausgeprägt ist dies in der Lyrik (spätestens seit Novalis’ Hymnen an die Nacht), zumal in vielen Gedichten die Grenzen des Sag- und Denkbaren, des Lesbaren und Verstehbaren zum Gegenstand werden, womit unausweichlich auch die Unterscheidungen zwischen dem Anteil des Eigenen und des Fremden in der Sprache thematisch werden. Literatur als Kunst verweist zudem, gerade in der Lyrik, häufig auf etwas, das im Dunkeln liegt, jenseits von Sprache und Wissen – etwas, das für den Verstand inkommensurabel bleibt und doch deutlich empfunden und gespürt werden kann, etwas, das zum ›Staunen‹1 anregt, weil es aus dem Rahmen des Erwartbaren, vermeintlich Selbstverständlichen fällt und einen Nachhall, eine Resonanz auslöst. So unbestimmt dieses Etwas auch sein mag – es verweist darauf, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als sich die Schulweisheit träumen lässt, dass die Welt bunter und vielgestaltiger, vielleicht aber auch abgründiger ist, als es gemeinhin der Fall zu sein scheint.
Verwiesen wird also auf einen Sinnüberschuss, dem die Erfahrung der Kontingenz entspricht. Jede Darstellungsweise, jede Lesart steht vor dem Hintergrund alternativer Darstellungsweisen und Lesarten, weshalb Vielfalt praktisch nicht zu vermeiden ist. Die Auslegung der Welt, die mit jedem Akt ihrer körperlichen oder geistigen Aneignung einhergeht, findet in dem Bewusstsein statt, dass keine aktuelle Deutung das Potential erschöpfen kann, auf das sie verweist.2 In der reflexiven Einstellung auf Prozesse der sinnvollen Welt- und Selbstgestaltung, die literarische Texte befördern, tritt am Sinn aber jeweils auch hervor, was man Eigen- und Fremdanteil nennen könnte, wobei das Verhältnis dieser Anteile gerade nicht statisch vorgestellt, sondern an ein Wechselspiel gebunden wird, in dem sich das Eigene und das Fremde ständig verändern und vielfältig überlagern.
Diese Überlagerung lässt sich sowohl interkulturell und intersubjektiv als auch intrakulturell und (intra-)subjektiv ausbuchstabieren. Sie hängt aufs Engste mit dem Konzept der Dialogizität zusammen, das den Prozess des sozialen Redeverkehrs mit der Bewusstseinstätigkeit des Menschen verklammert. Für Bachtin ist jeder Gegenstand, zu dem man sich überhaupt äußern kann, »umgeben und durchdrungen von allgemeinen Gedanken, Standpunkten, fremden Wertungen und Akzenten« (Bachtin 1979: 169), so dass jede Äußerung die »Sphäre der anderen, fremden Wörter zu demselben Gegenstand, zum gleichen Thema« umgibt (ebd.). Daraus folgt zum einen, dass jede Äußerung als Replik entsteht, das heißt: »Das Entwerfen des Gegenstandes durch das Wort wird durch die dialogische Wechselwirkung mit verschiedenen Momenten seines sozial-verbalen Erkennens und Beredens im Gegenstand noch komplexer« (ebd.: 179), vielfältiger. Daraus folgt zum anderen: Als konkrete Rede, als ›parole‹ bewegt sich die Sprache »für das individuelle Bewußtsein auf der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Das Wort der Sprache ist ein halbfremdes Wort« (ebd.: 185). Eine in sich abgeschlossene, vollkommen homogene ›National-Sprache‹ kann es für Bachtin daher ebenso wenig geben wie eine rein private Sprache für Ludwig Wittgenstein (vgl. Wittgenstein 1975: 145). Das eine ist die Kehrseite des anderen. Da alles Reden einen sozialen Vorgang des Austausches darstellt, in dem sich diverse Stimmen und Meinungen, Anschauungen und Wertungen überlagern, kann kein einziges Wort allein dem einen gehören oder das ausschließliche Eigentum einer bestimmten Gemeinschaft sein.
Wenn Bachtin erklärt, »[e]rst in der Antwort reift das Verstehen heran« (Bachtin 1979: 174), koppelt er nicht nur den sozialen Dialog, sondern auch die Dialogizität des menschlichen Bewusstseins an das, was Bernhard Waldenfels (vgl. 1994: 435) – durchaus unter Rückgriff auf den russischen Gelehrten (vgl. Bachtin 1979: 185) – unter Berufung auf Kurt Goldstein ›Responsivität‹ genannt hat (vgl. Waldenfels 1994: 14). Der Versuch, die beiden Komplementärbegriffe der Dialogizität und der Responsivität für die Forschungsdebatten im Umkreis der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik – etwa im Anschluss an Herbert Uerlings’ Poetiken der Interkulturalität (vgl. 2013)3 – fruchtbar zu machen, sollte unserer Ansicht nach zwei weitere Begriffe berücksichtigen. Der eine hebt auf die physiologische Grundlage aller Dialogizität und Responsivität, nämlich auf die ›Irritabilität‹ des Menschen durch Sinnesreize, Umwelteindrücke und »die unaufhörlichen Anrufe eines quantitativ unerschöpflichen Universums« (Camus 1984: 80), ab, von denen Albert Camus in seinem Essay Le Mythe de Sisyphe (1942) gesprochen hat. Der andere Begriff lenkt das Augenmerk auf die Dynamik und Produktivität der responsiv-dialogischen Überlagerung von Eigenem und Fremdem im sozialen Redeverkehr wie im Bewusstsein: Jedenfalls ergibt sich aus dem unaufhörlichen Wechselspiel aller Äußerungen und Gedanken eine Plastizität von Gesellschaft, Kultur und Bewusstsein, die man als ›Transformativität‹ fassen kann. Diese Transformativität verwandelt die Poetiken der Interkulturalität in Poetiken des Übergangs.
Untersuchungsbedürftig ist demnach, wie Irritationsmomente Transformationsprozesse anstoßen und welche Rolle dabei jene Literatur spielt, die dezidiert als ›interkulturell‹ ausgezeichnet wird. Mutmaßlich besteht ihre spezifische Leistung darin, aufzuzeigen, wie auf das mitunter verstörende, zumindest aber Erstaunen weckende Nicht-(Wieder-)Erkennen und Nicht-(Auf-Anhieb-)Verstehen mittels Welt- und Selbsttransformationen geantwortet werden kann – was nicht unbedingt bedeutet, dass es sich um ein verbales Antworten handeln muss, gibt es doch zahlreiche Möglichkeiten, die Momente der Responsivität und Dialogizität mit anderen Kunstmitteln zu akzentuieren, etwa durch Farben und Formen, Klänge, Bilder usw.
Erst recht für Sprachkunstwerke gilt freilich, dass man sie kaum abgekoppelt vom sozialen Zeichenverkehr und damit von der Kommunikation untersuchen kann, die über Medien prozessiert wird, da Medien in der Regel zu einer erheblichen Steigerung sowohl der Weltkomplexität als auch der Stimmeninterferenz im öffentlichen Diskurs wie im persönlichen Bewusstsein beitragen. Die Ausnahme bilden gleichgeschaltete Medien, die lediglich verkünden, was Bachtin als äußerliches, autoritäres Wort von dem innerlich überzeugenden Sprechen abgesetzt hat, durch das sich das Subjekt seine Meinung bildet:
Das autoritäre Wort verlangt von uns bedingungslose Anerkennung und keineswegs freie Aneignung und Assimilation an unser eigenes Wort. […] Es geht als kompakte und unteilbare Masse in unser Wortbewusstsein ein, man muß es entweder in toto bestätigen oder in toto ablehnen.
[…]
Es bleibt deshalb letztlich ein Fremdkörper, den man – sobald der äußere Druck, der zu seiner Annahme zwingt, nachlässt – wieder abstoßen kann.
Im Unterschied zum äußerlichen autoritären Wort verknüpft sich das innerlich überzeugende Wort im Prozeß seiner bestätigenden Aneignung eng mit dem ›eigenen Wort‹. Im Alltag unseres Bewußtseins ist das innerlich überzeugende Wort ein halb eigenes und halb fremdes Wort. (Bachtin 1979: 230-232)
Mit dem letzten Satz unterstreicht Bachtin, warum er nur in Anführungszeichen von einem ›eigenen Wort‹ spricht: Die Aneignung – oder vielleicht besser: die Anverwandlung – der Äußerungen anderer ist ein unendlicher, laufend durch neue Inputs modifizierter Vorgang, so dass er ziemlich genau der Idee der Semiose von Charles Sanders Peirce entspricht (vgl. Peirce 1955: 282), denn »[d]ie Sinnstruktur des innerlich überzeugenden Wortes ist nicht vollendet, ist offen, in jedem neuen, es dialogisierenden Kontext kann es ganz neue Sinnmöglichkeiten erschließen« (Bachtin 1979: 232; Hervorh. i.O.).
Bachtin hatte bei dieser Bemerkung primär das prosaisch verfasste, auf die Abfolge von Rede, Gegenrede und Widerrede bezogene Bewusstsein im Blick. »Das ideologische Werden des Menschen« war für ihn »der Prozeß der auswählenden Aneignung fremder Wörter« (ebd.: 228) – ein Prozess, der lebenslang andauert. Folglich muss auch die Identität etwas Transitorisches sein – eine Zeitgestalt, die sich aus der permanenten Auseinandersetzung des Einzelnen mit anderen Stimmen, Einflüsterungen von außen und verinnerlichten Erfahrungen, Selbst- und Fremdbildern ergibt. In diesem Sinne ist Vielfalt jedem Subjekt eingeschrieben durch eine lebenslange dialogische Arbeit am Selbst, die unweigerlich mit dem Moment der Transformativität einhergeht.
Da das Konzept der Dialogizität die Interferenz von Eigenem und Fremdem im Allgemeinen betrifft und das innerlich überzeugende Sprechen eine Errungenschaft der menschlichen Bewusstseinstätigkeit darstellt, die nicht nur an Romanfiguren in Form der erlebten Rede, des inneren Monologs oder des stream of consciousness exemplifiziert werden kann, spricht im Übrigen nichts dagegen, sondern vieles dafür, dieses Konzept nicht nur bei der Analyse von narrativen, sondern auch bei der Analyse von lyrischen Texten in Anschlag zu bringen. Nicht nur in Romanen, die sich mit prosaischen Zusammenhängen befassen, auch in Poemen kann das produktive Wechselspiel von Responsivität und Dialogizität vor Augen geführt oder aufzeigt werden, wann, wie und warum dieses Wechselspiel paralysiert und pervertiert, ins Unproduktive oder gar Destruktive gewendet wird.
Lässt man sich auf diese Perspektive ein, kommt es weniger auf die biographische Genese der interkulturellen Literatur als vielmehr auf ihre ›modellierende‹ Funktion (vgl. Lotmann 1973: 23) an. So richtig es zweifellos ist, dass Schriftsteller wie Karl Emil Franzos, die ihr ganzes Leben in einer Zone der Begegnung und Befremdung zwischen Juden und Christinnen, Galizierinnen und Westeuropäern verbracht haben, ein besonderes Potential in der Ausgestaltung von Irritabilität besessen haben, so offenkundig wird dieses Faktum nur dann literarisch bedeutsam, wenn es in den Texten thematisch aufgegriffen und in ihrer Prozesslogik – also performativ – ratifiziert wird, so dass es denn auch die Aktstruktur der Rezeption bestimmt. Man könnte geradezu eine Abstufung von nur ›thematisch‹ über ›performativ‹ bis hin zu ›rezeptionsstrategisch‹ vornehmen und Texte daran messen, ob sie das Potential der interkulturellen Literatur lediglich in einer, immerhin in zwei oder sogar in allen drei Dimensionen aktualisieren.
Bestimmt man interkulturelle Autorinnen und Autoren mithin wie Norbert Mecklenburg »als solche, deren interkulturelle Herkunft und Lebensgeschichte ihr Schreiben entscheidend prägt« (Mecklenburg 2009: 21), kann man gleichwohl behaupten, dass es Texte von Autorinnen und Autoren ohne einen entsprechenden biographischen Hintergrund gibt, deren Bedeutung ebenfalls daher rührt, dass sie das dialogische Wechselspiel von Eigenem und Fremdem thematisieren, performativ ratifizieren und mit einer bestimmten rezeptionsstrategischen Pointe versehen. Die interkulturelle Relevanz von Literatur kann, muss aber nicht unbedingt eine Frage sein, die sich an der Herkunft und Lebensgeschichte ihrer Verfasser und Verfasserinnen entscheidet. Bachtins Konzept der Dialogizität jedenfalls erlaubt in seiner Verknüpfung mit den Komplementärbegriffen der Irritabilität, Responsivität und Transformativität sowohl eine Re-Lektüre von Texten, die bisher nicht mit Blick auf ihre interkulturelle Relevanz untersucht wurden, weil die Biographie ihrer Autorinnen und Autoren eine solche Auslegung nicht nahezulegen schien. Es erlaubt aber auch eine angemessene Berücksichtigung der schlichten, aber gewichtigen Tatsache, dass die Zahl der Menschen und folglich die Zahl der Autorinnen und Autoren wie der Leserinnen und Leser, die ihr Leben ausschließlich in einer homogen Gemeinschaft verbringen und daher nie den ›Stachel des Fremden‹ (vgl. Waldenfels 1990) spüren, immer geringer wird.
2. Exkurs zur Heterogenität von Rolf Dieter Brinkmanns Gedichten
An dieser Stelle soll in Gestalt eines Einschubs dem Einwand begegnet werden, Bachtins Konzept der Dialogizität lasse sich, weil es auf den Roman und die prosaische Welt der Neuzeit gemünzt sei, nicht auf lyrische Texte beziehen. Man kann diesem Einwand zunächst mit einem Verweis auf die Historie begegnen: Bachtin kannte eigentlich nur Lyrik, die vergleichsweise monologisch verfasst war. Ihr Stilideal zielte auf die Distinktion des künstlerischen Textes vom sozialen Redeverkehr ab und akzentuierte daher weniger die Dialogizität des Bewusstseins als vielmehr die Autonomie des schöpferischen Subjekts. Allein: Dieses Stilideal ist in den letzten hundert Jahren gründlich relativiert worden durch eine poietische Praxis, die auch in der Lyrik auf die Momente der Irritabilität, Responsivität und Transformativität setzt. Exemplarisch belegen lässt sich dies an Rolf Dieter Brinkmann:
In der ›Notiz‹, die dieser Autor seinem Lyrikband Die Piloten (1968) beigefügt hat, heißt es programmatisch, ein Gedicht sei zwar kein Abfallprodukt, müsse aber »das an Material aufnehmen, was wirklich alltäglich abfällt« (Brinkmann 2010: 38). Es sei daher die geeignete Form, »eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten« (ebd.). Liest man »Empfindlichkeit« als Hinweis auf das Wechselspiel von Irritabilität und Responsivität, kann man den lyrischen Schnappschuss, in dem sich diese Empfindlichkeit in Bezug auf das alltägliche Material der Wahrnehmung manifestiert, auf eine dialogische Offenheit all dem gegenüber zurückführen, was dem Dichter in seiner alltäglichen Lebenswelt begegnet. Das können Eindrücke auf der Straße, Werbeanzeigen in einer Illustrierten, Filmausschnitte oder Gesprächsfetzen sein. Das Material von Brinkmanns Lyrik ist heterogen, vielfach medieninduziert und gerade nicht durch einen Stilanspruch nivelliert, der diese Genese kaschiert. Im Gegenteil: Auf die ihm von der Kritik vorgehaltene Frage »Wo bliebt ihr Stil, wo bleibt Ihr Stil?« antwortet Brinkmann in seiner ›Notiz‹:
Warum soll ich mich ausdrücklich um Stil kümmern, wenn sowieso alles um mich herum schon stilvoll ist! Das wäre mir einfach zu langweilig. Wie sagte Warren Beatty zu den deutschen Kinobesitzern beim Start von Bonnie und Clyde: »Bei der Schlußszene mit dem Maschinengewehrfeuer müßt ihr den Ton ganz aufdrehen!« (Ebd.: 39)
In dieser Replik auf die einen, nämlich auf die stilbewussten und wertkonservativen Kritikerinnen und Kritiker, schwingt die Stimme eines anderen, nämlich des Filmstars, mit, so dass die eigene Meinung als ein Zitat vorgetragen werden kann, das herkömmliche Kulturbegriffe irritiert. Ähnlich sind viele von Brinkmanns Gedichten buchstäblich an der Schnittstelle von öffentlichem Diskurs, Medienresonanz, subjektivem Empfinden und alltäglichem Material entstanden. So wie daher konkrete Bezugspersonen des Autors, etwa sein Freund [Rainer] Rygulla oder seine Ehefrau Maleen in Alle Gedichte sind Pilotengedichte, ausdrücklich erwähnt werden (vgl. ebd.: 61f.), kommen auch amerikanische Lyriker oder Rockmusiker, Schauspielerinnen und Schauspieler namentlich vor, mit denen sich Brinkmann gedanklich beschäftigt hat. Der Bezug auf diese Personen und Medienikonen lässt Brinkmanns Gedichte ebenso wie die Inkorporation von Produktnamen, Werbeslogans und Songzeilen geradezu als Display der Dialogizität erscheinen. Wäre der Begriff ›Selbstverständigungstext‹ nicht durch eine fragwürdige therapeutische Auffassung vom kreativen Schreiben in Misskredit gebracht worden, könnte man mit ihm ein Spezifikum von Brinkmanns Lyrik erfassen. Dieses Spezifikum macht aus dem Gelegenheitsgedicht eine Meditation über die Mediengenese der zeitgenössischen Mentalität und trägt so zur Selbstverständigung einer ganzen Generation darüber bei, was sie, die Wegbereiterinnen und -bereiter der Beat- und Popkultur in ästhetischer, erotischer und politischer Hinsicht erregt oder aufregt. Durch die Überlagerung der Medien und Materialien wird der Resonanzkörper des Poems wahrhaft gegenständlich, also plastisch erweitert und in seiner Sinnlichkeit potenziert. Das Gedicht ist persönliche Erinnerungsspur und kulturelles Gedächtnis, Widerhall und Echoraum der Lebenswelt, die der Autor mit seinen Zeitgenossinnen und -genossen teilt.
Dass sich diese Machart nicht nur an den 1968 publizierten Pilotengedichten, sondern auch an den anderen Kurz- und Langpoemen Brinkmanns beobachten lässt, mögen die zwei folgenden Beispiele aus verschiedenen Lyrikbänden und Werkphasen belegen, ohne dass damit behauptet werden soll, Brinkmanns dichterisches Schaffen habe sich 1967 und 1974 nicht vielfach verändert:
Der Lyrikband Was fraglich ist wofür (1967) enthält das Gedicht Film, das einen alltäglichen Vorgang – das morgendliche Kaffeekochen – mit der Nachricht vom Tod des polnischen Schauspielers Zbigniew Cybulski und der Erinnerung an zwei Szenen verbindet, in denen dieser Darsteller auf der Leinwand ›gestorben‹ ist (vgl. ebd.: 27). Das Echo der Stimme des Nachrichtensprechers im Radio, die Filmausschnitte, die dem Autor ad hoc vor dem ›geistigen Auge‹ stehen, und die zeitgleiche Empfindung eines heißen Kaffeetropfens auf dem Handrücken ergeben eine lyrische Interferenz, die ziemlich genau Bachtins Dialogizitätkonzept entspricht. Insofern Brinkmanns Filmerfahrung Einblicke in andere Kinokulturen als die der Bundesrepublik, etwa in die polnische, umfasst hat, kann man daher sagen, dass dieses Gedicht eine kurze Unterbrechung der Alltagsroutine durch eine Todesnachricht nicht nur an ein spezifisches Medienereignis, sondern an den interkulturellen Zuschnitt von Brinkmanns Kinoerfahrung koppelt.
In Westwärts 1&2 (1975) findet sich das Poem Im Voyageurs Apt. 311 / East 31st Street, Austin, das schon im Titel eine Lokalität in einer anderen Kultur vergegenwärtigt und diesen Ort mit der akustischen Szenographie der Rockmusik (Roll rüber, Beethoven!) korreliert, zu der wiederum die ›Fußnote‹ passt, in der Brinkmann Songtexte von Chuck Berry und Little Richard zitiert (vgl. ebd.: 107-110). Da diese beiden Strophen in englischer Sprache gehalten sind – die akustische Szenographie mithin mehrsprachig verfasst ist –, kann man auch mit Blick auf dieses Poem, in dem autobiographische Reiseeindrücke verarbeitet worden sind, von einem Gewebe aus individuellen Gedächtnismomenten, generationsspezifischen Medienerfahrungen und Spuren einer interkulturellen Begegnung sprechen, die weniger eine Begegnung mit bestimmten Menschen als mit der Landschaft der Südstaaten ist, die einem Europäer, einer Europäerin – wie der letzte Teil des Textes deutlich macht – fremder vorkommen als die Neuenglandstaaten im Nordwesten der USA. Die Rede ist von einem »Autowracksüden«, von einem »Swimming Pool Süden« und sogar von einer »Fiktion Süden«, weil es Brinkmann um die Überlagerung von Erwartung, Erfahrung und Erinnerung im Bewusstsein des lyrischen Ich geht.
Wie diese beiden Beispiele belegen, beschränkt sich der Geltungsbereich von Bachtins Konzept der Dialogizität durchaus nicht auf narrative Texte in ungebundener Rede. Unter den Vorzeichen von Moderne und Postmoderne ist auch das Gedicht zu einem Ort der Stimmenüberlagerung und der Verschränkung heterogener Materialen, diverser Medien und fremdkultureller Spuren geworden. Diese sprengten den traditionellen Begriff der Stilistik ebenso wie die mit diesem Begriff verbundene Vorstellung. Die wahre Dichterin, so hatte es die ältere Poetik dekretiert, unterscheide sich von ihrem ›Halbbruder‹ (Friedrich Schiller), dem Romanschriftsteller, eben dadurch, dass sie die heterogene Welt in ureigenen Worten auf ein Bild zusammenschmelze, welches einzig und allein seine genuine Schöpfung und damit Ausdruck ihrer unverwechselbaren künstlerischen Identität sei. Brinkmanns Texte und Text-Bild-Collagen, Material- und Montagebücher lassen sich eher durch eine für seine Generation charakteristische – also intersubjektiv generierte – Wahrnehmung der popkulturellen, zunehmend medial verfassten Welt lesen, die an dieser Welt gerade das festhält, was neu und nicht konventionell, anders, für die konservative Kritik befremdlich, heterogen und divers ist. Als lyrische Protokolle einer lebenslangen Verständigung über das Nichtidentische, das faszinierend, aber auch verstörend, alltäglich und doch nicht selbstverständlich erscheint, tragen Brinkmanns Kurz- und Langpoeme dem Wechselspiel der zentripetalen und zentrifugalen Kräfte Rechnung, die im 20. und 21. Jahrhundert eben nicht mehr nur die der Sprache im engeren Sinne, sondern aller Medien und Kulturäußerungen sind.4
Dies alles gilt unbeschadet der Tatsache, dass Brinkmann keine interkulturelle Literatur hinterlassen hat. Selbst in Rom, Blicke (1979 postum), also ›in der Fremde‹, schlägt er sich hauptsächlich mit den Zuständen in der Bundesrepublik Deutschland und mit seinen eigenen Problemen als Schriftsteller herum. Der Blick auf Italien und die Ewige Stadt ist wie das Journal-Schreiben entscheidend durch die westdeutsche Identität des Autors geprägt. Dennoch besitzen Brinkmanns Gedichte und Essays eine interkulturelle Relevanz. Sie reflektieren die zunehmende Orientierung seiner Generation an einer internationalen Musik- und Lyrikszene, gleichzeitig aber auch die zunehmende Frustration durch Massenmedien, die sich der Alterität der Jugendkultur systematisch verschließen und in ihrer Programmatik anti-emanzipatorisch verfahren, also ausschließlich auf Unterhaltung und Ablenkung, Berieselung und Entmündigung setzen, wie Brinkmann fand (vgl. Brinkmann 2005: 265, 269, 307f.). In seinen Montage- und Materialbänden überlagern sich folgerichtig die Abfallprodukte der Massenmedien mit Brinkmanns Versuchen, einen Übergang zu noch nicht korrumpierten Formen der Welt- und Selbstgestaltung zu finden. Vieles an diesen Versuchen wirkt heute anstrengend, lässt aber gerade im nicht nachlassenden Bemühen um Authentizität die Antizipation einer Poetik erkennen, der es um die Freisetzung transformativer Impulse und Energien geht.
3. Spielarten interkultureller Literatur – lyrische Facetten des Vielfältigen
Wie, so lautet nun die weiterführende Frage, kann Lyrik, bezogen auf das ungeheure Kraftfeld der Globalisierung, empathisch grundierte Transformationsprozesse anregen, wie können Gedichte, die einen interkulturellen Dialog befördern oder als Replik auf dessen Negation entstanden sind, die Irritation ins Produktive wenden und die Responsivität zwischen dem Eigenen und dem Fremden steigern?
Ein erstes Indiz für die lyrische Arbeit an Transformation findet sich in der Gestaltung von Übergängen. Die Lyrik kennt und entwickelt schon früh im 20. Jahrhundert in den Avantgardebewegungen und insbesondere im Dada und Futurismus Techniken der Montage und Collage, dank derer eine Architektur der Brüche, Risse und Schnitte entsteht. Diese läuft aber zumeist gerade nicht auf Spaltung und kategoriale Trennung von Eigenem und Fremdem hinaus, sondern auf ein borderscape, auf eine Landschaft einander überlagernder Grenzziehungen, in deren Ensemble sich Interferenzen und Übergänge ergeben. Der Betrachterblick wird dazu aufgefordert, zwischen den Schnitten hin und her zu oszillieren, bereits verinnerlichte Mindmaps zu verwerfen und die Sinnüberschüsse in eine produktive, dialogische Trajektorie zu überführen. So heißt es im Dada-Manifesto von Richard Huelsenbeck:
Die Kunst ist in ihrer Ausführung und Richtung von der Zeit abhängig, in der sie lebt, und die Künstler sind Kreaturen ihrer Epoche. Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewußtseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, daß sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht. Die besten und unerhörtesten Künstler werden diejenigen sein, die stündlich die Fetzen ihres Leibes aus dem Wirrsal der Lebenskatarakte zusammenreißen, verbissen in den Intellekt der Zeit, blutend an Händen und Herzen. (Huelsenbeck 1977: 17)
Fragmentierungen, Schnitte und Brüche werden hier als Effekt gesellschaftlicher Vorgänge angesprochen, und es kommt der Dada-Kunst darauf an, nahezu mimetisch in der Eigenlogik der Form Gewaltmomente der Zeit so einzufangen, dass die Leserinnen und Leser empathisch darauf reagieren und den Schmerz wahrnehmen, den ihnen die Gesellschaft selbst zufügt.
Von Anfang an agierte die Dada-Bewegung transnational bzw. gab sich ironisch als internationale Werbeagentur mit Filialen in Rom, Wien, Madrid, Moskau, Zürich und New York aus. So entstand ein die nationalen Leitkulturen subvertierendes Netz ästhetisch eigenlogischer Sinnzusammenhänge, das gesellschafts- und konsumkritisch, analytisch und irritierend war und zugleich stark auf Dialogizität und Transformation zielte.
Diese mehrsprachige Collage von Otto Griebel (vgl. Abb. 1, Griebel 1921) enthält Sprach- und Bildfetzen, die schon einmal medial gebraucht wurden und in diesem Sinne schon ›fremde Sprache‹ sind. Das Mörderische wird auf die Kannibalen projiziert, der Mann auf dem Bild kommt aber, so scheint es, in einer westeuropäischen Gesellschaft zum Tod, und sie hat keine anderen Worte dafür als das höhnische Lachen »Ha / Ho«, eine fremde, sichtlich nicht zum ersten Mal gebrauchte Aufschrift auf dem toten Leib. Zum einen ist die implizite Kritik am Kolonialismus und am Primitivismusdiskurs evident, zum anderen richtet sich ein weiterer Stachel der Irritation gegen die Leserin und den Leser, denn die durch das Foto authentifizierte Bildunterschrift »GRIEBEL TOT« widerspricht dem Leserwissen, dass Griebel lebe, was die Aufschrift »HaHo« ambiguiert. Der sprachmächtige Verfasser ›lacht zurück‹ und konterkariert den mortifizierenden Hohn. Gesellschaft und Sprachgebrauch sind, der bisherigen Lektüre zufolge, so zynisch, dass sie die Toten mit Recyclingwortmaterial verlachen und statt nach Ursachen von Gewalt zu suchen, Grausamkeit und Menschenverachtung auf die ausgebeuteten und von Krieg und Gewalt getroffenen Kolonisierten projizieren. Dabei hüllt sich die bürgerliche Gesellschaft in einen humanistischen Tarnmantel, denn ihre Massenmedien verhandeln kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit seinen 17 Millionen Toten und 20 Millionen Kriegsversehrten Grundsatzfragen wie »Stirbt der Mensch aus« (ohne auf den Tod des Einzelnen, wie das Foto veranschaulicht, mit Empathie zu reagieren). Die kleinbürgerliche Gesellschaft berauscht sich an kaiserlich-kolonialen Phantasien, an Geschichten Aus großer Zeit5, an den Zuckerkursen in Sachsen, daran, dass das »High-quality-Motoröl« die Getriebe der Gesellschaft reibungs- und irritationslos surren lässt, und daran, dass eine jede und ein jeder im Zuge der Beschleunigung der Transportinfrastrukturen mit dem gelösten »Straßenbahnbillett« in der Großstadt dahin zu rauschen vermag, wohin ihn seine Schaulust treibt. Das Motto der Dada-Bewegung wird wie im Inneren eines Poststempels (es handelt sich ja um einen als ›Botschaft‹ medial neu arrangierten Brief an Tristan Tzara) aufgespalten und deiktisch resignifiziert: Mit einem Pfeil versehen lenken »da« und »da« den Leserblick innerhalb eines nicht enden wollenden Rades hin und her auf der Suche nach einer Mitteilung, die es so natürlich qua Gesamtarrangement der Collage nicht geben kann. Schließlich setzt das »aus« einen Schlusspunkt. Aber auch von dort aus ergeben sich neue dialogische Suchbewegungen im Text. Das »aus« ist zum einen Teil des Verbs »aussterben« und gehört zum gelehrten Zynismus; zum anderen verweist es auf den Tod des Einzelnen, auf den höhnisch Belachten, und damit dreht sich das Rad der Interferenzen, Irritationen und dialogischen Sinnproduktionen weiter – auch und gerade in interkultureller, transkontinentaler und postkolonialer Hinsicht. Das Ende der Exegese ist ebenso fraglich wie der Tod des Autors. Die produktive Transformationskraft, die aus der Auseinandersetzung mit der Vielstimmigkeit dieser lyrischen Collage erwächst, kann an dem Sinnüberschuss immer wieder neu anschließen.
In dieser Tradition lässt sich nicht nur Rolf-Dieter Brinkmann verorten, sondern auch zahlreiche aktuelle Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die unter Bedingungen einer fast generalisierten Migration und Globalisierung schreiben. Dem Transnationalen ist der subversive Stachel deshalb entzogen, das ethnisch und religiös Fremde sind keineswegs mehr irritierend.
Die neuere Lyrik hat, so scheint es, Verfahren entwickelt, die von der Leserin einfordern, dass er oder sie sich auf die Suche nach einer dem Gedicht innewohnende Stimmenvielfalt begibt, die gerade nicht deckungsgleich mit ethnischer, sprachlicher oder religiöser Vielfalt, sondern quer dazu gelagert ist und dazu einlädt, sich auf eine Spurensuche geteilter wie auch getrennter Erinnerungen im Kulturraum Europa zu begeben. Dies gilt insbesondere für Texte, die Transfers über den Eisernen Vorhang hinweg anstreben und der wichtigsten und folgenreichsten Spaltung Europas in der Zeit von 1945 bis 1989 begegnen.
3.1 Übergänge zwischen politischen Systemen
Oskar Pastior, der im rumänischen Siebenbürgen geborene Schriftsteller, der während seiner Jugend im Zuge einer Wiedergutmachungsaktion zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurde und später in die Schweiz und die Bundesrepublik floh, entwirft in seinen Gedichten Szenarien, in denen beim Leser ein ›Staunen‹ über die Sprache einsetzt, ein Staunen, das in eine dialogische Suchbewegung übergeht. Pastior geht es um den performativen Widerspruch staatssozialistischer Gesellschaften, die sich selbst als demokratisch beschreiben, eigentlich aber repressiv sind. Seine Gedichte führen vor, wie Staatssprache, kulturelle Alltagspraxis und diskursives Wissen in diesen Gesellschaften schier unausweichlich unter ihren Mitgliedern Empathieblockaden hervorrufen. Im Modus der Paradoxie werden die Lesenden dazu angeleitet, Empathie gegenüber den Abgestumpften zu entwickeln, weil die Texte die Gewalt, die die Persönlichkeit und Individualität der Einzelnen zugleich prägt und zerreißt, so anschaulich in ihrer Sprache vorführen. Im Folgenden soll es exemplarisch um die beiden Gedichte KONSTITUTION und ICH DIE gehen.
KONSTITUTION ICH DIE was ist das du den das ist ein be treu Fremdwort ein schau was Körper was die amtl fremd ist rechts Corpus sozusagen schrei bung das ist was sprich peng Lustix geh wer na also und lei was stunx schau Morz was raus konsti komptna tutio ich du nelles den die was Munterdrauflosix vivendus nianders was zwitschert der Affe dasaudum (Pastior 2006: 240f.)
In KONSTITUTION beschreibt das lyrische Ich auf den ersten Blick die Staatsverfassung. Die Worte der Verfassung, also jene, auf denen das ›Eigene‹ des Staatswesens, der Gesellschaft und der Nation gründen, erweisen sich als ›fremdes Wort‹ – und dies durchaus auch im Sinne Bachtins. Dies gilt zunächst für die Staatsverfassung, da sich diejenigen, die als Regierungsmitglieder ihren Eid abgeleistet haben, offenbar keineswegs mit ihr identifizieren und so handeln, als sei sie ein Fremdkörper. In einer Gesellschaft, in der die Verfassung ein Fremdwort ist, spaltet ein Riss Sinn und Materie; der eigene Leib wird zum »Corpus«, zum toten Körper, und trifft sich darin mit dem toten Buchstaben. Indem die Konstitution als »fremd« erwiesen wird, legt das Gedicht auch die Verfasstheit der oder des Einzelnen offen, der oder dem nicht nur körperlich Sprache, Sinn und Sozietät entfremdet ist, die Spaltung, die sich im fremden Wort der Verfassung äußert, gipfelt im Mörderischen – sie hat im doppelten Sinne etwas »Morz / konsti / tutio / nelles«, wie es im Gedicht heißt.
Die Schnitte zwischen den Buchstaben und die Zusammenführungen im Sprachgebrauch ansonsten eigenständiger Worte bilden ein eigenes Sinnensemble, in dessen Licht das Ausmaß der kollektiv erlittenen Sprachenteignung kenntlich gemacht wird. Am Ende bleibt nur das ›saudumme Zwitschern‹ eines »Affe[n]« in einer Sprache, deren mimetische Entstellung für jene Irritation sorgt, die in der geglätteten ›hölzernen Sprache‹ der Macht verboten ist. Das Übermaß an Fremdheit durch die Schnitt- und Klebemuster der Worte zielt auf gesellschaftliche Transformation – und dies entgegen des im Gedicht propositional Ausgesagten, denn die Verse »vivendus / nieanders«, die auf den verordneten Stillstand verweisen, werden durch die Sinninterferenzen im Gedicht konterkariert.
Ähnlich verfährt auch das zweite Gedicht, ICH DIE, das sich auf den ersten Blick wie eine Übung in der Deklination der Pronomina liest, bei genauerem Hinsehen aber auch wieder eine Grammatik mörderisch gewordener zwischenmenschlicher Beziehungen exponiert. Die Ordnung der Sprache, deren Einhaltung wechselseitig kontrolliert werden muss, ist eine, aus der sich jederzeit ein Schuss lösen kann, denn es ist eine »amtl / rechts / schrei bung / sprich peng!«.
Richard Huelsenbeck hatte dafür plädiert, erlittene Gewalt – auch solche struktureller Natur – zum Fluchtpunkt einer collagierten Lyrik zu machen, und hatte damit wie George Grosz, Tristan Tzara und weitere kriegskritische Dadaisten an den Ersten Weltkrieg, aber auch an Reklame, Konsum und abgestumpften Sprachgebrauch gedacht, der keine Antwort einfordert. In den 1960er Jahren steigert Brinkmann die Kritik an ertaubten, irritations- und empathielosen Sinnmustern des befriedeten konservativen Konsumkapitalismus, die das Gegenteil von Sinnüberschuss hervorbringen und nicht auf gesellschaftliche Transformation, sondern auf Trägheit zielen, dabei aber voller latenter und manifester Gewalt stecken und durchaus etwas Mörderisches verbergen. Brinkmann arbeitet wie Huelsenbeck und Grosz, aber auch Pastior mit Schnitttechniken, die auf den ersten Blick Grenzen und Spaltungen produzieren. Bei näherem Hinsehen sind es aber gerade diese Risse – die Wunden und Verletzungen der Wörter, wenn man im Bild bleiben will –, die den Blick freigeben für die Gewalt, die thematisch ist. Dadurch fordern die Gedichte Responsivität ein, und zwar über politische und ethnische Grenzziehungen hinweg, und initiieren Transfers, die als Ressource für politischen Widerstand auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs fungierten.
Dieses Prinzip bringt Herta Müller zur Meisterschaft (vgl. Abb. 2).
Hier (Vater telefoniert mit den Fliegen, 187 Collagen im Postkartenformat) entsteht, quer zu den semantischen, zeitlichen und medialen Kontexten, in denen die Buchstaben und Wörter einmal standen, eine dynamische Eigenzeit dieser Text-Bild-Collagen. Die Buchstaben mit ihren unterschiedlichen Hintergrundfarben und Schrifttypen, die die Zugehörigkeit zu anderen Worten als jene, deren Bedeutungsträger sie nun sind, verraten, die Spuren der Schnitte und die weißen Zwischenräume, nicht zuletzt das Text-Bild-Verhältnis initiieren eine nicht enden wollende Irritation. Die Collagenpostkarten greifen auf Techniken des Dada und des Surrealismus zurück und entwickeln sie weiter (vgl. Müller 2012). Bei den Bildern handelt es sich um Photographien, Graphiken, Zeichnungen, Landschafts- und Porträtaufnahmen, aber auch um Fragmente aus Werbung, Kreuzworträtseln, Ratgeberliteratur, meist nachträglich beschnitten oder anderweitig verändert. Den Betrachterinnen und Betrachtern der Collagen begegnen Teile ihrer medialen Umgebung, visuelle Reize, mit denen sie bereits gut vertraut sind.
Ein unabschließbares Spiel der Interferenzen setzt ein, und aus ihm geht zum einen die repressive Macht des Überwachungsstaats hervor, zum anderen setzen Sprachwitz, Humor, unerwartete Bilder, markante Binnenreime Kontrapunkte. So kommt eine transformatorische Kraft in diesen lyrischen Collagen zustande, die retrospektiv Arbeit an der Geschichte Europas leistet. Die Gewalt auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs vor 1989 wird dargestellt in einer collagierten, entstellten Sprache, die den Medien der bundesrepublikanischen Demokratie nach 1989 angehört. Damit werden zwei Gesellschaftssysteme über eine Epochenzäsur hinweg in ein dialogisches Verhältnis gebracht. Es entsteht ein eigenlogischer Transitzeitraum, der Analyse und Reflexion ermöglicht. Die vergangene geschichtliche Zeit der sozialistischen Staatsdiktatur scheint auf in der Zeit der bundesrepublikanischen Medienlandschaft, der das Sprach- und Bildmaterial entstammt. Die Schnitte und das Aufkleben bringen jeweils unterschiedliche Zeiten der Bearbeitung mit ins Spiel, die Bruchstücke wurden zu jeweils unterschiedlichen Zeiten aus Printmedien ausgeschnitten, über einen bestimmten Zeitraum hinweg archiviert, im Zeitraum der Entstehung der Collage bearbeitet und als endgültiges Ensemble des neuen Kunstwerks aufgeklebt. Es gelingt, einen Standpunkt zu entwerfen, der dezidiert in der Gesellschaft nach 1989 angesiedelt ist und auf die Zeit vor der historischen Zäsur zurückblickt.
Die Collagen sind ›bloßes Sprachspiel‹, zugleich aber mehr als das. So sah Friedmar Apel in den exponierten Rissen die Fortsetzung einer ästhetischen Tradition, die bis zur Mystik in den frühneuzeitlichen Turbatversen (vgl. Apel 1997) zurückreicht. Müller geht es darum, falsche Ganzheitsvorstellungen sowie die Versprechung der ›heilen Welt‹ zu unterlaufen. Norbert Otto Eke spricht von der Fortsetzung der Tradition der Aufklärung im Sinne eines Einklagens des individuellen Rechts auf Selbstbestimmung und Autonomie in Der Wächter nimmt seinen Kamm (vgl. Eke 1997). Die Art der Gesellschaftskritik, die in den Collagen geübt wird, weist durchaus Affinitäten dazu auf. Fast jede Text-Bild-Collage ist eine Art Beobachtungsdispositiv, welches zwei Gesellschaftssysteme, die Zäsur 1989 und zudem mitunter kulturelle Differenzen miteinander in Beziehung setzt und in ein Verhältnis der vielstimmigen Überlagerung, endlosen Auslegung sowie der Selbst- und Welttransformation rückt: »Ich bekam eine Nachricht die / klar wie ein Messer war, / nur niedrig und stur und / wirr mehr wie eine Spatzenschar / vielleicht wenn man vergleicht« (Müller 2012:7).
Die Schärfe der Nachricht verliert sich in der vielstimmigen Spatzenschar, die sich unberechenbar bewegt und ein nicht kontrollierbares Zwitschern von sich gibt. Eindrücklich in seiner bedrohlichen Eigenschaft bleibt nur das Messer – die Gewalt ist das einzig Klare und Eindeutige.
3.2 Übergänge zwischen kulturellen Kontexten
Am Anfang von Yoko Tawadas Gedicht Die Orangerie (vgl. Tawada 1997) steht eine Selbstbefragung: »Woher kenne ich diese / Farbe?« – das lyrische Ich tritt in einen offenen Dialog mit sich selbst und evoziert zwei auf den ersten Blick völlig disparate Zusammenhänge, in denen es die Farbe Orange besonders einprägsam erlebt hat: Bilder thailändischer buddhistischer Mönche verbinden sich mit Erinnerungen an die Hamburger Müllabfuhr: »Die Straße, eine durch / Schnee korrigierte Linie / Die lange Nacht kam mit / pfeifenden Schiffen / und dann sah ich / Den Müllwagen / Mit drei Männern auf dem / Rücken« (ebd.). Die Ähnlichkeit zwischen der Kleidung der Männer von der Müllabfuhr und jener der thailändischen Mönche ist aleatorischer Natur. Dennoch tritt das lyrische Ich eine Art interkulturelle Reise an, an deren Ende diese zwei Bildzusammenhänge immer enger miteinander verwoben sind. Dabei wird stets auf die dunkle, nicht einsehbare Seite dieser Bezüge verwiesen – mit dem Orangen »Das Orange, das das Wort im Schatten wachruft« (ebd.). Dabei meint die Farbe den optischen Sinneseindruck, zudem auch metonymisch die gleichnamige Frucht, wobei hier zum einen die Schale und zum anderen das im Dunkeln liegende und daher auch nicht orangefarbene Fruchtinnere: »Die Schale einer Frucht / die nicht geschält werden will / das Innere enthält kein Licht« (ebd.). Mit dieser sprachästhetischen Reflexion ist in einem Bachtin verwandten Sinn die dunkle oder fremde Seite des ›eigenen Wortes‹ angesprochen; zugleich spielen die Verse auf Walter Benjamins ›Königsmantel‹-Metapher und auf die daran anschließenden Übersetzungstheorien an, die auf die Inexistenz eines feststehenden ›Wortkerns‹ abheben. Es gibt gleichsam nur eine dialogische Bezugnahme zwischen ›Wortfalten‹, die in unterschiedlichen Kontexten und in jeweils anderem Licht anders ausfallen.
Analog zu dieser ›eigensprachlichen‹ dialogischen Reflexion von heller / dunkler Seite des eigenen Worts bringt das lyrische Ich im weiteren Gedichtverlauf ostasiatische und westeuropäische kulturelle Praktiken in ein Gespräch miteinander. Trotz des aleatorischen Einstiegs verdichten sich aus Sicht des Ich Relationen der Ähnlichkeit und Mimesis, die sie auf globalen Handel, auf ›Gabe‹ und ›Abfall‹ beziehen (die orange gekleideten Mönche erhalten Reste als Almosen, die ihre Existenzgrundlage sind; die orange gekleideten Müllmänner holen Reste, für die es keine Verwendung mehr gibt: »Das Beste werfen wir immer in den Müll / Verschimmelte Manuskripte / Oder alte Schuhe, die / schon zu viele Wege / kennen«, ebd.). Auf diese Weise wird eine gemeinsame Bezugsebene hergestellt, eine Art Übergang, der Fernost und Deutschland dialogisch verbindet, ohne sie identisch zu setzen.
3.3 Übergänge zwischen kulturellen Chronotopoi
Uljana Wolf verfasste 2005 den aus fünf Gedichten bestehenden Zyklus Schliefen die Öfen, der im Lyrikband Kochanie, ich habe Brot gekauft (vgl. Wolf 2005) erschien. Er lässt sich als Zeit-Raum-Reise lesen. ›Bereist‹ werden Orte, die von Grenzen durchzogen werden oder in Grenznähe liegen. Den Anfang macht das Gedicht berlin, in dem aus der Sicht Heranwachsender eine schweigende Vätergeneration beschrieben wird, die sich (in Ost- wie in Westberlin) in der Hochöfenindustrie aufreibt, um sich der Schuldfrage nicht stellen zu müssen.
Im zweiten Gedicht, glauchau, sind die Spuren nationalsozialistischer Verbrechen vor den Augen des nunmehr erwachsenen ›Wir‹ bereits musealisiert worden (»als wir krank waren vor ruß / und schüttgut aus archiven«). Durch die Gleise und Stellwerke, auf denen die Deportierten von und nach Tschechien in ein nahe gelegenes Konzentrations- und Zwangsarbeitslager gebracht wurden, geht aber bloß ein »zittern wie auf reisen«; es wird etwas Fremdes übermittelt, das im Dunkeln bleibt. Die weiteren drei Gedichte sind ähnlich aufgebaut. Malczye / maltsch an der Oder, an der deutsch-polnischen Grenze, sowie liegnitz und die kleinen Bahnhöfe ohne einen Ort, wie das vierte Gedicht mit einem Zitat von Wolfgang Koeppen betitelt ist, entfalten vor den Augen der Lesenden eine Geschichte Europas von seinen west-östlichen Grenzorten her – eine Geschichte bestehend aus Chronotopoi, die quer stehen zu den Fronten des Kalten Kriegs, die den Eisernen Vorhang penetrieren und aus Sicht eines in diese Konflikte nicht verstrickten ›Wir‹ nach neuen Gesichtspunkten europäischer Selbstbeschreibung sucht – gleichsam von den Rändern her grenzübergreifend gedacht. Es erweist sich, dass die Orte gleichzeitig Etappen der individuellen Sozialisation und der Auseinandersetzung mit erinnerter Geschichte nach 1989 darstellen. Am Anfang steht die Verdrängung in der Vätergeneration, es folgt die Spurensuche der Enkelgeneration bei Vätern und Großvätern, die aber im Nichts verläuft bzw. nur auf stillgelegte Fabriken und Sackgassen vor Grenzzäunen stößt. Nach der Sichtung musealisierter und verlassener Nichtorte und stillgelegter Bahnhöfe findet das Wir schließlich doch in einen fahrenden Zug, und zwar im deutsch-tschechisch-polnischen Grenzraum nah bei Liegnitz, wo in einer rausch- und traumhaften Atmosphäre die Erkenntnis einsetzt, dass europäische Erinnerung auch ohne die Hilfe der Väter und Großväter, in Zonen des Übergangs und des Transfers, gelingt. Wenn polnische Händlerinnen und Händler »das land in handgeflochtenen körben (plze biere) durchs abteil« trugen, »der rauch aus ihren mündern hing / wie nacht uns lange noch im haar«, schließt sich nicht nur ein Bogen zum ersten Gedicht des Zyklus, das mit der Berliner Nacht in kindlichen Haarnestern begann, sondern auch ein Reigen deutsch-östlicher Grenzräume. Sie werden zu Chronotopoi wichtiger Etappen europäischer Geschichte, verdichtet als imaginäre europäische Bildungsreise des Wir, die von stillgelegten Grenzen und Nichtorten in eine von Übergängen und Transfers geprägte Gegenwart Europas führt. Dabei wird gerade nicht suggeriert, die Fragen der Vergangenheit seien geklärt oder obsolet geworden, sie werden lediglich in einen vielgestaltigeren Modus des Aushandelns überführt.
In allen genannten Beispielen entspringt den ästhetisch gestalteten interkulturellen Übergängen eine transformatorische Kraft. Sei es, dass (a) Gesellschafts- und politische Kritik in einer subtileren und zugleich radikaleren Form als jener eines Pamphlets stattfinden, dass Legitimationsmuster habitualisierter Gewalt zuerst enggeführt und anschließend pulverisiert werden; sei es, dass (b) Kulturen entlang überraschender Ähnlichkeiten ineinander gespiegelt werden und Grenzziehungen durch Transfers überlagert werden; oder sei es, dass (c) Stimmen Erinnerungsspuren nachgehen und zu einer neuen imaginären Landkarte Europas, zu neuen interkulturellen Chronotopoi nach dem Holocaust finden: Die Gedichte entwerfen ein ›Perpetuum mobile‹ vielfältiger Stimmen im Sinne Bachtins, die den Leser ansprechen, irritieren und implizit zur Empathie und Stellungnahme auffordern. Die so entstehende Dialogizität bezieht sich auf die Stimmenvielfalt, auf das Verhältnis zu den Leserinnen und auch auf Interkulturalität in Europa wie in globaler Perspektive. Die eigentliche Komplexitäts- und Kreativitätsressource ist dabei immer die Fremdheit des eigenen Worts.
Anmerkungen
1 Dieter Heimböckel hat den Begriff in jüngster Zeit für die Interkulturalitätsforschung, teilweise in Abgrenzung zu der älteren philosophischen Tradition, fruchtbar gemacht (vgl. Heimböckel 2016).
2 »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.« (Luhmann 1988: 152; vgl. ebd. 92-98 sowie Blumenberg 2001: 47-73)
3 Die Erstausgabe erschien bereits 1997.
4 Bachtin hatte aus dem Wechselspiel dieser Kräfte den grundsätzlich nicht statischen Charakter des sozialen Redeverkehrs und des sprachlichen Lebens abgeleitet. Er schrieb: »Die Kategorie einer einheitlichen Sprache ist der theoretische Ausdruck der historischen Prozesse der Vereinheitlichung und Zentralisierung, ein Ausdruck der zentripetalen Kräfte der Sprache. Die einheitliche Sprache ist nicht gegeben, sondern immer ein Projekt und steht in jedem Augenblick des sprachlichen Lebens der tatsächlichen Redevielfalt gegenüber« (Bachtin 1979: 164), die sich dem Wirken der zentrifugalen Kräfte verdankt.
5 Dies ist nicht nur der Titel des späteren Romans von Walter Kempowski, sondern auch eine während der Weimarer Republik häufig verwendete Rubrik in Zeitungen und Zeitschriften und ein Titel zahlreicher Geschichten und Erzählungen, die die Kaiserzeit verherrlichen. Kurt Tucholsky verfasste 1922 eine Glosse unter dem Titel Aus großer Zeit, die dieser Geschichtsklitterung entgegenwirkt und das Schweigen der Gesellschaft moniert, auch und gerade an Universitäten, angesichts der Gräueltaten des Krieges: »Was in diesen Jahren von den ordentlichen Professoren jener Universitäten, die den Schlächtermeistern Ehrendoktorate verliehen, angerichtet worden ist, geht auf keine Kuhhaut.« (Tucholsky 1922: 111)
Literatur
Apel, Friedmar (1997): Turbatverse. Ästhetik, Mystik und Politik bei Herta Müller. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 44, H. 2, S. 113-126.
Bachtin, Michail M. (1979): Das Wort im Roman [1934 / 35]. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingel. v. Rainer Grübel. Aus dem Russ. v. Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a.M., S. 154-300.
Blumenberg, Hans (2001): Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans [1964]. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M., S. 47-73.
Brinkmann, Rolf Dieter (2005): Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten [1974 / 75]. In: Ders.: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erw. Neuausgabe. Reinbek b. Hamburg, S. 256-330.
Ders. (2010): Künstliches Licht. Lyrik und Prosa. Hg. v. Genia Schulz. Stuttgart.
Camus, Albert (1984): Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde [1942]. Mit einem kommentierenden Essay von Liselotte Richter. Übertr. v. Hans Georg Brenner u. Wolfdietrich Rasch. Hamburg.
Eke, Norbert Otto (1997): »Sein Leben machen / ist nicht, / sein Glück machen / mein Herr«. Zum Verhältnis von Ästhetik und Politik in Herta Müllers Nachrichten aus Rumänien. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41, S. 481-509.
Griebel, Otto (1921 [1989)]: HaHo. Brief an Tristan Tzara [Collage]. In: Bergius, Hanna: Das Lachen der Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen, S. 143.
Heimböckel, Dieter (2016): (K)eine 10 für eine 5 oder vom Einfall des Staunens. Leçon du cycle «(uni.lu)10» donnée le 11 mars 2014 avec une introduction de Massimo Malvetti. Esch-sur-Alzette.
Huelsenbeck, Richard (1977): Dada Manifesto. In: Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Hg. v. Karl Riha. Stuttgart, S. 17-19.
Lotman, Jurij M. (1973): Die Struktur des künstlerischen Textes [1970]. Hg. u. mit einem Nachwort und einem Register v. Rainer Grübel. Vollst., autorisierte, um ein neues Vorwort des Autors vermehrte Übersetzung aus dem Russ. v. Rainer Grübel, Walter Kroll u. Hans-Eberhard Seidel. Frankfurt a.M.
Luhmann, Niklas (21988): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.
Mecklenburg, Norbert (22009): Aufgaben und Arbeitsbereiche interkultureller Literaturwissenschaft. Ein Aufriss. In: Ders.: Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München, S. 11-38.
Müller, Herta (2005): Die blassen Herren mit den Mokkatassen. München.
Dies. (2012): Vater telefoniert mit den Fliegen. München.
Pastior, Oskar (2006): »… sage du habest es rauschen gehört«. In: Ders.: Vom Sichersten ins Tausendste. München, S. 223-304.
Peirce, Charles S[anders] (1955): Philosophical Writings. Ausgew., hg. u. eingel. v. Justus Buchler. New York.
Tawada, Yoko (1997): Die Orangerie. In: Dies.: Aber die Mandarinen müssen noch heute abend geraubt werden. Tübingen; online unter: https://forum.psrabel.com/beitraege/tawada/tawada1.html [Stand: 1.10.2017].
Tucholsky, Kurt (1922): Aus großer Zeit. In: Die Weltbühne v. 3. August 1922, S. 111.
Uerlings, Herbert (2013): Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte. Neuausgabe. Berlin.
Waldenfels, Bernhard (1990): Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M.
Ders. (1994): Antwortregister. Frankfurt a.M.
Wittgenstein, Ludwig (1975): Philosophische Untersuchungen [1958]. Frankfurt a.M.
Wolf, Uljana (2005): Kochanie, ich habe brot gekauft: Gedichte. Berlin.